Die Welt der Stoffe - Kassia St Clair - E-Book

Die Welt der Stoffe E-Book

Kassia St Clair

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Beschreibung

Alles über das, was wir auf unserer Haut tragen  – eine einzigartige Geschichte der Stoffe  Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Stoffe herstellt – ohne sie wäre die menschliche Entwicklung nicht denkbar. Kassia St Clair erzählt faszinierend von Hanf, Leinen, oder der Entdeckung der Seide, von den Wikinger-Segeln aus Schafswolle, und dem Weltraumanzug Neil Armstrongs, den er nicht auszuziehen brauchte, wenn er auf die Toilette musste. Sie zeigt die Bedeutung von Kleidung für die lokale Wirtschaft und den lokalen Handel, für gesellschaftliche Normen und menschliche Höchstleistungen, die ohne Kunstfasern nicht möglich wären. Von den Binden der Mumien im alten Ägypten, über die anrüchigen Seidenkleider Kaiser Neros bis hin zum Schwimmanzug aus Polyurethan, der es Paul Biedermann ermöglichte, Michael Phelps zu schlagen: Kassia St Clair verwebt auf einmalige Weise faszinierende Geschichten rund um Natur- und Kunstfasern zu einer alternativen Menschheitsgeschichte. Ein packender Stoff!

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Seitenzahl: 720

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Kassia St Clair

Die Welt der Stoffe

Aus dem Englischen von Marion Hertle

Hoffmann und Campe

Meinem Vater,

für seine Beharrlichkeit und seine Geschichten

Inhalt

Vorwort

Motto

Einleitung

Schicksalsfäden

Handwerkszeug

Handel und Technik

Geschichten spinnen

Frauenarbeit

Worte weben

1 Fasern in der Höhle

Die ersten Weber

Neue Fäden

Wohin mit dem Fell?

Vom Bast zum Kammgarn

Jenseits von Dzudzuana

2 Leichentücher

Den knabenhaften Herrscher auswickeln

Dünne blaue Linien

Ein Leben in Leinen

Das leinenumwickelte Herz

Fette Kerzen

3 Geschenke und Pferde

Gewebte Worte

Das Geräusch von Regen auf Blättern

5000 Jahre Monopol

Geschenke für den Feind

4 Städte durch Seide erbaut

Die Bibliothek in der Höhle

Handel und Mühsal

Das Geschäft mit der Seide

Unbescheidene Kleidung

5 Drachenschiffe

Der Königshügel

Schicke Schiffsform

Von Flocke zu Flotte

Sail Away

6 Lösegeld für einen König

In Lincoln Green gekleidet

Stapelware

Weißes Gold

Mönchsgewänder

Ein Löwenherz für Schafwolle

7 Diamanten und Halskrausen

Spitzenklöpplerinnen

Fadenstiche in der Luft

Halskrausendiplomatie

Gut getragen

Spitzenmanufakturen

8 Solomons Jacken

Ausreißer

Pflanzenwolle

Gewinner und Pflücker

Canadian Tuxedo

9 Extreme Schichten

Von Fell und Burberry

Knickerbocker auf 8500 Meter

Blut, Schweiß und gefrorene Tränen

Ausrüstungslisten

10 Fabrikarbeiter

Résistance heißt Widerstand

Auf dem Markt

Willkommen in der Fabrik

Am Boden

Fast Fashion – Old Problems

11 Under Pressure

Für den Mond gemacht

Völlig losgelöst

Von Nähten und Näherinnen

Unter der Haut

Für den Mars gemacht

12 Schneller, besser, weiter

Are we human?

Ganz oben

Sportberichterstattung

Kräfte des Marktes

Ende Gelände

13 Das goldene Cape

Der Umhang

Arachniden und Arachnophobie

Alte Garne

Eine schnelle Runde drehen

Des Kaisers neue Garne

Spindoktor

Die Welt der Stoffe

Dank

Glossar

Bibliographie

Sachregister

Endnoten

Biographien

Vorwort

Wenn Sie Ihren Blick von dieser Seite lösen und an sich heruntersehen, werden Sie feststellen, dass Ihr Körper in Kleider gehüllt ist. (Ich gehe davon aus, liebe Leser, dass Sie nicht nackt sind.) Vielleicht sitzen Sie auf einem gepolsterten Sitz in einem Zug oder einer U-Bahn oder auf einem gemütlichen Sofa. Möglicherweise sind Sie in ein Handtuch gewickelt, von den bunten Planen eines Zeltes umgeben oder liegen zwischen Bettlaken. All das besteht aus Stoff, gewebt, gefilzt oder gestrickt.

Stoffe, ob nun künstliche oder natürliche, haben die Welt, in der wir leben, verändert, abgesteckt, vorangebracht und gestaltet – angefangen bei vorzeitlichen, nahöstlichen und ägyptischen Zivilisationen; über die seidenen Drachenroben des kaiserlichen Chinas zu den indischen KalikoKaliko (Baumwollstoff)- und Chintzstoffen, die die Industrielle RevolutionIndustrielle Revolution befeuerten, bis hin zu den im Labor entstandenen Fasern, mit deren Hilfe die Menschen schneller und weiter reisen können als je zuvor. Seit Menschengedenken waren die vier Hauptquellen für NaturfasernNaturfasern – Baumwolle, Seide, Leinen und Wolle – die bescheidenen Diener menschlicher Erfindungskraft. Sie wurden genutzt, um Wärme und Schutz zu spenden, sozialen Status und Identität anzuzeigen, Ansehen zu verleihen, und sie boten eine Möglichkeit, kreatives Talent und Einfallsreichtum auszuleben.

Wir sind umgeben von Stoff. Bei der Geburt werden wir darin eingewickelt, und nach unserem Tod werden LeichentücherLeichentücher über unser Gesicht gezogen. Wir schlafen von mehreren Schichten Stoff umgeben – wie die Erbse, die die Prinzessin im Märchen wach hielt –, und wenn wir erwachen, kleiden wir uns darin, um der Welt gegenüberzutreten und ihr zu zeigen, wer wir an diesem Tag sein wollen. Wenn wir sprechen, verwenden wir Worte, Phrasen und Metaphern, in die sich die Faden- und StoffherstellungTextilherstellung eingeschlichen hat. Die Worte »Linie«, »Lingerie« und »Linoleum« gehen zum Beispiel alle auf das Wort »Leinen« zurück. Auf die meisten Menschen, die wenig darüber wissen, wie man aus den Stängeln der Flachspflanze Fasern gewinnt, oder aus dem Fadenskelett auf einem WebstuhlWebstuhl Damast zaubert, müssen diese linguistischen Verstrickungen wie leere, am Strand angespülte Muscheln wirken: eine blasse Erinnerung an etwas Größeres, Reicheres, das man heutzutage nur noch halb versteht, aber das unsere Neugier verdient.

Als ich an der Universität die Kleidung des 18. Jahrhunderts studiert habe, wurde ich permanent mit dem sturen Glauben konfrontiert, Stoff sei belanglos und der Aufmerksamkeit nicht wert, trotz seiner offensichtlichen Bedeutung für jene Gesellschaft. Als ich später über zeitgenössisches Design und Mode schrieb, stieß ich auf einen ähnlichen Snobismus. Die ernsthafte Beschäftigung mit Stoff ist meist verpönt. Selbst wenn er in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt, geht es für gewöhnlich viel mehr um das Erscheinungsbild und die Attraktivität des Endprodukts, als um die einzelnen Rohmaterialien und die Menschen, die sie herstellen.

Dieses Buch ist eine Einladung, die Stoffe, von denen Sie umgeben sind und in die Sie sich tagtäglich kleiden, genauer unter die Lupe zu nehmen. Es ist keine erschöpfende Darstellung zum Thema Textilien – und war auch nie als eine solche gedacht. Stattdessen enthält Die Welt der Stoffe13 sehr unterschiedliche Geschichten, die die weitreichende Bedeutung von Stoffen verdeutlichen sollen. In einem Kapitel lade ich Sie hinter die Kulissen der Herstellung von Raumanzügen ein, die es uns ermöglichen, auf dem Mond herumzuspazieren. Ein anderes wirft einen Blick auf das Handwerk, das VermeerVermeer, Johannes zu seinem Gemälde Die Spitzenklöpplerin inspiriert hat. Des weiteren treffen Sie auf Menschen, die ägyptische MumienMumien eingewickelt – und solche, die sie wieder ausgewickelt haben; auf Erfinder und Wissenschaftler, die ihr Leben der Herstellung von Seide aus Spinnennetzen widmeten; aber auch auf Menschen, deren Kleidung sie unter extremsten Bedingungen im Stich gelassen hat – mit tödlichen Folgen. Es ist ein Buch für alle Neugierigen: Ich hoffe, Sie können es genießen.

Ich gebe dir das Ende einer goldenen Schnur;

Winde es zu einem Ball:

Es wird dich an die Himmelspforte führen.

William BlakeBlake, William, Jerusalem, 1815

Einleitung

Schicksalsfäden

Die Gewalt der Moiren und die Unabwendbarkeit erkläre ich folgendermaßen: Wenn sie jemandem das Herrscheramt zuerkennen, das schon ein anderer innehat, und dieser jenen töten würde, um nicht des Thrones beraubt zu werden, so würde der Getötete wiederaufleben, um den Beschluss der Göttinnen in Erfüllung zu bringen.

Flavius PhilostratusFlavius Philostratus, Das Leben des Apollonios von Tyana, 3. Jahrhundert n. Chr.

Die alten Griechen glaubten, das menschliche Schicksal würde von den drei Schicksalsgöttinnen, den Moiren, bestimmt; dem Mythos nach drei Schwestern, die jedes Kind kurz nach der Geburt besuchten. Die mächtigste von ihnen, KlothoKlotho, spann mit ihrer SpindelSpinnenSpindel den Lebensfaden; LachesisLachesis Aufgabe war es, den Lebensfaden zu bemessen, und AtroposAtropos würde ihn zerschneiden und damit die Art und den Zeitpunkt des Todes bestimmen. Kein Mensch oder Gott verfügte über die Macht, ihre Entscheidungen zu ändern, sobald sie gefallen waren. Die Römer nannten dieses Trio die Parzen; und in der germanischen MythologieMythologie heißen sie die Nornen. Diese uralte Sage klingt immer noch an, wenn wir über uns und die menschliche Gesellschaft nachdenken. Wenn wir davon sprechen, dass das Leben an einem seidenen Faden hängt, Dinge miteinander verwoben sind, jemand ganz anders gestrickt ist, oder wenn wir jemandem zu Hilfe eilen, dessen Leben zu zerfasern droht, sind wir Teil einer viele Jahrtausende alten Tradition. Stoff und seine Bestandteile waren lange ein Sinnbild für das menschliche Leben selbst.

