Die Welt des Idun - Antje Soike - E-Book

Die Welt des Idun E-Book

Antje Soike

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Beschreibung

Diese Augen, sie verfolgen dich, doch was ist, wenn du ihnen folgst? Ihnen bis in deine Träume folgst und darüber hinaus – in die Welt des Idun … Für Jasmin sollte nun eigentlich der Beginn des richtigen Lebens anstehen. Doch nach einem mysteriösen Unfall ist an Studium und Schwärmereien nicht mehr zu denken. Verfolgt von unerklärlichen Träumen und diesem hypnotischen Augenpaar muss sie herausfinden, was es ist, das sie allmählich an ihrem eigenen Verstand zweifeln lässt. Einzig mithilfe von George, mit dem sie seit dem Unfall in ihren Träumen verbunden ist, scheint sie eine Chance zu haben, der Sache auf den Grund zu gehen. Mit ihm und ihrer Freundin Helena an ihrer Seite muss sie sich einem Schicksal stellen, das nicht nur das Fortbestehen ihrer eigenen Welt entscheidet.

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EPUB
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Seitenzahl: 364

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0135-3

ISBN e-book: 978-3-7116-0136-0

Lektorat: Luisa Bott

Umschlagabbildungen: Daniel Million, Syda Productions, Viculia | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Kapitel I

Voller Erwartung sah sie zur Uhr. Noch im selben Augenblick verschwand die Hoffnung in ihren Augen. Es waren wieder erst zwei Minuten vergangen, seit Jasmin den Kopf das letzte Mal in Richtung Uhr erhoben hatte. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Noch bis 19 Uhr musste sie in dem Buchladen verweilen, wie jeden Tag. Im Grunde machte ihr diese Arbeit großen Spaß, denn sie liebte Bücher über alles. Doch heute freute sie sich besonders auf ihr Zuhause, denn sie hatte beim Durchstöbern der neuen Bestsellerlisten ein neues Buch gefunden, das sie heute Abend unbedingt lesen wollte.

Dann war es endlich so weit: Jasmin verließ den Laden ordnungsgemäß und eilte hastig zu ihrem Auto ins Parkhaus auf der anderen Straßenseite. „Gott sei Dank ist es nicht glatt!“, schoss es ihr durch den Kopf. Im Januar konnte es in dieser Gegend sehr glatt werden. Außerdem zeigte sich der Winter in diesem Jahr von seiner härtesten Seite.

Normalerweise fuhr Jasmin 20 Minuten nach Hause. Allerdings durchquerte sie auf ihrem Weg einen besonders langen Wald. Auf diesem Teil der Strecke war es wegen des Wildwechsels enorm gefährlich, vor allem bei möglicher Glätte.

Jasmin machte sich also auf den Heimweg. Doch als sie in die Nähe des Waldes fuhr, war dieser von einer dichten Nebelwand verdeckt. Sie schüttelte sich kurz, weil ihr bei dem Anblick ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Langsam rollte sie auf den Nebel zu. Man konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen. Und die von Eiskristallen geschmückten Äste im Wald erschwerten die Sicht.

Deshalb kroch sie mit nur 20 km/h dahin. „Wenn das so weitergeht, komme ich bestimmt nicht vor Mitternacht zu Hause an“, stellte Jasmin fest. Dann drehte sie das Radio etwas leiser, damit sie sich besser konzentrieren konnte. Und als sie wieder aufsah, erschrak sie sich so sehr, dass sie glaubte, ihr Herz höre auf zu schlagen. Und sie stieg mit voller Kraft auf die Bremse.

Obwohl sie sehr langsam unterwegs war, blieb das Auto nicht gleich stehen, sondern rutschte noch einige Meter weiter. „Es ist also doch glatt!“, platzte es aus ihr heraus. Erst als sie zum Stehen kam, öffnete sie vorsichtig ihre Augen.

Es geschah bei ihr ganz automatisch, dass sich die Augen schlossen, wenn bei ihr Angst oder Gefahr im Spiel waren. Sie richtete ihren Blick auf die Straße. Schnell rieb sie sich mit ihren Händen die Augen, denn sie konnte nicht glauben, was sie dort sah. Mitten auf der Straße erblickte sie einen überdurchschnittlich großen weißen Hirsch mit einem königlichen silberglänzenden Geweih auf dem Kopf, der sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Das Tier war mindestens drei Meter groß.

Jasmin schüttelte ungläubig ihren Kopf, schloss dabei wiederum für den Bruchteil einer Sekunde ihre Augen und sah danach wieder dorthin. „Weg!“, prustete sie. „Er ist einfach verschwunden“, bemerkte sie noch immer sehr aufgeregt. Vorsichtig sah sie sich noch einmal nach allen Seiten gründlich um, doch sie konnte ihn nirgends entdecken.

Langsam stellte Jasmin ihr Auto an den Straßenrand und setzte die Warnblinker. Der Nebel wurde immer dichter, sofern das noch möglich war. „Ich habe keine Lust, von einem Lkw überrollt zu werden!“, sagte sie zu sich selbst, während sie noch einige Zeit mit ihren Gedanken bei diesem Hirsch war. Langsam und vorsichtig stieg sie aus ihrem Wagen und sah sich noch einmal gründlich um. Doch es gab keine Spur von diesem überdimensionalen Tier. „Dann muss ich mir das wohl eingebildet haben. Wieder mal!“, rügte sie sich selbst.

Schließlich beschloss sie, weiterzufahren, bevor die Straßenverhältnisse noch schlimmer wurden. Kopfschüttelnd lief sie zurück zum Auto und stieg wieder ein. Jasmin hatte nur noch einen Wunsch, und zwar sicher zu Hause anzukommen. Sie ließ ihr Auto wieder an und sah sich noch einmal kurz um, bevor sie losfuhr.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, kamen Lichter von der Gegenfahrbahn auf sie zu geschlittert. Nach ein paar Sekunden erkannte sie, dass es sich hier um ein Auto handelte. Ihr erster Impuls war, aus dem Auto zu springen und davonzulaufen. Doch sie war vor Angst wie gelähmt. Sie konnte nicht mal ihre Hände vom Lenkrad heben, um sie vor ihr Gesicht zu halten. Haarscharf zischte das Auto an ihr vorbei, kam ins Schleudern und wurde erst von einem Baum ungefähr zehn Meter hinter ihr zum Stehen gebracht. Jasmin saß steif vor Schock auf ihrem Sitz und hielt krampfhaft das Lenkrad in ihren Händen, um sich daran festzuhalten.

