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Carmen Erlenbach wurde am 8. Juli 1960 in der Barbarossastadt Gelnhausen in Hessen geboren. Seit Januar 1993 ist sie als freiberufliche Journalistin und Pressefotografin für verschiedene Zeitungen im Rhein-Main-Gebiet tätig. Ihr literarischer Adventskalender „Die Weihnachtsglatze“ entstand im Dezember 2020 und Januar 2021 während einer Chemotherapie und der Corona-Pandemie. Im Fokus stehen nicht alltägliche Betrachtungen von Ereignissen, die sich in der Advents- und Weihnachtszeit überall zutragen könnten – stets gespickt mit einem Hauch von Ironie. Lebkuchen kämpfen miteinander, Nussknacker tanzen, Oma gerät in Verdacht, ein Portemonnaie gestohlen zu haben, am Nikolaustag kommt es zu einer wundersamen Begegnung, eine Weihnachtsgesellschaft schunkelt zu dem Lied „Stille Nacht“, am Heiligen Abend erwartet die Familie eine schöne Bescherung. Aus dem Christkind wird unversehens ein Mädchen. Katze, Hund und Maus kommen auch zum Zug. Die 24 heiter und nachdenklich stimmenden Geschichten für alle Generationen enthalten Erinnerungen, christliche Elemente, gedankliche Ausflüge in die Welt der Fiktion, in ein Krankenhaus, das Berchtesgadener Land, den Mainzer Dom und den Wald. Als Anregung gibt es Rezepte unter anderem für irischen Plumpudding, Stollen und Hundeplätzchen. Geeignet für Menschen zwischen 5 und 100 Jahren und darüber hinaus.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort1-3 1.Die verlorene Weihnachtspost 4-10 2.Der dritte Mann 11-16 3.Mogelpackung 17-26 4.Christkind 27-31 5.Vermächtnis 32-36 6.Unverhoffte Begegnung 37-42 7.Das verschwundene Christuskind 43-47 8.Die Weihnachtsglatze 48-56 9.The same procedure as every year 57-6210.Weihnachtliche Turbulenz 63-6711.Wie Hans Dieter Weihnachten feierte 68-7312.Weihnachtsbäckerei 74-8113.Krippenspiel 82-8714. Aloysius‘ Winterwunder 88-11115.Püppi112-11616.Rosamunde und Anneliese117-12417.Diebesgut125-13018. Christrose131-13719.Kampf der Lebkuchen138-14620.Der Verdacht147-15121.Kryptische Nacht152-17422.Man nehme …175-17923.Beutezug180-18424.Schöne Bescherung185-194Impressum195Vorwort
Jedes Jahr zur Weihnachtszeit der gleiche Trott und die gleichen Rituale? Das muss nicht sein. Schön, dass Sie meiner Einladung durch (un)fassbare Geschichten gefolgt sind und sich für mal amüsant, mal nachdenklich stimmende Wegbegleiter vom ersten bis zum vierundzwanzigsten Dezember entschieden haben. Danke für Ihr Interesse.
In der für mich schwierigen Zeit von Corona und gleichzeitig einer Krebserkrankung mit Chemotherapie bin ich in der Advents- und Weihnachtszeit vor und während des Schreibens bewusst mit meinen Gedanken in eine andere Welt entflohen. Eine Welt, die mir auch jetzt noch humorvoll und lebenslustig erscheint, Hoffnung, Mut und Zuversicht verspricht. Meine Geschichten verdeutlichen, dass es immer einen Notanker gibt und nichts aussichtslos ist. Sei das Malheur auch noch so groß wie eine Glatze zum Christfest. Auch ihr lassen sich ein Augenzwinkern und ein Lächeln abgewinnen. Das gilt auch für das Weihnachtsfest selbst.
Die Frage sei erlaubt, weshalb das Christkind bei seiner Geburt ein Junge ist und später ein reizendes Mädchen mit weißem Kleidchen. Und was tun, wenn die Krippe leer bleibt, weil das Christkind spurlos verschwunden ist?
