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Kann eine einzelne wissenschaftliche Arbeit die Grundfeste eines weltumspannenden Geheimbundes zerstören? Was hat eine abtrünnige Agentin damit zu tun? Wer hat im digitalen Zeitalter noch seine Finger im Spiel?
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Seitenzahl: 427
Veröffentlichungsjahr: 2020
Für Jolina
In einem unendlichen Nichts ist jede noch so kleine Erscheinung unendlich groß.
Prolog
Kapitel 1: München 2018 – Der Fund
Kapitel 2: Der Alarm
Kapitel 3: Die Falle
Kapitel 4: Das Verhör
Kapitel 5: Der Verrat
Kapitel 6: Die Verwirrung
Kapitel 7: Der Wahnsinn
Kapitel 8: Der Inquisitor
Kapitel 9: Die Gnade
Kapitel 10: Die Lieferung
Metalog : Die Konstante
Kapitel 11: Der Vollstrecker
Kapitel 12: Der zweite Teil
Kapitel 13: Der Fallensteller
Kapitel 14: Die Treibjagd
Kapitel 15: Die Erpressung
Kapitel 16: Franks Erbe
Kapitel 17: Barbaras Kampf
Kapitel 18: Vincenzos Erwachen
Kapitel 19: Keine Chance
Kapitel 20: Die U-Bahn
Kapitel 21: Die Übernahme
Kapitel 22: Die Feinde der Moderati
Kapitel 23: Die Feinde meines Feindes
Kapitel 24: Zum letzten Gefecht
Kapitel 25: Das letzte Gefecht
Kapitel 26: Keine Sieger
Kapitel 27: Der neue Meister
Rom 1633 – Die Gründung
„Wir hätten ihn töten sollen! Er hat unsere Kirche und somit auch Gott beleidigt! Unglaubliche Blasphemie! Warum wird er nicht hingerichtet?“
„Beruhige dich, Niccolo, wir wissen, was er getan hat! Wir können froh sein, dass er überhaupt verurteilt wurde. Hast du vergessen, wie mächtig seine Unterstützer sind? Wir mussten einen anderen Weg finden“, ermahnte ihn Vincenzo.
Niccolo, der Oberste der Inquisitoren, in seiner rotweißen Robe aus feinem Stoff und einer Goldkette mit einem Ehrfurcht gebietendem goldenen Kreuz blickte wütend und enttäuscht in eine Tischrunde. Zwei der Anwesenden zählte er zu seinen loyalen Gefährten im Kampf gegen die Ketzer, Alfonso und Vincenzo, aber wer war der dritte? Ein alter Mann, der sie kurz nach dem Gerichtsprozess abgefangen hatte und sie aufforderte, ihm zu folgen. Er trug ein edles Kardinalsgewand, aber ohne den üblichen Ornamenten und Insignien, die seinen Rang verrieten. Wer war er?
Es war Vincenzo zu verdanken, dass er widerwillig mitgegangen war. Vincenzo schien den alten Mann zu kennen und war ihm unweigerlich gefolgt. Niccolo hatte Vincenzo immer vertraut, nicht nur, wenn es um die Verteidigung der Kirche ging. Doch jetzt war er verunsichert, denn er hatte bei einer seiner wichtigsten Aufgaben, der Zensur von ketzerischen Schriften und der Vernichtung von Ketzern, kläglich versagt und das musste Konsequenzen haben. Er fürchtete, was jetzt auf ihn zukommen könnte. Aber wer war der Alte, der sie in Begleitung einiger Schweizer Gardisten abgefangen hatte? War der Schaden, den er der Kirche und seinen Freunden zugefügt hatte, so bedeutend? Und warum musste das sofort nach dem Gerichtsprozess sein, bei dem er als Zeuge aussagen musste? Warum war es so dringend? In seinen Gedanken suchte er nach einer Ausrede für sein Versagen. Aber selbst Papst Urban VIII. unterstützte diesen sogenannten Gelehrten, diesen Gotteslästerer, den er ohne zu zögern exekutiert hätte.
