Die Waldlandsaga: Jorna und der Schwarze Magier - Stephan Martin Meyer - E-Book

Die Waldlandsaga: Jorna und der Schwarze Magier E-Book

Stephan Martin Meyer

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Beschreibung

„Der Schwarze Magier ist wieder da!“ Jorna, die Tochter eines sagenumwobenen Räubers, begegnet im Wald völlig überraschend einem stinkenden Schwarzalben. Kurz darauf werden sie und ihr Freund Aksel von einem Wolfshund der Dunkelheit angegriffen und Aksel wird dabei schwer verletzt. Und dann wird er auch noch von einem Unbekannten aus der Geheimen Burg entführt! An all diesen Ereignissen soll der Schwarze Magier Schuld sein, der eigentlich schon lange verschollen ist. Das zumindest behauptet der Waldtroll Mitrofan. Also beschließt Jorna, dass sie Aksel befreien wird. Aber niemand will ihr dabei helfen. Ihr Vater traut ihr nichts zu, denn sie hat hat seit einem Unfall vor einigen Jahren nur noch einen Arm. Außerdem ist sie ein Mädchen. Daher verweigert er seine Unterstützung. Und Jorna ist stinksauer! Sie macht sich allein auf die weite Reise nach Norden, wo der Schwarze Magier leben soll. Auf ihrem Weg wird sie von den Soldaten aus der Stadt verfolgt und muss sich zudem mit zwei verwöhnten Adelssprösslingen herumschlagen. Und die Schwarzalben und die Wolfshunde sind ihr dicht auf den Fersen. Zum Glück gibt es in den Wäldern des Waldlandes eine Menge Wesen, von deren Existenz Jorna nichts geahnt hat. Karla, die Anführerin der Wichte und stolze Trägerin eines dichten Bartes gehört dazu. Und Magister Sigmund Labersack, Seelenforscher und himmelblaues Einhorn, der versucht, Jorna zu therapieren, dabei aber nur dummes Zeug labert. Und viele andere, bei denen Jorna oft erst nicht klar ist, ob sie ihr helfen oder sie ins Verderben stürzen wollen.

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Stephan Martin Meyer

 

Die Waldlandsaga

Jorna und der Schwarze Magier

 

Edition Erdbert

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

Epilog

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Der Autor

Die Karte ist nicht das Gebiet

Impressum

 

Prolog

Der Schwarze Magier musste schnell handeln, denn seit vielen Jahren hatte er den Kristall verloren geglaubt. Doch nun mehrten sich von überallher Gerüchte über sein Wiederauftauchen. Und er wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn in seine Finger zu bekommen.

Die Schwarzalben drangen durch Türen und Fensteröffnungen in die Festung ein und verbreiteten ihren Gestank bis in die letzte Ecke. Sie schwebten durch das fahle Licht des Thronsaals, hockten sich in die Fensternischen und ließen sich lauernd vor dem steinernen Thron nieder. Sie grunzten und lachten mit kehligen Stimmen. Rauchschwaden zogen durch die Luft. Aufmerksam lauschte der Magier dem Stimmengewirr und versuchte, die ihm wichtigen Informationen zu erfassen. Seine eisblauen Augen registrierten jede Bewegung. Der schwere Umhang drückte ihm auf die Schultern, als er zu seinem Thron hinaufstieg. Langsam ließ er sich dort nieder. Schließlich hob er die Hand und die Schwarzalben verstummten nach und nach.

»Was also bringt ihr mir?«, zischte er.

Einer der größten Alben, mit verzerrten Gesichtszügen, fettigen Haaren und schmutzigen Fingern, kam – halb humpelnd, halb flatternd – auf ihn zu und verneigte sich tief. Der Magier verzog das Gesicht und zupfte ein Tuch aus dem Umhang, das er sich unter seiner Kapuze vor Mund und Nase hielt.

»Wir haben ihre Spur gefunden, Meister.« Der Alb hauchte dem Magier seinen stinkenden Atem ins Gesicht. »Sie sind getrennt worden. Schon vor langer Zeit. Die eine ist in jenem Land, das Waldland genannt wird.«

Der Mundgeruch des Alben war noch schlimmer als sein Körpergeruch.

»Und der andere?«

»Er kann nicht weit entfernt sein. Nicht weit. Wir werden ihn suchen und wir werden ihn finden.«

Die Schwarzalben rundherum erhoben ihre Stimmen. »Wir werden ihn suchen und wir werden ihn finden«, schallte es wie ein vielstimmiges Echo durch die Halle. Einige schwangen sich in die Höhe, stießen bedrohlich wieder herab, kreischend und keckernd.

Der Magier betrachtete die Schar abschätzig. Als einer der Schwarzalben zu nah an ihm vorbeihuschte, griff er blitzschnell zu. Ein Röcheln kroch aus dem faltigen Mund, als der Magier den Hals der Kreatur zudrückte. Die Augen des Alben weiteten sich in einer Mischung aus Schmerz und Vergnügen.

»Schwärmt aus!«, sprach der Magier. »Handelt schnell und gründlich! Ich werde mich auf den Weg ins Waldland machen.«

Angewidert schleuderte er den Alben von sich. Der prallte an eine Säule und stürzte zu Boden. Als er sich aufrichtete, entblößte er eine Reihe fauliger Zähne. Er fauchte den Magier an: »Wir handeln schnell und gründlich.« Die anderen Alben fielen ein: »Schnell und gründlich. Schnell und gründlich.«

»Verschwindet, abscheuliches Gesindel«, murmelte der Magier und erhob sich. »Verschwindet mir aus den Augen und kommt erst zurück, wenn ihr genau wisst, wo sie sind.«

Er schlurfte durch den Saal, während sich die Alben kreischend erhoben. Die stickige Luft war erfüllt von ihrem Geschrei: »Abscheuliches Gesindel!«, schrien sie lachend durcheinander, während sie wie Schatten nach draußen verschwanden. »Abscheuliches Gesindel hat er uns genannt!« Nach kurzer Zeit erinnerte nur noch der grässliche Gestank an ihre Anwesenheit in der Halle.

In einem Winkel, versteckt im Schatten einer Säule, krümmte sich eine kleine Gestalt. Reglos hatte sie dort gelegen, während die Alben die Luft im Thronsaal verpesteten. Doch nun kroch sie im Schutz der Dunkelheit über den Boden, bis sie durch die Tür nach draußen entwischen konnte. Mehr tot als lebendig machte sie sich auf den langen Weg, um die Bewohner des Waldlandes zu warnen.

1. Kapitel

»Wie lange steht ihr schon da?«, fragte Jorna, als sie von ihrem Felsen am Fluss sprang, Mitrofan mit ihrem Arm in den Bauch boxte und Sidir umschubste, womit man den Felsenzwerg immer herrlich ärgern konnte.

»Du hättest uns nie bemerkt, wenn Sidir nicht gefurzt hätte.« Mitrofan lachte.

»Zu viele Eicheln«, entschuldigte sich der Felsenzwerg.

Mitrofan war ein ganz normaler Waldtroll. Die Menschen glaubten nicht wirklich an Trolle, sagten ihnen in den Geschichten aber Brutalität und Kaltblütigkeit nach. Ihre Mutter hatte Jorna all die Legenden über Trolle und Zwerge erzählt. »Das sind aber nur Geschichten, Jorna!«, sagte sie immer. Trotzdem hatte sie ihrer Tochter vor Kurzem zu ihrem vierzehnten Geburtstag ein kleines Amulett zum Schutz überreicht, das diese seitdem jeden Tag um den Hals trug. Man könne ja schließlich nie wissen. Außerdem habe sie es von ihrer Großmutter, die es ebenfalls geerbt hätte. So wäre das Amulett seit vielen Generationen in der Familie weitergegeben worden. Jornas Sicht auf die Waldwesen hatte sich allerdings schon vor fünf Jahren geändert, als sie von Mitrofan aus dem Fluss gerettet wurde. Damals hatte sie sich überschätzt und gehofft, den Fluss durchqueren zu können, obwohl ihr der rechte Arm fehlte. Konnte sie nicht. Seitdem hatte sie jedoch unermüdlich trainiert. Eines Tages würde sie auch das schaffen.