Mal stirbt die Katze einer Familie am Heiligen Abend, hinterlässt ihr jedoch ein wunderbares Vermächtnis, dann wieder begegnet der Nikolaus zu seinem Erstaunen zwei „Trittbrettfahrern“.
Eine von ewigen Fragen ihres Mannes nach der Christbaumspitze genervte Ehefrau lässt sich das nicht länger bieten und schlägt mit einem Lausbubenstreich zurück.
Im Weihnachtsbaum krabbelt eine Maus, die für Turbulenzen sorgt, und die Tiere im Garten dürfen den Zauber der Heiligen Nacht spüren.
Sonderbare Weihnachtsplätzchen stehen ebenso auf der Agenda wie miteinander ringende und sich gegenseitig zerstörende Lebkuchen, sprechende Laternen und laufende Fachwerkhäuser.
Ein Kater dringt ungebeten in die Weihnachtskrippe ein, wirft den Ochsen auf Maria und köpft Josef. Aber keine Angst. Alles wird wieder gut.
Auch in einem kleinen Fachwerkstädtchen ereignen sich am Nikolausabend wundersame Dinge. Ein Schneemann ersetzt den beurlaubten Wetterhahn – und Wünsche, Träume und Hoffnungen erfüllen sich.
Mal entpuppen sich selbst gebackene Stollen als Mogelpackung, mal fehlt der Mutter das Geld, um ein Weihnachtsgeschenk für ihr Töchterlein zu kaufen. Doch keine Angst: Alles wird gut.
Mal haben fast sämtliche Figuren wie von Zauberhand ihre Plätze am Weihnachtsbaum gewechselt, dann wieder verschwindet der Festtagsbraten.
Eine Christrose vermehrt sich wie von selbst, und eine Vierundneunzigjährige hat offenbar das prall gefüllte Portemonnaie eines Achtzehnjährigen gestohlen.
Der Dom zu Mainz wird während der Wintersonnenwende zum Schauplatz eines nächtlichen Spuks. Andernorts schunkelt eine Weihnachtsgesellschaft zu dem Lied „Stille Nacht“, oder eine Schonung wird nächstens heimlich um zwei Christbäume ärmer.
Wie wäre es eigentlich, wenn am Heiligen Abend mal alle Geschenke vertauscht würden? Zwillingsschwestern haben es für Sie ausprobiert.
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen sowie eine gesunde, friedvolle und heitere Advents- und Weihnachtszeit.
Herzlichst –
Ihre Carmen Erlenbach
1. Dezember
Die verlorene Weihnachtspost
Sein Massiv und seine Silhouette prägen die Gegend. Wer schon einmal das Berchtesgadener Land besucht hat, der kennt ihn: König Watzmann. Ein 2.713 Meter hoher Berg, dessen Panorama die Landschaft seit Urzeiten prägt. Der zweithöchste Berg Deutschlands fußt mit seinem ewigen Eis und seinen Gletschern am ebenso geheimnisvollen wie mystischen Königssee. Wer sich für die Traditionen des Berchtesgadener Landes interessiert, dem ist die Sage um König Watzmann als Schicksalsberg nicht unbekannt. Weil er ein sehr böser Herrscher war, der auch Tiere nicht verschonte, verwandelte ihn der liebe Gott aus Zorn eines Tages samt seiner Frau und seinen sieben Kindern in ein ewiges und markantes Bergmassiv.
Im Königspalast, der heute unter dem Eis über dem Königssee begraben ist, wohnte einst auch eine kleine, harmlose Maus, deren Geschichte nahezu unbekannt ist. Ich will sie für euch niederschreiben.
Die Maus entkam Gottes Zorn über den bösen König und der Verwandlung in Stein, denn sie war friedlich und tat nichts Unrechtes. Sie wurde im Augenblick von Watzmanns Verwandlung unsterblich. Seither lebt die kleine Maus – nennen wir sie Hanni – allein in einer dunklen und nur von geheimnisvollen Bergkristallen schwach beleuchteten Höhle mit vielen Spalten auf dem Gletscher der Ostwand, die die Menschen später Eiskapelle nannten. Dort fristet Hanni ihr Dasein. Ihre Nahrung bezieht sie von Moosen und Latschenkieferzapfen, aber auch anderen Samen entlang der Baumgrenze.