In vielerlei Hinsicht ist das ganz normal. Stoff und Kleidung herzustellen, war schon immer von großer Bedeutung für die weltweite Wirtschaft und ihre Kulturen. Stoff gab der Menschheit die Möglichkeit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Man geht davon aus, dass die urzeitliche StoffherstellungTextilherstellung in gemäßigten Zonen mehr Arbeitsstunden in Anspruch nahm, als die Produktion von Tonwaren und Lebensmitteln zusammen. Im alten ÄgyptenÄgyptenLeinen wurde LeinenLeinenÄgypten verehrt. Es war nicht nur Teil des Alltags – viele Menschen waren am Anbau und an der Verarbeitung dieses so weitverbreiteten Bekleidungsstoffes beteiligt –, auch in der Religion war Leinen von großer Bedeutung. Sogar von so großer, dass der Akt der MumifizierungMumifizierung und das Einwickeln der Leiche mit eigens dafür hergestelltem Stoff sowie mit Stoffen, die über Generationen weitergegeben wurden, die profanen menschlichen Überresten in etwas Göttliches verwandelte.[1]

Der lässige Umgang mit Stoff heutzutage wäre unseren Vorfahren ein Gräuel gewesen. Textilien haben den Menschen ermöglicht, eine Vielzahl von Regionen zu bewohnen und zu bereisen, die zu kalt sind, um noch als menschenfreundlich zu gelten. Prächtige Seide und warme Wollstoffe, die über Handelsnetze wie die SeidenstraßeSeidenstraßeinterkultureller Austausch vertrieben wurden, bahnten den Weg für einen interkulturellen Austausch von Ideen, Handwerkstechniken und Menschen. Die aufwändige Handarbeit, Faden und Stoff herzustellen, bestimmte den Alltag von unzähligen Menschen. Schätzungen zufolge waren Mitte des 18. Jahrhunderts allein in EnglandEnglandSpinnereien mehr als eine Million Frauen und Kinder in SpinnereienSpinnenIndustrielle Revolution beschäftigt. Am Vorabend der Industriellen RevolutionIndustrielle Revolution stellte ihr Einkommen etwa ein Drittel des Gesamteinkommens der ärmeren Haushalte dar. Diese riesige wirtschaftliche Verschiebung, die heute in der kollektiven Vorstellung so eng mit Stahl und Kohle verbunden ist, wurde aber zum großen Teil von Stoffen ausgelöst, und besonders von einem ganz bestimmten. »Wer Industrielle RevolutionIndustrielle Revolution sagt«, schreibt Eric HobsbawmHobsbawm, EricIndustrie und Empire in Industrie und Empire, »meint BaumwolleBaumwolleIndustrielle Revolution.« Diese Feldfrucht – und der daraus gefertigte Stoff – war womöglich das erste globale Handelsgut.[2]

Obwohl wir der Herkunft und Qualität unserer alltäglichen Kleidungsstücke nicht mehr so viel Aufmerksamkeit schenken, bleiben sie etwas zutiefst Persönliches. Wir benutzen Kleidung beispielsweise, um jedem, dem wir begegnen, zu signalisieren, wer wir sind und wie wir wahrgenommen werden wollen. Es gibt individuelle Uniformen für jene, die in den Finanzzentren mit Hedgefonds, bei Start-ups im Silicon Valley und in Medienunternehmen arbeiten, obwohl die meisten dieser Menschen in Wahrheit den Großteil ihrer Zeit im Büro hinter Schreibtischen verbringen. Untergebene übernehmen oft die Kleidungsgewohnheiten ihrer Chefs, und innerhalb kleinerer Institutionen verbreiten sich Trends wie ein Lauffeuer. (In einem Büro, in dem ich mal gearbeitet habe, gab es den unerklärlichen Trend des ärmellosen Pullovers; dieselben Professoren, die ernsthaft erklärten, wie zwecklos es sei, Bedeutung in der Stoffauswahl der Damen und Herren des 18. Jahrhunderts zu suchen, waren für gewöhnlich in mehr oder weniger identischen TweedTweedjacketts und Kordhosen unterwegs, gerne von bunt leuchtenden Socken aufgelockert, wenn sie gerade ein wenig rebellisch drauf waren.)

Soziale Schichten ordnen sich anhand von Kleidung längst einem bestimmten Code unter – offiziell wie auch inoffiziell. Eines der vielen Verbote im Alten Testament schreibt dem Gläubigen vor: »Dein Feld sollst du nicht mit zweierlei Samen besäen, und ein Kleid, aus zweierlei Stoff gewebt, soll nicht auf dich kommen.« Hier handelt es sich allerdings nicht um einen moralischen Einwand: Die Gewänder der Priester waren aus zweierlei Stoffen, und diese besondere Ehre sollte nur ihnen vorbehalten sein.

Kleiderordnungen, die vorschrieben, dass bestimmte Stoffe nur von bestimmten Klassen getragen werden durften, gibt es seit Jahrtausenden. Sie finden sich in Kulturen, die so unterschiedlich sind wie das antike China, das alte Rom und das mittelalterliche Europa. Im Jahr 1579 verfügte eine Proklamation in EnglandEnglandKleiderordnungen, dass HalskrausenHalskrausen, die nicht in England gemacht oder gewebt worden waren, von niemandem getragen werden durften, der rangniedriger war als der Sohn eines Barons, als ein Ritter oder ein Gentleman im öffentlichen Amt, der mit Ihrer Majestät persönlich verkehrt. Die damals regierende Monarchin Königin Elisabeth I.Elisabeth I. (Königin von England) war äußerst bewandert in der Kunst, mit einem luxuriösen Auftritt ihre Macht zu demonstrieren, wie ihre Porträts elegant belegen. Obwohl sie vermutlich tatsächlich eine Schwäche für schöne Stoffe hatte. Laut einer berühmten, womöglich aber auch zweifelhaften Anekdote bekam sie von ihrer Seidenhändlerin Mrs Montague 1561 ein Paar gestrickte schwarze Seidenstrümpfe und soll sich daraufhin geweigert haben, je wieder andere zu tragen.[3]

Handwerkszeug

I’m a weaver, a master weaver, I’ve got a loom

where the best cloth’s made.

Plain cloth, twill, brocade or satin, I’m the master of

my trade.

Shed the warp and swing the shuttle, beat the reed,

the weft is laid.

I can wind a flying bobbin, I can warp a theme of

thread.

I can weave a sheet of linen, fit to grace a royal bed.

Lift the heel and fly the shuttle, swing the reed, the

weft is laid.

Englisches Weberlied[4]

Alle Stoffe beginnen mit einem Dreh – dem des Fadens. Denn beim SpinnenSpinnenGarn spinnen ging es ursprünglich um eine Art Drehen und Ziehen, etwa so, wie wenn auf einem Jahrmarkt Zuckerwatte auf einen Stock gezogen wird. Eine ziemlich ähnliche Bewegung erfordert das SpinnenSpinnenGarn spinnen dünner, feiner Fasern mit der Hand, um einen festen und verarbeitbaren Faden zu erzeugen. Fasern von Wolle, FlachsFlachs oder Baumwolle – die kürzer, feiner und glatter und deshalb mühevoller in der Verarbeitung sind – werden aus einer großen, losen Masse zu GarnSpinnenGarn spinnen gesponnen. Das erfordert Übung: ruckartige Bewegungen machen den Faden uneben und knotig, zieht man zu schnell oder zu langsam, wird er zu dünn oder zu dick. Die Drehung kann entweder im Uhrzeigersinn erfolgen und wird dann Z-SchlagZ-Schlag genannt, oder gegen den Uhrzeigersinn als S-SchlagS-Schlag. Aber man muss es raushaben: zu locker gesponnenes GarnSpinnenGarn spinnen ist zu schwach, zu festes kann sich verschlingen und neigt bei der Verarbeitung zur Knotenbildung. Gute Spinner brauchen viele Stunden Übung und normalerweise einen guten Lehrer, der seine Schüler in den Feinheiten seines Handwerks unterweist.[5]

Es gibt viele Arten, GarnSpinnenGarn spinnen zu spinnen, und die Methode, die der Spinnende benutzt, hängt von seiner Kultur, seiner Mentalität, dem gewünschten Produkt und dem verwendeten Material ab. Manche spinnen die Fasern zwischen der Hand und dem großen Zeh oder dem Oberschenkel, andere verwenden eine SpindelSpinnenSpindel – ein etwa 30 Zentimeter langer Stab –, selbst ein hakenförmiger Stock genügt. (SpindelnSpinnenSpindel haben den Vorteil, dass man den Faden beim Entstehen gleich aufspulen kann, was vor Verknotung schützt.) In einer Gemeinschaft können auch verschiedene Methoden angewendet werden. Ist das GarnSpinnenGarn spinnen fertig, kann es in dieser Form verarbeitet oder mit anderen verzwirnt werden, um stärkere, dickere ZwirneZwirn herzustellen, die für anspruchsvollere Aufgaben besser geeignet sind.

Fertiges Garn kann für alles Mögliche verwendet werden: Es kann geflochten oder zur Kordel gedreht werden, um Schnüre oder Seile anzufertigen, es kann gestrickt und natürlich gewebt werden. Beim Weben werden mehrere FadensystemeWebenFadensysteme miteinander verkreuzt, um ein durchgehendes Gewebe zu erhalten. Klassischerweise werden zwei FadensystemeWebenFadensysteme rechtwinklig verkreuzt. Der KettfadenWebenKettfaden wird auf einen WebstuhlWebstuhl gespannt (damit es nicht zu einem heillosen Durcheinander kommt) und ist der Träger, durch den der SchussfadenWebenSchussfaden von einer Kante zur anderen gezogen wird. Es gibt zahllose Möglichkeiten, die Fäden beim Weben zu verkreuzen. Die einfachste Webart ist die Leinwandbindung, bei der jeder SchussfadenWebenSchussfaden erst über einen KettfadenWebenKettfaden und dann unter den nächsten geführt wird. Komplexere Methoden, bei denen der SchussfadenWebenSchussfaden über oder unter mehrere KettfädenWebenKettfaden geführt wird, können Gewebe mit unterschiedlichen Eigenschaften oder Mustern hervorbringen. Bei der Köperbindung, auch TwillTwill genannt, die man beim DenimDenim findet, wird der SchussfadenWebenSchussfaden über einen und unter zwei oder mehr KettfädenWebenKettfaden geführt; der fertige Stoff scheint von diagonalen Linien durchzogen zu sein und ist sehr strapazierfähig.

