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Weißt Du, warum Du hier bist? Liebst Du Dich selbst? Oder wartest Du immer nur darauf, dass die Liebe von der Außenwelt kommt? Diese und viele weitere Fragen werden in diesem Buch geklärt. Es geht dabei nicht nur um die Theorie, die Autorin zeigt anhand anschaulicher Beispiele aus ihrer Kindheit und ihrem eigenen Leben auch auf, wie sie diese Schritte für sich umgesetzt hat und ihr inneres Kind heilen konnte. Wenn Du lernen möchtest, von anderen unabhängig zu leben, bedingungslos Liebe zu geben und zu sein, dann ist dieses Buch für Dich genau das Richtige! Finde Deine Mission in diesem Leben und setze sie um, dann wirst Du bald die Früchte Deiner Mühen ernten und inneren Frieden schließen können.
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Seitenzahl: 142
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-670-3
ISBN e-book: 978-3-99146-671-0
Lektorat: Kristina V. Heilinger
Umschlagfoto: Fatma Agva
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Vorwort
Hallo lieber Leser,
schön, dass wir uns hier begegnen. Auf diesen besonderen Moment habe ich lange gewartet. Es ist mir eine große Freude, Dich auf meiner Reise mitzunehmen. Du wirst auf diesem spannenden, steinigen Weg viel von mir mitnehmen und auch viel von Dir erfahren. Ich bin nicht Dein Wegweiser, ich zeige Dir nur die Richtung zu Deiner emotionalen Reise. In diesem Buch erfährst Du, wie Du Dich von Deinen gelehrten Glaubenssätzen und Verhaltensmustern befreist, um Deiner Seele näher zu kommen. Auf dieser Reise werden wir gemeinsam Antworten finden, die darauf warten, gefragt zu werden.
1
„Eine Investition ins Reisen ist eine Investition in dich selbst.“
Matthew Karsten
Als Kind war unser Haus auf einem Berg und wir mussten jeden Tag herunterlaufen, um in die Schule zu gelangen. Jeden Morgen ging ich mit dem Nachbarskind zusammen in die Schule. Das Mädchen machte große Schritte und lief mir stets voraus. Alle meine Bemühungen, sie zu überholen, scheiterten. Obwohl sie relativ gelassen lief, konnte ich mit ihr nicht mithalten. Es waren einfach ihre langen Beine, die mir einen Strich durch die Rechnung machten. Da ich das mit meinem Ego nicht vereinbaren konnte, setzte ich mir jeden Morgen das Ziel, dieses Mädchen zu überholen.
Voller Tatendrang wagte ich mich jeden Tag aufs Neue an diese Herausforderung. Schnaufend und schweißgebadet sah ich ihr dann aus der Ferne zu, wie sie mit ihrem blonden Zopf locker dahinschwebend schlenderte. Dieser Anblick machte mich rasend und verdrossen zugleich. Wie konnte es ihr gelingen, lässig und ohne jegliche Anstrengung so zügig in die Schule zu laufen? Wochenlang hatte ich nur einen Gedanken im Kopf: „Wie kann ich das Mädchen ausbremsen?“. Mit der Zeit entdeckte ich kleine Gassen und Straßen, in der Hoffnung, schneller hinunterkommen zu können. Der Versuch, sie durch die Abkürzungen einzuholen, scheiterte jedoch. Nach vielen erfolglosen Anstrengungen gab ich auf und ging ihr gehörig hinterher.
Warum erzähle ich Dir diese Geschichte? Wir Menschen neigen ständig dazu, uns mit anderen zu vergleichen. Während wir das tun, übersehen wir unsere eigenen Werte und lassen uns von unserem inneren Kritiker kleinmachen. Eins sollten wir uns immer bewusst machen: Es gibt keinen größeren Freund und Feind als uns selbst.
Vergleiche die Situation mit einem Fisch und einem Affen. Wenn wir erwarten, dass der Fisch genauso gut klettert wie der Affe, werden wir enttäuscht.
Denn dafür ist der Fisch nicht geschaffen. Genauso wenig können wir erwarten, dass der Affe im Wasser überlebt.
Damals war mir das nicht bewusst, da ich zu viele solche Erlebnisse des Scheiterns hatte. Um ehrlich zu sein, hat es vierzig Jahre meines Lebens gedauert, das zu verstehen, aber dazu später mehr.