Der unbekannte alte Mann führte sie zunächst aus dem Gericht nach draußen, wo sich ihnen weitere Gardisten anschlossen. Angesicht dieser war sich Niccolo unschlüssig und blieb stehen, um seinen Unmut kundzutun, was dazu führte, dass einer der Gardisten ihn am Oberarm packte und ihm unmissverständlich klar machte, wohin er zu gehen hatte. Sie wurden in das Nachbargebäude geführt, weshalb die Gardisten nur sicherstellen mussten, dass keiner floh. Niccolo zögerte erneut. Er kannte dieses Gebäude, es hatte spezielle Räume, in denen er unzählige Ketzer verhört, gefoltert und für das Gericht bereit gemacht hatte, wie er es nannte. Welchem Zweck sollte es jetzt dienen?
Das Gebäude entsprach der Architektur dieser Zeit wirkte aber trotz seiner Größe unauffällig. Nachdem die Gruppe es betreten hatte, durchfuhr Niccolo ein kalter Schauer. Es war ungewöhnlich verdunkelt, menschenleer und ruhig. Geräusche kamen nur noch von außen.
Das Auffälligste im Inneren war ein langer Flur mit einer sehr hohen Decke. Links und rechts des Flures waren Räume mit niedrigen Türen, die mit Schnitzereien versehen waren deren Bedeutung Niccolo noch immer nicht kannte. Eine der niedrigen Türen, die kaum mannshoch war, ließ der Alte von den Schweizer Gardisten aufsperren. Niccolo kannte diesen Raum nicht. Sie mussten sich bücken und gingen in den winzigen Raum ohne Fenster, in dem nur eine Kerze in einem silbernen Kerzenhalter auf einem Tisch stand und etwas Licht spendete. Nachdem alle vier den Raum betreten und sich gesetzt hatten, wurde die Tür von außen von den Gardisten verschlossen. Diese Situation ließ Niccolos Anspannung nur noch mehr wachsen. Er sprang auf und fing an gegen das Urteil zu protestieren. Vincenzos erste Worte konnten ihn nur kurz beruhigen, weshalb er weiter protestierte.
„Wir sind die Inquisition! Dieses Urteil ist nicht der Wille Gottes! Lasst mich den wahren Willen Gottes vollstrecken!“
Selbst jetzt, im Flattern der Kerzenflamme, blieben die Gesichtszüge des Alten unbeeindruckt.
„Es ist genug, die Entscheidung ist gefallen“, unterbrach Vincenzo mit einer Stimme, bei der er sich sicher war, dass Niccolo und Alfonso so lange schwiegen, bis er ihnen das Sprechen wieder erlaubte.
Niccolo fiel auf seinen Stuhl zurück. Überrascht, so zurückgewiesen zu werden, gaben seine Beine nach. Seit seiner Ausbildung zum Inquisitor hatte er diesen Tonfall nicht mehr gehört und er erinnerte sich nur ungern daran. Vincenzo, der in dunklen und unauffälligen, fast schon ärmlichen Gewändern gekleidet war, sah jetzt zu dem Alten und bat in einem unterwürfigen, aber bestimmten Ton:
„Nun würden wir gerne die Worte des Ersten Konsultors hören!“
Bei der Erwähnung des Ersten Konsultors zuckten Alfonso und Niccolo zusammen. Der Erste Konsultor, von dem nur sehr wenige wussten, wer er war, woher er kam und ob er überhaupt existierte. Nur wenige hatten dessen Antlitz bisher zu Gesicht bekommen. Denn die es sahen, mussten entweder qualvoll sterben oder gehörten zu den engsten Vertrauten und Beratern des Papstes und der Kirche.
Seit seinem sechzehnten Lebensjahr, als der Erste Konsultor als Jüngling entführt und vom Papst Gregor VIII. immer wieder missbraucht worden war, stieg er in nur wenigen Jahren in der Gunst des Papstes und all seiner Nachfolger auf. Gerüchte besagen, dass seit dieser Zeit viele Entscheidungen der Päpste vom Ersten Konsultor getroffen worden seien, selbst die Nachfolge der Päpste würde von ihm geregelt werden.