„Okay, ganz ruhig!“, forderte sie sich selbst auf. Sie wusste, wie nah sie dran war loszuschreien. „Du musst jetzt aussteigen und nachsehen, ob da drüben alles in Ordnung ist!“, befahl sie sich eher in Gedanken, da ihre Stimme versagte. „Müssen“ war in diesem Fall auch das richtige Wort, denn von „wollen“ konnte bei Jasmin überhaupt keine Rede sein. In ihren Gedanken schwirrten viele Fragen: „Was, wenn jemand schwer verletzt war? Was wenn jemand gar tot war?“

Allein die Vorstellung ließ die Steifheit vor Angst in Jasmin stetig wachsen. „Doch es ist niemand außer mir hier, der helfen könnte!“, flehte sie sich selbst an. Irgendwie musste sie sich überwinden.

Langsam hob sie ihre linke Hand, um die Tür zu öffnen. Da knallte es an ihrer Windschutzscheibe. Jetzt konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Sie schrie aus voller Kehle los. In diesem Schreien hörte man Angst, nein, sogar höllische Panik heraus, und es musste im Umkreis von mindestens 30 Kilometern zu hören sein. Automatisch waren Jasmins Augen wieder geschlossen und sie öffnete sie erst, als es nochmal am Fenster klopfte. Dieses Mal sah sie hoch. Vor ihrem Auto stand ein gutaussehender junger Mann mit dunklen Haaren, der durchs Fenster der Fahrertür von Jasmins Auto hineinguckte. Der junge Mann war ungefähr in Jasmins Alter. Er sah ziemlich geschockt aus. Vorsichtig ließ Jasmin das Fenster herunter. „Alles okay mit Ihnen?“, fragte er leise, um Jasmin nicht zu verängstigen.

Jasmin saß immer noch sprachlos da und es fiel ihr schwer, zu antworten. Ihre Stimmbänder waren immer noch von dem Schrei gereizt.

„Er muss von mir denken, ich sei völlig verrückt und hysterisch!“, dachte sie „Hast du sie noch alle?“, wies sie sich in Gedanken zurecht. „Der Typ hat eben einen Autounfall gehabt und kommt sofort rüber, um dich zu fragen, ob alles in Ordnung sei, und du machst dir Gedanken darüber, ob er von dir denken könnte, dass du verrückt bist?“

Schließlich sah sie ihn an und antwortete schüchtern: „Ja, bei mir ist alles gut. Und bei dir? Du bist doch eben gegen den Baum gerutscht. Hast du dich verletzt?“

„Nein, Gott sei Dank nicht. Ist nur ein leichter Blechschaden. Bezahlt die Vollkasko!“ Er grinste. „Gut, dass du am Straßenrand gestanden und mir nicht entgegengekommen bist. Das hätte anders ausgehen können.“ Er prustete.

Jasmin nickte zustimmend und sah ihn mit einem schüchternen Lächeln an. Sie konnte ihm ja nicht erzählen, dass sie durch einen übergroßen weißen Hirsch zum Stehen gebracht wurde.

Lächelnd verabschiedete er sich. „Vielleicht trifft man sich ja zu einem anderen Zeitpunkt wieder. Übrigens, mein Name ist George. Darf ich auch deinen wissen? Nur für den Fall.“ Seine Augen strahlten. Jasmin nickte mit einem leicht geröteten Gesicht. „Ja klar! Jasmin ist mein Name.“ Sie streckte ihm die Hand aus dem Fenster entgegen. Währenddessen maßregelte sie sich schon wieder in Gedanken: „Ich habe es noch nicht mal geschafft, aus dem Wagen zu steigen! Schön blöd!“

„Schön dich kennenzulernen, Jasmin!“ Er nahm ihre Hand. „Bis zu unserem nächsten Treffen!“ Dann ließ er ihre Hand los, ging zu seinem Auto und drehte sich noch einmal um, bevor er einstieg und im dichten Nebel verschwand.

„Was war das denn jetzt?“, fragte sie sich. „Erst dieser übergroße weiße Hirsch, in den ich fast reingerutscht wäre und dadurch knapp einem Unfall entgangen bin. Ganz nebenbei lerne ich einen echt süßen Kerl kennen.“ Sie schüttelte ihren Kopf und ließ dabei ihr Auto an. Sie wollte nur noch eins: nach Hause.

Nach ungefähr 40 Minuten Schneckentempo durch den Nebel kam sie ohne weitere Zwischenfälle gut zu Hause an und konnte endlich ihr wohlverdientes Abendessen zubereiten. Wirklich große Lust zum Kochen hatte sie nach all dem Stress nicht mehr. Also holte sie sich aus der Vorratskammer eine Dose Linsen und öffnete sie. „Wo zum Henker ist denn bloß wieder dieser grüne Topf?“, fragte sie sich etwas erschöpft. Ungeduldig öffnete sie jede Schranktür, manche auch mehrfach, bis ihr endlich einfiel, dass sie ihn in der Spülmaschine hatte. Sie spülte ihn mit der Hand ab und füllte die Linsen hinein. Die Zeit, die der Eintopf brauchte, um warm zu werden, wollte sie nutzen, um sich kurz aufs Sofa zu setzen. Sie setzte sich ganz nach hinten, zog dabei ihre Knie ganz nah heran und umschloss sie mit ihren Armen. Ihr Kinn stützte sie auf ihre Knie.

Jasmin ließ sich die Situation von vorhin im Wald noch einmal durch den Kopf gehen. Sie dachte, dass man sich so etwas nicht einbilden konnte, schon gar nicht in nüchternem Zustand.

Am letzten Wochenende bei Mikes Geburtstag hatte sie mit einer Freundin zu viele Caipis gehabt. Aber selbst im betrunkenen Zustand konnte sie sich nicht solche Halluzinationen vorstellen. Vielleicht hätte sie von Dennis geträumt oder sich gar vorgestellt, er wäre bei ihr. Aber einen weißen Hirsch, der mindestens drei Meter groß war? Nein! Das konnte sie sich beim besten Willen nicht ausgedacht haben.

Ein lautes und hohes Zischen, das aus der Küche kam, holte sie aus ihren Gedanken zurück. „Scheiße! Die Linsen!“ Leider kam jede Rettung zu spät. Sie waren komplett angebrannt. Also nahm sie den angebrannten Topf so, wie er war, und schmiss ihn in den Müll.

Gelangweilt und hungrig zappte sie von einem Fernsehkanal zum nächsten. Doch es kam nichts als Schrott oder Dokus, die sie schon mehrfach gesehen hatte. Letztendlich beschloss sie, doch lieber im Bett noch etwas zu lesen, und schaltete den Fernseher aus. In der Dusche ließ Jasmin ihren Gedanken freien Lauf. Sie dachte an diesen weißen Hirsch. Konnte sie sich so etwas wirklich einbilden? Vielleicht war er ja sogar ein Schutzengel? Doch sie durfte unter keinen Umständen jemandem davon erzählen. Sonst würde man sie als verrückt abstempeln.