An einem heißen Sommermorgen entschlossen sich meine Mutter und ihre Nachbarinnen, die farbenprächtigen orientalischen Teppiche ihrer Häuser zu einem großen Brunnen zu bringen, um sie dort zu waschen. Als fünfjähriges, wissbegierigeres Mädchen beobachtete ich stets, was sich im Dorf ereignete. Der Gedanke, im Wasser zu planschen und zu spielen, bereitete mir viel Freude. Nach einer kurzen Vorbereitung brachen wir auf und eilten Richtung Brunnen. Ich lief in meiner kindlichen Euphorie träumend den Erwachsenen hinterher und beobachtete währenddessen die Welt der Tiere und Pflanzen um mich herum. Ein schillernder Schmetterling flatterte von einer Blüte zu nächsten und schmückte die Natur mit seiner atemberaubenden Pracht. Ein grüner Grashüpfer landete auf meinem Finger und flog auch gleich weiter. Einige große, rote Waldameisen durchquerten die trockene Erde mit ihrer Beute. Jeder Grashalm, jede Blume und jedes Tier paarten sich unaufhörlich. Alle Tiere und Pflanzen wirkten vernetzt und abhängig voneinander. Sie hatten ihren Lebens- und Entfaltungsraum. In der Natur gab es keinen Krieg, sondern nur ein harmonisches Zusammenwirken.
Die Kinder kicherten und schubsten sich hin und her. Meine Anwesenheit war für sie nicht von Bedeutung. Ich fühlte keine Zugehörigkeit zu ihnen und doch war ich instinktiv verletzt, nicht ein Teil der Gruppe zu sein. Noch heute stelle ich mir diese wichtige Frage: „War es meine Erfahrung, die mich zum Einzelkämpfer gemacht hat, oder war es meine Neigung zur Einsamkeit, die diese Erfahrung vorangetrieben hat?“
Endlich kamen wir an und legten unsere schmutzigen Teppiche neben den historischen Brunnen, der schon viele Jahrhunderte als Wasserquelle gedient hatte. Der Brunnen hatte zwei kleine Becken, die wie Rechtecke aussahen. Hier in der Nähe gab es viele Äcker, Felder und Wiesen. Für alle durstigen, von der Sonne ermüdeten Lebewesen war dies ein wichtiger Erholungsort.
Nach einer kurzen Überlegung schloss mich meine Mutter von der Tätigkeit des Teppichwaschens aus, da sie die Temperatur des Wassers als zu kalt für meinen kindlichen Körper beurteilte. Vor lauter Enttäuschung und Entsetzen fing ich schluchzend an zu weinen. Es war ein jämmerlicher und elender Zustand, den ich nicht verbergen konnte. Die Frauen blickten erschrocken und verärgert auf mich herab. Mit solch einer heftigen Reaktion hatten sie wohl nicht gerechnet. Sie warfen mir einen mürrischen Blick zu und gingen wieder an die Arbeit. Einige der anwesenden Kinder, die auch von der Tätigkeit ausgeschlossen worden sind, suchten nach einer anderen Möglichkeit, um sich zu beschäftigen. Betrübt und gekränkt legte ich mich auf die unebene Erde und musterte die fleißigen, pflichtbewussten Frauen bei ihrer Beschäftigung.
Die Kinder fanden bei anderen Aktivitäten Ablenkung und wirkten dabei auch recht zufrieden. Meine Gegenwart nahmen sie nicht wahr. Jeder hatte eine Gemeinschaft und jeder hatte Vergnügen daran. Es vergingen einige Stunden, bis alle Frauen ihre Teppiche ausgewaschen hatten.
Die Begeisterung über die gelungene Aufgabe konnte man in ihren freudestrahlenden Gesichtern sehen. Ihre bunten, blumigen Pumphosen waren bis zum Knie durchnässt, was ihnen scheinbar nichts ausmachte. Mit hängendem Kopf und schlechter Laune ging ich ihnen unentschlossen nach. Auf dem Weg nach Hause ersann ich mir einen Plan, wie ich einen unserer Teppiche unbemerkt zum Brunnen schleifen würde.
Zu Hause angekommen, ging meine Mutter zu unserem Stall, um nach den Tieren zu schauen. Ich ergriff meine Chance, schnappte den kleinen Teppich im Flur und ging schadenfroh und belustigt meinen Weg zum Brunnen.