Angesichts der heiklen Verarbeitungsprozesse und der weichen, widerspenstigen und empfindlichen Rohmaterialien überrascht es kaum, dass eine ganze Palette von Techniken zur StoffherstellungTextilherstellung entstanden ist. Manche davon – wie die bereits erwähnte SpindelSpinnenSpindel und der RockenSpinnenRocken, an dem die noch unversponnenen Fasern befestigt wurden – sind mit der Spinnerei verbunden. Andere, wie der WebstuhlWebstuhl, wurden zum Weben benutzt. Im Wesentlichen ist ein WebstuhlWebstuhl eine Vorrichtung, um den KettfadenWebenKettfaden zu spannen. Einer der ersten Webstühle – der HüftwebstuhlWebstuhlHüftwebstuhl – nutzte das Gewicht eines Menschen, um diese Spannung zu schaffen. Eine andere Form, die vor allem bei den alten Griechen zum Einsatz kam, war der Gewichtswebstuhl, bei dem die KettfädenWebenKettfaden oben an einer horizontalen Stange befestigt und unten mit Gewichten gespannt wurden. Doch bei jeder Konstruktionsform wird der SchussfadenWebenSchussfaden von einer Seite auf die andere geführt und der Stoff Faden um Faden aufgebaut. Später ermöglichten ausgefeiltere WebstühleWebstuhl, einen Teil der KettfädenWebenKettfaden anzuheben, sodass der SchussfadenWebenSchussfaden mit einem einzigen Handgriff schnell durch die Lücke – WebfachWebenWebfach genannt – geführt werden konnte. Der früheste Nachweis dieser Methode findet sich in ÄgyptenÄgyptenWeben um 2000 v. Chr.[6]

Viele Arbeitsschritte, die bei der allerersten Herstellung von Garn und Stoffen nötig waren, sind heute nicht mehr nachzuvollziehen. Die frühen Handarbeiterinnen hinterließen zumeist keine schriftlichen Aufzeichnungen, und ihre Techniken und Fähigkeiten sind zusammen mit den Dingen, die sie erschaffen haben, für immer verloren. Was geblieben ist, zeichnet ein verzerrtes Bild: Wer mit Hand und Schenkel Fasern gesponnen hat, wird in archäologischen Berichten kaum auftauchen; jemand, der mit einer großen steinernen Spindelringscheibe gearbeitet hat, hingegen schon. Dasselbe gilt auch für die WebstühleWebstuhl: je komplexer und dauerhafter sie sind, umso mehr Spuren hinterlassen sie.[7]

Kleidung ist die augenscheinlichste Verwendung von Textilien, aber Fäden und Stoffe tauchen an vielen Orten auf, an denen wir sie auf den ersten Blick nicht vermuten. Meine Stiefel sind mit schwungvoll geflochtenen Bändern aus roter Baumwolle geschnürt, und während ich hier tippe, stößt mein Handgelenk immer mal wieder an ein wildlederähnliches Material namens Alcantara, das die Tastatur meines Laptops bedeckt und das sich sonst eher in Luxuswagen findet. Falls Sie einen Google Home Assistant besitzen, ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass Teile davon in eine weiche Mischung aus PolyesterPolyester und NylonNylon gehüllt sind. Tatsächlich integrieren Designer von Unterhaltungselektronik immer häufiger Stoffe in ihre Entwürfe, um der Technologie einen weicheren Anstrich zu verpassen. Technische Geräte gehören mittlerweile so sehr zu unserem Alltagsleben, dass es keinen Sinn mehr hat, sie hartkantig und futuristisch zu gestalten. Stattdessen wollen die Hersteller, dass sie sich in unsere Umgebung einfügen, als ein knuddeliger Bestandteil unseres häuslichen Umfelds – daher die Verwendung von Stoff. Aber die Vorstellung, technische Produkte durch die Verwendung von Textilien »softer« zu machen, ist an sich schon grundsätzlich abwegig. Das Stoffgewerbe ist älter als das Töpferhandwerk oder die Hüttenkunde und vielleicht sogar älter als die Landwirtschaft und die Viehzucht. StoffherstellungTextilherstellung ist die Ursprungstechnologie.[8]

Handel und Technik

Weber nehmen gesponnene Fäden und erschaffen mit ihrer fachkundigen, wertschöpfenden Arbeit festen Stoff – also genau das, was das weltweite Netzwerk von Computern mit der Bitcoin Blockchain macht.

David OrbanOrban, David, »Weben ist eine bessere Metapher für Bitcoin als der Bergbau«, Bitcoin Magazine, 2014

2015 verkündete die geheimnisvolle Forschungs- und Entwicklungsabteilung Google I/O, sie würde an der Herstellung einer Hose arbeiten, die auch ein Computer sei. Sie sollte aus einem speziellen Stoff bestehen – erhältlich in einer Vielzahl von Farben und unzähligen Texturen –, der als Touchscreen fungiert und spezielle Gesten registrieren und Geräte steuern könne, ähnlich wie ein Smartphone. Zwei Jahre später stellte sich die Hose als nicht umsetzbar heraus – aber Google I/O hatte inzwischen zusammen mit Levi StraussLevi Strauss eine DenimDenim-Jacke hergestellt, deren Stoff genau wie erwartet funktionierte. Man konnte die Jacke antippen oder darüberstreichen, um Musik an- oder auszumachen oder zum nächsten Lied zu schalten und so weiter. Außerdem sandte sie ein Signal, wenn man eine Nachricht bekommen hatte; sie ging für 350 Dollar in den Verkauf. Zwar waren die ersten Kritiker von dieser Technologie nur mäßig begeistert – letzten Endes greift man ja doch nur auf ein Smartphone zurück, das man schon in der Tasche hat –, doch sehen andere in intelligenten Stoffen eine kleidsame Technik der Zukunft.[9]

Der Name für dieses futuristische Unterfangen war »Project Jacquard«, ein Name mit Anklängen an das 19. Jahrhundert. 1801 erfand Joseph-Marie JacquardJacquard, Joseph-Marie einen WebstuhlWebstuhl, der es ermöglichte, Textilien mit komplexen Webmustern automatisiert, also auch in großen Mengen herzustellen. Dazu war bis dato viel Geschick, Zeit und Sachverstand erforderlich. Seine »Jacquard-MusterwebmaschineWebstuhlJacquard-Musterwebmaschine« funktionierte über Lochkartensteuerung, die das Muster festlegte. Viel, viel später ebneten diese genialen, durchlöcherten Karten den Weg für eine andere Erfindung: den Computer. Ein amerikanischer Ingenieur verwendete das Lochkartensystem, um damit Volkszählungsdaten aufzuzeichnen. Seine Firma wurde irgendwann Teil von International Business Machines, später bekannt als IBM.[10]

Die Jacquard-MusterwebmaschineWebstuhlJacquard-Musterwebmaschine ist eine der augenfälligsten Verbindungen zwischen Technologie und Textilien, aber Beispiele dafür finden sich schon viel früher. Die ersten von Menschenhand erschaffenen Stoffe entstanden mit Fasern der Flachspflanze vor mehr als 34000 Jahren. FlachsFlachs, Wolle, Baumwolle, Seide, HanfHanf oder ChinagrasChinagras in Faden zu verwandeln, war eine technologische Meisterleistung, zu der Geschick und Werkzeuge nötig waren – SpindelnSpinnenSpindel und SpinnrockenSpinnenRocken –, die millionenfach in den ältesten archäologischen Ausgrabungsstätten gefunden wurden. Aus den Fäden wurden dann Seile, Netze und – nach dem Weben an Webstühlen, dem FilzenFilz oder StrickenStricken – Textilien hergestellt. Diese Techniken ermöglichten es unseren frühen Vorfahren, schneller Nahrung zu sammeln, sie über größere Distanzen zu transportieren und sich in weniger gemäßigte Zonen vorzuwagen, um sich neue Lebensräume zu erschließen.

Außerdem wurden die Materialien in jeder Produktionsstufe verkauft, wodurch ein wichtiger Teil eines Netzwerks entstand, das den Globus wie Arterien überzog und Sprachen, Ideen und Güter verbreitet. Dieser Handel brachte zudem komplexe Methoden der Kredit- und Buchführung mit sich. Stoff zu machen, bedeutete Geld zu machen. Der Wohlstand aus der Herstellung und dem Verkauf von Textilien finanzierte die italienische Renaissance. Die Medici, die ursprünglich mit Wollwaren gehandelt hatten, wurden im 15. Jahrhundert die Bankiers von ganz Europa. Ihre Förderung der schönen Künste verhalf Michelangelo zur Erschaffung seines David, Filippo Brunelleschi baute die Basilica di San Lorenzo wieder auf und Leonardo da Vinci malte die Mona Lisa. Weiter östlich brachten Baumwollstoffe das Mughal-Reich voran; Kalikostoffe wurde nach Amerika, Afrika, Europa und Japan exportiert. ChinaChinaSeidenraupenzucht wachte derweil viele Jahrhunderte lang geizig über die Geheimnisse der SeidenraupenzuchtSeidenraupenzucht und schuf sich dadurch ein Monopol auf den lukrativen SeidenhandelChinaSeidenhandel. Selbst heute sind die Folgen dieser Spezialisierung noch zu spüren. Nach Italien muss man sich für feine Seide und barocke Drucke wenden. Mantero, eine hundert Jahre alte Firma mit Sitz am Comer See, verfügt über ein Archiv mit mehr als 12000 Büchern voller Stoffmuster und Proben, von denen man sich inspirieren lassen kann. Die Webereien Großbritanniens bleiben der Maßstab für Wollwaren und Kammgarne. ChanelChanel, Coco bezieht seine TweedstoffeTweed von Linton TweedsLinton Tweeds, eine Verbindung, die bis in die 1920er-Jahre zurückdatiert, als Coco ChanelChanel, Coco William LintonLinton, William kennenlernte. Für die neuesten Textilinnovationen beginnen und beenden Käufer ihre Suche für gewöhnlich in Japan, wo es eine jahrzehntealte Tradition der erfolgreichen Neuerungen mit künstlichen Fasern gibt, wie etwa die beliebte Heattech-Reihe von UniqloUniqlo.[11]