Die Eiskapelle ist nicht irgendeine Höhle. Sie beherbergt viele Eiszapfen – lange und kurze, dicke und dünne, in denen sich das schummrige und bläuliche Licht der Bergkristalle spiegelt. Das Eis der Zapfen ist dank des sauberen Bergwassers, aus dem sie geformt sind, licht und klar. Hanni kann sich darin sogar spiegeln und betrachten.
An dem Tag, als Gott den Watzmann in ein monumentales Bergmassiv verwandelte, verriet er Hanni ein Geheimnis. In der Eiskapelle befindet sich nämlich ein einziger Eiszapfen, der als Indikator für das jährlich wiederkehrende Weihnachtsfest gilt. Seine Länge zeigt den wachsenden beziehungsweise schrumpfenden Glauben an den wahren Sinn von Weihnachten an. Gott empfiehlt Hanni, immer viel Weihnachtspost auf bunte Herbstblätter zu schreiben und sie den Gletscher hinab zum Briefkasten bei Sankt Bartholomä zu schicken – damit die Menschen an den eigentlichen Sinn des Weihnachtsfestes erinnert und der kleinen Maus im ewigen Eis auch antworten würden.
Es ist wohl viele hundert Jahre her, da sammelte Hanni im Herbst fleißig die schönsten bunten Blätter und beschrieb sie mit Tinte, die sie aus reinem Bergwasser und dem Pigment zermahlener Steine herstellte. Die Maus erinnerte mit lieben Segenswünschen und auch der Sage vom in Stein verwandelten König Watzmann daran, dass die Menschen stets aufrichtig und respektvoll, aber auch hilfsbereit und freundlich miteinander umgehen mögen – so, dass es dem lieben Gott gefällt und er keinen Grund findet, an der Gesinnung der Menschen zu zweifeln. Denn das sei schließlich die Ursache gewesen, weshalb er im tiefsten Winter seinen Sohn zur Welt geschickt habe – die Menschen sollten sich an seiner Lebensweise ein Beispiel nehmen, Böses und Unrecht aus ihren Herzen verbannen.
So schickte Hanni Jahr für Jahr große Berge von Weihnachtspost aus dem ewigen Eis des Watzmanns über den Gletscher hinunter zu Sankt Bartholomä, von wo sie der Windzug des läutenden Glöckleins in der Adventszeit in alle Welt trug.
Ab und zu sah Hanni nach dem Weihnachtszapfen in der Eiskapelle – damals erschien er noch groß und stabil, und er wuchs sogar jedes Jahr ein kleines Stück. Das jedoch ist lange her. Kurz vor Weihnachten kamen auch viele schriftliche Antworten bei der kleinen Maus an. Liebe und segensreiche Grüße auf buntem Papier und hübschen Karten brachte der Wind ihr in die Eiskapelle am Watzmann zurück. Täglich wurden es mehr Briefe und Karten – und Hanni freute sich so sehr darüber, dass sie sie überall in der Höhle aufhing.
Hanni hat nie aufgehört, ihre Weihnachtsgrüße zu versenden – jedoch wurden im Laufe der Zeit immer weniger beantwortet. So kam es, dass der Weihnachts-Eiszapfen eines Tages zu schmelzen und die Maus an sich zu zweifeln begann. Während sich die ersten Tropfen langsam von der Eiszapfen-Spitze lösten und zu Boden fielen, fragte sich Hanni, ob sie vielleicht all die Jahre zu wenig Weihnachtspost verschickt oder ob sie die Menschen nicht mehr erreicht habe. Es musste doch einen Grund geben, weshalb ihr kaum noch jemand zu Weihnachten einen netten handgeschriebenen Brief schickte.