»Hallo, Aksel!«, rief Mitrofan den Felsen hinauf, wo Jornas bester Freund saß.

Bei Aksel hatte es eine Weile gedauert, bis er dem Waldtroll vertraut hatte. Jorna hatte ihm einfach erzählt, Mitrofan esse kein Menschenfleisch und ernähre sich ausschließlich von Wurzeln und Moosen. Das war zwar gelogen, aber es hatte geholfen.

Der Wald war zu ihrem und Aksels Revier geworden. Die Tannen standen eng beieinander und die Schatten zwischen ihnen verbargen mehr, als dass sie ihre Geheimnisse offenbarten. Seit Jorna von ihrem Vater die Erlaubnis erhalten hatte, auch ohne einen der erwachsenen Jäger die Burg zu verlassen, nutzten sie jede freie Minute, um durch die Wälder zu streifen. Im Laufe der Zeit hatten sie dabei gelernt, sich eher enge, dunkle Kleidung anzuziehen, mit der sie weniger an Büschen und Vorsprüngen hängen blieben und kaum zu sehen waren.

Aksel, der eineinhalb Jahre älter als sie und mit ihr zusammen auf der Geheimen Burg aufgewachsen war, hatte anfangs gezögert. Doch nach und nach hatte ihn Jornas Entdeckungsdrang angesteckt. In der Entfernung von einer Stunde um die Burg herum gab es mittlerweile keinen Stein mehr, den die beiden nicht kannten. Zwar warnten ihre Mütter sie regelmäßig vor unheimlichen Waldwesen, halb aus Spaß und halb aus Aberglauben, aber seit Jorna den Waldtroll und seinen besten Kumpel den Felsenzwerg getroffen hatte, konnten sie diese Warnungen getrost ignorieren.

»Was macht ihr hier?«, erkundigte sich Jorna, die wusste, dass sich Waldtrolle nur sehr selten tagsüber aus ihren Verstecken wagten. Gut, noch seltener waren sie mit Felsenzwergen befreundet. Das lag wohl daran, dass so ein Felsenzwerg einem Waldtroll nicht einmal bis zum Knie reichte. Kein Wunder, da Mitrofan fast doppelt so groß war wie Jorna. Schulterhöhe. Sidir und Mitrofan verband jedoch eine enge Freundschaft, die schon seit ihrer Kindheit bestand. Sie sahen urkomisch aus, wenn sie nebeneinanderstanden.

»Wir gehen ein paar Hinweisen nach«, entgegnete Sidir.

Jorna lud die beiden zum Picknick auf dem Felsen ein und suchte in ihrem Stoffbeutel nach Käse und Wurst. Sidir, der Essen niemals ausschlug, verdrehte die Augen, als Mitrofan mit besorgter Miene ablehnte. Jorna registrierte erst jetzt Mitrofans Anspannung, seine nervösen Kopfbewegungen und das ständige Schnuppern.

»Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«

»Ihr solltet nicht hier sein«, sagte der Waldtroll mit belegter Stimme.

Jorna blickte sich suchend um. Die Sonne schien, von den fernen Bergen zog Wind zu ihnen herunter.

»Wieso das denn nicht?«

»Dunkle Gestalten sollen sich in der Gegend herumtreiben. Ihr solltet so schnell wie möglich aus dem Wald verschwinden.«

»Ich hab doch keine Angst vor dunklen Gestalten«, antwortete Jorna lachend.

»Genau deshalb bin ich so besorgt.« Mitrofan sah sie durchdringend an. »Angst ist ein natürlicher Reflex. Wer Angst verspürt, wittert die Gefahr und kann sich schützen.«

Jorna schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ich habe keine Angst. Ihr seid schließlich auch dunkle Gestalten, oder etwa nicht? Und die Soldaten aus Jakobsborg auch.«

Entschlossen kletterte Jorna wieder auf den Felsen. Aksel sah ihr unruhig entgegen.

»Hast du etwa Angst?«, fragte sie ihn.

Er schüttelt den Kopf, wandte sich dabei aber aufmerksam um. Klar hatte er Angst, das sah Jorna ihm an. Aber Aksel hatte vor vielem Angst, was er nicht kannte. Mitrofan sollte ihn mit seinen Andeutungen lieber nicht verrückt machen.

»Glaubt mir, ihr solltet Angst haben«, mahnte der Waldtroll erneut. »Passt bitte auf euch auf.« Er drehte sich um und verschwand mit Sidir in der Dämmerung des Waldes.

 

2. Kapitel

Jorna beschloss, sich nicht weiter um Mitrofans geheimnisvolle Warnungen zu kümmern. Sie wollte noch zum Fluss hinunter, um zu trainieren, doch dann bemerkte sie eine Veränderung. Es wurde mit einem Mal still im Wald. Die Luft kühlte immer mehr ab. Die Blätter der Bäume bewegten sich nicht, kein Tier regte sich. Selbst der Fluss schien langsamer zu fließen. Aksel umklammerte fröstelnd das Messer, das er immer bei sich trug.

»Irgendwas stimmt hier tatsächlich nicht«, murmelte er. »Vielleicht sollten wir doch gehen.«

Er erhob sich langsam und kletterte vorsichtig den bemoosten Felsen hinab. Unten blieb er lauschend stehen. Eine plötzliche Bewegung im Unterholz ließ ihn herumfahren. Ein Zischen erscholl aus einer anderen Richtung. Es klang wie ein Windzug, der durch den Kamin des Rittersaales jagte. Angestrengt starrte Jorna auf die dicht stehenden Tannen. Die Haare an ihrem linken Arm stellten sich auf. Der rechte Armstumpf, der kurz unterhalb der Schulter endete, zuckte leicht. Sie wünschte sich, Mitrofan und Sidir wären nicht einfach gegangen. Wieder das Zischen. Es ging ihr durch Mark und Bein.

»Was war das?«, flüsterte sie.

»Ich habe keine Ahnung.«

»Lass uns nachsehen.«

Jorna rutschte vom Felsen hinunter und prüfte, ob ihr Messer in der Scheide steckte. Aksel folgte ihr behutsam durch das dichte Unterholz. Der Wald schien in einer Schreckstarre zu sein. Kein Blatt regte sich. Kein Knacken. Kein Vogelruf. Nicht einmal der Wind rauschte durch die Baumwipfel. Jorna hörte nichts außer ihren eigenen Schritten. Erneut zischte es. Diesmal deutlich näher. Jorna stockte und hielt Aksel zurück. Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen.

Da huschte ein schwarzer Schatten zwischen den Baumstämmen hindurch. Direkt vor ihnen. Lautlos. Schnell. Jornas Muskeln spannten sich an. Doch kaum hatte sie den Schatten gesehen, war er schon wieder verschwunden.

»Da drüben«, raunte sie.

»Ich dachte, die gibt’s nur in den alten Geschichten …«, flüsterte Aksel.

»Was meinst du?«

In diesem Moment ertönte ein gellender Schrei aus der Richtung, wohin der Schatten verschwunden war. Jorna erstarrte vor Schreck. Aksel zuckte zusammen und duckte sich auf den Boden.