Das Bestreben, mehr Stoff effizienter herzustellen, gab den Impuls für eine Kaskade an technischen Weiterentwicklungen. Die ersten WebstühleWebstuhlGewichtswebstuhl, die mit dem Gewicht des menschlichen Körpers arbeiteten, wichen komplizierteren, horizontalen oder vertikalen Modellen aus Holz, die mit großen Perlen aus Ton oder Stein beschwert wurden. Viel später, als die Märkte wuchsen und die Nachfrage stieg, wurden Innovationen immer dringlicher. 1760 bot das Journal for the Society for the Encouragement of Arts, Manufactures and Commerce Belohnungen für »eine Maschine, die sechs Fäden von Wolle, Baumwolle, FlachsFlachs oder Seide gleichzeitig spinnen kann, und von nur einer Person bedient werden muss«. Schon bald wurde dieser Wunsch erfüllt: Im Verlauf eines Jahrhunderts steigerten die bildhaft benannten Spinnmaschinen und Webstühle Spinning JennyWebstuhlSpinning Jenny, Water FrameWebstuhlWater Frame und Power LoomWebstuhlPower Loom sowie eine Reihe weiterer Erfindungen die Produktionsraten exponentiell. Denkt man an die Industrielle RevolutionIndustrielle Revolution, kommen einem sofort Kohle und Stahl in den Sinn, aber eigentlich müssten wir uns dabei das geschäftige Surren bespannter Webstühle in höhlenartigen Fabriken voller Baumwollstaub vorstellen. Selbst ein so grundsätzliches wirtschaftliches Prinzip wie die Arbeitsteilung beruht auf der Herstellung von Textilien. Fast ein Jahrhundert bevor Adam SmithSmith, Adam seine hypothetische Stecknadelfabrik heraufbeschwor, schrieb der Ökonom William PettyPetty, William, dass »Stoff billiger hergestellt werden kann, wenn einer kardiert, ein anderer spinnt, einer webt, einer zieht, einer appretiert, einer bügelt und packt, als wenn alle genannten Vorgänge ungelenk von ein und derselben Hand ausgeführt werden«.[12]

All diese Veränderungen hatten weitreichende Folgen für Spinnereien und Webereien, darunter zum Beispiel die Misere der Wollweber in Leeds im Jahr 1786, die plötzlich ihren Lebensunterhalt bedroht sahen, weil diese neuen »scribbling machines« (»Kritzelmaschinen«) erfunden worden waren, die die Fasern schneller und günstiger kardieren konnten als sie selbst. »Wie sollen diese Männer«, fragten sie in einer Petition bei der Lokalzeitung, »die auf diese Art aus dem Dienst geworfen werden, ihre Familien versorgen? Und in welche Lehre sollen sie ihre Kinder schicken, damit die heranwachsende Generation einer Beschäftigung nachgehen kann, und sich nicht wie Vagabunden im Müßiggang treiben lässt?« Diese Ängste brachten die LudditenLudditen-Bewegung hervor und damit eine Welle von Gewalt, bei der arbeitslose Textilarbeiter gezielt Maschinen zerstörten. Seither ist der Begriff LudditenLudditenEnglandLudditen negativ besetzt und steht für Technologie-Dinosaurier, die sich vergeblich dem Fortschritt in den Weg stellen. Wenn heute der Lebensunterhalt von Arbeitern verschiedener Industriezweige durch neue Technologien gefährdet ist, werden die Wehklagen der LudditenLudditen jedoch wieder sehr nachvollziehbar.[13]

Geschichten spinnen

»Das wären ja prächtige Kleider!«, dachte der Kaiser, »wenn ich die anhätte, könnte ich ja dahinterkommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen; ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug muß sogleich für mich gewebt werden!« Und er gab den beiden Betrügern viel Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen möchten.

Hans Christian AndersenAndersen, Hans Christian, Des Kaisers neue Kleider, 1837

Die von den Schicksalsgöttinnen gesponnenen Fäden waren unnachgiebig: Wie sehr die Betreffenden auch versuchten, der für sie gesponnenen Zukunft zu entkommen – es gelang nie. Ödipus’ Eltern versuchten verzweifelt, den Jungen davon abzuhalten, seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten, wie es ihm prophezeit war, aber all das geschah dennoch. Genau wie auch Wünsche, die in Geschichten gewährt werden, oft auf grausame Weise auf den Wünschenden zurückfallen. So in der griechischen Sage um König MidasMidas. In dieser Geschichte liebt der König den Reichtum so sehr, dass er zu den Göttern betet, allein seine Berührung solle genügen, um jedes Objekt sofort in Gold zu verwandeln. Sein Wunsch wird ihm gewährt. Bald darauf stirbt der König an Hunger, weil er nicht einmal eine einzelne Traube essen kann, ohne sie in einen Gold-Nugget zu verwandeln, sobald seine Lippen sie berühren.

So berühmt diese Geschichte auch ist, das mutmaßliche Vorbild für diese Legende – der historische König MidasMidas – ist weniger bekannt. Er regierte in den letzten Jahrzehnten des 8. Jahrhunderts v. Chr. in Phrygien, einer Region in der heutigen Türkei. Er findet in griechischen Geschichtsbüchern Erwähnung, aber es gibt auch archäologische Spuren. Die phrygische Hauptstadt Gordion wurde Anfang des 7. Jahrhunderts v. Chr. ausradiert, und die Zerstörung ging so schnell vonstatten, dass die Stadt und fast alles, was sich darin befand, auf der Stelle verbrannte. Ausgrabungen der Bastion brachten viele Dinge zum Vorschein, die in aller Eile zurückgelassen wurden. Zu den außergewöhnlichsten Funden gehören über 2000 Webgewichte, die – ordentlich aneinandergereiht – auf einer Strecke von etwa 100 Metern gefunden wurden, wo sie zu Boden gefallen waren, als die Flammen den von ihnen beschwerten Stoff verschlangen. Die Anzahl legt nahe, dass zum Zeitpunkt der Zerstörung über 100 Frauen für den phrygischen Herrscher fleißig Stoffe gewebt haben müssen. »Kein Wunder«, merkt Elizabeth BarberWayland Barber, Elizabeth trocken an, »dass die Griechen MidasMidas als Synonym für Gold benutzten!«[14]

Auch vielen anderen Mythen und Sagen liegen Stoffe und Fäden zugrunde. Man denke nur an Dornröschen und die tödliche SpindelSpinnenSpindel oder den bösen Waldgeist Rumpelstilzchen, der Stroh zu Gold spinnt. In einem anderen Märchen der Brüder GrimmGrimm, Jacob und Wilhelm, Die drei Spinnerinnen, bleibt einem schönen, aber faulen Mädchen ein Leben am Spinnrad erspart, als ihr Mann – ein König, versteht sich – ihre Basen trifft, von denen jede eine Missbildung hat, weil sie ein Leben lang FlachsFlachs gesponnen haben: ein breiter Plattfuß, ein riesiger Daumen und eine über das Kinn hängende Lippe. Wurde die Geschichte von den Tuchmachern selbst erzählt, hallte sie umso stärker nach.

Es ist kein Zufall, dass die Märchen- und Sagenwelt durchzogen ist von Anspielungen auf Stoffe und das Weben. Die Arbeit der StoffherstellungTextilherstellung war dem Geschichtenerzählen besonders zuträglich: Kleine Gruppen, für gewöhnlich Frauen, verrichteten zusammengepfercht stundenlang monotone Arbeit. Da ist es nur natürlich, sich mit erfundenen Geschichten die Zeit zu verkürzen. Und es erklärt auch, warum so häufig spinnende und webende Figuren auftauchen, die zudem oft mit übernatürlichen Gaben und List ausgestattet sind. Wie etwa PenelopePenelope, Odysseus’ Frau in HomersHomerOdysseeHomerOdyssee, die durch das Weben aufdringliche achäische Freier hinhält, die wie die Heuschrecken einfallen, sobald ihr Mann für tot erklärt wird. »Trüglich zettelte sie in ihrer Kammer ein feines übergroßes Geweb’«, schrieb HomerHomer irgendwann Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. »Und nun webete sie des Tages am großen Gewebe: Aber des Nachts, dann trennte sie’s auf, beim Scheine der Fackeln.« Diese Strategie brachte ihr drei Jahre Aufschub – und war bezeichnend dafür, wie wenig Männer über dieses traditionell weibliche Handwerk wussten.[15]

Frauenarbeit

Und was wurde aus mir, sobald die offizielle Version an Boden gewann? Eine erbauliche Legende. Ein Stock, mit dem andere Frauen geschlagen wurden. Warum konnten sie nicht so rücksichtsvoll sein, so vertrauenswürdig, so alles erduldend, wie ich es gewesen war? Auf diese Linie einigten sie sich, die Sänger, die Garnspinner. Folgt meinem Beispiel nicht, möchte ich in eure Ohren schreien – ja, in eure!

Margaret AtwoodAtwood, Margaret, Die Penelopiade, 2005

Gottheiten, die mit der Spinnerei und dem Weben in Verbindung gebracht werden, sind fast ausschließlich weiblich. NeithNeith (Gottheit) aus der ägyptischen MythologieMythologie, AtheneAthene bei den Griechen, FriggFrigg (Gottheit aus den nordischen Sagen – auch die kriegerischen Walküren webten –, HoldaHolda (Gottheit) in der germanischen MythologieMythologie; Mama OclloMama Ocllo (Gottheit) bei den Inkas und TaitTait/Tayet (Gottheit) (auch Tayet geschrieben) in der sumerischen Zeit Mesopotamiens. Die japanische Sonnengöttin AmaterasuAmaterasu (Gottheit) webt, wie auch die Weberin aus der chinesischen MythologieMythologie, aber nur, wenn sie von ihrem Mann, dem Kuhhirten, durch die Milchstraße getrennt ist. (Ihre Trennung wird herbeigeführt, damit sie ihre Handarbeit nicht vernachlässigt.)