Nun blickte dieser mit seinen alten, aber wachen und durchdringenden Augen Alfonso auf eine Art an, als ob er in seiner Seele lesen könnte und antwortete auf Vincenzos Frage gönnerhaft.
„Geduld mein lieber Vincenzo, zunächst will ich von Alfonso wissen, was er über den heutigen Prozess denkt. Über Niccolos Meinung bin ich genug im Bilde.“
Selbstbewusst und ohne einen Hauch von Unsicherheit antwortete der Gefragte:
„Ich bin ein Diener unseres heiligen Papstes, ein Diener der Kirche und ein Diener Gottes. Meine Kraft schöpfe ich aus meinem Gehorsam und meinen Taten für die gerechte Sache Gottes. Es ist nicht an mir, an den göttlichen Entscheidungen zu zweifeln oder meine Meinung zu äußern.“
Schweigen durchdrang den kleinen fensterlosen Raum, in dem nur ein weißer Tisch mit aufwendigen Verzierungen stand und um den herum die vier gespenstisch wirkenden Personen auf ebenfalls weißen und verzierten Stühlen saßen. Die Wände waren glatt und mit weißen Polstern versehen, was Niccolo im Kerzenlicht jetzt erst richtig bewusst wurde. Die Tür schien so, als ob man sie nur von außen öffnen konnte und war ebenfalls weiß gepolstert. Sein Gesicht wurde bleich und Schweißperlen traten auf sein Gesicht. Abwechselnd sah er zu Vincenzo und zu Alfonso, aber diese schienen völlig unberührt.
Als das Schweigen unerträglich wurde, sprach der Erste Konsultor mit einer kraftvollen Stimme.
„Lieber Alfonso, dein Gehorsam ehrt dich und für das, was vor uns liegt, bist du unverzichtbar. Denn unsere Zensur und unsere Inquisition haben versagt! Wir haben die Kontrolle über die Gedanken der Menschen verloren!“
Dabei drehte er sich in Niccolos Richtung, wartete kurz, denn er sah in ihren Augen, dass sie es nicht verstanden und sprach weiter.
„Es ist nicht nur dein Versagen Niccolo, ich wusste immer über deine Taten Bescheid. Du bist der leidenschaftlichste und eifrigste Inquisitor, den ich jemals im Dienste der Kirche hatte. Unzählige Ketzer hast du ihrer gerechten Strafe übergeben und niemals gezögert.“
Niccolo sah den Ersten Konsultor an und wusste nicht, was er sagen sollte. In nur wenigen Augenblicken wurde seine Lebensaufgabe als Misserfolg abgetan, aber er selbst wurde gelobt.
„Hört mir jetzt genau zu und merkt euch meine Worte gut. Wir werden nichts aufschreiben und jeder wird für seine neuen Aufgaben die volle Verantwortung tragen!“
Der Alte schaute allen kurz in die Augen. Sein Blick, den er mit einer dominanten Geste unterstrich, machte jedem klar, was er mit dieser Aussage meinte.
„Die Zensurmechanismen unserer Inquisition haben versagt, weil wir versucht haben mit Angst, Gewalt, Lügen, Betrug, Korruption und Erpressung zu herrschen. Und wir haben uns nur auf ketzerische Inhalte von Schriftwerken konzentriert. Wir dachten, dass das ausreichen würde, um die Neugier und den Tatendrang der Menschen zu bändigen. Wie einfältig. Ihre Gedanken waren dennoch immer frei. Aber wie hätten wir all die Informationen selektieren und kontrollieren sollen? Mittlerweile werden auch noch Schriftwerke in den unterschiedlichsten Landessprachen gedruckt. Latein stirbt, selbst im Vatikan wird nur italienisch gesprochen! Zumal wir durch die Reformationsbewegung und die ständigen Scharmützel der Fürsten und Glaubensführer nicht mehr in allen Gebieten Europas, geschweige denn der Welt, einen vollen