Der ersehnte Moment war gekommen. Den kleinen Teppich legte ich in den Brunnen und sprang mit beiden Beinen ins Wasser. Bis auf den Schlüpfer wurde ich nass. Meine Augen strahlten vor Glück und ich summte ein Lied nach dem anderen. Ja, das war mein Vergnügen und das war meine Seligkeit. Ich vergaß den kleinen Teppich und genoss das kalte, erfrischende Quellwasser auf meiner Haut. Ich war der lebendig tobende Sturm im Wasser. Verträumt schwebte ich hin und her, bis ich eine laute Stimme vernahm, die mich erschrak. Mit entsetztem und verängstigtem Blick bemerkte ich einen jungen Mann, der einen Militäranzug trug. Dieser Jemand, der sich später als mein Cousin herausstellen sollte, forderte mich auf, aus dem Wasser zu gehen. Seinen Aufruf verweigerte ich trotzig. Er hatte doch wohl kein Recht dazu.
Nach mehrmaliger Aufforderung gab er auf, schnappte meine Arme und riss mich aus dem Wasser. Ich schaute ihn wutentbrannt an und biss ihm in die Hand. Daraufhin griff er fester zu und seine Stimme wurde schriller. Da ich seine weitere Reaktion nicht einschätzen konnte, gab ich frustriert nach. Er trug mich auf seinen Schultern den steinigen Weg entlang zu unserem Dorf. Auf den Schultern meines Cousins sah ich in der Ferne einen verlassenen Esel und viele Brombeerhecken hinter den Felsen. Beim Anblick der schwarzen Früchte lief mir das Wasser im Munde zusammen. Plötzlich bemerkte ich meine Mutter, die sich uns näherte, hinter den Gebüschen. Sie musterte mich mit einem besorgten Blick und streckte ihre Arme aus, um nach mir zu greifen. Die Furcht, von meiner Mutter ausgeschimpft zu werden, stieg in mir empor, doch sie wirkte eher fürsorglich. Nach einem kurzen Austausch mit meinem Cousin nahm sie mich an der Hand und eilte angespannt und hektisch nach Hause. Ich fühlte mich in meiner Freiheit eingeschränkt, da mein Abenteuerdurst nicht vollständig gestillt worden war. Auf dem Weg nach Hause drohte ich meiner Mutter, mir zur Strafe in die Hose zu pieseln. Darauf schaute sie mich vergnügt an und schmunzelte vor sich hin. Scheinbar nahm sie meine Bedrohung nicht ernst.
Ihr Grinsen wurde zu einem lauten Lachen, das sie nicht länger halten konnte. Beim Anblick ihres Gesichts spürte ich eine unaufhaltsame, rasende Energie, die sich in mir ausbreitete. Ich fühlte mich gekränkt und unverstanden.
Da ich diesen Zustand nicht länger aushalten konnte, pieselte ich mir trotzig und zornig in die Hose. Entsetzt und fassungslos sah mich meine Mutter an und sprach kein Wort mehr mit mir. Das war die erste Erfahrung, in der ich meinen Sturkopf durchgesetzt hatte.
Schon als Kind spielte Freiheit eine zentrale Rolle für meine Entwicklung. Ich hatte eine eigene Welt, die keiner ohne mein Einverständnis beitreten durfte. Meine persönlichen Fortschritte hatten dann Sinn, wenn ich ohne äußere Einflüsse meiner Neugierde nachgehen konnte. Meine Suche nach meinem verborgenen Kern war instinktiv die einzige Aufgabe, der ich nachging.
Hast Du Dich, lieber Leser, schon einmal nach Deinem wahren Kern gefragt? Oder, wie der Autor Michael Mary sagt: Bist du ein individueller oder eher gesellschaftlicher Mythos? Wie sehr sind wir abhängig von unserer Gesellschaft und konzentriert darauf, wie wir auf sie wirken?
Es wäre alles viel einfacher, wenn unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit nicht übermächtig wäre. Doch die Notwendigkeit der sozialen Akzeptanz war schon bei unseren Vorfahren groß. Wer kann schon seinen schöpferischen Impulsen ungestört nachgehen und die Vorstellungen sowie Erwartungen der Gesellschaft ignorieren? Können Individuen harmonisch mit der Gesellschaft zusammenwirken oder fordert Individualität Opfer, so wie der Philosoph Arthur Schopenhauer sagte?
2
„Arm am Beutel, krank am Herzen.“
Johann Wolfgang von Goethe
Früher in unserem Dorf in der Türkei wurde der Tag der Lehrer groß gefeiert. Noch heute hat der Lehrer einen unersetzbaren Status in den Herzen der Menschen. Einige Tage vorher wurden die Vorbereitungen für diesen besonderen Anlass getätigt. Die meisten Menschen lebten in Armut, doch sie gaben ihr Bestes, um leckere Speisen für die Lehrer zu servieren.