Geschichten von leidenschaftlichen Fruchtbarkeitsgöttinnen, fingerfertigen alten Weibern und rachsüchtigen Jungfern wurden über Jahrhunderte hinweg täglich von Frauen weitergegeben, durch zahllose Nacherzählungen aufgedröselt und neu zusammengefügt wie PenelopesPenelope Gewebe. Märchen wurden gesponnen, dem Nachwuchs in der Dunkelheit zugeflüstert oder in Gesellschaft erzählt, während man zusammensaß und den eigenen Stoff bearbeitete. Das Herstellen von Garnen und Textilien wurde schließlich jahrhundertelang als Frauenarbeit betrachtet. Wahrscheinlich weil es eine Arbeit war, die sich gut mit der Kindererziehung vertrug: Man konnte sie zu Hause erledigen, mit etwas Erfahrung auch nur mit einem Auge, und sie konnte für gewöhnlich jederzeit unterbrochen und wieder aufgenommen werden.

Dennoch war es zeitintensive, handwerkliche Facharbeit, Fasern in Garn zu verwandeln, von vielen Millionen Frauen von Hand ausgeführt, bis sich durch die Industrielle RevolutionIndustrielle Revolution die Mechanisierung verbreitete. Durch diese und andere mit Stoff verbundene Arbeit, wie die SeidenraupenzuchtSeidenraupenzucht, versorgten Frauen ihre Familien mit unentbehrlichen Materialien, bezahlten ihre Steuern – die beizeiten in Form von Garn oder fertigem Tuch eingetrieben wurden – und trugen zum Haushaltseinkommen bei. Im Umkehrschluss wurde das benötigte Werkzeug unwiderruflich mit Weiblichkeit assoziiert. Viele Frauen wurden mit ihren SpindelnSpinnenSpindel und RockenSpinnenRocken begraben. In der Welt der alten Griechen gab man die Geburt eines Mädchens bekannt, indem ein Büschel Wolle an der Tür des Hauses befestigt wurde. Weniger konkret findet sich diese Assoziation auch in der Sprache. In China lautet ein bekanntes Sprichwort: »Männer pflügen, Frauen weben.« Die traditionelle englische Phrase »the distaff side« (»die Rockenseite«) bedeutet »mütterlicherseits«, wohingegen mit dem Wort »spinster« aus dem 16. Jahrhundert eine alte Jungfer gemeint ist.

Die jahrhundertealte Versippung von Frauen und Stoff kann man als Fluch oder Segen betrachten. Im ShijingShijing (Buch der Lieder), dem Buch der Lieder, einer Sammlung chinesischer Gedichte, die zwischen dem 12. und 7. Jahrhundert v. Chr. entstand, wird anerkennend über die Pflege von Seidenraupen und die Verarbeitung ihrer Fäden zu Seide und Stoff als angemessene FrauenarbeitSpinnenFrauenarbeit gesprochen. Viele andere Gesellschaften – wenn auch nicht alle – empfanden das ähnlich. Männer waren (am Stoffgewerbe) oft durch den Anbau und die Ernte faseriger Nutzpflanzen, wie HanfHanf und FlachsFlachs, und die Haltung von Schafen und Ziegen beteiligt. Auch Kinder beiderlei Geschlechts halfen häufig dabei mit, etwa indem sie Wolle sortierten oder den Faden beim Spinnen drehten. Und in manchen Kulturen war es genauso üblich, oder vielleicht sogar noch gängiger, dass Männer webten. Das ArthashastraArthashastra, ein altindisches Staatsrechtslehrbuch, dessen älteste Teile etwa aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. datieren, ist bei diesem Thema eindeutig: »Das Weben soll von Männern ausgeführt werden.« Frauen war es erlaubt zu spinnenSpinnenFrauenarbeit, aber selbst das wurde zähneknirschend begrenzt auf »Witwen, Krüppel, [unverheiratete] Mädchen, allein lebende Frauen, Frauen, die ihre Strafe abarbeiten, Mütter von Prostituierten, alte Dienstmägde des Königs und Tempeltänzerinnen, die nicht mehr im Dienste des Tempels stehen«.

Im alten Griechenland dagegen waren alle Frauen – von Göttinnen über Königinnen bis hin zu Sklavinnen – in die SpinnSpinnenFrauenarbeit- oder Webarbeit eingebunden. Das war nach Ansicht der zeitgenössischen Schreiber die Naturordnung.[16]

So eng die Tuchmacherei mit Frauen assoziiert wurde, galt sie für Männer als unglückselig: Jacob GrimmGrimm, Jacob dokumentierte den alten deutschen Aberglauben, dass es ein sehr schlechtes Zeichen sei, wenn ein Mann zu Pferde auf eine spinnende Frau traf; der Mann sollte umkehren und einen anderen Weg nehmen. Vielleicht wurde aus diesem Grund, oder schlicht, weil Männer für gewöhnlich nicht in die Herstellung von Textilien involviert waren, das Endergebnis oft zu gering geschätzt. FreudFreud, Sigmund war in dieser Hinsicht auch keine große Hilfe. »Man meint, daß die Frauen zu den Entdeckungen und Erfindungen der Kulturgeschichte wenig Beiträge geleistet haben«, schrieb er in einer Vorlesung zum Thema Weiblichkeit. »Aber vielleicht haben sie doch eine Technik erfunden, die des Flechtens und Webens.« Er argumentierte, sie hätten diese Fähigkeit als Reaktion auf ein unbewusstes Schamgefühl und »Penismangel« vervollkommnet: Frauen webten Stoffe, um ihren fehlenden Penis vor dem männlichen Blick zu verbergen. So viel zur Macht einer fixen Idee.[17]

 

Geschickte SpinnerinnenSpinnenFrauenarbeit oder Näherinnen waren ein wichtiger, wenn auch oft unterschätzter Teil der Wirtschaft. Assyrische Kaufleute, zum Beispiel, schrieben im 2. Jahrtausend ihren weiblichen Verwandten regelmäßig wegen ihrer Tucharbeit, baten um einen bestimmten Stoff oder ließen sie wissen, was sich gut verkaufte. LamassïLamassï, die Frau eines solchen Kaufmanns, rügte ihren Mann in ihrem Antwortbrief, weil er zu viele Forderungen stellte:

Dein Herz sollte nicht zürnen, weil ich dir nicht die Stoffe geschickt habe, nach denen du verlangt hast. Das Mädchen wurde erwachsen, so musste ich zwei schwere Stoffe herstellen, für die Fahrt auf dem Wagen. Zudem habe ich [welche] für die Mitglieder des Haushalts und die Kinder gemacht. Folglich war ich nicht in der Lage, dir Textilien zu schicken. Alle Stoffe, die ich herstellen kann, werde ich dir mit einer späteren Karawane zukommen lassen.[18]

Die Arbeit mit Stoffen wurde hauptsächlich im Haus ausgeführt – das hielt, so hoffte man, die Frauen beschäftigt und von Ärgernissen fern –, dennoch konnte sie eine Quelle rechtmäßigen Stolzes sein. Der Teppich von Bayeux, um nur ein berühmtes Beispiel zu nennen, wurde wahrscheinlich von englischen Handarbeiterinnen angefertigt, als Erinnerung an den Sieg der Normannen über ihre eigenen Landsleute im 11. Jahrhundert. Es ist ein Werk, das von großem Können und Schönheit zeugt und etwa 58 Einzelszenen im Stil einer Graphic Novel zeigt, auf Leinenbahnen von fast 70 Metern, mit nur acht Kammgarnfarben. Jahrhunderte später erschufen anonyme Spitzenklöpplerinnen barocke Kreationen von schwindelerregender Komplexität. Jede einzelne erforderte eine exakte mathematische Planung, um sicherzugehen, dass die korrekte Anzahl von Spulen im Einsatz war. Viel jüngeren Datums ist die Arbeit von Sonia DelaunayDelaunay, Sonia, einer abstrakten Malerin, die Anfang des 20. Jahrhunderts Textilien entwarf. Eines ihrer ersten Stücke, 1911 gefertigt, war »eine dieser Decken, zusammengesetzt aus Stoffstücken, wie ich sie im Haus russischer Bauern gesehen habe«. Das Resultat beschwört die Werke der Kubisten herauf. Ihr Œuvre umfasst Filmkostüme, die Inneneinrichtung einer Boutique, ein Vogue-Cover und Hunderte überwältigende Textilien, so bunt, dass sie fast summen vor Energie. 50 Jahre später begann Faith RinggoldRinggold, Faith in Zusammenarbeit mit ihrer Mutter üppige, mit Geschichtsdarstellungen geschmückte QuiltsQuilts herzustellen. (Diese mehrlagigen Steppdecken sind wegen ihrer Wärme und der Fläche, die sie für aufwändige Verzierungen bieten, sehr beliebt; die ersten stammen aus der Zeit um 3400 v. Chr. in ÄgyptenÄgyptenTextilien.) RinggoldsRinggold, Faith Arbeit wird heute in Museen wie dem Guggenheim und dem Museum of Modern Art in New York ausgestellt.