Die traurige Maus sorgte sich sehr. Sie musste etwas unternehmen, damit der Eiszapfen nicht vollständig schmelzen würde – denn das, so hatte ihr Gott einst verraten, wäre das Ende aller Weihnachtsfeste. Weihnachten würde aussterben.
Der Kreis derer, die der kleinen Maus einst mit handgeschriebenen Grüßen auch ein gesegnetes, gesundes und zufriedenes Weihnachtsfest wünschten, wurde immer kleiner. Von Jahr zu Jahr wurde die handgeschriebene Weihnachtspost in der Eiskapelle immer weniger – und der Weihnachts-Eiszapfen wurde immer kürzer.
Lebt Hanni auch ziemlich abgeschnitten von der Welt in ihrer Eishöhle am Watzmann, so trägt der Klang des Glöckleins von Sankt Bartholomä doch viele Nachrichten und Neuigkeiten zu ihr hinauf.
Es war in den 1990er Jahren, da erfuhr Hanni im ewigen Eis durch das Glöcklein von neuen Medien wie Computern und Handys, die die Menschen seither nutzen - auch, um Weihnachtsgrüße auszutauschen. Der handgeschriebene Brief, die selbst gestaltete und geschriebene Karte galten im Anbetracht der medialen Reiz- und Konsumüberflutung nichts mehr. Dennoch gab die kleine Maus nicht auf und verschickte weiterhin ihre handgeschriebene Weihnachtspost und erinnerte jedes Jahr erneut an den Sinn des höchsten Fests der Christenheit.
Was die Menschen via Handy und Computer zum Fest der Liebe auf elektronischem Weg untereinander austauschten, das erreichte Hanni hoch droben im Berg nicht – und das war auch gut so. Es kam sogar soweit, dass eines Tages nur noch drei handgeschriebene Antworten von einst vielen Tausenden bei ihr in der Eishöhle eingingen. Der einst so stolze Weihnachts-Eiszapfen von fast zwei Meter Länge schrumpfte auf nicht mal mehr fünf Zentimeter. Traurig verlor er Tropfen um Tropfen – gerade so, als weine er bitterlich. Das Weihnachtsfest stand kurz vor dem Ende.
Da kam Hanni eine Idee. Sie wies alle Menschen, denen sie schrieb, darauf hin, dass es doch eine wunderbare und unbezahlbare Geste sei, den Menschen, die man wirklich liebt, und die einem etwas bedeuten, doch wieder wie einst einen handgeschrieben Gruß zu Weihnachten zukommen zu lassen – Weihnachtspost – wie früher. Denn eine mail oder sms ersetze niemals die Mühe und Liebe, die in einem selbst gestalteten Weihnachtsgruß stecken. Es gäbe doch keine herzlichere und wertvollere Geste, als Menschen, die man liebt, mit handgeschriebenen Grüßen zu überraschen. Grüßen, die sich nicht so schnell und oberflächlich tippen lassen wie in einer mail oder sms, von denen die Menschen jeden Tag genug bekämen. Eine handgeschriebene Weihnachtskarte sei gerade deshalb in heutiger Zeit zum Fest der Liebe etwas ganz Besonderes.
Und siehe da – die Menschen schienen verstanden zu haben. Plötzlich kam bei der kleinen Maus in der Eishöhle wieder mehr Weihnachtspost an – anfänglich nur wenig, doch dann immer mehr. Und sie freute sich über jeden einzelnen Gruß, als sei es der einzige, den sie erhalten habe. Hanni schmückte die Eishöhle wieder mit den vielen Karten und Briefen, tanzte im Freudentaumel um sie herum, und auch der Weihnachts-Eiszapfen hörte auf zu tropfen und wuchs wieder ein kleines Stück.
Schließlich erkannten die Menschen auch, dass es wertvoller ist, seine Lieben zum Weihnachtsfest mit einem selbst gebastelten Geschenk zu überraschen, über das man sich viele Gedanken gemacht und mehr Zeit und Mühe als Geld investiert hat. Diese Idee reformierte das Konsumverhalten zu Weihnachten zwar nicht restlos, aber der Eiszapfen in der Eishöhle wuchs und wuchs.