Die Zufriedenheit der Lehrer war ausschlaggebend für sie. Unsere Familie war eine der ärmsten im Dorf und deshalb hatten wir nicht viele Möglichkeiten, um den Lehrern eine köstliche Mahlzeit zuzubereiten. Zu diesem Zeitpunkt war auch mein Vater nicht zu Hause und musste über mehrere Monate in einer nahegelegenen Stadt arbeiten, um für unseren Lebensunterhalt zu sorgen. Meine Mutter schaute sich verzweifelt in der Küche um. Das Einzige, was sie fand, waren große Weizenkörner, die sie zum Kochen in den Topf gab. Enttäuscht sah ich ihr zu und ging hinaus, um mich abzulenken. Unterwegs sah ich eine Klassenkameradin, die stolz und freudig davon erzählte, wie sie mit ihrer Mutter viele Köstlichkeiten vorbereitet hatte. Vor Scham senkte ich meinen Kopf und schluckte meinen bitterlichen Gram herunter. Nach diesem frustrierenden Ereignis wagte ich nicht, weiterzulaufen und kehrte gekränkt zurück nach Hause.
Am nächsten Morgen packte uns die Mutter die gekochten, groben Weizenkörner in eine Tüte und gab uns zum Trost einen Kuss auf die Wange.
Mit jedem unserer Schritte, die sich der Schule näherten, fühlten wir den jämmerlichen Schmerz der Armut. Unser Herz sang ein Klagelied nach dem anderen. Unsere Füße fühlten sich wie Eisenstangen an, die uns den Gang erschwerten. Die Seele suchte die Flucht, doch die Pflicht rief nach uns. Schweren Herzens kamen wir an und öffneten das Klassenzimmer. Mit gebeugtem Kopf traten wir hinein. Wir warfen einen flüchtigen Blick auf die Speisen der anderen, die auf den Tischen platziert waren. Der Anblick traf mich mitten ins Herz. Viele kurdische Köstlichkeiten wurden serviert: Von Weinblätterfüllung bis zu Lammfleisch war alles dabei. Ich stellte unsere Weizenkörner hinter einen Topf, in der Hoffnung, dass sie unentdeckt blieben. Der Raum war mit Schülern überfüllt die neugierig auf die Lehrer warteten, die jeden Moment das Klassenzimmer betreten würden.
Nach einigen Minuten kamen sie nun alle freudig, um sich verwöhnen zu lassen. Die Schüler standen mit einem Male auf und begrüßten die Lehrerrespektvoll. Jahre später stellte ich fest, dass es nicht der Respekt war, der das Handeln der Kinder leitete, sondern die Angst. Die Lehrer schauten sich nach den Köstlichkeiten um und genossen das Aroma, das sich im Raum entfaltet hatte. Die Wände waren mit Bildern von Atatürk beklebt. Ein Plakat mit den Jahreszeiten klebte neben der Tafel. Innerlich betete ich, dass dieser elende Moment ein Ende finden würde. Ich verdrückte mich auf die letzte Bank und schaute von dort aus zu, wie die Lehrer die Speisen genossen. Nach dieser besonderen Zeremonie, die sich einmal im Jahr ereignete, durften wir endlich nach Hause. Die Schüler nahmen ihre leeren Töpfe und weitere Behälter mit. Ängstlich und scheu suchte ich nach meinen Weizenkörnern. Da waren sie, unberührt und ungeöffnet. Ich schnappte schnell nach der Tüte und lief zur Tür hinaus.
Ich spürte einen enormen Impuls, wegzulaufen und nie wieder zurückzukehren. Ich rannte einfach davon und ignorierte die Blicke der Kinder, die mich verdutzt anschauten. Das Dorf wirkte viel verlassener als sonst. Hier und da hörte man Hühner gackern und Esel mit ihrenI-ahbeteiligten sich am Gesang. Die brütende Hitze schien alles Lebendige zu verschlucken. In der Ferne sah ich einen Hirten unter einem Baum sitzen. Seine Lämmer und Schafe folgten ihm und genossen ebenfalls den Schatten des Baums, um sich von der Hitze zu erholen. Das Ende des Dorfs war in Sicht, doch ich blieb nicht stehen. Mit jedem meiner Schritte bemerkte ich, wie sich der Kloß in meinem Hals löste.