Auch der Bedarf an Stoffen war Geschlechterrollen unterworfen. In England war es im 18. Jahrhundert üblich, dass Frauen Stoffe und Kleidung, wie Leinenhemden, für die Familie kauften. Sarah ArderneArderne, Sarah, eine verheiratete Frau aus dem niedrigen nordenglischen Adel, hat Ende des 18. Jahrhunderts einen Großteil ihrer Zeit und ihres Geldes in die Wäsche ihres Mannes investiert, wie ihr Haushaltsbuch zeigt. Sie kaufte ihm MusselinMusselin für Krawatten und Taschentücher und überwachte das Waschen seiner Kleidung. Ein Eintrag vom April 1745 lautet: »Mary SmithSmith, John H. für zehn schöne Holland-Hemden für meinen Guten Mann bezahlt.« (Das Stillen seiner Bedürfnisse bildete mit 36 Prozent den größten Posten der jährlichen Ausgaben; für die Pflege ihrer fünf Kinder gab sie nur 9 Prozent aus.)[19]

Nähen, Spinnen und andere Stoffarbeiten verliehen den Frauen Ausdrucksmöglichkeiten. »Die NadelNadeln ist dein Schreibpinsel«, schrieb die berühmte Stickerin Ding PeiDing Pei in einer Abhandlung aus dem Jahr 1821. Spinnen, SpitzenklöppelnSpitzenklöppelei, SeidenraupenzuchtSeidenraupenzucht, Sticken und anderes Textilhandwerk konnten Frauen zu wirtschaftlicher Macht und Status verhelfen. 1750 war das SpinnenSpinnenFrauenarbeit in England die gängigste bezahlte Arbeit für Frauen und sogar vergleichsweise lukrativ. Schätzungen zufolge konnten alleinstehende Frauen etwa sechs Pfund Wolle pro Woche spinnenSpinnenFrauenarbeit; eine verheiratete Frau schaffte vermutlich nur etwa zweieinhalb Pfund. In Anbetracht der üblichen Tarife hätte eine spinster (eine alte Jungfer) in einer Woche etwa so viel verdienen können wie ein gelernter Weber – die allerdings waren für gewöhnlich männlich und in Zünften zusammengeschlossen, was bedeutete, dass ihre Arbeit besser angesehen war und höhere Wertschätzung erfuhr. Erst seit vergleichsweise kurzer Zeit ist der Begriff der alten Jungfer negativ konnotiert.[20]

Auch wenn sie nicht das gleiche Gehalt erwarten konnten, waren Frauen, die mit einer SpindelSpinnenSpindel, einem WebstuhlWebstuhl oder NadelnNadelnumgehen konnten, in der Lage, die schlimmste Armut zu verhindern. Dies war beispielsweise der Grundgedanke hinter den Regeln für die Spinnerei im ArthashastraArthashastra: »SpinnarbeitSpinnenFrauenarbeit soll von Frauen ausgeführt werden [vor allem von denen, deren Lebensunterhalt davon abhängt].« Ebenso befiehlt ein Gesetz aus dem Jahr 1529 in Amsterdam »allen armen Mädchen […], die nicht zur Spitzenweberei in der Lage sind«, sich an bestimmten Stellen in der Stadt zu melden, wo ihnen der Umgang mit der NadelNadeln beigebracht wird, damit sie ihren Unterhalt selbst verdienen können. Etwa ein Jahrhundert später mussten die städtischen Würdenträger im südfranzösischen Toulouse feststellen, dass so viele arme Frauen mit der Herstellung von Spitze beschäftigt waren, dass es zu einem Mangel an Hausbediensteten gekommen war. Auch hier wurde ein Gesetz erlassen, das diesmal allerdings die SpitzenklöppeleiSpitzenklöppelei verbot.[21]

Heutzutage hat die maschinelle Herstellung in Fabriken und zu bestimmten Arbeitszeiten die ursprünglichen Gründe ausgelöscht, warum die Arbeit mit Stoffen als Frauenarbeit wahrgenommen wurde – doch die Assoziation dauert fort. In Bangladesch arbeiten etwa vier Millionen Menschen in der Textilindustrie; 80 Prozent davon sind Frauen. Nur ein winziger Bruchteil von ihnen – 2015 waren es gerade einmal 150000 – ist in Gewerkschaften organisiert, weil die Arbeiterinnen Repressalien durch die größtenteils männlichen Firmenchefs und das politische Establishment fürchten. (Die Textilexporte machten 201480 Prozent der Exporte des Landes aus.)[22]

Worte weben

Er zeucht den Faden seiner Loquacität feiner, als es der Wollenvorrat seiner Gedanken verträgt.

William ShakespeareShakespeare, William, Verlorene Liebesmüh, ca. 1595

Die Worte »TextText/Textil« und »Textil« teilen sich einen gemeinsamen Stamm: das lateinische »textere« – weben. Dass Sprache und Stoff miteinander verwoben sind, sollte uns nicht überraschen: auf gewisse Weise sind sie eng verwandt. Als eine der ersten Techniken spielte die StoffherstellungTextilherstellung eine wichtige Rolle in der Werkstoffhistorie des geschriebenen Wortes. Papier wurde einst aus Lumpen gemacht, und viele TexteText/Textil sind in Textilien eingewickelt oder damit bedeckt worden, sowohl um sie zu schützen als auch um ihren Wert zu steigern. Buchbinder haben lange Zeit mit NadelNadeln und Faden gearbeitet. Parallelen finden sich auch bei der Kalligraphie und der SpitzenklöppeleiSpitzenklöppelei. Und diese Beziehung war beileibe nicht nur einseitig, das zeigen Mustertücher, die mit Predigten bestickt und Stoffe, die mit Symbolen und Worten von hochmetaphorischer Bedeutung geschmückt waren.

Dass die Produktion von Textilien bis zur Moderne allgegenwärtig war, verstärkte die Beziehung zwischen gewobenen und erzählten Stoffen. Kinder wuchsen damit auf, ihren Familienmitgliedern beim Spinnen und Weben zuzusehen und mitzuhelfen. In ärmeren Haushalten wurden viele der dort verwendeten Stoffe – Kleidung, Sackleinen, Möblierung und Laken – im eigenen Haus herstellt, mit Rohmaterial aus der näheren Umgebung. Risse, ausgefranste Säume und aufgehende Nähte wurden ausgebessert, geflickt und wieder vernäht: Stoff war wertvoll und wurde nicht leichtfertig weggeworfen. Beim Weben und Nähen erzählte man Geschichten, es wurde getratscht und gezankt, weshalb den Handarbeiterinnen ganz selbstverständlich gängige Begriffe aus der Stofferzeugung in den Sinn kamen und den Weg in ihre Erzählungen und Argumentationen fanden. Dabei handelte es sich um lebendige, greifbare Bilder, die fast jede Zuhörerschaft sofort verstand.

Heute hat sich die Schnittstelle aus »TextText/Textil« und »Textil« als fruchtbarer Boden für Literaturkritiker erwiesen. Auch sie dröseln etwas auf, stellen etwas her, stückeln zusammen oder entwirren, nur besteht ihr Arbeitsmaterial für gewöhnlich aus Debatten, Gedichten, Charakteren und Handlungsverläufen. Entsprechend wurden das Einwickeln und Auspacken auch zu einer wichtigen Thematik in der Geschichtsschreibung und der Anthropologie.

Akademiker sind natürlich nicht die Einzigen, die Worte aus dem Textilhandwerk benutzen. Ein jeder hat womöglich schon mal Seemannsgarn gesponnen, aus dem Nähkästchen geplaudert, den roten Faden verloren – verflixt und zugenäht! –, Flausen im Kopf gehabt, und hoffentlich nicht am Hungertuch genagt. Die Sprache der Stoffe ist wie das Ticken einer Uhr im Zimmer: Hat man sie erst bemerkt, gibt es kein Entkommen mehr. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Jedoch werden viele dieser Metaphern überstrapaziert und fadenscheinig, denn die meisten von uns wissen wenig über ihre ursprüngliche Bedeutung. Wie viel erfüllender muss es sein, eine schlüssige Argumentation zu weben, wenn man sich die Geschichte selbst zurechtgestrickt hat. Der Begriff »flachsblond« verweist auf die hellgoldenen Flachsfasern, bevor sie gesponnen werden. Der rote Faden dagegen rührt von der englischen Marine her, durch deren Taue sich stets ein roter Faden zog, um sie als Eigentum der Marine zu kennzeichnen. Wem es unwahrscheinlich erscheint, dass solche Wendungen aus dem Sprachgebrauch verschwinden könnten, der mag nur an das Schicksal von Redensarten denken, die vom vielen Gebrauch abgenutzt oder völlig unverständlich geworden sind: Man kann etwas auf »Strich und Faden« prüfen und dann keinen guten Faden mehr daran lassen. Oder der süddeutsch angehauchte »Haderlump«, der Kleidungsstücke und Stoffreste und -fetzen, sogenannte »HadernHadern« bzw. »Lumpen« bei der Bevölkerung sammelte und diese an Papiermühlen veräußerte. Seit dem Mittelalter bis hinein ins 18. Jahrhundert bildeten HadernHadern aus Leinen, HanfHanf oder Baumwolle – zusammen mit Spinnerei- und Seilereiabfällen – den einzig verfügbaren Faserrohstoff für die Herstellung von Papier.

Von der Sprache über die Märchen, die Technologie bis hin zu unseren sozialen Beziehungen ist unser Leben durchwirkt von den Fäden der StoffherstellungTextilherstellung. Die Schicksalsgöttinnen hätten wohl nichts anderes geduldet.

1 Fasern in der Höhle

Die Anfänge des Webens

Die ersten Weber

Durch den Bund des Opfermahls, dem Amulett mit dem Lebensfaden, dem bunten, dessen Knoten die Wahrheit ist: Damit binde ich dein Herz und deinen Geist. Was dein Herz ist, soll meines sein. Was mein Herz ist, soll deines sein.

Vedisches Mantra

Als sich Eliso KvavadzeKvavadze, Eliso über das Okular ihres Mikroskops beugte, erwartete sie, darunter jungsteinzeitliche Pollen zu sehen. Als Botanikerin bei der Georgischen Nationalen Akademie der Wissenschaften gehörte das zu ihrem Handwerkszeug. Mikroskopisch kleine Spuren vorzeitlicher Pflanzen vom Boden abgelegener Höhlen gekratzt, würden Informationen über das veränderte Klima im Altertum preisgeben, so hoffte sie. Bestimmte Bäume und Pflanzen gediehen während Eiszeiten und Perioden mit gemäßigteren Temperaturen, also könnten Pollenproben verschiedener Spezies ein vielsagendes Zeugnis für das Wetter ihrer Zeit sein. An jenem Tag im Jahr 2009 wurden die winzigen Pollenkörnchen auf der Glasplatte jedoch unsanft aus dem Rampenlicht verdrängt – von etwas Außergewöhnlichem, das neben ihnen lag: die ältesten, bekannten Fasern, die von Menschen hergestellt und benutzt wurden.