Hanni freute sich, wenigstens ein paar Menschen mit ihren Gedanken über handgeschriebene Weihnachtspost und voller Hingabe selbst gemachten Geschenke erreicht zu haben. Denn der Sinn einer Liebesgabe zum Weihnachtsfest besteht nicht aus materiellem, sondern individuellem Wert und beweist, dass dem Schenkenden der Beschenkte die Mühe vieler Stunden kostbarer Zeit wert ist.
So kam es, dass die Eiskapelle hoch oben im Watzmann zu Weihnachten hell zwischen den schroffen Felsen erstrahlte. Der Weihnachts-Eiszapfen sandte wie zum Dank ein geheimnisvolles Licht über den Königssee – das Licht der Liebe und der wertvollen Einsicht, das sich in den schwarzen Fluten des Sees zwischen den dunklen Tannen spiegelte. Nicht jeder Mensch sah es. Das war nicht schlimm. Denn dieses geheimnisvolle Leuchten war auch nicht für jeden bestimmt. Jedenfalls erreichte es über die Ufer des Königsees und die Landesgrenzen hinaus wie die Strahlen eines Leuchtturms die Herzen aller Menschen, die den wahren Sinn des Weihnachtsfests nicht aus den Augen verloren hatten, sondern ihn nicht trotz, sondern gerade wegen des oberflächlichen Konsumverhaltens zur Weihnachtszeit wieder pflegen.
Trage auch Du dazu bei, dass Weihnachten wieder das wird, was es eigentlich ist – und es nicht ausstirbt.
2. Dezember
Der dritte Mann
Fassungslos sitzt sie an ihrem Schreibtisch aus Eschenholz – die rot geränderte Brille auf der Nase mit einigen braunen Altersflecken, mit einem hellgrauen Hausanzug bekleidet. An der Haustür hat es geklingelt. Bevor sie öffnet, muss sie ihr kleines Katerchen Sir Henry die Treppe hochschicken, damit es gegen Abend nicht plötzlich den Weg nach draußen sucht und dann womöglich über Nacht nicht mehr zu Hause auftaucht.
Neben ihrem Mann ist Sir Henry ihr größter Sonnenschein im kleinen hellgelben Haus. Die beiden Männer bereichern täglich ihr Leben um viel Liebe, Nähe, Geborgenheit und Glück. Sind die Sorgen auch manchmal groß, wie in der Corona-Krise, so sind die zwei Männer doch für sie da.
Aber es gibt noch einen dritten Mann im Leben der kleinen und unbedeutenden Lokaljournalistin. Einen, den sie noch nie gesehen, in dessen Augen sie noch nie geblickt, dessen Hände sie noch nie berührt hat, der mit unhörbarer Stimme zu ihrer Seele spricht, über ihr wacht, sie stets ganz fest bei sich hält und sie auf Schritt und Tritt durch ihr nicht immer einfaches Leben begleitet.
Er ist stets ein Helfer in der Not. Lässt sich ein Schraubglas nicht öffnen, will etwas nicht gelingen, müssen ein Missgeschick ohne helfende menschliche Hilfe rasch beseitigt oder scheinbar unüberwindbare Hindernisse gemeistert werden – er ist immer für sie da. Bei Tag und Nacht, im Sommer wie im Winter, bei Sonnenschein und Regen, bei Angst und Frohsinn, in Einsamkeit und Geselligkeit, beim Weinen und beim Lachen.
Dieser Mann ruht niemals, er schläft niemals, hat stets ein offenes Ohr für alle Anliegen, mit denen sich die Journalistin an ihn wendet. Im Gegensatz zu Menschen ist er immer von überall erreichbar – rund um die Uhr – und das, obgleich er kein Telefon besitzt, das auch mal besetzt sein könnte, kein Handy, das gelegentlich mangels Netzes keinen Empfang hat, und keinen Computer, der erst wieder ein Update benötigt, bevor er richtig funktioniert. Nein. Auf diese neumodische Technik ist der dritte Mann in ihrem Leben wirklich nicht angewiesen. Oft ruft sie ihn an, sagt mal „Bitte“ und mal „Danke“.