Blind griff sie nach ihrem Handtuch, trocknete sich schnell ab, zog sich ihren Pyjama an und kuschelte sich in ihr Bett unter die Decke. Kurze Zeit später griff sie zu ihrem E-Book-Reader, welches auf dem Nachttisch rechts neben ihrem Bett stand. Früher mochte sie die Teile nicht. Sie liebte es, in den Büchern zu blättern und das Papier zwischen den Fingern zu spüren. Aber vor ein paar Monaten musste sie sich beruflich mit E-Books auseinandersetzen und fand Gefallen daran. Es gefiel ihr, dass man im Dunkeln lesen konnte, und wenn einem die Augen zufielen wurde man in der Nacht nicht wegen dem störenden Licht nicht geweckt.

Ein Paar großer Augen sah Jasmin durchdringend an. Sie bewegten sich immer näher auf sie zu und fühlten sich an, als wollten sie die junge Frau verschlingen. Jasmin versuchte, sich zu bewegen und wegzulaufen, doch sie war steif wie eine Statue. Wieder und wieder versuchte sie, sich zu befreien, während diese unheimlichen Augen näher und näher kamen. Plötzlich ertönte ein gedämpftes Geräusch im Hintergrund. Langsam wurde es lauter und lauter. Sie kannte es, wusste aber nicht woher. Sie blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam, dann wieder zu den großen Augen. Panische Angst überfiel sie. Jetzt sah sie diese unheimlichen Augen direkt vor sich. Fast berührten sie das Mädchen. Dann, urplötzlich, erinnerte sie sich, woher sie dieses Geräusch kannte, und öffnete ihre Augen. Langsam tastete sie sich mit ihren Händen vor, bis sie das Handy fand, und stellte den Wecker aus.

Schweißgebadet lag sie in ihrem Bett. Die Angst saß ihr tief im Nacken. Sie musste aufstehen, aber es gelang ihr nicht. Ihr war klar, dass sie nicht liegen bleiben durfte. Die Arbeit rief. Doch sie war völlig verängstigt.

Jasmin atmete noch einmal tief durch und stand dann wie ferngesteuert auf und ging erstmal unter die Dusche. Dort versuchte sie, sich die Angst wegzuwaschen. Es gelang ihr auch zum größten Teil, auch wenn sie immer wieder diese furchteinflößenden Augen vor sich sah.

Laut und schon leicht gereizt von ihrer Ängstlichkeit rückte sie sich den Kopf zurecht: „Das war doch bloß ein blöder Traum! Jetzt reiß dich mal zusammen!“

Nach dem Frühstück, das heute nicht so ausgiebig ausfiel wie normal, begab sie sich zum Auto und fuhr zum Buchladen. Dort gab es zum Glück für sie genug zu tun, so dass sie kaum Zeit hatte, über diesen beängstigenden Traum nachzudenken.

Gegen Mittag hatte sie ihn so gut wie vergessen. Nur die Angst hielt sich in ihrem Inneren noch hartnäckig fest. Sie verdrängte sie, so gut es ging.

Der Nachmittag zog sich wieder ein wenig. Da sie am Vormittag schon den Wareneingang durchhatte, blieben ihr für den Nachmittag nur noch das Sortieren einiger Bücher und das Ordnen der Regale. Jasmin empfand es als sehr schade, dass sie noch keinen direkten Kundenkontakt haben durfte. Natürlich konnte sie sich mit den Kunden unterhalten, um ihnen Fragen zu den Büchern zu beantworten, die sie schon selbst gelesen hatte. Doch bedienen und Empfehlungen aussprechen durfte sie nicht. Schließlich war sie nur in einem Ferienjob. Diesen würde sie bis Ende August machen, bis sie dann endlich zu studieren begann. Mit diesem Studium würde für sie der Ernst des Lebens beginnen. Was auch immer das heißen sollte.

Das Abi empfand sie schon als ernst genug. In ihrem Inneren hoffte Jasmin inständig, dass das Studium nur halb so stressig sein würde wie das Abi. Das würde aber auch voraussetzen, dass sie sich endlich entschieden hätte, was sie studieren wollte. Sie hatte nämlich noch nicht die geringste Ahnung. Deshalb arbeitete sie auch vorübergehend in diesem Job in der Buchhandlung.

Jasmin sah gerade auf die Uhr über der Ladentür, als diese sich öffnete. Es war 16:42 Uhr, eine seltsame Gestalt trat ein. Der Mann war von Kopf bis Fuß von einem langen, dunklen Mantel bedeckt.

Als Jasmin durchs Fenster auf die Straße sah, wusste sie auch warum. Es stürmte und die Schneeflocken waren fast so groß wie Tennisbälle.

„Oh Gott!“, dachte sich Jasmin. „Wie soll ich so nach Hause kommen?“ Es schoss lauter als gewollt heraus. Der Wetterbericht hatte nichts von einem Sturm berichtet. „Komisch!“, dachte sie.

Besorgt blickte sie zu diesem eingemummten Mann, von dem nur die Augen zu sehen waren. Er stand bei dem Tisch der Bestseller. Ein Buch nach dem anderen nahm er in die Hand, warf einen Blick hinein und legte es wieder zurück.

Jasmin konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe. Sie sollte eine Liste von Büchern heraussuchen, die dann an den Lieferanten zurückgeschickt wurden. Sie nahm also die Liste in die Hand und las, welchen Titel sie als Nächstes finden musste. Dafür ging sie zum Regal der Fantasybücher.

Als sie sich in Richtung dieses Regals drehte, sprang sie gleich zweimal vor Schreck zurück. Zwei übergroße Augen sahen sie an. Jasmin schnappte nach Luft. Sie wollte nach Sarah rufen, doch sie stand da wie gelähmt. Automatisch schlossen sich ihre Augen, so wie sie es immer taten, wenn sie große Angst hatte. Nach ein paar Sekunden öffnete sie sie wieder. Die Gestalt mit den großen Augen war weg.

Vorsichtig sah sie sich im ganzen Laden um. Doch es gab keine Spur dieses Mannes. Völlig verwirrt lief sie zu Sarah. „Wo ist der Typ hin?“, fragte sie schon fast panisch.

„Welcher Typ?“ Sarah sah Jasmin fragend an.

„Na der, der vor ein paar Minuten in den Laden kam!“, antwortete Jasmin mit unsicherer Stimme.