Die Höhle, die KvavadzeKvavadze, Eliso zusammen mit einem Team von georgischen, israelischen und amerikanischen Wissenschaftlern untersuchte, ist bekannt unter dem Namen DzudzuanaDzudzuana-Höhle (Georgien). Sie bohrt sich im westlichen Teil der Republik Georgien in den Kaukasus. Dem ungeübten Blick mag diese Höhle nicht gerade ins Auge stechen. Ihr geschürzter Mund in der Form eines auf dem Rücken liegenden »D« befindet sich etwa 560 Meter über dem Meeresspiegel, und von dieser Öffnung aus windet sich die Höhle tief in hartes Gestein.[23]

Die Kohlenstoffdatierung legt nahe, dass der moderne Mensch seine ersten, vorsichtigen Fußabdrücke erstmals vor bereits 34500 Jahren auf dem Boden der Höhle hinterlassen hat. Obwohl die Menschen von DzudzuanaDzudzuana-Höhle (Georgien) noch etwa weitere 20 Jahrtausende hier verbracht haben, hinterließen sie kaum etwas. Wir wissen aber, dass diese ersten Weber sehr gute, zielstrebige Jäger waren. Auf dem Höhlenboden verstreute Knochen lassen darauf schließen, dass die altsteinzeitlichen Bewohner zunächst Bergziegen und später Bisons verspeist, aber auch Auerochsen, Fichtenmarder, Wildschweine und sogar Wölfe erlegt haben. Wir wissen darüber hinaus, dass sie eine Reihe von Werkzeugen hergestellt haben – Schaber und richtig scharfe Klingen aus Stein und Obsidian –, und dass sie verzierte Amulette trugen.[24]

So weit, so charakteristisch. Aber KvavadzesKvavadze, Eliso Entdeckung zeigte, dass sie auch Fasern aus Pflanzen gewannen, was bestenfalls ein kniffliges Unterfangen war, und dass sie dabei eine Technik anwandten, die bis vor kurzem auf eine viel spätere Zeit datiert wurde. Dieser Fund untergräbt langlebige Mutmaßungen über unsere Vorfahren, verlegt die Geschichte der StoffherstellungTextilherstellung viel weiter zurück, als sich die meisten jemals vorstellen konnten, und beschert uns ein umfassenderes, reicheres Bild des Lebens unserer frühen Vorfahren.

Neue Fäden

Bruder, wenn du mir den FlachsFlachs bereits gewoben bringst – Wer wird ihn für mich bleichen? Wer wird den Flachs für mich bleichen?

Sumerisches Lied, 1750 v. Chr.

KvavadzesKvavadze, Eliso Fäden sind für das bloße Auge unsichtbar, und die Objekte, zu denen sie gehörten, haben sich schon vor langer Zeit zersetzt. Dennoch bieten diese Fasern allen Neugierigen faszinierende Einblicke in ihre Geheimnisse. Sie enthüllen beispielsweise, dass die Menschen, die sie hergestellt haben, sehr fleißig waren. Mehr als tausend mikroskopisch kleine Fasern wurden in dem Lehm gefunden, der sich mit der Zeit auf dem Höhlenboden von DzudzuanaDzudzuana-Höhle (Georgien) angesammelt hat – ein Beleg für viele Arbeitsstunden, vom Sammeln des Flachses bis zum Verweben der Fäden zu dem, was auch immer sie damit gefertigt haben. In der ältesten Schicht fanden sich fast 500 Fasern; eine jüngere, etwa 19000 bis 23000 Jahre zurückliegende, enthielt 787 Fasern. Die Mittel und Wege, um diese Fasern zu erschaffen, müssen sorgfältig von Generation zu Generation weitergegeben worden sein. Die Geheimnisse ihrer Herstellung wurden wahrscheinlich im Licht am Eingang eben dieser Höhle gelehrt.[25]

Die Fäden bestanden aus BastBast: flexible Fasern aus dem Inneren von Pflanzen – was eine aufwändige Verarbeitung erfordert. Manche der Fasern waren gesponnen, andere nur gedreht. In einem Paper zur Veröffentlichung ihrer Entdeckung vermerkten KvavadzeKvavadze, Eliso und ihr Team staunend, dass einige Proben »in einem verhältnismäßig komplexen Muster zweilagig links gedreht zu sein scheinen«. Verzwirntes Garn besteht aus zwei oder mehr Fäden, die entgegen ihrer Spinnrichtung zusammengedreht werden. Was in der Praxis bedeutet, dass der fertige ZwirnZwirn, wenn er auf die richtige Weise gedreht wurde, symmetrisch und leichter zu verarbeiten ist: Er wird sich weder auflösen noch in sich selbst verdrehen. Kurz, wenn diese Proben tatsächlich zweilagig links gedreht sind, dann deuten sie auf ein erstaunliches Maß an Können hin.[26]

Noch verblüffender war, dass viele der Fasern offenbar gefärbt waren, höchstwahrscheinlich mit Pflanzenfarbstoffen. Und genau wie die gezwirnten Proben, deutete auch die Bandbreite an Farben darauf hin, dass die DzudzuanaDzudzuana-Höhle (Georgien)-Weber ihr Handwerk gut beherrschten. Der Großteil der Fäden war zwar grau, schwarz und türkis, aber es fanden sich auch gelbe, rote, blaulila, grüne, khaki- und sogar rosafarbene Fäden, die auf ein komplexes Wissen und den Einsatz von lokalen FärbepflanzenFärbemittel/-pflanzen und anderen FärbemittelnFärbemittel/-pflanzen schließen lassen. Die beiden älteren Schichten aus der Zeit von vor 32000 bis 19000 Jahren enthielten die meisten gefärbten Fasern. Von den 488 Fasern aus der ältesten Schicht waren 58 gefärbt; von den 787 Fasern aus der zweitältesten Schicht waren 38 gefärbt, dafür aber in einer größeren Bandbreite an Farben – hier wurde zum Beispiel der rosafarbene Faden gefunden.[27]

Forscher, die die Höhle untersucht haben, fanden außerdem die Überreste von Mottenlarven, die sich für gewöhnlich auf zerfallenden Textilien niederlassen, Pilze, die auf Kleidung wachsen, und Spuren von Ziegenhaaren. Die BastfasernBastfasern könnten also benutzt worden sein, um daraus Garn zu machen, mit dem Tierhäute und FelleFell vernäht wurden. Außerdem könnten sie für Schnüre oder Seile, Haltewerkzeuge und zum Korbflechten verwendet worden sein. Der israelische Archäologe Ofer Bar-YosefBar-Yosef, Ofer, mit dem KvavadzeKvavadze, Eliso eng zusammenarbeitete, warf die Frage auf, ob die Höhlenbewohner vor vielen Tausend Jahren Fasern auf eine Art miteinander verwoben haben, die an MakrameeMakramee erinnert. Elizabeth Wayland BarberWayland Barber, Elizabeth, eine Expertin für vorzeitliche Textilien, führt an, dass allein die Herstellung von Schnur eine wirkmächtige Methode war und den Alltag revolutioniert hat. »Man kann Dinge zu Paketen schnüren und dadurch mehr tragen. Man kann Netze und Schlingen auslegen, um mehr Wild zu fangen und sich dadurch besser ernähren.«[28]

Wohin mit dem Fell?

Kleider machen Leute.

Sprichwort, 15. Jahrhundert

Anthropologen gehen davon aus, dass Kleidung zwei wichtige Funktionen in der menschlichen Gesellschaft erfüllt. Die erste ist Selbstdarstellung. Doch der Mensch ist vollkommen in der Lage, sich auch ohne Kleidung visuell zu unterscheiden, etwa mit Hilfe von Tätowierungen, Schmuck, Piercings und Adaptation. Viele Völker, darunter auch die Hunnen des 5. Jahrhunderts, die die Römer so verschreckten, bandagierten beispielsweise die Schädel ihrer Kinder, sodass sich die Köpfe der Erwachsenen nach hinten und in die Höhe zogen. Sobald sich die Menschen in Kleider hüllten, benutzten sie sie vermutlich auch, um ihren Status zu zeigen; aber das ist noch kein wirklich überzeugender Grund dafür, dass sie überhaupt entstanden sind.[29]

Eine praxisbezogenere Erklärung für Kleidung ist der Schutz gegen Kälte. Menschen sind nicht dafür gemacht, außerhalb der warmen Klimazonen zu leben, in denen sie sich entwickelt haben. Im Vergleich mit vielen anderen Säugetieren – selbst mit anderen Primaten – ist das, was wir Menschen kühleren Temperaturen entgegenzusetzen haben, nicht besonders effizient. Wir verfügen beispielsweise nicht über braunes Fettgewebe, das ganz einfach verstoffwechselt werden kann, um Wärme zu schaffen. Ein Trick, mit dem viele unserer genetisch nächsten Verwandten arbeiten. Aber vielleicht ist unser offensichtlichster Schwachpunkt in dieser Hinsicht, dass wir vergleichsweise unbehaart sind.

Kaninchen erreichen ihr Kältelimit bei ca. minus 45 °C; ohne ihr FellFell läge es bei etwa 0 °C. Einem unbekleideten Menschen wird schon bei lauen 27 °C kühl. Unsere Körperkerntemperatur liegt bei 37 °C; fällt sie unter 35 °C, setzt die UnterkühlungUnterkühlung ein, der Tod tritt wahrscheinlich bei unter 29 °C ein. Selbst leichte UnterkühlungUnterkühlung ist problematisch. Eine Broschüre der britischen Armee warnt Soldaten, dass unterkühlteUnterkühlung Menschen sich irrational verhalten können und dass diese Risiken durch Erschöpfung und Unterernährung verschärft werden.[30]

Wenn die Haarlosigkeit für unsere Spezies so unvorteilhaft ist, warum und wann sind wir dann zu nackten Affen geworden? Die Menschen stechen in dieser Hinsicht unter den Säugetieren heraus. (Bei Elefanten und Walen etwa gab es spezielle evolutionäre Gründe für den Haarverlust.) Diese Eigentümlichkeit versuchen manche mit einer semiaquatischen Phase zu erklären. Die angedeuteten Schwimmhäute zwischen unseren Fingern, so diese Theorie, sei ein rudimentäres Bindeglied zu unserer früheren Lebensweise, unsere Haarlosigkeit ein anderes. Laut einer zweiten Theorie sorgte die Haarlosigkeit für Kühlung, als wir unser schattiges Waldhabitat gegen ein heißeres in der Savanne eintauschten. Aber nackte Haut absorbiert in der Hitze des Tages eigentlich mehr Energie und verliert sie bei Kälte schneller – also das Schlechteste aus beiden Welten in puncto Wärmemanagement. Eine aktuellere Theorie von zwei britischen Wissenschaftlern aus dem Jahr 2003 besagt, dass wir unser FellFell verloren haben, weil es krankheitsübertragende Parasiten beherbergte, und wegen sexueller Selektion. Auf paarungswillige Weibchen muss nackte, glatte und parasitenfreie Haut wohl wie der vielfarbige Rumpf des Mandrills oder das protzige Gefieder des Pfaus gewirkt haben – unwiderstehlich.[31]