»Das war ein Mensch. Da ist jemand in Gefahr.« Jorna zückte ihr Messer. »Wir sehen nach, was passiert ist.« Sie rannte los. Aksel versuchte, sie aufzuhalten, aber ihre schlanke Gestalt verschwand schon zwischen den Tannen. Er folgte ihr.

Äste schlugen Jorna ins Gesicht. Hier im dichten Wald konnte sie nur wenige Meter weit sehen, immer wieder schoben sich Baumstämme in ihren Blick. Der Boden federte ihre Schritte sanft ab. Trotzdem musste sie aufpassen, denn unter den glitschigen Moosen verbargen sich Granitfelsen, die nur darauf warteten, ihre scharfen Kanten in Jornas Körper zu jagen. Hin und wieder strauchelte sie, weil sie einem Ast ausweichen musste, und wünschte sich mal wieder, zwei Arme zu haben, um ihr Gleichgewicht besser ausbalancieren zu können. Sie fluchte leise und schwor sich, ihr tägliches Training auszuweiten.

Allmählich lichtete sich der Wald, bis sich schließlich etwa hundert Meter vor Jorna der Fluss unnatürlich geräuschlos durch die nächste Biegung wand. Ruckartig blieb sie stehen. Am Ufer hockte ein Junge. Als er sie bemerkte, sprang er entsetzt auf und zog ein Messer aus seinem Gürtel. Jorna näherte sich ihm vorsichtig, doch er wich zurück. Er strauchelte über einen Stein und trat in das seichte Wasser am Ufer. Jorna hielt inne und hob beschwichtigend ihren Arm. Sie sah die Panik in seinen Augen.

»Wer bist du?«, fragte sie ihn. »Was machst du hier?« Er schien etwa in ihrem Alter zu sein, trug allerdings deutlich elegantere Kleidung. Pluderhosen, Wams, enge Schuhe. Ein Stadtmensch. »Wie kommst du hierher?«

Der Junge antwortete mit keiner Silbe. Aksel erreichte Jorna und blieb erstaunt neben ihr stehen.

»Wer ist das?«

Jorna zuckte ratlos mit den Schultern. Jedes Mal, wenn sie einen Schritt auf den Jungen zutrat, wich der weiter ins Wasser zurück. Also blieb sie stehen, hockte sich schließlich auf einen Stein am Ufer und wartete ab.

Allmählich schien der Junge zu verstehen, dass von ihnen keine Gefahr ausging. Seine Muskeln entspannten sich, das Gesicht wirkte nicht mehr so verkrampft und nach einer Weile setzte er sich ebenfalls auf einen kleinen Felsen in ihrer Nähe, behielt aber sein Messer in der Hand.

»Dieses Monster … gehörte das zu euch?«, fragte er leise.

»Was? Der Schatten? Dann hast du ihn auch gesehen?«

»Das Ding stand plötzlich direkt vor mir und hat mich angefaucht.« Die Pupillen des Jungen zitterten. »Es war irgendwie menschlich, aber dann auch wieder nicht. Und es hat furchtbar gestunken. So einer Kreatur bin ich noch nie begegnet.«

»Wo ist es hin?«, erkundigte sich Aksel und schaute sich um. Doch um sie herum war es ruhig. Keine Bewegung. Weder am anderen Flussufer, an dem sich an einem leichten Hang dichter Wald erstreckte, noch auf ihrer Seite. Sie nahmen das Rauschen des Flusses wieder wahr.

»Als ich mein Messer gezogen habe, ist es zurückgewichen und über den Fluss gerannt. Oder besser: geflogen.« Der Junge musterte Jorna und Aksel abwechselnd. »Was war das?«

»Ich habe eine Vermutung«, meinte Aksel. »Ich habe von solchen Wesen gehört. Aber nur in den Schauergeschichten meiner Oma. Sie sind … gefährlich … wie Mitrofan gesagt hat.«

Der Junge starrte panisch in die Richtung, in die das Wesen verschwunden war. Jorna erinnerte sich an die Warnung ihres Vaters vor den Spitzeln des Fürsten, die der aus der Stadt in den Wald entsandte, um die Burg der Jäger ausfindig zu machen. Es konnte kein Zufall sein, dass dieser schick gekleidete Junge ausgerechnet heute hier auftauchte.

»Wie heißt du und was machst du hier?«, fragte sie also.

Auch wenn er nicht gefährlich wirkte, mussten sie vorsichtig sein. Ihr Vater bezeichnete die Spitzel zwar als dumm, denn sie hatten die Burg schließlich hundertfünfzig Jahre lang nicht gefunden, obwohl viele wussten, wo sich die Jäger versteckten. Bislang hatte sie niemand verraten. Doch das konnte sich jeden Tag ändern.

»Domenik«, sagte der Junge. Pause. »Ich habe mich verirrt …«

»Verirrt?«, wunderte sich Aksel. »Hier?«

»Wo willst du denn hin?«, mischte sich Jorna wieder ein.

»Ich komme von Jakobsborg.«

Aksel warf Jorna einen warnenden Blick zu. Kein Wort über die Burg. Keine Silbe über die Jäger. Als wüsste sie das nicht selbst.

»Das ist weit weg«, bemerkte er vorsichtig.

»Ich habe mich wohl in der Richtung geirrt.«

Dafür, dass er sich einfach nur in der Richtung geirrt hatte, war er wirklich sehr weit vom Schloss entfernt. Jorna hatte die Stadt mit dem Schloss noch nie betreten, aber ohne Pferd war man von hier aus bestimmt zwei Stunden unterwegs.

»Was suchst du hier mitten im Wald? Warum hast du den Weg verlassen?«

»Ich wollte aus der Stadt raus und den Waldboden unter meinen Füßen spüren. Und ich musste über so viel nachdenken, dass ich nicht auf den Weg geachtet habe. Dabei habe ich mich verlaufen. Dann habe ich den Fluss gehört und mir gedacht, dass der irgendwo in den Gömul münden muss, an dem die Stadt liegt. Also bin ich seinem Lauf gefolgt. Aber da ist dieses Ding plötzlich aufgetaucht.«

Alle drei schwiegen eine Weile. Schließlich öffnete Jorna ihren Stoffbeutel und hielt Domenik Brot und Käse hin. Er steckte sein Messer weg, das mit seinem Schmuckstein ziemlich kostbar aussah. Dankbar nahm er das Essen an und spülte es mit einem Schluck Wasser aus dem Fluss herunter. Sein Gesicht bekam wieder etwas Farbe.

»Ihr seid Jäger, hab ich recht?«

Erschrocken starrte Jorna den fremden Jungen an, schluckte kurz, dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein, wie kommst du darauf?«

Domenik lachte.

»Keine Sorge, ich kämpfe nicht für Fürst Henrik.«

»Was weißt du von den Jägern?«

»In Jakobsborg werden die Jäger bewundert. Zumindest von denjenigen, die nichts besitzen. Fürst Henrik hingegen hasst sie und jagt sie mit seinen Soldaten. Er hat Angst vor ihnen. Ständig streut er Gerüchte, wie brutal und primitiv sie sind. Er nennt sie Verbrecher, Diebe und Mörder. Ich weiß aber, dass das nicht stimmt.«

Aksel zog deutlich vernehmbar die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Und wenn Fürst Henrik recht hat?«, fragte Jorna vorsichtig. Sie musste aufpassen. »Was ist, wenn die Jäger nur für sich rauben, nicht für die Armen?«

Sie sah Domenik scharf an, um herauszufinden, wie er darauf reagierte. Aksel legte Jorna warnend die Hand auf den Arm.