Zugang haben. Gegen diese Entwicklung will ich nicht vorgehen, ganz im Gegenteil, wir werden sie für uns nutzen. Kriege sind nicht nur für die gesellschaftliche Entwicklung wichtig. Aus unserer jetzigen Sicht sind vor allem Glaubenskriege wichtig, dann stellt sich nicht die Frage, welchen Nutzen die Religion hat, sondern die Frage, welche Religion die bessere oder die wahre ist. Es wird zwar schwerer, konfessionsübergreifend oder sogar religionsübergreifend zu agieren, aber widerstrebende Interessen fördern unser Divide et Impera – Teile und Herrsche, wie es schon die alten Römer kannten! Das wird uns später helfen, die Kontrolle zu festigen, aber aktuell ist es nur lästig und gefährdet unseren Einfluss. Darüber hinaus breitet sich das Mäzenatentum unter dem Geldadel und den Kriegsfürsten wie eine Seuche aus. Der verdammte Geldadel – wir hätten niemals unser Zinsverbot aufgeben dürfen – wird immer wissbegieriger und die Bibel liefert nicht mehr auf alle Fragen eine Antwort. Bald gibt es mehr Gelehrte an privaten Schulen und in privaten Haushalten als in den Klosterschulen. Uns wird es an Wissen und an Verstand fehlen, um alle wichtigen Bereiche zu beherrschen!“
Bei diesen Worten erstarrten die drei Inquisitoren und schauten unschlüssig auf den Tisch, selbst Vincenzo wusste jetzt, dass sich auch seine Aufgaben grundlegend ändern würden. Aber wie, das war noch unklar. Und wie der Konsultor über Religion sprach, irritierte ihn, was er sich aber nicht anmerken ließ. Der Erste Konsultor stand jetzt auf und alle sahen zu ihm hinauf.
„Wir können nicht alle Informationen, die bereits verbreitet wurden, zusammentragen und überprüfen. Das ist einfach unmöglich. Auch nicht mit grenzenloser Gewalt und Geldmitteln! Aber wir müssen die Gedanken, das Wissen und die Interessen der Menschen unter unsere Kontrolle bekommen. Einer meiner Ansätze war es, den Menschen, die sich aufgrund ihres Wissens von unserer Kirche abgewendet haben, den Zugang zu Rauschmitteln, Betäubungsmitteln, Unterhaltung und Spielen zu erleichtern und zu fördern. Aber das ist keine dauerhafte Lösung. Wir werden diese Maßnahme nur in extremen Fällen einsetzen. Ziel ist die Kontrolle, nicht die Schwächung oder Lähmung der Bürger. Also habe ich weiter nach Lösungen gesucht und endlos in den Archiven des Vatikans gesucht. Schließlich fand ich eine Lösung für unsere Schwierigkeiten, eine Lösung die bereits vor unserer Zeit bestand.
„WIR KÖNNEN NICHT GESCHAFFENES WISSEN KONTROLLIEREN, DESWEGEN WERDEN WIR DIE SCHAFFUNG VON WISSEN UND DESSEN VERBREITUNG KONTROLLIEREN!“
Der Erste Konsultor schaute forschend in die Runde und steigerte sich in seine Rede hinein.
„Wir werden Buchdrucker unterwandern und an uns bringen, auch mit Gewalt und Rufschändung, wenn es sein muss! Die Papierherstellung wird unser sein! Wir übernehmen die Fertigung, Verbreitung und Verteilung der Schriftwerke! Tinte und Farbe werden nur noch unter unserer Kontrolle produziert und verteilt! Die Druckerpressenmanufakturen werden wir leiten! Die Wissensschaffung soll nur noch unserem Interesse dienen! Wir werden die modernsten Transportmittel und Transportwege für uns beanspruchen und überwachen. Der Postverkehr und der Warenverkehr werden in unserem Sinne gelenkt!“
Der Erste Konsultor schnaufte aufgeregt und musste kurz innehalten.
