Die Weisheit des Nicht-Verstehens - Quarch Christoph - E-Book

Die Weisheit des Nicht-Verstehens E-Book

Quarch Christoph

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Beschreibung

Die Welt des 21. Jahrhunderts ist geprägt von der technischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Rationalität der westlichen Kultur. Doch die entsprechende globale Weltkultur der Gegenwart lässt viele Menschen unbefriedigt und veranlasst sie, sich asiatischen Geisteswelten zuwenden. Doch ist eine Begegnung westlichen und östlichen Denkens überhaupt möglich? Es ist das Verdienst Martin Heideggers, darauf verwiesen zu haben, dass ein unmittelbares Verständnis zwischen Ost und West kaum möglich ist – dass die Begegnung des europäischen und ostasiatischen Kulturraums aber insofern äußerst fruchtbar ist, als sie die eigentliche Krise der Gegenwart offenbart: die Not der Sprache. Gerade das Nicht-Verstehen bereitet den Boden für eine Hinwendung zum Ungesagten und Ungedachten, das zur Sprache zu bringen, die dringendste Aufgabe des Denkens im 21. Jahrhundert ist. Christoph Quarch übersetzt Heideggers Gedankenwelt in eine verständliche Sprache und ermutigt mit seinem Essay dazu, die Kunst des Denkens zu erlernen.

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DIE WEISHEIT DES NICHT-VERSTEHENS

 

 

 

 

 

 

Gedanken über das Verhältnis von östlicher Weisheit und westlicher Philosophie

im Anschluss an Martin Heidegger

 

 

von Dr. Christoph Quarch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

O trinke Morgenlüfte,

Bis daß du offen bist,

Und nenne, was vor Augen dir ist,

Nicht länger darf Geheimnis mehr

Das Unausgesprochene bleiben,

nachdem es lange verhüllt ist

(Hölderlin, Germanien)

 

Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Vom Bedenklichsten. Das Ende der Philosophie und der Anfang des Denkens
III. Das Geläut der Stille. Das Wesen der Sprache und die Sprache des Wesens
IV. "Blütenblätter, die aus Koto stammen" Das Gespräch von der Sprache zwischen einem Japaner und einem Fragenden
IV. Schluss
V. Anmerkungen
VI. Autor
VII. Impressum

I. Einleitung

"Die Philosophie endet im gegenwärtigen Zeitalter. Sie hat ihren Ort in der Wissenschaftlichkeit des gesellschaftlich handelnden Menschen gefunden. Der Grundzug dieser Wissenschaftlichkeit [...] ist ihr kybernetischer, d.h. technischer Charakter. [...] Das Ende der Philosophie zeigt sich als der Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung. Ende der Philosophie heißt: Beginn der im abendländisch-europäischen Denken gegründeten Weltzivilisation." (ZSD 64-65) (1)

Es ist eine nüchterne Analyse, mit der Martin Heidegger in seiner Aufsatzsammlung Zur Sache des Denkens die geistige Situation der westlichen Welt skizziert: Die Philosophie ist am Ende. Sie ist erschöpft. Das heißt: Sie hat ihren Möglichkeitsspielraum erschöpft. Sie ist ans Ende ihrer Möglichkeiten gekommen. Folgt man Heidegger in dieser Analyse, dann sieht man sich vor die Frage gestellt, ob wir in diesem Symposium (2) nicht etwas bedenken, was längst überholt ist: die westliche Philosophie. Wie kann man nach deren Verhältnis zur östlichen Weisheit fragen, wenn es sie bei Lichte besehen gar nicht mehr gibt?

 

Nun sagt Heidegger nicht nur, die abendländische Philosophie sei an ihr Ende gekommen. Er sagt auch, das Ende der Philosophie sei zugleich der Beginn einer auf europäischer Wissenschaft und Technik gegründeten Weltzivilisation. Dass diese Weltzivilisation im Zuge der Globalisierung aller Lebensbereiche tatsächlich das Gepräge der westlichen Kultur angenommen hat, dürfte unzweifelhaft sein. Ebenso, dass die globalisierte Welt das Produkt westlicher Wissenschaft, Technik und Ökonomie bzw. Kybernetik ist. Das eigentlich Aufregende an Heideggers These liegt dagegen darin, dass in seiner Wahrnehmung mit dem Siegeszug westlicher Wissenschaft und Technik die Philosophie – und zwar die Philosophie als solche – an ihr Ende gekommen ist – mehr noch: dass sie in der modernen Weltzivilisation in das Äußereste ihrer Möglichkeiten gelangt ist: dorthin, wo sie sich gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt und die Geschichte des europäischen Geistes endet – sich, wie Heidegger sagt, das Geschick des Abendlandes erfüllt.

 

Damit, soviel dürfte auch der flüchtigen Wahrnehmung einleuchten, ist hier die Situation einer gravierenden geistigen Krise benannt: einer Krise, die darin gipfelt, dass der ursprünglich eingeschlagene Weg des europäischen Geistes – hier Philosophie genannt – an sein Ende gekommen ist: an einen Punkt, an dem die europäische Zivilisation abgelöst wird durch eine Weltzivilisation, die nicht mehr – wie das alte Europa – vom Ringen um eine Auslegung und Interpretation des Seins getragen wird (Philosophie), sondern von dem Willen zur Domestizierung, Steuerung und Nutzbarmachung der Welt. Wenn dem so ist, muss freilich erwogen werden, ob mit der Heraufkunft jener von Heidegger prognostizierten technisch-wissenschaftlichen Weltgesellschaft zuletzt nicht nur die Philosophie des Westens an ihr Ende kommt, sondern in eins mit ihr auch die Weisheit des Ostens – unterliegt, wie wir alle wissen, doch auch die östliche Welt einer tiefgreifenden Verwestlichung. Was bleibt? Müssen wir uns mit diesem Sachverhalt abfinden und im Übrigen hoffen, dass der Siegeszug der westlichen Zivilisation nicht noch mehr Terror und Ablehnung hervorruft? Fragen wir also mit Heidegger:

 

Ist [...] das Ende der Philosophie im Sinne ihrer Ausfaltung in die Wissenschaften auch schon die vollständige Verwirklichung aller Möglichkeiten, in die das Denken der Philosophie gesetzt wurde? Oder gibt es für das Denken außer der gekennzeichneten letzten Möglichkeit (der Auflösung der Philosophie in die technisierten Wissenschaften) eine erste Möglichkeit, von der das Denken der Philosophie zwar ausgehen musste, die sie jedoch als Philosophie nicht eigens erfahren und übernehmen konnte?

 

Wenn dies der Fall wäre, dann müsste in der Geschichte der Philosophie seit ihrem Anfang bis zu ihrem Ende verborgenerweise dem Denken noch eine Aufgabe vorbehalten sein, die weder der Philosophie [...] noch gar den aus ihr herkommenden Wissenschaften zugänglich wäre." (ZSD 65)

 

Auffällig an diesem Abschnitt ist der häufige Gebrauch, den Heidegger hier von dem Wort Denken macht. Das Denken wird der Philosophie als etwas gegenüber gestellt, dem sich Wege erschließen können, die von der Philosophie nicht gegangen wurden. Somit gerät das Denken zum Hoffnungsträger auf eine andere Auslegung des Seins, auf einen anderen Weg, der von der Philosophie nicht gegangen wurde. Mit dem Denken verbindet sich mit anderen Worten die Aussicht auf einen neuen Anfang – einen anderen Anfang, der eine neue Zivilisation zeitigt, eine andere Geschichte: eine Alternative zur technisch-wissenschaftlichen Welt:

 

Gedacht ist dabei an die Möglichkeit, dass die jetzt erst beginnende Weltzivilisation einst das technisch-wissenschaftlich-industrielle Gepräge als die einzige Maßgabe für den Weltaufenthalt des Menschen überwindet, - zwar nicht aus sich und durch sich selbst, aber aus der Bereitschaft des Menschen für eine Bestimmung, die jederzeit, ob gehört oder nicht, in das noch nicht entschiedene Geschick des Menschen hereinspricht. Gleich ungewiss bleibt, ob die Weltzivilisation bald jäh zerstört wird oder ob sie sich in einer langen Dauer verfestigt, die nicht in einem bleibenden beruht, einer Dauer, die sich vielmehr im fortgesetzten Wechsel des immer Neuesten einrichtet. (ZSD 67)

 

Die Hoffnung, die sich mit dem Denken verbindet, ist demnach nicht die Hoffnung auf das Anbrechen eines New Age. Sie ist auch nicht die Hoffnung auf einen evolutionären Fortschritt in der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Aus ihr spricht lediglich das Vertrauen auf die Möglichkeit, dass eine bislang überhörte "Bestimmung" des Menschen Gehör und Gehorsam finden könnte – und zwar in einem Denken, das aus den alltäglichen Bahnen und Bezügen des Weltverhaltens ausbricht, um dieser Bestimmung nachzudenken. Das "vermutete Denken", sagt Heidegger, versucht, der Gegenwart etwas vorzusagen, was längst und gerade am Beginn der Philosophie und für diesen schon gesagt, jedoch nicht eigens bedacht ist. (ZSD 67)

 

Nun könnte man die Frage aufwerfen, ob das "vermutete Denken", dass im westlichen Denken ungedacht geblieben ist, womöglich anderenorts stattfinden konnte. Wie, wenn es in dem von uns – unvorsichtig genug – als "östliche Weisheit" benannten Bereich verortet wäre? Birgt womöglich die "Weisheit des Ostens" diejenige Weise des Denkens, die uns nach dem Ende der Philosophie im Westen bleibt?

 

Tatsächlich scheint Heidegger selbst diese Möglichkeit bedacht zu haben. Zunächst angestoßen durch eine beträchtliche Zahl japanischer Wissenschaftler und Studenten, die schon in den 1920er-Jahren zu ihm nach Freiburg und Marburg gepilgert kamen, später dann angeregt durch seinen eigenen Denkweg, befasste sich Heidegger wiederholt mit der ostasiatischen, vornehmlichen japanischen Geisteswelt. Dabei steht freilich Heideggers Wahrnehmung der östlichen Tradition in keinem Verhältnis zu der außerordentlich breiten und wirkmächtigen Rezeption, die Heideggers Philosophieren in Japan fand (3). Offenbar hatten die japanischen Gelehrten und Studenten rasch bemerkt, dass in der von Edmund Husserl begründeten und von Heidegger weiterentwickelten Phänomenologie die europäische Philosophie eine Ausprägung gefunden hatte, die mit ihrer Parole "Zu den Sachen selbst" zu einer Quelle der Inspiration für das japanische Denken zu werden versprach. Brachte dieser Quell eingangs noch ein zartes Tröpfeln zutage, so wurde in der Folge der Weiterentwicklung von Heideggers Denken daraus über die Jahre ein ansehnlicher Fluss, der eine kaum noch überschaubare Literatur japanischer Arbeiten zu Heidegger hervorbrachte.