»Die Menschen glauben an die Jäger«, erwiderte Domenik. »Und die reichen Leute verdienen trotz der Jäger und ihrer gelegentlichen Überfälle immer noch gut am Handel mit dem Fürsten.«

»Woher weißt du das?«, fragte Jorna.

Domenik überlegte einen Moment, was er darauf antworten sollte. Schließlich gab er sich einen Ruck und sah Jorna direkt in die Augen.

»Ich bin der Kammerdiener von Lukas, dem Sohn des Fürsten.« Er machte eine Pause, als wollte er die Reaktion abwarten. Aksel zog erstaunt die Augenbrauen hoch und Jorna fluchte leise. Dann sprach Domenik weiter: »In den privaten Räumen der Familie wird viel geredet. Mehr als in der Öffentlichkeit. Daher höre ich vieles, was die Menschen draußen auf der Straße nicht erfahren.«

»Henrik hat also einen Sohn? Wusstest du das?«, fragte Aksel Jorna.

»Lukas ist jetzt fünfzehn«, fuhr Domenik fort. »Er soll bald verheiratet werden.«

»Wie ist es, für einen Tyrannen zu arbeiten?«, fragte Aksel grimmig. Jorna warf ihm einen warnenden Blick zu. »Schlägt er dich? Bist du deswegen weggelaufen?«

Domenik kniff die Augen zusammen. Um seinen Mund verhärteten sich die Gesichtszüge. »Ich bin nicht weggelaufen. Dafür gab es keinen Grund. Sei vorsichtig, was du sagst.«

»Du verteidigst deine Herrschaft? Dann sollten wir dich lieber nicht wieder laufen lassen.«

»Nur weil ich auf dem Schloss lebe, bin ich keiner von denen. Als ob jeder immer eine Wahl hätte«, blaffte Domenik ihn an.

Aksel lachte nur spöttisch.

»Du hast keine Ahnung, wovon zu sprichst.« Domenik sah ihn wütend an. »Lukas ist anders als sein Vater. Vollkommen anders. Mit ihm werden die Dinge einmal besser laufen.«

»Schluss jetzt!«, unterbrach Jorna die beiden. An Aksel gewandt sagte sie: »Du solltest nicht alles glauben, was mein Vater über das Schloss erzählt. Es können ja nicht alle wie der Fürst sein.«

»Warum machen die Soldaten dann Jagd auf uns?«

»Weil sie ihre Familien ernähren müssen. Deshalb!«, warf Domenik ein.

Aksel schnaubte unwillig und verschränkte die Arme.

»Du bist die Tochter von Lennard, stimmt’s?«, sagte Domenik zu Jorna gewandt. »Es gibt nicht viele Mädchen mit einem Arm, die alleine durch den Wald laufen. Ich wusste gleich, dass ihr Jäger seid.«

Jorna presste verärgert die Lippen zusammen. Sie sollten wirklich vorsichtiger sein. Aber den Arm konnte sie sich ja schlecht an die Schulter zaubern.

»Ja, ich bin Lennards Tochter. Aber ich bin nicht besonders stolz darauf.«

»Ich habe zwar schon davon gehört, dass Lennards Tochter nur einen Arm haben soll. Aber bislang hatte ich gedacht, das sei bloß ein Gerücht, um Lennard in schlechtem Licht dastehen zu lassen.«

»Was willst du damit sagen?«, brauste Jorna auf. »Glaubst du etwa, ich kann mich nicht verteidigen?«

Sie zog ihr Messer aus der Scheide und machte einen Schritt auf Domenik zu. Der wich erschrocken zurück und hob beschwichtigend die Hände.

»Ja, ich habe nur einen Arm. Aber mit diesem einen Arm schneide ich dir schneller die Kehle durch, als du Pieps sagen kannst.« Mit glühendem Blick sah sie Domenik an, der leichenblass wurde, die Augen allerdings starr auf etwas hinter Jorna gerichtet hielt.

Ein Räuspern ließ Jorna zusammenzucken. Mitrofan trat neben sie. »Ich will ja nicht stören, aber ihr müsst hier jetzt wirklich verschwinden.« Jorna steckte widerwillig ihr Messer in die Scheide.

Domeniks Mund stand offen und der Schrei, der ihm eigentlich hätte entfliehen sollen, schien sich vor Schreck verkrochen zu haben. Jorna lachte laut auf.

»Du hast wohl noch nie einen Waldtroll gesehen?«, fragte sie Domenik und betrachtete ihn belustigt.

Domenik kämpfte um seine Fassung, verlor sie jedoch sofort wieder, als auch noch Sidir neben Mitrofan trat, der bis jetzt hinter einem Busch gestanden hatte.

»Ich kenne den Jungen«, sagte der Felsenzwerg. »Ihr könnt ihm vertrauen. Vor einem Jahr hat er einen eurer Jäger im Wald versteckt, als der sich verletzt hatte.« Freundlich nickte er Domenik zu.

Acht Augen richteten sich auf Domenik, dessen Mund langsam wieder zuklappte. Er kniff sich in den Arm, blickte zum anderen Flussufer und dann wieder auf Mitrofan.

»Bist du …?« Er stotterte. »Bist du ein Troll?« Zur Sicherheit zwinkerte er auch noch mal mit den Augen. Doch der Troll stand immer noch vor ihm.

Mitrofan nickte. »Und ich fresse am liebsten kleine Jungen vom Schloss, die sich im Wald verirren.«

Domenik trat instinktiv einen Schritt nach hinten. Jorna und Aksel brachen in schallendes Gelächter aus.

»Ich muss wohl akzeptieren, dass es Dinge gibt, an die ich bislang nicht geglaubt habe.« Domenik sah sich erneut um, sein Blick wanderte suchend am Waldsaum entlang. »Wo ist der fliegende Schatten hin? Wird er mich durchlassen?«

Mitrofan beruhigte ihn mit einer Geste.

»Das würde ich ihm raten. Ich werde dich nämlich zum Schloss bringen.« Er trat auf Domenik zu, der sofort zur Seite sprang. »Und ich verspreche, dich nicht aufzufressen.« Mitrofan grinste. Er legte Jorna die riesige Hand auf die Schulter. »Und du? Glaubst du mir nun endlich, wenn ich sage, der Wald ist nicht sicher? Ihr lauft jetzt sofort nach Hause. Ich kann nicht auf alle gleichzeitig aufpassen. Und dieser Winzling«, er wies auf Sidir, »denkt im Moment nur daran, wo er die schmackhaftesten Wurzeln findet. Also ist auf ihn mal wieder kein Verlass.«

Sidir stöhnte auf. »Ich begleite die jungen Dinger ja schon. Für Jorna verschiebe ich sogar mein Mittagessen. So viel Zeit muss sein.«

Kurz darauf verließen alle das Flussufer und verschwanden in zwei entgegengesetzten Richtungen im Wald.

3. Kapitel

Sidir lief mit schnellen Schritten vor Jorna und Aksel her. Mitrofan hatte vollkommen recht gehabt. Er war tatsächlich hungrig und hatte geradezu Heißhunger auf ein klitzekleines Reh. Hin und wieder, wenn es den Felsenzwerg danach gelüstete, suchte er sich ein Tier, um seinen ansonsten eher faden Speiseplan aus Wurzeln und Pilzen etwas aufzupeppen. Leider neigen Felsenzwerge dazu, immer genau in den falschen Momenten von unbändigem Appetit überwältigt zu werden. Das ist vermutlich der Grund, warum sie manchmal als unzuverlässig und verfressen bezeichnet werden. Aber das wird ihnen nicht gerecht. Zumindest nicht so ganz.