Als Antwort schüttelte Sarah ihren Kopf und sah Jasmin mitleidig an. Verzweifelt ließ Jasmin ihren Kopf sinken und machte sich wieder an ihre Arbeit. Sie ängstigte sich vor der Heimfahrt. Die Fahrt von gestern saß ihr immer noch tief in den Knochen. Auch wenn sie es nicht zugeben würde. Und heute kam noch ein Schneesturm hinzu. Also drehte sie sich zu Sarah, die gleich neben Jasmin am Regal stand und die Bücher herauszauberte, die Jasmin nicht finden konnte. „Was meinst du? Wird der Sturm bis heute Abend aufhören?“ Hoffnungsvoll sah sie Sarah an, von der sich Jasmin ein Ja erhoffte.

Sarah guckte Jasmin fragend an. Es war nicht genau zu festzumachen, ob man Mitleid oder Verwunderung in ihren Augen erkennen konnte. „Welcher Sturm?“, antwortete Sarah mit einer Gegenfrage.

Gleichzeitig hoben beide Frauen ihren Kopf und drehten sich zum Fenster. Es war zwar wolkig und es würde bald dunkel sein, aber von einem Sturm und von Schnee gab es keine Anzeichen.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“ Sarah blickte Jasmin besorgt an.

Jasmin schüttelte ihren Kopf, obwohl sie eigentlich vorhatte, zu nicken, und antwortet: „Ja, eigentlich schon. Ich habe nur schlecht geschlafen.“

Konfus und ohne auf eine Antwort zu warten, machte sie sich wieder an ihre Arbeit. In ihrem Kopf schwirrten viele Fragen herum. „Was ist bloß los mit mir? Warum bilde ich mir nur solche Sachen ein?“ Letztendlich fragte sie sich: „Werde ich langsam verrückt?“

Ihre Eltern hatten sie für verrückt erklärt, als sie ihnen mitteilte, dass sie nicht gleich studieren würde. Sie wollte nicht irgendetwas studieren. Sie wollte nicht am Ende ihres Studiums merken, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

Es war ihr überhaupt noch nicht klar, was sie mit ihrem jungen Leben anstellen wollte. Sie war schließlich erst 20 Jahre alt. Jasmin glaubte fest daran, dass ein Mensch in diesem Alter noch nicht wissen kann, was er mit 40 gerne tun würde. Sie kämpfte jeden Tag aufs Neue, sich für irgendetwas zu entscheiden, ob es nun darum ging, welche Frisur sie ihren dunkelbraunen langen Haaren verpasste oder welche Kleidung zu ihren grünen Augen passte.

„Wenn du willst, kannst du heute früher heim!“ Sarah lächelte Jasmin freundlich an. „Heute ist nicht wirklich viel los. Und du hast ja genügend Überstunden, die noch offen sind.“

„Ja“, antwortete Jasmin überrascht. „Keine schlechte Idee.“ Sie lächelte erleichtert zurück und ging in den Aufenthaltsraum, um sich umzuziehen. Dann verabschiedete sie sich und ging zügig zu ihrem Wagen. Dieses Mal kam sie ziemlich schnell zu Hause an. Man merkte deutlich, dass die meisten Menschen noch arbeiteten. In ihrer Wohnung angekommen lehnte sich Jasmin erstmal mit dem Rücken an die Wohnungstür und drückte diese ins Schloss. Sie atmete einige Male tief und kräftig ein und aus und war ziemlich erleichtert darüber, dass ihr auf dem Heimweg keine seltsamen imaginären Tiere oder Personen begegnet waren. Sie war überglücklich, dass alles normal verlief.

Nach dem Abendessen sah sie noch ein wenig fern und war heilfroh darüber, dass Helena abgesagt hatte. Die beiden Mädels wollten eigentlich ins Kino, doch Helena musste dringend für eine Klausur lernen.

Als Jasmin ihren Eltern mitteilte, dass sie nicht gleich studieren wollte, waren diese nicht unbedingt erfreut und glücklich darüber. Doch sie zwangen Jasmin nicht. Sie durfte aber nicht zu Hause herumsitzen, sondern sollte sich einen Job und eine kleine Wohnung suchen. Die Bezahlung in der Buchhandlung war zwar nicht übermäßig, aber ihre kleine Wohnung konnte Jasmin sich damit bezahlen. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie auch selbst. Nur bei besonderen Dingen halfen ihr ihre Eltern aus. Sie waren eben doch die Besten.

Helena lebte nebenan und war Jasmins beste Freundin. Sie hatten schon gemeinsam im Kindergarten im Sandkasten gespielt. Helenas Mutter hatte diese kleine Wohnung für Jasmin beschafft. Sie schien glücklich darüber, dass die jungen Frauen jetzt Nachbarn waren.

Als Kinder hatten sich Jasmin und Helena oft vorgestellt, dass beide adoptiert wurden und in Wirklichkeit Schwestern waren. Was natürlich absoluter Unfug war. Denn unterschiedlicher als diese beiden Mädchen konnten Menschen nicht sein.

Jasmin war 1,70 Meter groß und sehr schlank. Ihr Gesicht war schmal mit einer gut passenden, unscheinbaren Nase und einem spitzen Mund mit vollen Lippen. Ihre grünen Augen zogen allerdings als erstes die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich.

An Sport fand Jasmin überhaupt keinen Gefallen. Bei jedem Versuch, etwas Neues zu probieren, verletzte sie sich oder sie verletzte andere. Also entsagte sie dem Sport.

Ganz im Gegenteil zu Helena. Sie trainierte dreimal die Woche im Fitnessstudio und hatte die dementsprechende Figur dazu. Sie war 1,75 Meter groß und ihr Gesicht war runder als das von Jasmin. Helenas Augen waren blau und die langen, blond gelockten Haare hatte sie wahrscheinlich von ihrem Vater geerbt. Ihre Mutter hatte nämlich glatte und schwarze Haare. Ihr Vater starb schon vor vielen Jahren. Beide Mädchen konnten sich nicht daran erinnern, ihn jemals gesehen zu haben.

Jeden Morgen fuhr Helena mit dem Zug in die Stadt, um dort mit der Tram zur Uni zu pendeln. Sie studierte Medizin und wollte später einmal Kinderärztin werden. Jasmin bewunderte sie, weil sie genau wusste, was sie wollte. Da hatte Helena ihr einiges voraus.

Jasmin lag mittlerweile in ihrem Bett und versuchte, ein wenig zu lesen. Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen, sich auf das Buch zu konzentrieren, gab sie schließlich auf und legte den E-Book-Reader wieder zur Seite. Immer wieder verlor sie sich in Gedanken und sah ständig diese zwei Augen vor sich. Bildete sie sich diese Augen wirklich nur ein?

Hatte dieser Mann heute in der Buchhandlung etwas mit dem Hirsch von gestern zu tun? Zumindest erkannte Jasmin bei beiden Gestalten dieselben Augen wieder. Diese Augen hatten etwas Bedrohliches an sich. Trotzdem erkannte die junge Frau in ihnen auch etwas Vertrautes. Sie konnte sich aber nicht erklären wieso.