Er wirkt nie entnervt, wenn sie ihn oft kontaktiert. Sie ist sich gewiss, dass sie diesen Mann niemals nervt, auch wenn sie ihn noch so sehr selbst wegen banalster Dinge um Rat und Hilfe bittet.
Ja, ohne diesen dritten Mann wäre ihr Leben trotz des liebenden Gatten und des kleinen verschmusten Vierbeiners doch sehr einsam, trist und öd. Wie oft hilft der dritte Mann, wenn die Journalistin alleine und auf sich gestellt ist – keinen vernünftigen Anfang für einen Artikel findet oder sich einsam und verlassen fühlt. Wie gerne würde sie ihre Hände einmal zum Dank für alle väterliche Liebe in seine legen, die Narben in seinen Handflächen küssen und berühren, durch die grausame Menschen einst mit festen Hieben lange Nägel in den langen Querbalken eines Holzkreuzes getrieben hatten. Doch trotz aller Nähe, die er über seinen Tod hinaus schenkt, bleibt er unsichtbar.
Oft antwortet er auf Fragen – aber manche bleiben unbeantwortet – weil seine Wege nicht die der Menschen und schon gar nicht nur die der kleinen und neugierigen Journalistin sind. So vertraut sie dem dritten Mann in ihrem Leben ganz, weil sie aus Erfahrung weiß, dass sie ihm blind vertrauen darf.
Immer wieder bewahrheitete sich der Spruch, den ihr die inzwischen verstorbene Mutter einst mit einer gemalten Kerze auf ein kleines Blatt Papier geschrieben hatte: „Immer, wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“. Wie auch in der für die gesamte Menschheit so schwierigen Corona-Krise.
Durch das Versammlungs- und Kontaktverbot sowie aller abgesagten Veranstaltungen sind der Lokaljournalistin sämtliche Aufträge weggebrochen. Dennoch bemüht sie sich täglich um stundenlange telefonische Recherchen – um wenigstens ein paar Artikel in den Redaktionen abliefern zu können. Diese paar Texte werden jedoch nicht gut bezahlt. Die Haupteinnahmen der Frau bestehen ansonsten aus Fotos, die wesentlich besser honoriert werden als Texte. Wegen Corona und einer vorausgegangenen Krebs-Erkrankung zählt die Journalistin jedoch zur Risikogruppe, weshalb sie zurzeit das Haus hüten muss und ihrem Beruf als Pressefotografin nicht mehr nachgehen kann, was starke finanzielle Einbußen bedeutet.
Nein, sie hat weder ihren Gatten noch den dritten Mann in ihrem Leben deswegen um Hilfe oder Unterstützung gebeten. Das läge unter ihrer Würde. Aber besagter dritter Mann scheint ihre Sorgen und Nöte trotzdem wahrgenommen zu haben.
Denn heute Abend klingelt es an der Haustüre – und zwischen den Stiefmütterchen im tönernen Pflanzkübel steckt ein weißer Umschlag – handschriftlich an sie adressiert. Vor dem hölzernen Hoftor steht in sicherem Abstand ein ihr bekannter Mann – ein Pfarrer, der sie seit ihrem zwölften Lebensjahr mit kurzen Unterbrechungen immer wieder begleitet hat. Er war einst ihr Jugendleiter im Evangelischen Jugendwerk. Er strahlt übers ganze Gesicht und weist gestikulierend mit allem Nachdruck darauf hin, dass die Journalistin den Umschlag sofort an sich nehmen solle. Das Treffen ist kurz, aber herzlich, denn schon steigt der Pfarrer wieder in sein Fahrzeug ein und fährt davon.