Als die drei ein lang gestrecktes Tal erreichten, in dessen Mitte sich ein schmaler Bach durch die Bäume und Moose schlängelte, blieb Sidir abrupt stehen. Er forderte die beiden Menschen ebenfalls zum Halten auf, lauschte in den Wald hinein und schloss die Augen, um besser hören und riechen zu können. Die Hänge stiegen zu beiden Seiten steil an und waren dicht bewaldet. Der Himmel hatte sich zugezogen und kühler Wind strömte aus dem düsteren Dickicht.

»Was ist los?«, fragte Jorna. »Ist der Schatten zurück?«

»Schscht …«

Erst Stille. Dann ein Knacken zwischen den Bäumen weit oberhalb. Leichter Regen setzte ein. Jorna zog sich den Umhang fester um den Körper. Sie fror und sehnte sich nach der gemütlichen Wärme in der Küche der Burg.

»Können wir weiter?« Sie stieß Sidir einen Finger in den Rücken.

»Geht schon vor«, antwortete der. »Ich folge euch gleich. Da oben ist ein Reh.« Er verschwand im Gebüsch.

»Zwerge …«, murmelte Aksel. »Ich dachte, er soll auf uns aufpassen.« Jorna hörte das Unbehagen in seiner Stimme.

Der Regen nahm zu. Die frühe Dämmerung kündigte den Herbst an. Sie zogen sich die Kapuzen über die Köpfe und eilten weiter durch den feuchten Wald. Nässe drang in ihre dünnen Lederschuhe ein.

Am Ende des Tals kletterten sie einen Felshang hinauf. Dabei waren sie so auf sich, ihren eigenen Hunger und die Kälte konzentriert, dass sie die Bewegungen zwischen den Bäumen nicht wahrnahmen. Erst das Kläffen ließ Jorna zusammenschrecken. Es klang rau und brutal. Wie von einem übergroßen Jagdhund.

»Was war das?«, fragte Jorna leise.

Aksel zückte sein Messer, bewegte sich aber nicht vom Fleck. Jorna zog ebenfalls ihr Messer und wandte sich in Richtung des Geräusches um. Aksel hielt sie zurück.

»Bleib hier!«, flüsterte er. »Nicht bewegen!«

Etwas Großes huschte durch den Wald. Ein Knurren ertönte aus dem Unterholz, näher, bedrohlicher.

»Aksel! Was ist das?«

Im nächsten Moment stürzte ein schwarzes Wesen aus dem Schatten der Bäume. Die haarige Bestie jagte auf Aksel zu, doch der wich im letzten Moment aus. Das Monstrum, das wie ein riesiger Wolf aussah, wirbelte herum und ging sofort zum nächsten Angriff über. Wieder konnte sich Aksel wegducken und warf sich auf den Boden. Jorna stolperte rückwärts und trat beinahe in die Leere des sich hinter ihr öffnenden Abhangs. Aksel rappelte sich auf und hielt das fauchende Tier einen Moment lang mit seinem Messer in Schach. Doch dann sprangen zwei weitere Bestien zähnefletschend aus dem Wald und griffen ihn ebenfalls an. Jorna erwachte aus ihrer Erstarrung. Das Messer fest gepackt sprang sie auf die Untiere zu.

Ein Schrei hielt sie zurück: »Bleib, wo du bist!«

Sidir stürmte mit dem Kopf eines Rehbocks in den Händen auf die Lichtung. Zwei der Bestien wandten sich sofort dem neuen Angreifer zu, die dritte umkreiste Aksel knurrend. Sidir erwischte eine am Hals und schleuderte sie in weitem Bogen den Hang hinunter. Die Zweite wich erst zurück, sprang dann über Sidir hinweg und verschwand im Wald. Das dritte Tier gab nicht so schnell auf, sondern stürzte sich erneut auf Aksel, sprang ihn von vorne an und riss ihn zu Boden. Die messerscharfen Zähne gruben sich tief in seine linke Schulter. Im nächsten Moment erzitterte das Scheusal. Ein röchelnder Laut kam aus seiner Kehle. Aksel hatte ihm mit letzter Kraft sein Messer von unten in den Hals gerammt. Dann verlor er das Bewusstsein. Sidir versetzte dem Vieh einen kräftigen Hieb mit dem Geweih des Rehbocks und das Ungeheuer brach endgültig zusammen.

Wütend stieß Sidir das Tier von Aksel herunter, der reglos dalag. Sein Hemd war an der Schulter zerfetzt. Aus mehreren Wunden sickerte unaufhörlich Blut und vermengte sich mit dem Blut der Bestie, das ihn bedeckte. Jorna stürzte zu ihm. Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände. Atmete er noch? Einen Moment lang befürchtete sie, er sei tot. Doch dann holte er keuchend Luft, öffnete seine Augen und sah sie mit flatternden Augenlidern an.

Sidir untersuchte eilig die Wunde. Jorna riss ihren Beutel von der Schulter und drückte den Stoff auf die blutenden Stellen. Aksel blickte an Jorna vorbei, als würde hinter ihr jemand stehen. Jorna sah sich erschrocken um, doch da war nur der Wald. Sidir fixierte den Verband mit der Lederschnur, die er als Gürtel um seine Hose trug.

»Die Wunden sind tief«, sagte er leise. »Sie müssen gründlich gesäubert werden. Wir bringen ihn so nah wie möglich zur Burg, dann kannst du von dort Hilfe holen.«

Jorna nickte. Sie war zu geschockt, um wütend auf den verfressenen Felsenzwerg zu sein. Letztlich hatte er sie ja doch noch gerettet. Sie ging einen Schritt näher an das tote Tier heran. Das schwarze Fell war stumpf und struppig, die Augen blutunterlaufen und die Pupillen orange. Fauliger Gestank stieg ihr aus dem weit geöffneten Maul entgegen, als sie sich das Ungeheuer genauer ansah. Der immer noch erhitzte Körper des Tieres dampfte im mittlerweile strömenden Regen.

»Was ist das, Sidir?«

»Ein Wolfshund der Dunkelheit.« Sidir untersuchte das Tier besorgt. »Was macht der hier?«, fragte er sich so leise, dass Jorna ihn kaum verstand. »Wieso kommen die gerade jetzt?«

Er richtete sich auf und sah sich um.

»Was ist los?«, erkundigte sich Jorna. »Was sind die Wolfshunde der Dunkelheit?«

»Sie sind dem Schwarzen Magier hörig«, murmelte Sidir. »Aber das kann einfach nicht sein.«

»Der Schwarze Magier?«

»Hat dir schon mal jemand von dem Schwarzen Magier erzählt, der in seiner Festung der Unzähligen Türen auf Rache sinnt? Der auf ewig in die Suche nach dem Kristall verstrickt ist?«

»Das ist eine Sage. Ein Märchen, mit dem man Kindern Angst einjagt. Es gibt ihn nicht.«

»So wie es auch keine Waldtrolle, Schwarzalben und Wolfshunde gibt?« Sidir griff Aksel unter die Achseln und zog ihn hoch. »Wir müssen los. Dein Freund braucht Hilfe.«

Schwarzalben! Nun begriff Jorna. Dieses Scheusal, das Domenik am Fluss gesehen hatte, war ein Schwarzalb gewesen, eines dieser albtraumartigen Wesen, die ihre Mutter als Legende abtat! Sie spürte die Gänsehaut, die ihr bis in den Nacken kroch.

Sie keuchten durch Jornas geliebten Wald, in dem sie jeden Baum kannte. Aus ihm hatte sie immer Kraft geschöpft, in ihm hatte sie gelebt und er war für sie der Inbegriff von Sicherheit und Geborgenheit gewesen. Gefahr war nie von ihm ausgegangen. Nie hatte sie dort Angst verspürt. Das hatte sich heute auf einen Schlag geändert.