Parasiten wurden von der Wissenschaft lustigerweise auch ins Feld geführt, als es darum ging herauszufinden, wann wir begonnen haben, Kleider zu tragen. Körperläuse ernähren sich – wenig überraschend – vom menschlichen Körper, aber leben ausschließlich in der Kleidung. Wenn man herausfindet, wann sich diese Läuse aus ihren Vorfahren, den Kopfläusen, entwickelt haben, ließe das auch Rückschlüsse darauf zu, wann der Mensch begonnen hat, regelmäßig Kleidung zu tragen. Folgt man dieser Methode, legen die Beweise nahe, dass wir uns erst vor ungefähr 42000 bis 72000 Jahren bedeckt haben, etwa zu der Zeit, als der Mensch begann, aus Afrika auszuwandern; das würde bedeuten, dass wir etwa eine Million Jahre lang nackt geblieben waren.[32]

Doch natürlich muss nicht alle Kleidung aus gewebtem Material bestehen. Sehr wahrscheinlich haben sich die Menschen lange Zeit in TierfelleFell gehüllt und dann damit begonnen, sie grob zusammenzunähen (obwohl sie dafür wahrscheinlich faserigen Faden verwendet haben). Aber letztendlich werden sich die Vorteile von gewebtem Stoff als Kleidung deutlich gezeigt haben. Ein dicker PelzPelz bietet hervorragenden Wärmeschutz, wenn man still dasitzt oder liegt, aber nicht mehr, sobald man sich bewegt oder bei starkem Wind, denn PelzePelz liegen nicht am Körper an. Je mehr Luft zwischen Körper und Kleidung dringt, umso weniger effektiv kann eine isolierende Luftschicht an der Hautoberfläche entstehen. Tatsächlich halbiert sich die Isolationsfähigkeit von Kleidung, wenn man zügig geht. Kleidung muss zudem atmungsaktivAtmungsaktivität sein, denn feuchte Kleidung wärmt ihren Träger nicht und wird sehr schwer. Gewebter Stoff ist atmungsaktiver als FellFell und schafft – auf einen Körper zugeschnitten – auch hervorragende interne Schichten, die verhindern, dass kalte Luft bis zur Hautoberfläche durchdringt. Die Fähigkeit, gewebte Kleidung herzustellen, bot also grundlegende Vorteile für unsere frühen Vorfahren, als sie sich in kühlere Klimazonen aufmachten.[33]

Damals war der Schutz vor den Elementen noch dringlicher als heute. In den letzten 130000 Jahren hat es mehrere gravierende Temperaturschwankungen gegeben, darunter auch kühlere Perioden mit starkem Wind. Schätzungen gehen davon aus, dass während der kälteren Phasen der Eiszeiten die Durchschnittstemperatur im Winter in manchen besiedelten Regionen auf unter minus 20°C gesunken ist. Das raue Klima in Verbindung mit dem, was man über die menschliche Physiologie weiß, und die Tatsache, dass viele Werkzeuge erhalten sind, die aller Wahrscheinlichkeit nach zur Herstellung von Kleidung dienten (von Schabwerkzeugen über Klingen bis hin zu NähnadelnNadeln), liefern einen bestechenden Beweis für die Existenz von Kleidung, auch wenn die Textilien selbst nicht mehr vorhanden sind. Kleidung gehörte zu einer Reihe von Voraussetzungen – wie auch die Fähigkeit, für Obdach und Feuer zu sorgen –, die die Menschen benötigten, um in verschiedenen Regionen leben zu können.[34]

Vom Bast zum Kammgarn

Eine moderne Frau sieht ein Stück Leinen, aber die mittelalterliche Frau sah die Flachsfelder dahinter, sie roch den Gestank der Wasserrotte, sie spürte das raue Kratzen der Hechel und sie sah den sanften Schimmer des glatten Flachses.

Dorothy HartleyHartley, Dorothy, The Land of England, 1979

Die Fäden aus DzudzuanaDzudzuana-Höhle (Georgien) waren aus FlachsFlachs – der Pflanze, aus der auch heute noch Leinen hergestellt wird. Es handelt sich um eine hohe, biegsame einjährige Pflanze, deren meterhohe Stängel stiellose, wechselständige Laubblätter tragen; sie blüht mit vielen Blüten, die weiß, violett oder rosa sein können, zumeist aber lavendelblau. Die heute verwendeten Sorten sind domestiziert: Linum usitatissimum, auch Gemeiner Lein oder Saat-Lein genannt. Seine mutmaßliche Stammform – Linum angustifolium – wuchs ursprünglich wild im Mittelmeerraum, im Iran und Irak, und daher waren es natürlich die Menschen aus diesen Gebieten, die ihn als Erste anbauten. Der Flachs der Weber aus DzudzuanaDzudzuana-Höhle (Georgien) stammte von der wilden Sorte. Die Höhlenbewohner, die damit arbeiten wollten, mussten losziehen, ihn suchen und sammeln. Doch selbst mit ausreichend Vorrat war noch lange kein Ende in Sicht: Flachs muss eine Reihe von aufwändigen Arbeitsschritten durchlaufen, jeder mit seiner eigenen abgenutzten Begrifflichkeit, ehe daraus Faden gemacht werden kann.[35]

BastfasernBastfasern findet man außer im FlachsFlachs auch in HanfHanf, JuteJute und im ChinagrasChinagras.[36] Diese Fasern bestehen aus länglichen, schmalen Zellen (Fibrillen), die hintereinander aufgereiht sind und so Stränge bilden – wie Röhrenperlen an einer Schnur –, die sich von der Wurzel bis zur Spitze ziehen und zu Bündeln zusammengefasst sind. Ein einzelner Stängel kann zwischen 15 und 35 Bündel enthalten, von denen jedes bis zu 40 einzelne Fasern umfasst. Diese sind lang (zwischen 45 und 100 cm), schmal (etwa 0,0002 cm), weich und stark. Sie fühlen sich schwer und fast seidig an und schimmern perlmuttartig. In der Pflanze sorgen sie für eine Versteifung der Kanäle, in denen die Nährstoffe aus den Wurzeln nach oben transportiert werden, also müssen sie stabil sein. Sie sind umhüllt vom holzigen Innenbereich der Flachspflanze, auch Xylem genannt, und werden von Kittsubstanzen wie Pektin oder Lignin zusammengehalten. All diese Schichten erschweren es, die Faserbündel von den Stängeln zu lösen. Im ersten Schritt muss der FlachsFlachs im gewünschten Alter entwurzelt (nicht geschnitten) werden. Solange der Stängel jung und grün ist und sich die Samen noch nicht herausgebildet haben, sind die Fasern besonders fein: perfekt für zarte Stoffe. Später, wenn die Stängel gelblich werden, wird der BastBast gröber, aber auch stärker, wodurch er sich besser für strapazierfähige Arbeitskleidung eignet, und im reifsten Stadium kann man aus den zähen Fasern Seile oder Schnüre herstellen.[37]

Nach der Entwurzelung werden die Stängel nach Größe geordnet und die Blätter und Blüten entfernt – ein Vorgang, der sich FlachsriffelnRiffeln nennt. Die Pflanzen werden getrocknet und dürfen röstenFlachsrösten/rotten (auch rotten), entweder langsam auf einem Dach oder schneller in offenem Gewässer von eigens dafür unterhaltenen Teichen oder Flüssen. Bei diesem Prozess werden die Pektine im Pflanzenstängel aufgelöst, wodurch er weicher wird und der BastBast hervortritt, der in der Folge leichter zu extrahieren ist. Wenn der FlachsFlachs weich genug ist, wird er getrocknet und dann geschwungen und gehechelt, um den verbleibenden Stängel zu entfernen. So erhält man die BastfasernBastfasern: lang, leicht schimmernd und spinnfertig, um daraus Leinen zu machen.[38]

Fast alle der ersten vom Menschen gewonnenen Fasern stammen vom FlachsFlachs und nicht von Wolle. (Schon mikroskopisch kleine Faserreste genügen, um die beiden zu unterscheiden. Wollfasern sind geschuppt, im Vergleich mit den glatteren BastfasernBastfasern, sie sind deutlich dehnbarer und eher kraus als gerade.) Diese Tatsache beschäftigt Archäologen sehr, denn sie scheint der menschlichen Intuition zuwiderzulaufen. Schafe trabten selbst in ihrer urzeitlichen Form, die vermutlich etwas weniger flauschig war als die heutige, mit einem faserigen, wolligen FellFell durch die Gegend; aus ihrer Wolle kann man sehr einfach Faden herstellen. Wolle hat auch den Vorteil, dass sie einfach zu filzenFilz ist. (Es ist im Übrigen nicht bekannt, ob FilzFilz- oder Wollkleidung zuerst da war, aber beide haben ihren Ursprung höchstwahrscheinlich in Zentralasien.) BastfasernBastfasern sind in Gewinnung und Verarbeitung vergleichsweise aufwändiger, selbst wenn man weiß, dass es sie gibt. Aber sie haben auch ihre Vorteile: Die langstapeligen Fasern sind leichter, luftdurchlässiger und besser geeignet für wärmere Gefilde und wenn man sich viel bewegt.[39]

Jenseits von Dzudzuana

Wo ist ein Webstuhl, der auch in seiner einfachen Form ein relativ sehr kompliziertes Instrument ist, bei einem Volke zu denken, das kein Metall kennt?

Jakob MessikommerMessikommer, Jakob, 1913

Die Archäologie steht Textilien traditionell voreingenommen gegenüber. Stoffe sind schließlich äußerst vergänglich, lösen sich innerhalb von Monaten oder Jahren auf und hinterlassen nur sehr selten Spuren für all jene, die sie Jahrtausende später suchen. Archäologen – vorwiegend männliche – haben den Zeitaltern Namen wie »Eisenzeit« und »Bronzezeit« gegeben, und nicht »Keramikzeit« oder »Flachszeit«. Dies legt nahe, dass Metallobjekte die Hauptmerkmale dieser Zeiten waren, wobei sie tatsächlich einfach nur die sichtbarsten und beständigsten Überreste sind. Techniken, die mit vergänglichen Materialien wie Holz oder Textil arbeiteten, haben aber womöglich im Alltagsleben der Menschen dieser Zeiten eine viel zentralere Rolle gespielt; doch die Spuren und Belege für ihre Existenz sind größtenteils wieder zu Erde geworden.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Genau wie bei den Fasern in der DzudzuanaDzudzuana-Höhle (Georgien)