Drinnen öffnet sie den Umschlag – sie holt einen zusammengefalteten Brief heraus und will ihn lesen. Dabei fällt grün-weißes Papier herunter. Sie bückt sich und traut ihren Augen nicht – es sind vier Geldscheine. Sie hebt sie auf und zeigt sie entgeistert ihrem Gatten, der ebenso wortlos staunt.
So liest sie denn den so überaus persönlich gehaltenen Brief voll lieber Worte – aber sie kann nur Stück für Stück lesen. Dicke Tränen der Rührung laufen ihre Wangen hinunter und verfangen sich in dem hellgrauen Hausanzug. Sie fühlt sich überaus beschämt und steht für einen Augenblick regelrecht unter Schock. Wie soll sie denn nun reagieren, was soll sie machen, wie sich erkenntlich zeigen? Darf sie dieses Geld überhaupt annehmen?
Da meldet sich der unsichtbare dritte Mann an ihrer Seite wieder unhörbar in ihrer Seele zu Wort und sagt, er habe für diese Zuwendung gesorgt. Sie fragt „warum“. Der dritte Mann jedoch schweigt, während sie weint und ihm schließlich für diese ebenso unerwartete wie gelungene Überraschung wieder und wieder dankt. Es ist ihr, als streiche er mit seiner Hand segnend über ihr graues Haar.
Es war die Sorge der Journalistin darüber, wie sie trotz der hohen finanziellen Einbußen durch das Corona-Virus im kommenden Monat die Kosten für den fälligen TÜV ihres Fahrzeugs bezahlen solle. Und da ist er wieder und hilft völlig ungebeten und unerwartet: Der dritte Mann in ihrem Leben. Und einmal mehr denkt sie an die Worte der toten Mutter: „Immer, wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“.
In Gedanken legt die Journalistin ihre Hände in die des Unsichtbaren, küsst die Narben in seinen Handflächen und dankt ihm. Sie ist sich bewusst, dass er sie nicht allein lässt – auch nicht in schwierigen und dunklen Zeiten.
Was immer auch kommen mag: Auch du hast einen unsichtbaren Mann an deiner Seite, der mit dir durch Dick und Dünn geht und dich niemals im Stich lässt – du darfst ihm blind vertrauen – wie ein Kind seinem Vater – in guten wie in schlechten Zeiten.
Hast Du es auch schon gespürt?
3. Dezember
Mogelpackung
Je länger er reift, desto besser schmeckt er. Jeder Hausfrau, die etwas auf sich hält, ist dieses Geheimnis nicht unbekannt. Die Rede ist nicht etwa von Whisky, sondern von leckerem Stollen.
So hielt es Irene Leander wie die Großbäckereien und buk die süße Leckerei für die Advents- und Weihnachtszeit im Schweiße ihres Angesichts bereits im August, wenn draußen Hochsommer herrschte und das Thermometer über dreißig Grad anzeigte. Es war nicht unproblematisch, um diese Jahreszeit sämtliche Zutaten einzukaufen, die einen richtig leckeren Stollen ausmachen. Hefe, Butter, Rosinen und Korinthen, Mehl und Zucker gab es in den Lebensmittelläden in Hülle und Fülle. Auf der Suche nach Zitronat, Orangeat sowie gemahlenen Haselnüssen und Mandeln jedoch musste Irene erst die Regale verschiedener Märkte durchforsten, bevor sie fündig wurde. Darum glich alleine das Abarbeiten der Einkaufsliste einer kleinen Abenteuerreise. An der Kasse beäugten andere Kunden mit verwunderten Blicken den Inhalt von Frau Leanders Einkaufswagen, der während der schweißtreibenden Hundstage, wie die heiße Zeit im August genannt wird, doch sehr an die Weihnachtsbäckerei erinnerte.
Nachdem Irene Leander sämtliche Ingredienzien zu Hause hatte, um Teig für sechs große Stollen anzusetzen, machte sie es sich in der Küche zunächst gemütlich. Sie schaltete das Radio ein, aus dem gerade der alte Schlager „Pack die Badehose ein, nimmt dein kleines Schwesterlein“ erklang und nahm sich ein kaltes Getränk aus dem Kühlschrank. Während sich die Nachbarn in der Sonne aalten und in ihren Swimmingpools planschten, war in dem hübschen Kopf mit den rot-goldenen Zöpfen und vielen Sommersprossen von Frau Leander bereits die Weihnachtszeit eingezogen.