4. Kapitel

Das Waldland grenzte im Süden an das Große Meer, an dessen Ufern immer wieder Schiffe anlandeten und fremdartige Waren ausluden. Nördlich ging die Landschaft in das Seengebirge über, von dem die Menschen des Waldlandes nur Gerüchte kannten. Im Osten erhob sich der Fjell, ein schroffes Gebirge, das man – so wie auch die Westhügel – lieber nicht überquerte. Daher wusste niemand, was sich jenseits davon befand. Jakobsborg ragte als Zentrum des Waldlandes aus der Landschaft heraus.

Die Menschen im Waldland mieden das Gebirge, wenn es nur ging. Im Fjell, so hieß es, hatten die Bergtrolle ihre Heimat und die fraßen Fremde lieber auf, anstatt sie zu fragen, wohin sie wollten. Selbst der Fürst von Jakobsborg schickte seine Kundschafter niemals dorthin.

Im nördlich gelegenen Seengebirge, einer von Tümpeln, Seen und Mooren durchzogenen Hochebene, lebten den Sagen zufolge unheimliche Wesen. Nur der alte Purgin war in seiner Jugend einmal zu einer Wanderung in diese Gegend aufgebrochen. Er kehrte mit unglaublichen Geschichten von göttergleichen Wesen zurück, die ein Leben in ständiger Freude mit Tanz und Gesang führten. Da er jedoch kurz nach seiner Rückkehr darauf bestand, sich nur noch von Hasenohren und Elchfüßen zu ernähren, fiel es seinen Freunden schwer, den Berichten Glauben zu schenken. Purgin lebte seitdem weit entfernt in einem Wald und weigerte sich, mit anderen Menschen zu sprechen. Es sei denn, sie hatten einen Hasen oder einen Elch dabei.

Nördlich des Seengebirges begann das, was die Menschen als das Große Unbekannte bezeichneten, nicht zu verwechseln mit dem unbekannten Land jenseits des Fjells. Kaum ein Bewohner des Waldlandes war je dorthin aufgebrochen und keiner der wenigen, die es doch getan hatten, war zurückgekehrt. Man könnte also sagen, die Karten des Waldlandes hatten ernst zu nehmende Lücken, was aber keinen sonderlich störte. Man blieb eben da, wo man sich auskannte.

Fürst Henrik von Jakobsborg führte schon seit Jahren den Kampf gegen die Jäger und folgte dabei der Methode seiner Vorfahren. Von den Jägern hieß es, sie versteckten sich tief in den Wäldern und hausten in den Höhlen des Fjells, über dessen Spitzen die Grenze zum Ostland verlief. Doch das war lediglich ein Gerücht, das die Jäger selbst streuten, um sich vor dem allzu penetranten Zugriff der Soldaten des Fürsten zu schützen. Mit Erfolg. Tatsächlich hielten sich die Jäger viel näher an Jakobsborg auf, als Fürst Henrik glaubte. Frondeberg – so hatten die Jäger ihren Hauptsitz vor vielen Jahren genannt – befand sich lediglich ein paar Stunden Fußmarsch von der herrschaftlichen Stadt entfernt.

Schon vor langer Zeit war eine kleine Gruppe aufständischer Adeliger von Jakobsborg vertrieben worden. Sie hatten sich den Gesetzen der Stadt nicht unterwerfen wollen und waren in die Wälder gezogen. Hier hatten sie – gut versteckt vor den Augen der Stadtbewohner und ihrer Herrscher – die Siedlung Frondeberg gegründet, die im Laufe der Jahre stetig gewachsen war. Im Zentrum befand sich die Geheime Burg, gemauert aus den Steinen des Fjells, die seit jeher den Ruf größter Festigkeit und Beständigkeit hatten. Umgeben war diese Burg von zahlreichen Holzhütten. Der Anführer der Jäger, traditionell ein Mann, der durch einen Axtkampf gewählt wurde, weil keiner so gut mit den Äxten umgehen konnte wie Männer – zumindest nach der traditionellen Sichtweise der Männer –, lebte mit seiner Familie in der Burg und sorgte von hier aus für das Wohlergehen seiner Untergebenen.

Die Jäger empfanden sich als die rechtmäßigen Besitzer des Landes. Die Stadtbewohner hielten sie für Sklaven des jeweiligen Fürsten. Aber natürlich bemühten sich die Anführer der Jäger genauso wie die Fürsten in Jakobsborg darum, ihre eigenen Kinder zu ihren Nachfolgern zu machen. In der Vergangenheit hatte das System gut funktioniert, meist durch die Einschüchterung der Rivalen mit gut geschliffenen Äxten. Problematisch wurde es natürlich, wenn es sich bei den Kindern um Mädchen handelte. Denn Frauen übernahmen deutlich seltener die Führung als Männer. Eigentlich nie. Daher war es nicht verwunderlich, dass Lennard, der gegenwärtige Anführer der Jäger, in seiner Tochter Jorna keine würdige Nachfolgerin für sich sah. Zumal er sie mit ihrem Armstumpf beim traditionellen Axtkampf noch mehr im Nachteil sah, als sie es als Mädchen in seinen Augen sowieso schon gewesen wäre. Und einen Sohn hatte er nicht mehr.

Jorna kannte all die sagenhaften Geschichten der Vertreibung vom Schloss und der Anfänge in Frondeberg. Ihr Vater und sein Vater, dessen Vater und die Väter vieler Generationen davor hatten sich auf den Widerstand gegen die Herren von Jakobsborg berufen und an den alten Geschichten festgehalten. Was davon der Wahrheit entsprach, wo die Fantasie begann und was im Laufe der Zeit als sagenhafte Dichtung dazugekommen war, das wusste schon lange niemand mehr.

Der Innenhof der Geheimen Burg war weitläufig. Die Ställe für die Pferde, Kühe, Schweine und Ziegen begrenzten die eine Seite. Ein Schuppen mit alten Kutschen und Schlitten befand sich daneben. Dunkle Steine formten die dicken Mauern des Hauptgebäudes bis in die erste Etage hinauf, durch deren kleine Fenster nur wenig Licht in die Räume drang.

Wenn die Ansiedlung mit ihren vielen Gebäuden auch groß schien, so war Frondeberg doch so tief und geschickt im Wald versteckt, dass kaum ein Außenstehender von ihrer Existenz wusste. Da Frondeberg auf einem Hügel lag, hatte man vom höchsten Turm der Burg einen weiten Blick auf die dichten Wälder der Umgebung. Kein Weg führte von den Handelsstraßen zu diesem Ort, denn seit Ewigkeiten schon nutzten die Jäger jeden Tag andere Routen und verbargen ihre Spuren sorgsam. Dagegen zu verstoßen war das größte Sakrileg, das ein Jäger begehen konnte.

5. Kapitel

Sidir brachte Jorna und Aksel bis zum Ende des Waldes. Weiter konnte er nicht gehen. Die Menschen glaubten zwar nicht an Zwerge. Oder an Waldtrolle. Oder gar an Wolfshunde. Wäre ihnen die Anwesenheit all dieser Waldbewohner jedoch bewusst geworden, dann hätten sie vermutlich längst ihre Mistgabeln geschultert und alles erschlagen, was nicht aus ihrem eigenen Stall kam.

Ab dem Waldrand am Saum von Frondeberg musste Jorna also allein klarkommen. Tragen konnte Jorna ihren Freund nicht, denn immer wieder verlor er das Bewusstsein, sodass er ohne Hilfe kaum würde gehen können. Also versuchte sie, durch Rufen und Winken die Aufmerksamkeit der Burgwachen auf sich und Aksel zu lenken.