Waren das alles wirklich nur Hirngespinste, die ihrem Kopf entsprangen? Und dieser Typ von dem Unfall? Sie erinnerte sich nicht gleich an seinen Namen. Nach einigen Momenten des Grübelns fiel er ihr wieder ein. „George hieß der Typ.“ War er auch bloß Einbildung? „Jetzt ist es wohl so weit!“, sagte Jasmin grinsend zu sich selbst. „Helena hat wohl wieder recht! Ich sollte wirklich mehr unter Leute gehen!“ Mit diesem Gedanken schlief Jasmin ruhig ein.

Die nächsten Tage verliefen wieder normal. Es gab weder große weiße Hirsche noch geheimnisvolle Männer und auch keine bedrohlichen Augen. Im Gegenteil – es war Samstag, und Jasmin wollte sich mit Helena und ein paar weiteren Freunden im Pub treffen. Dennis war natürlich auch dabei. Jasmin mochte ihn. Er sah außergewöhnlich gut aus und war sehr gebildet. Er studierte mit Helena zusammen Medizin. Dennis wollte nicht wie Helena Kinderarzt werden, sondern Chirurg.

Sehr zum Bedauern für Jasmin war er schon vergeben. Kathrin studierte ebenfalls mit den beiden Medizin. Dennis war jetzt schon seit sechs Monaten mit Kathrin zusammen. Allerdings sah es auch so aus, als würde das noch eine Weile halten. Somit blieb dieser junge Mann für Jasmin unerreichbar.

Kathrin war ein überaus hübsches, gebildetes, freundliches und lebensfrohes Mädchen. Ihre Manieren schienen dem Adel zu entspringen. Sie war es, die Jasmin den Job in der Buchhandlung beschafft hatte. Also ganz abgesehen davon, dass Kathrin mit ihrer heimlichen Liebe zusammen war, gab es keinen Grund, sie nicht zu mögen. Kathrin mochte Jasmin jedenfalls gern.

An diesem Wochenende war Jasmin mit dem Fahren dran. Diese Tatsache stimmte sie positiv, denn der Kater vom letzten Wochenende hing ihr immer noch nach. Es tat dem Mädchen gut, dieses Mal nichts Alkoholisches zu sich zu nehmen.

Sie saß allein an ihrem Tisch und schlürfte an ihrer Coca-Cola. Dennis tanzte mit Kathrin und Mike versuchte an der Theke, eine Frau zu einem Drink zu überreden. Jasmin ahnte schon, dass der arme Kerl eine gewaltige Abfuhr bekommen würde. Die Frau sah etwas älter aus und schien auch nicht unbedingt an 20-jährigen Jungs interessiert. Als Jasmin Mike das sagte, antwortete er grinsend: „Ich stehe auf reife Frauen! Außerdem: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!“ Grinsend lief er Richtung Theke.

Plötzlich stand Helena vor Jasmin. „Mann, ist das voll auf der Toilette. Ich hätte mir fast in die Hose gemacht. Die sollten echt ein paar mehr Klos einbauen!“ Sie setzte sich zu Jasmin an den Tisch. „Möchtest du tanzen?“, fragte sie lächelnd.

Eigentlich hatte Jasmin überhaupt keine Lust zu tanzen. Doch bei den bittenden Blicken, die Helena ihr zuwarf, hatte sie keine andere Wahl. Also nickte sie. Noch bevor Jasmin ihren Kopf vom Nicken wieder heben konnte, zog Helena sie an ihren Armen auf die Tanzfläche.

Die Bewegung tat Jasmin sichtlich gut. Von Song zu Song fühlte sie sich besser, so als würden alle Sorgen und Ängste von ihr abstreifen. Und das fand sie richtig super. Beide Mädchen lachten und sangen bei jedem Lied lauthals mit. Ein paar Jungs gesellten sich zu ihnen und gaben ihr Bestes. Helena schien den einen, John war sein Name, zu mögen. Deshalb spielte Jasmin auch eine Weile mit.

Einige Lieder später ging sie unter dem Vorwand, dass sie auf die Toilette musste, nach draußen. Sie brauchte etwas frische Luft. Als sie sich draußen etwas umsah, konnte sie nur Rauchwolken um die anderen jungen Menschen sehen, die mit Kippen in der Hand am Eingang standen. Deshalb ging sie ein paar Meter weiter und stützte sich mit dem Rücken gegen die Außenwand des Pubs. Für einen Moment schloss sie ihre Augen und atmete die frische, kalte Luft ein.

Dann öffnete sie langsam ihre Augen und wollte sich umdrehen, um wieder in den Pub hineinzugehen. Wie aus dem Nichts überkam sie wieder dieses Gefühl, gelähmt zu sein. Sie wollte schreien, sie wollte die anderen Leute rufen, die fünf Meter neben ihr standen, doch die Laute blieben in ihrer Kehle stecken. „Was ist das bloß?“, fragte sie sich in Gedanken. „Was soll das?“ Ihre Angst verwandelte sich in brutale Panik. Und da stand er, der übergroße weiße Hirsch. Er stand direkt vor ihr und sah sie mit seinen großen, bedrohlichen Augen an, und es sah so aus, als würde er ihr irgendetwas sagen. Doch Jasmin konnte ihn nicht verstehen. Sie konzentrierte sich, so weit es bei ihrer Panik möglich war. Doch er sah sie nur noch einmal kurz an und verschwand so geheimnisvoll, wie er aufgetaucht war.

Sie brauchte eine Weile, bis sie von der Lähmung befreit war. Sie stützte sich mit ihren Händen gegen die Wand und rutschte langsam in die Hocke. Rasch sah sie sich zu den anderen Jugendlichen um. Doch die schienen nichts gesehen zu haben. Bei so einem riesigen Tier wären doch alle, von Panik besessen, schreiend losgerannt. Dennoch unterhielten sie sich, als wäre nichts gewesen. Jasmin war außer sich. Es war anscheinend noch nicht genug, dass ihr mitten in der Stadt ein riesiges Monster erschien. Dieses Tier wollte ihr auch noch etwas mitteilen. „Was hat das zu bedeuten? Wie kann so etwas nur möglich sein?“, fragte sie sich in Tränen aufgelöst. Noch einmal sah sie sich unauffällig um. Da die anderen den Hirsch nicht sehen konnten, beschloss sie, das Ganze für sich zu behalten. Sie wischte sich, so gut es ging ohne die Schminke zu verwischen, die Tränen mit einem Tempo aus ihrem Gesicht und ging wieder hinein, um die anderen zu suchen. Helena saß allein an ihrem Tisch und trank grinsend ihren Drink. „Alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie besorgt und schaute Jasmin fragend an. „Du siehst ziemlich blass aus und deine Schminke ist verschmiert, als hättest du geweint. Willst du heim?“

Jasmin zog ihre Stirn in Falten. „Ja, mir geht’s gut.“ Das war eine Lüge und Helena wusste das. Jasmin zitterte innerlich.