„Wie ich bereits erwähnt habe, ist dieser Gedanke nicht neu! Lange Zeit vor dem Buchdruck waren es nur die Mönche, die Zugang zu Schulen, Papier, Schreibwerkzeug, Schreibkunst und Tinte hatten! Geschweige denn, dass alles nur in Latein verbreitet wurde! Vor den Mönchen waren es die Römer, deren Herrschaft auf ihrem Wegesystem basierte, mit dem nicht nur Waren und Personen transportiert wurden, sondern auch die notwendigen Informationen, ihre Architektur, ihre Kunst, ihre Skulpturen, ihre Musik und sogar ihre Kleidung schnell verbreitet wurden. Einfach alles, was die Emotionen der Menschen ansprach und so die römische Macht festigte. In vielen Fällen sogar mit blutigen Gladiatorkämpfen und Hinrichtungen in großen Arenen. Wir werden das alles wieder in unsere Hand bringen, nachdem wir das geschriebene Wort unter unsere Kontrolle gebracht haben. Die verdammte Pest, die Missernten, die Hungersnöte, das zügellose Geldwesen, die mächtigen Kaufleute mit ihrem Aktienhandel und die Entdeckung der neuen Welt haben vieles durcheinander gebracht und unseren Einfluss stark geschwächt! Aber in Zukunft werden wieder wir, und damit Gott, den Menschen sagen, was richtig oder falsch ist!“
Der Erste Konsultor war zufrieden, denn er sah in den Gesichtern seiner Auserwählten tiefste Anerkennung und Zustimmung.
„Doch heute müssen wir anders vorgehen. Einfallsreicher, strategischer, wirtschaftlicher und technisch ausgereifter. Wir müssen die Schaffung von Wissen, die Informationen und die Nachrichtenverbreitung zu unserem Gunsten lenken. Subtil und so gut es geht gewaltfrei!“
Plötzlich wurde der Erste Konsultor wieder sachlicher und sprach gelassen.
„Mit Bedacht und Informationen müssen wir die Hoffnung der Menschen auf ein besseres Leben im Jenseits aufrechterhalten. Und dafür brauchen wir den Glauben. Ja, sie sollen glauben! Glauben, dass dies nur durch Gottesfurcht, Gotteshörigkeit und Aufopferung für die Kirche erreicht werden kann. Wir müssen den natürlichen Drang zur Spiritualität und die Neugier der Menschen in unserem Sinne befriedigen und fördern!“
Erneut sah er jeden einzelnen in der Runde an, er musste sich ihrer Aufmerksamkeit sicher sein.
„Das ist aber nur ein Mittel, um unsere Macht zu behaupten und den Bürgern Gehorsam und Opfer im Namen Gottes abzuverlangen. Glauben und Wissen sind Macht, aber nicht nur das. Gewalt und Stärke sind es ebenfalls. Und letzten Endes werden die Menschen uns vertrauen, ohne vor uns Angst haben zu müssen. Umso mehr Angst werden sie vor Andersdenkenden haben.“
Er hielt inne und schaute einige Zeit in die Kerzenflamme. Keiner sagte ein Wort. Dem Ersten Konsultor wurde bewusst, dass es zu viel wäre, weitere Gründe und Konsequenzen zu nennen. Er musste sich auf das Wesentliche konzentrieren. Er hoffte, dass er die Richtigen auserwählt hatte und diese ihn verstanden.
„Unser Ziel ist es, geistige und körperliche Macht an uns zu reißen und zu behaupten. In den Archiven fand ich ein Werkzeug, mit dem wir dieses Ziel erreichen werden.“
Der Erste Konsultor schaute nochmals jeden eindringlich an und sagte fast schon flüsternd und mit einer leichten Panik während er sich langsam setzte: „Und wir müssen uns beeilen, sonst werden wir nicht mehr genug Mittel und Ressourcen haben, um die aktuelle Entwicklung umzukehren.“
Er begann zu erläutern, dass bereits hunderte Mönche unterwegs waren, um Flugblätter von der Verurteilung zu verteilen und an wichtigen Orten anzuschlagen. Mit der Absicht, Galileo Galilei zu einem Genie zu deklarieren und gleichzeitig als einen Wahnsinnigen, einen Besessenen zu stigmatisieren. Seine Leistungen würden personalisiert und individualisiert, alle Erkenntnisse, die ganze Arbeit und die nötigen Werkzeuge zu einem Produkt seines Wahnsinns verklärt. Die Bürger sollten glauben, dass ein einziger Mann, der mit dem Teufel paktierte, der Urheber all dieser Entdeckungen sei. Keiner sollte wissen, wie Galileo durch eine Reihe von Zufällen und den Werken vieler vor ihm an Erkenntnisse und Werkzeuge gekommen war, ohne welche er nie auf seine Ideen gestoßen wäre. Ganz zu schweigen von der finanziellen und moralischen Unterstützung für seine Professur. Er würde nie wieder etwas veröffentlichen oder seiner Arbeit nachgehen können.