Sven entdeckte die beiden als Erster. Er war zwar der älteste Jäger, aber seine Augen machten den Adlern des Fjells noch immer Konkurrenz. Zusammen mit ihm trug Jorna den verletzten Freund in seine Kammer. Astrid, Aksels Mutter, wurde gerufen und stürzte in den Raum, krank aus Sorge um ihren Sohn. Auch Jornas Mutter Gudrun eilte zur Hilfe.

Die Wunden waren tief, aber die Blutung hatte aufgehört. Die Frauen löcherten Jorna mit Fragen. Doch als die von dem Wolfshund erzählte, schimpften sie lauthals.

»Darüber macht man keine Scherze!«, wies ihre Mutter sie wütend zurecht. »Was ist wirklich passiert? Wer hat Aksel so zugerichtet? Wo habt ihr euch herumgetrieben?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Jorna schließlich resigniert. »Ich habe ihn einen Moment lang nicht gesehen und dann war es schon passiert. Könnte ein Bär gewesen sein.«

Mit dieser Lüge konnten die Frauen gut leben. Sie wuschen die Wunden, zogen Aksel vorsichtig die zerfetzten Kleider vom Leib und schickten Jorna aus dem Raum, als ob sie ihren besten Freund noch nie nackt gesehen hätte.

Im Hof setzte sich Jorna erschöpft auf einen Holzbalken. Was hatte das alles zu bedeuten? War das im Wald wirklich ein Schwarzalb gewesen? Woher kamen diese grässlichen Wolfshunde? Hatte der Magier sie tatsächlich geschickt? Jorna machte sich große Sorgen um Aksel. Die Wunde sah nicht gut aus. Hoffentlich würde sie wieder heilen.

Gerade als sie wieder in Aksels Kammer zurückkehren durfte, schallten Hufgetrappel und Stimmen durch den Hof. Ihr Vater galoppierte mit den Jägern den Weg hinauf. Sie waren früh dran. Die Sonne stand noch nicht sehr tief, normalerweise hatten sie um diese Uhrzeit ihre Beutezüge noch nicht beendet. Das Gesicht ihres Vaters spiegelte seine ungestüme Wut wider und die Jäger wirkten besorgt. Und dann sah sie Yngve. Sein rechter Arm war verbunden. Und auch Anders hatte einen Verband am Kopf.

Die Pferde kamen im Hof zum Stehen, die Männer sprangen aus den Sätteln. Lennard fluchte lautstark.

»Diese Hurensöhne!« Er stampfte auf die Tür zu. »Wenn ich die erwische, dann mache ich sie zu Hackbraten!«

»Was ist denn passiert?«, erkundigte sich Jorna und nahm ihrem Vater den feuchten Umhang ab. »Seid ihr angegriffen worden?«

»Sie haben Peer. Diese Sauböcke!«

Jetzt kamen auch die anderen Jäger nach und nach in den Hof und folgten ihrem tobenden Anführer in den Rittersaal. Eigentlich war das gar kein richtiger Rittersaal, sondern eher eine niedrige Halle, an deren Ende ein Kamin im Winter für Wärme sorgte. Aber weil Lennard so gerne einen Saal mit langer Tradition und Ritterrüstungen gehabt hätte, nannte er den Raum, in dem es in der Regel einmal am Tag warmes Essen gab, den Rittersaal. Donnernd ließ er die geballte Faust auf den Versammlungstisch niederkrachen.

»Die Soldaten des Fürsten haben Peer erwischt und entführt. Wir konnten nichts für ihn tun. Sie waren zu viele.«

Gunnar stürmte in den Saal. »Wo haben sie ihn hingebracht?« Der Mann von Peer war in Tränen aufgelöst und Jorna konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal so blass gesehen zu haben. »Lennard! Wo ist Peer?«

Der Anführer der Jäger ließ sich schwer auf eine der Holzbänke fallen. »Sie haben ihn ins Schloss gebracht.«

Er machte eine Pause, in der er einen tiefen Schluck aus dem Bierkrug nahm, den seine Frau ihm hinstellte.

»Die waren in der Übermacht. Bestimmt hundert. Sie sind von allen Seiten auf uns eingedrungen, aber wir haben wacker gefochten. Allein ich habe fünf von den Schweinehunden geköpft. Dann haben sie Peer eingekreist. Sie hatten es von Anfang an nur auf einen abgesehen. Die wussten natürlich, dass sie uns niemals alle kriegen. Also haben sie sich den Einzigen vorgeknöpft, der keiner Fliege was zuleide tun kann. Wir sind sogar noch einmal zurückgeritten, um Peer zu befreien, aber da hatten sie ihn schon gefesselt. Wir wollten ihn nicht in noch größere Gefahr bringen.«

Die Männer hinter ihm nickten auffallend zögerlich. Birger, der immer anderer Meinung war als Lennard, verzog den Mund zu einem schmalen Grinsen.

Was wirklich passiert war? Die Jäger hatten den Weg zwischen Jakobsborg und Aringsborg im Visier. Eine Ladung Leinen sollte von der Hafenstadt an den Hof des Herrschers geliefert werden. So hatten es ihnen Späher vor ein paar Tagen erzählt. Also legten sich Lennard und seine Getreuen auf die Lauer. Drei Wagen kamen den schmalen Weg von der Hafenstadt auf sie zugerollt. Die Pferde waren unruhig, die Kutscher wirkten nervös, schielten immer wieder in die Dunkelheit des Waldes. Aber die Jäger hatten sich gut versteckt. Sie warteten, bis die Wagen auf ihrer Höhe waren, und brachen dann aus dem Wald hervor. Ein Überraschungsangriff, wie sie ihn zu Hunderten schon durchgeführt hatten. Doch diesmal verlief alles anders, als Lennard es geplant hatte: Die Kolonne der Kaufleute war eine Falle. Unter den Planen waren Soldaten versteckt, die auf ein Zeichen hin aufsprangen und die Jäger angriffen. Bis zu dieser Stelle stimmte der Bericht Lennards noch mit der Wahrheit überein. Aber es war keinesfalls eine Übermacht an Soldaten, die ihnen gegenüberstand. Vielmehr hatte der oberste Wachoffizier Jakobsborgs mit drei oder vier Räubern gerechnet. Nicht mit zwölf. Daher waren auch nur sechs Soldaten unter den Planen versteckt. Die befanden sich in einer brenzligen Situation und hätten wohl auch den Kürzeren gezogen, wenn Lennards Pferd, ein junger Rappe, der eine dubiose Angst vor Soldaten hatte, sich nicht vor Schreck auf die Hinterläufe gestellt und seinen Reiter abgeworfen hätte. Für einen Moment entstand Unruhe unter den Jägern, die die Soldaten ausnutzten. Sie postierten sich auf den Ladeflächen der Kutschen, richteten ihre Armbrüste auf den Anführer der Jäger und einer drückte ab. Der Pfeil schoss haarscharf an Lennards Kopf vorbei und bohrte sich mit einem schmatzenden Geräusch ins Moos. Der Rappe galoppierte in den Wald, Lennard starrte den Soldaten entsetzt an und rief dann nach seinem Strategen Peer. Der sollte ihm aufhelfen. Peer sprang vom Pferd, wurde von dem Pfeil eines anderen Soldaten ins Bein getroffen und fiel in den Dreck. Die Jäger, die noch auf ihren Pferden saßen, wandten sich um und ritten in den Wald zurück. Lennard folgte ihnen fluchend. Peer fiel den Soldaten in die Hände, ohne sich wehren zu können. Den Versuch, ihn zu befreien, brachen die Jäger ab, weil ihr Freund auf der Kutsche der vermeintlichen Händler von sechs Speeren zugleich bedroht wurde. Er wäre tot gewesen, bevor der erste Jäger ihn erreicht hätte.