„Aber wenn du heim willst, können wir gerne fahren. Wie spät ist es denn schon?“ Beide sahen gleichzeitig auf die Uhr. Beide nicken sich zu. Es war schon fast 4 Uhr. „Zeit zum Heimfahren!“, sagten die Mädels fast gleichzeitig und lächelten dabei.

Während die beiden heimfuhren, erwischte sich Jasmin immer wieder dabei, wie sie sich in Gedanken bei diesem Hirsch wiederfand. Vielleicht hatte sie etwas, was sie gegessen oder getrunken hatte, nicht vertragen und daher stammten ihre Halluzination.

Wie von fremder Hand geführt standen die Mädels vor dem Haus, in dem sie wohnten. Sie stiegen aus und verabschiedeten sich im Treppenhaus mit einer Umarmung.

Jasmin freute sich auf ihr Bett. Morgen war endlich Sonntag und sie konnte richtig ausschlafen. Sie wollte sich von den Strapazen der vergangenen Woche erholen. Vor dem Schlafengehen brühte sie sich noch ein Lindenblütentee auf. Diesen trank sie, während sie über den Abend und seine Vorkommnisse nachdachte, in kleinen Schlückchen aus. Dann schlief sie ein.

Jasmin stand vor einer großen Tür. Sie bestand aus massivem Holz und war mit kleinen Schnitzereien von Tieren dekoriert. Der Lack der Tür bestand aus drei Farbtönen. An den äußeren Rändern sah man olivgrünen Lack, der in einen Kiwi-Ton überging. In der Mitte war sie in Marille lackiert. Sie sah sehr kunstvoll angefertigt aus. Wer diese Tür gebaut hatte, musste ein großer Künstler gewesen sein.

Lang und ausgiebig begutachtete Jasmin diese Tür. Sie suchte die Klinke oder einen Griff. Doch sie konnte nichts dergleichen entdecken. Wieder sah sie sich die Tür von oben bis unten genau an. Sie ging einen Schritt auf sie zu und fragte sich, wie man diese wunderschöne Tür öffnete. Sie ging noch einen weiteren Schritt vor, und noch einen. Jetzt stand sie direkt vor ihr. Mit ihren Fingerspitzen berührte sie behutsam die kleinen Schnitzereien. Und dann drückte sie vorsichtig mit der Handfläche ihrer rechten Hand gegen die Tür. Zuerst öffnete sie die Tür einen kleinen Spalt. Jetzt drückte sie mit ihrem Unterarm dagegen, bis sie schließlich weit offenstand.

Langsam beugte sie sich vor und schaute durch die jetzt offene Tür und erschrak. Das, was sie in dem Raum hinter der Tür sah, war ein Spiegelbild des Raumes, in dem sie sich befand. Jasmin begutachtete erst noch einmal das Zimmer, in dem sie stand. „Was ist das für ein Raum?“, fragte sie sich. Sie kannte ihn nicht. Wo war sie?

Aufs Neue konzentrierte sie sich auf die Tür. Sie sah sich den gesamten Raum nochmal genau an. Er schien identisch zu dem, der hinter ihr war. Nur sich selbst sah sie nicht in dem Raum. Es schien also doch kein Spiegel zu sein. Vorsichtig hob sie ihren Arm und steckte ihn durch die offene Tür. Dann machte sie einen Schritt und gleich noch einen und stand auf der anderen Seite. Die Zimmer glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie bekam es mit der Angst zu tun und wollte zurück. Doch als sie sich umdrehte, war die Tür hinter ihr geschlossen. Sie versuchte, sie zu öffnen. Doch da an ihr weder Klinke noch Griff dran waren, war alle Mühe vergebens. Auf der anderen Seite des Zimmers sah sie die nächste Tür. Diese war genau wie die vorherige wunderbar verziert und leuchtete in denselben schönen Farben. Auch diese Tür besaß weder Klinke noch Ähnliches. Sie wiederholte das Spiel und stand wieder in dem gleichen Raum wie vorher. Sie war sich nicht sicher, ob es jedes Mal derselbe Raum war oder alle Zimmer hier gleich waren. Sie wiederholte und wiederholte das Spiel immer wieder. Da sie nicht zurückkonnte, hatte sie auch keine andere Wahl. Doch sie betrat wieder denselben Raum. Und wieder. Und wieder denselben.

Nach einer Weile stieg in ihr ein unbeschreibliches Gefühl der Angst hoch. Dieses Gefühl steigerte sich nach weiteren drei Türen in Panik. „Was zum Henker soll das denn?“, schrie sie, so laut sie konnte. Tränen liefen wasserfallartig über ihr Gesicht. „Lasst mich hier raus!“, piepste sie ohne Hoffnung. Die Tränen in ihrem Gesicht flossen und flossen. Sie lehnte sich mit ihrem Rücken an die verschlossene Tür und rutschte in die Hocke. „Lasst mich hier raus!“ Die Worte waren kaum noch zu hören. Sie weinte eine ganze Weile.

Langsam glaubte Jasmin, dass sie für immer in diesem Raum gefangen sein würde. Wie in einer Zeitschleife. Dann wurde sie wütend. Voller Zorn sprang sie auf. „Lasst mich hier endlich raus!“, schrie sie aus voller Kehle. Wieder passierte nichts. Sie stürmte wutentbrannt auf die Tür zu und schlug feste mit ihren Fäusten und Füßen dagegen. „Wenn ihr mich nicht sofort herauslasst, dann …“ Sie lehnte sich wieder mit dem Rücken an die Tür und sank langsam zu Boden. „… dann könnt ihr was erleben!“, flüsterte sie fast lautlos. „Warum tut ihr mir sowas an?“ Sie zog ihre Knie an ihren Körper und umfasste sie mit ihren Armen. Den Kopf lehnte sie auf die Knie und weinte wieder. Die Wut und die Panik vergingen und machten bei Jasmin dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit Platz. Sie konnte und wollte nicht mehr. Sie gab auf.

Gefühlt saß Jasmin mehrere Stunden auf dem Boden an der Tür. Ihr schwirrten beängstigende Gedanken durch den Kopf. War das hier Wirklichkeit oder nur ein Albtraum? Würde sie einfach aufwachen? Und alles wäre wieder normal?

Sie dachte an Helena, ihre Eltern und an Dennis. Würde sie diese Menschen, ihre liebsten Menschen, wiedersehen?