Auch einen Großteil ihrer Weihnachtsgeschenke hatte Frau Leander bereits besorgt, während in den Lebensmittelmärkten die ersten Spekulatius und Lebkuchen einzogen. Ihre Freunde meinten stets, sie sei mit allem früh dran und erklärten sie mitunter sogar für verrückt. Aber Irenes Strategie hat sich bislang immer bewährt. In diesem Jahr sollte zur Abwechslung einmal alles anders kommen als geplant, und das altbewährte System sollte über den Haufen geworfen werden. Davon jedoch ahnte Irene jedoch nichts.
In der Küche sortierte sie die Backzutaten. Mehl zu Mehl, Zucker zu Zucker, und auch die ganzen Mandeln und Haselnüsse bekamen ihre Plätze. Auf sie musste Irene beim Einkauf zwangsläufig zurückgreifen, weil es keine gemahlenen Kerne gab. So begnügte sie sich damit, sie selbst zu zerkleinern. Zu diesem Zweck bediente sie sich eines alten Mahlwerks mit Kurbel aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, das ihr die inzwischen verstorbene Mutter einst in Liebe vermacht hatte. Aus dieser Ära stammte auch das mit einem roten Schutzumschlag versehene Koch- und Backbuch von der Mutter mit dem herrlichen Rezept für Christstollen.
Während Frau Leander sich in den Keller begab, um das alte Mahlwerk zu holen, und auch das alte Koch- und Backbuch aus dem Regal zog, dachte sie an die Zeit zurück, als die Mutter einst Christstollen buk und sich dabei abmühte. Stets wurde in einer großen Waschschüssel Teig für sechs Exemplare angesetzt. Diese Anzahl hat Irene für ihre eigene Stollenbäckerei übernommen.
Wieder in der Küche angekommen, schraubte Irene zunächst das alte Mahlwerk an die Tischplatte. Wie oft war es einst von der geliebten Mutter benutzt worden, wie viele Tausend Mal hatte sie die hölzerne Kurbel mit ihrer Hand wohl gedreht? Niemand weiß es.
„Dann wollen wir mal. Auf ein Neues“, murmelte Irene. Zunächst widmete sie sich den Mandelkernen. Insgesamt 750 Gramm müsste sie zermahlen – und ebenso viel Haselnusskerne. Langsam wanderte eine Portion nach der anderen in die manuell betriebene Reibe. Schon jetzt freute sich Frau Leander auf kleine Stückchen bei dem späteren Verzehr, die das leicht fehlerhafte Mahlwerk manchmal nicht restlos erfasste und zerkleinerte. Schon als Kind jauchzte Irene innerlich, wenn ihr beim Kauen des Stollens ein solch kleines Stückchen Haselnuss oder Mandel zwischen die Zähne geraten war. Erinnerungen an einst, die sie nicht vergessen hat.
Mehr als zwei Stunden dauerte es, bis alle Kerne gemahlen waren – und da und dort entdeckte Irene sie in der Schüssel, ihre heißgeliebten Stückchen.
In der Zwischenzeit hatte sie bei nicht mal fünfzig Grad 3750 Gramm Mehl im Backofen vorgewärmt. Auf dem Herd wurden eineinhalb Liter Milch handwarm erhitzt, in die Irene zunächst 400 Gramm Zucker gab und in das Gemisch 240 Gramm Hefe zerbröselte. Nach wenigen Minuten begann es zu treiben, und Blasen wurden sichtbar. Bis dahin war das erwärmte Mehl mit einem weiteren Pfund Zucker und etwas Salz vermischt. Irene gab die Hefe-Zucker-Milch hinzu. Rasch erwärmte sie noch 900 Gramm Butter und fügte sie hinzu.