Kein Wunder also, dass Lennard sauer war. Seine Truppe bestand aus Schissern und Weicheiern. Als solche titulierte er sie zumindest seit einer Stunde. Das Pferd, diesen verräterischen Gaul, hatte er übrigens erst kurz vor Frondeberg wiedergefunden, wo es treu auf seinen Herrn wartete und auf einen Scheffel Hafer hoffte. Um sich die Zeit zu verkürzen, hatte es sich mit dem Zentauren unterhalten, der nicht weit der Jägerhochburg im Wald lebte. Sein Tag war eigentlich ganz angenehm verlaufen.

Lennard fluchte weiter. Seine Frau Gudrun versuchte, ihn zu beruhigen, die anderen Jäger standen etwas bedröppelt um ihn herum. Keiner mochte vor den Frauen zugeben, dass die Version ihres Anführers glatt gelogen war. Jorna ahnte jedoch, dass etwas daran nicht stimmte. Sie kannte ihren Vater: Er war kein so guter Lügner, wie er glaubte.

Als der Fremde in den Innenhof trat, waren also alle beschäftigt. Die einen mit Fluchen, die nächsten mit Schämen oder wieder andere mit Beruhigen. Ein geheimnisvolles Schmunzeln wanderte über das Gesicht des in einen schweren Umhang gekleideten Mannes. Er schlug die Kapuze zurück und sah sich forschend um.

Jorna bemerkte ihn als Erste. Sie hatte keine Lust, sich die Flüche ihres Vaters noch länger anzuhören, und trat nach draußen. Verwundert starrte sie den seltsamen Fremden an. Wie kam er auf die Geheime Burg? Hatten die Jäger ihn etwa mitgebracht? Mit einer fast elegant wirkenden Geste winkte er sie zu sich.

»Ich bin fahrender Heiler und suche eine Unterkunft für die Nacht«, sagte der Fremde zu Jorna. Der Blick aus seinen eisblauen Augen ruhte interessiert auf ihrem Armstumpf. »Ein wenig Stroh im Stall reicht mir vollkommen.«

Jorna dachte sofort an Aksel und seine Wunden. Vielleicht konnte der Heiler ihm helfen. Aber wie war er hierhergekommen? Alle Jäger waren beschäftigt und niemand nahm Notiz von dem Mann. Ein Heiler! Er musste Aksel helfen! Wie ein Schatten überdeckte dieser Gedanke die Frage, wo der Fremde herkam, und verdrängte alle Vorsicht.

Sie brachte ihn in die Kammer, in der Aksel mit blassem Gesicht lag, und der Heiler untersuchte ihn gründlich. Als er seinen Umhang ablegte und ihr den Kopf zuwandte, wich sie erschrocken zurück. Noch nie hatte sie solche Pupillen gesehen. Es lag eine Kälte darin, die sie fast körperlich spüren konnte.

»Die Bisswunden der Wolfshunde sind gefährlich«, sagte der Fremde leise, fast flüsternd. »Sie verheilen nicht, wenn sie nicht richtig behandelt werden.«

»Woher wisst Ihr, dass es ein Wolfshund war?«

»Erfahrung«, antwortete er knapp.

Der Heiler musterte sie lange und intensiv. So als solle sie sich sein Gesicht und seine markanten Augen genau einprägen. Jorna hatte den Eindruck, er würde bis tief in ihr Innerstes blicken. Gleichzeitig erfasste sie eine ungewöhnliche Wärme, die wie heißer Schwefeldampf durch ihre Adern floss und ihre Energie aufsog. Jorna schloss die Augen. »Aufhören!«, dachte sie. Der Fremde zuckte zurück, als hätte er glühendes Eisen angefasst. Dann wandte er sich seinem Reisesack zu. Er zog ein paar Kräuter hervor, zerrieb sie zwischen den Fingern, roch daran, schüttelte den Kopf und suchte mit beiden Händen in den Tiefen seines Sackes weiter. Schließlich holte er eine kleine Dose heraus und gab Aksel eine Pille zu schlucken. Der fiel kurz darauf in tiefen Schlaf.

»Ich werde bei ihm bleiben und ihn versorgen«, meinte der Heiler. Seine Stimme war nun sanft und fürsorglich. »Sorg dafür, dass ich einen Sack Stroh hier in der Ecke habe! Und bring mir etwas zu essen!«

Jorna eilte durch die Gänge, um dem Fremden das Gewünschte zu bringen. Es war, als würde jemand anderes sie steuern. Dieser Mann war gefährlich. Nur ein Heiler … Noch immer spürte sie seine kalten Augen auf sich.

Die ganze Burg war weiterhin in Aufruhr. Das erklärte vielleicht, warum ihre Mutter nur kurz nickte, als Jorna ihr von dem Fremden berichtete, und ihr eine Schale mit Suppe in die Hand drückte. Einen Heiler konnten sie hier tatsächlich gut gebrauchen.

Aksel schlief unruhig, als Jorna zurückkehrte. Der Heiler bedankte sich und schickte Jorna wieder fort. Ihr Freund bräuchte Ruhe, um sich zu erholen. Ihr war jedoch unwohl bei dem Gedanken, dass der Fremde die Nacht über allein bei Aksel wachen wollte, und sie beschloss, zu bleiben. Doch als sie sich ans Ende des Bettes setzen wollte, durchdrang sie der Blick des Heilers mit einer Kälte, dass sie vergaß, was sie vorgehabt hatte. Wie im Traum erhob sie sich und ließ ihn mit ihrem besten Freund allein.

6. Kapitel

Vom Hafen am Großen Meer in Aringsborg brachten Händler die Waren über verzweigte Handelswege in die kleinen Orte des Waldlandes. Die meisten Güter waren jedoch für Jakobsborg, die größte Stadt des Waldlandes, bestimmt.

Von hier aus wurde das riesige Gebiet beherrscht und gelenkt. Weizenfelder umgaben Jakobsborg, genauso wie Kohlfelder und Hopfengärten für die Bierbrauer, die hoch angesehen waren.

In der Stadt lebten die Menschen dicht gedrängt und in steter Angst vor den Herrschern. Eine Befestigungsmauer, mehr als doppelt so hoch wie zwei Soldaten, umgab den Ort, niedrige Steinhäuser lehnten sich dahinter aneinander, mit roten Ziegeldächern und kleinen Fenstern. Die Straßen der Stadt waren schmal, teils mit den Steinen des unteren Fjells gepflastert, teils aus festgestampftem Lehm. Kreisförmig umschlossen die Häuserzeilen das Zentrum mit seinem großen Marktplatz. Hier thronte das Schloss der Herrscherfamilie. Immer am Tag nach Vollmond trat Fürst Henrik auf dem Balkon des Hauptportals vor seine Untertanen, um vermeintliche Rebellen und Verbrecher zu bestrafen. Da es keine Theater in Jakobsborg gab, kamen die Menschen zu diesem Ereignis und warteten gebannt auf die Ankunft der Gefangenen. Hin und wieder kam der Strick zum Einsatz, jedes Mal wurde zumindest eine Hand abgehackt oder ein Ohr abgeschnitten. Doch nicht allen gefiel das makabre Schauspiel. Widerstand formierte sich allmählich gegen das rabiate Vorgehen des Fürsten. Die ihm zugewandten Bürger wurden weniger und der Unmut wurde stetig lauter.

Direkt am Fuß der Stadtmauer reihten sich die Hütten der Ärmsten auf. Deren Bewohner durchsuchten den Müll, der aus der Stadt herausgebracht wurde, und liefen ständig Gefahr, von den Soldaten des Fürsten vertrieben zu werden.

---ENDE DER LESEPROBE---