„Bitte darum!“, hörte man eine leise Stimme flüstern. „Bitte darum!“

Jasmin hob langsam ihren Kopf und wischte sich mit den Ärmeln die Tränen aus ihrem Gesicht. Sie suchte nach dem Ursprung der Stimme. Aber sie konnte sie nicht entdecken. Sie konnte nicht bestimmen, woher die Stimme kam. „Bitte darum!“, sprach die Stimme wieder. Jasmin verstand nicht, was das alles sollte. Sie stand auf und lief einmal durch das Zimmer. Wieder sprach die Stimme: „Bitte darum!“

„Oh Gott!“, fluchte Jasmin. „Worum soll ich denn bitten? Etwa eine Tür, die mich nach Hause bringt?“ Ironie war in ihrer Stimme zu hören und während sie sprach, hob sie ihren rechten Arm und machte eine abwinkende Handbewegung, die ihre Ablehnung zum Ausdruck brachte.

„Genau!“, hallte es durch den Raum.

Jetzt stand Jasmin genau in der Mitte des Zimmers. Sie schwieg und fragte sich in Gedanken, ob es wirklich so einfach sein konnte. Sie hatte nichts zu verlieren. Das Schlimmste, was ihr widerfahren konnte, war, im nächsten Raum gefangen zu sein. Und das war sie ja jetzt auch schon. Also stellte sie sich vor die Tür, schloss ihre Augen und versuchte, überzeugt zu klingen: „Bitte führe mich durch diese Tür nach Hause!“ Sie öffnete ihre Augen und schob die Tür vor sich langsam auf. Sie ging mit einem großen Schritt durch und sprang aus ihrem Bett. Fast wäre sie dabei mit einem Fuß in ihrer Decke hängen geblieben und gestürzt. Nur ihrem guten Gleichgewichtssinn hatte sie es zu verdanken, dass sie nicht mit ihrer Nase auf den Boden gefallen war. „Danke!“, rief sie verärgert.

„Was für ein Albtraum!“, sagte sie zu sich selbst. Sie fühlte immer noch die Angst. So einen realen Traum hatte sie noch nie, zumindest konnte sie sich an keinen erinnern. Sie fragte sich, wie spät es wohl war. Neben ihrem Bett lag ihr Handy. Sie schaute kurz auf ihr Smartphone und fiel vor Schreck fast wieder zu Boden. Es war 2:00 Uhr nachmittags. Sie hatte 16 Stunden geschlafen. Die Frage, wie lang sie davon in diesem Zimmer eingesperrt war, stellte sich ganz von selbst. Und hatte sie zu dieser Zeit geschlafen oder war alles real gewesen? Das würde erklären, warum sie sich überhaupt nicht ausgeschlafen fühlte nach so viel Schlaf.

Sie zitterte am ganzen Leib. Außerdem war sie völlig durchgeschwitzt. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, beschloss Jasmin, sich eine ausgiebige Dusche zu gönnen.

Die heiße Dusche bekam ihr sehr gut. Langsam konnte sie wieder klarer denken. Während sie sich abtrocknete, schüttelte sie ihren Körper, so als wollte sie das Erlebte von sich abschütteln. Ein wenig gelang es ihr auch.

Sie begab sich in ihr Schlafzimmer und holte sich aus ihrem Schrank neue Sachen, unter anderem den dicksten Pulli, den sie besaß, und zog sich an.

In ihrer Küche mache sie sich einen Kaffee und etwas zu essen, und während sie aß, verfiel sie wieder in Gedanken.

Allein der Gedanke an letzte Nacht ließ bei Jasmin Gänsehaut am ganzen Körper aufsteigen. Sie zitterte. „Jasmin Cline! Jetzt reiß dich mal am Riemen!“, befahl sie sich mit energischer Stimme, um sich wirklich zu überzeugen.

Sie musste unbedingt unter Leute. Sie wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie war einfach viel zu viel allein. Nach dem Frühstück, welches sie um 3:00 Uhr nachmittags zu sich nahm, föhnte sie ihre Haare, schminkte sich und zog sich ein paar Jeans und einen anderen Pullover an. Dann schnappte sie sich eine Jacke und Mütze und verließ die Wohnung. Nach kurzer Überlegung beschloss sie, Helena noch schlafen zu lassen. Sie ging, ohne ihren Kopf zu heben, an Helenas Wohnung vorbei. Zunächst bewegte sie sich Richtung Innenstadt. „Stadt“ war in diesem Fall wohl etwas übertrieben. Aber es gab ja ein eigenes Rathaus und eine relativ große Fußgängerzone, in der man super shoppen konnte. Es gab auch einige nette Bars und Cafés. In eines davon setzte Jasmin sich und bestellte sich einen großen Cappuccino.

Sie setzte sich in einer Ecke des Cafés direkt an ein Fenster, so dass sie auf die Fußgängerzone schauen konnte. Jasmin beobachtete die Leute, die an dem Café vorbeiliefen. Sie bewunderte diese Menschen dafür, dass sie freiwillig spazieren gingen. Denn es war furchtbares Wetter draußen.

Neben dem Brunnen lief eine ältere Dame mit ihrem kleinen Hund. Es sah lustig aus, denn sie liefen fast im Gleichschritt. Jasmin grinste bei dem Anblick. Der alten Dame kam eine andere, etwas jüngere Dame mit einem großen schwarzen Schnauzer an der Leine entgegen. Er hätte den kleinen Mischling mit einem Bissen runterschlucken können. Aber was sich dort abspielte, faszinierte Jasmin. Der große Hund legte sich auf den eiskalten Boden, um mit dem kleinen auf der gleichen Augenhöhe zu sein, und wedelte dabei voller Begeisterung mit seinem Schwanz.

Jasmin hob ihre Tasse und nippte noch einmal an ihrem Cappuccino. Jetzt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf einen älteren Herrn. Dieser lief mit seinem Gehstock langsam Schritt für Schritt an dem Café vorbei, ohne sich einmal umzusehen. Es schien, als sei er in Gedanken versunken. Die beiden Damen waren zusammen in eine andere Richtung verschwunden.

„Hallo, Jasmin!“ Diese unerwarteten Worte von dieser unerwarteten Stimme riss Jasmin ruckartig aus ihren Gedanken. Langsam hob Jasmin ihren Kopf und sah völlig verdattert auf den jungen Mann, der an ihrem Tisch stand.

„Oh! Hallo, George!“ Glücklicherweise fiel ihr der Name noch rechtzeitig ein. Lächelnd und unsicher stand sie auf und reichte ihm die Hand. „Wie geht es dir?“

Er nahm ihre Hand mit festem Griff und antwortete: „Mir geht’s gut. Und selbst?“ Er grinste übers ganze Gesicht. „Was für ein Zufall, dass wir uns hier treffen. Darf ich mich kurz zu dir setzen?“ Etwas überrascht nickte sie ihm zu und wies mit ihrer Hand auf den Stuhl gegenüber. George ignorierte ihre Geste und setzte sich direkt neben sie.