Irgendwann gelang ich auf eine Ebene, wo die Erde unter meinen Füßen weiß wurde. Schweißgebadet und nach Atem ringend blieb ich stehen und schaute in den Himmel, der blau leuchtete. Dabei erblickte ich große Felsen über mir, die wie Wellen aussahen. Ich kletterte die Felsen hoch und lehnte mich gegen einen. In diesem Moment der Leere spürte ich die Fülle der Einsamkeit in all meinen Gliedern. Gleichzeitig bemerkte ich jedoch die strömende Kraft der Freiheit.
Wenn ich Dich fragen würde, lieber Leser, wie würdest du den Unterschied zwischen Einsamkeit und Freiheit beschreiben?
Der Moment der Klärung war gekommen. Nun konnte ich diesem unerträglichen Schmerz aus meiner Seele freien Lauf lassen. Ich weinte unaufhörlich. Die Natur wirkte verständnisvoll und sehr beruhigend. Während ich dabei war, Tränen aus meinem Gesicht zu wischen, bemerkte ich unter mir Ameisen, die auf meinen Füßen herumkrabbelten. Diese Geste nahm ich als Trost und Umarmung wahr. Plötzlich fielen mir meine Weizenkörner ein, die ich noch fest in der rechten Hand hielt. Ich öffnete freudig die Tüte und verteilte den Inhalt auf der Erde. Beim Anblick der Ameisen bemerkte ich meinen eigenen Hunger und aß auch einige Weizenkörner. Diese Tiere strahlten eine Faszination aus. Sie wirkten untereinander sehr friedlich und harmonisch. Dem Schein nach gab es bei ihnen kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander.
3
„Diese Welt war nicht für mich; sie war für einen Haufen dreister Bettler, pedantischer, rauflustiger, skrupelloser, gieriger. Diese Welt wurde für sie gebaut. Für diejenigen, die den Mächtigen der Erde und des Himmels die Hände halten, die wissen, wie man schmeichelt. Sie sind wie hungrige Hunde, die vor einer Metzgerei mit dem Schwanz wedeln, um ein Stück Fleisch zu bekommen!“
Sâdık Hidâyet
Wie jeden Tag kurz vor Sonnenaufgang schlich ich mich leise aus dem Haus, um meinen täglichen Toilettengang unter freiem Himmel zu verrichten.
Die anderen Geschwister schliefen noch fest und waren im Land der Träume. Da die damaligen Umstände uns keine Toilette ermöglichten, blieb uns keine andere Wahl, als uns ein Plätzchen im Freien zu suchen. Es war ein nebeliger kalter Herbsttag und ich konnte den Weg kaum erkennen. Nur wenige Sterne schimmerten schwach am Himmel. Ich tastete mich langsam voran, um einen guten Platz zu finden. Das Gackern der Hühner im Dorf wurde zunehmend lauter. Plötzlich erschrak ich, als ich die Stimme des Nachbarskinds vernahm. Ich erstarrte, ohne zu wissen, was auf mich zukam. Das Nachbarskind näherte sich mir und sprach sehr zart und freundlich, was mich besänftigte. „Hey Fatma!“, fing sie an zu reden. „Schön, dass du schon so früh wach bist. Ich kann dich heute gut gebrauchen!“ Ich wusste zwar nicht, womit ich zu rechnen hatte, aber das Gefühl, gebraucht zu werden war gut für meinen Selbstwert.
Schließlich sagte ich zu ihr: „Gerne helfe ich dir. Um was genau geht es?“
„Das ist ja herrlich!“, sagte das Mädchen nun freudig und redete weiter. „Meine Oma kommt heute Mittag und sie bringt Besuch mit. Da meine Eltern in die Stadt fahren werden, habe ich niemanden, der mir im Haushalt hilft. Zusammen schaffen wir das schnell und du darfst auch anschließend bei uns fernsehen!“
Da wir zu dem Zeitpunkt noch keinen Fernseher besaßen, war das ein attraktives Angebot, dem ich nicht widersprechen konnte.
Direkt nach dem Frühstück ging ich zu ihr nach Hause. Der Eingang war mit orientalischen bunten Teppichen bedeckt und der Geruch von gerösteten Kastanien stieg mir in die Nase.
Emine kam mir schon entgegen und musterte mich mit ihren neugierigen Röntgenaugen, bis sie mich schließlich freundlich begrüßte und mir den Putzlappen, den sie bereits in ihrer Hand hielt, reichte.