„Ich habe dich auf dieser Straße nicht mehr gesehen. Warst du damals nur durch Zufall dort?“ Fragend sah er Jasmin an. Doch sie war immer noch sprachlos. Sie musste sich brutal zusammenreißen, damit sie überhaupt einen Ton herausbrachte. „Nein!“, antwortete sie mit schwacher Stimme. „Ich fahre diese Strecke jeden Tag zur Arbeit und abends wieder zurück. An diesem Tag war ich nur später dran wegen dem Nebel.“ Langsam wurde ihre Stimme sicherer. „Und du?“, stellte sie eine Gegenfrage, um ihn noch ein wenig bei sich zu halten. Dieser junge Mann war der lebendige Beweis, dass sie nicht komplett verrückt war.

George zuckte mit den Schultern. „Ich habe an diesem Abend ein paar Freunde besucht.“ Er wies mit seinem Gesicht auf ein paar junge Leute, die auf der anderen Seite des Cafés saßen. „Ich habe ihnen damals das mit dem Beinahe-Unfall erzählt und dass ich einen weißen Hirsch gesehen habe.“ Er sah Jasmin entschuldigend an. George wirkte nervös und unsicher. Er nahm an, dass sie ihn für verrückt hielt.

Jasmin antwortete nichts darauf, sondern lächelte nur zaghaft zurück. „Also doch!“, flüsterte Jasmin. George schaute sie erwartungsvoll an.

„Dann hast du ihn also auch gesehen?“ Jetzt klang seine Stimme schon euphorisch. „Bitte sag mir die Wahrheit! Ich hatte schon Angst, dass bei mir irgendwas nicht stimmt. Hast du?“

Jasmin war sprachlos. Sollte sie wirklich einem wildfremden Menschen von dem erzählen, was sie die letzten Tage verfolgt hatte? Doch er hatte das Tier immerhin auch gesehen.

„Bitte!“, kam es flehend aus seinem Mund. Jasmin nickte.

Erleichtert atmete er auf. „Dann werde ich also doch nicht verrückt!“ Er grinste. „Konnten deine Freunde diesen weißen Hirsch sehen?“, fragte er sie direkt. Verneinend bewegte Jasmin ihren Kopf und traute sich endlich, darüber zu sprechen.

„Ich habe ihn öfter gesehen. Und einmal kam er sogar als Mensch bei uns in den Buchladen. Dort arbeite ich.“ Sie glaubte zumindest, dass es derselbe gewesen war. „Hast du ihn auch öfter gesehen?“, fragte sie George jetzt mit fester Stimme.

Auch er nickte zustimmend. „Ich sehe ihn fast jeden Tag. Auch in meinen Träumen. Und letzte Nacht …“ Er schloss kurz die Augen. „Letzte Nacht hatte ich einen absolut absurden Traum.“ Er setzte sich aufrecht hin und erzählte weiter. „Ich war in einem fremden Zimmer gefangen. Und egal durch wie viele Türen ich ging, ich kam immer wieder in denselben Raum. Im Nachbarzimmer hörte ich eine Stimme. Ich glaube, sie war von einem Mädchen. Sie klang sehr verzweifelt und sie weinte. Dann war sie weg.“ Er schnaufte einmal stark durch und wollte weitererzählen, doch Jasmin unterbrach ihn.

„Das Mädchen im anderen Zimmer war dann wohl ich. Ich träumte diese Nacht auch von einem Zimmer mit einer sehr schön verzierten Tür ohne Klinke und ich kam nicht raus.“

Jetzt sah er sie schon fast ängstlich an. Jasmin befürchtete, dass er jetzt verschwinden würde. Doch in ihm hatte sie endlich jemanden, mit dem sie über all das reden konnte. Also fragte sie ihn weiter: „Hat diese Stimme dir auch verraten, wie du da rauskommst?“ Er blickte ihr genau in die Augen und nickte.

Beide schwiegen für einige Minuten. Jasmin suchte genau wie George Antworten. Aber keiner von beiden fand sie. Beide waren ratlos.

„Was soll das alles bedeuten? Hast du eine Ahnung?“ Jasmin blickte forschend in seine Augen. Und sie erkannte dort dieselbe Hilflosigkeit, die sie selbst auch quälte. George schüttelte seinen Kopf und zuckte gleichzeitig mit seinen Schultern. „Ich weiß es nicht.“ Jetzt sah er auf den Boden. „Und ich weiß auch nicht, ob ich das überhaupt wissen möchte.“ Dann stand er auf und gab ihr die Hand zum Abschied. „Vielleicht trifft man sich ja wieder!“ Nun grinste er wieder. „Ich würde mich freuen!“ Nickend und lächelnd gab sie ihm ihre Hand.

Jasmins Blicke folgten ihm bis zu dem Tisch, an dem seine Freunde saßen. Einer von ihnen schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter.

„Wer ist das denn?“ Helena schaute Jasmin mit weit aufgerissenen und fragenden Augen an. „Dich darf man wirklich nicht allein losziehen lassen!“ Ihre gespielte Empörung brachte Jasmin zum Lachen.

„Nein, im Ernst. Wer ist dieser süße Kerl?“

Jasmins Augen bewegten sich kurz in Richtung des Tisches, an dem George saß. Dabei trafen sich ihre Blicke. „Ach, das ist George.“ Jetzt sah sie Helena an. „Du weißt doch, ich habe dir von ihm erzählt und von dem Fast-Unfall.“

Helena drehte sich mit dem Kopf zu dem Tisch, an dem George mit seinen Freunden saß. Dabei sagte sie: „Du hast mir aber nicht erzählt, dass er so gut aussieht!“ Sie grinste Jasmin mit einem frechen, neckenden Blickan.

„Ach, das ist mir gar nicht so richtig aufgefallen“, antwortete sie schüchtern und wusste, dass es zwecklos war, zu lügen. Helena kannte ihre Freundin nur zu gut.

Sie verzog ihr Gesicht zu einem Schmollmund. „Und ich dachte, ich wäre deine beste Freundin! Ich dachte, du würdest mir alles erzählen!“ Ihr Gesicht verformte sich zu einer Fratze. Jasmin lachte und warf dabei ihrer Freundin eine zerknitterte Serviette an den Kopf. Nun lachten beide Mädchen lauthals.

Eine Sekunde später sah sich Jasmin noch einmal zu dem Tisch um, an dem George mit einigen Freunden saß. Doch er war weg. Sie waren alle weg.

Jasmin hatte gehofft, dass er sich noch einmal von ihr verabschiedete, bevor er ging. Allerdings hatte er dies schon vorher getan, indem er ihr die Hand zum Abschied gegeben hatte.