„Und das, Niccolo, ist für Galilei viel schlimmer als der Tod. In Zukunft werden wir jeden, der nicht in unserem Interesse handelt, als Genie oder Wahnsinnigen im Pakt mit dem Teufel diskreditieren und vom öffentlichen Leben ausschließen.“
Der Erste Konsultor hielt inne, es war wichtig, dass die Anwesenden es verinnerlichten und verstanden.
„Das ist aber nur die erste Reaktion auf die Verurteilung. Nun kommen wir zu euren Aufgaben, für die ich keine Besseren hätte finden können.“
Niccolos Aufgabe war es zunächst, nach Frankreich zu reisen und sich bei Kardinal Richelieu zu melden. Dieser würde ihn bei der Kontaktaufnahme zu einem gewissen Théophraste Renaudot unterstützen. Théophraste hatte eine neue Form der Nachrichtenverbreitung entwickelt und patentiert, die Gazette. Und auch hier war ihnen Gottes guter Wille gewiss, denn Kardinal Richelieu war der wichtigste Förderer und ein guter Freund Théophrastes. Niccolo sollte alles über diese Entwicklung und die neue Darstellungsform lernen. Anschließend würde er nach Rom zurückkehren und mit dem neuen Wissen eine Schule für Giornalisti gründen. Die Ausbildung der Giornalisti im Sinne der neuen Strategie würde zunächst nur auf Mönche und Inquisitoren beschränkt. Ein Teil der Giornalisti würde regionale und landesweite Themen im Bereich Handel, Politik, Wissenschaft und Religion recherchieren und zusammentragen. Das Ziel war es, die öffentliche Meinung und die aktuelle Situation in Rom und Italien zu kennen und zu verstehen. Der andere Teil würde die eingehenden Nachrichten auswählen, überprüfen und anschließend die Gazette erstellen mit dem Ziel, die Meinung der Bevölkerung sowie die wirtschaftlichen, politischen und religiösen Interessen im Sinne Gottes und der Kirche zu lenken oder zu manipulieren. Die restlichen Giornalisti bekämen die Aufgabe, sich ständig über die neusten technischen Entwicklungen auf dem Gebiet des Buchdruckes und der Nachrichtenverbreitung zu informieren, diese umzusetzen und auch selbst weiterzuentwickeln. Das Schwierigste an dieser Aufgabe würde für Niccolo die Wahl der zukünftigen Giornalisti sein. Er müsse sich ihrer Treue und Schweigsamkeit sicher sein können, ohne etwas von ihrem Vorhaben und ihrem Bund zu verraten. Welches Auswahlverfahren und welche Ausbildungsmethode er nutzte, sei ihm überlassen. Schließlich habe er schon etliche Inquisitoren ausgebildet. Damit seine guten Absichten glaubwürdig seien, werden diese durch ein päpstliches Dekret garantiert. Darüber hinaus dürfe er, wie in seiner Funktion als Inquisitor, grenzenlose Gewalt anwenden, nur dürfe diese nicht mehr mit ihm oder der Kirche in Verbindung gebracht werden. Zu guter Letzt würde Niccolo Herausgeber einer Giornalie, ähnlich der Gazette, in Italien und darüber hinaus. Sobald ihm genug Giornalisti und Informationen zur Verfügung stünden, sei es seine Pflicht, die Giornalie wöchentlich und später täglich herauszugeben.
Niccolo ging noch einmal die einzelnen Punkte in seinem Kopf durch, um sicher zu sein, dass er nichts vergessen hatte, denn der Erste Konsultor hatte jede Mitschrift verboten. Bevor er sich über das Ausmaß seiner Verpflichtung im Klaren war und eine Gefühlsregung zeigen konnte, unterbrach ihn der Erste Konsultor.
„Lieber Niccolo, jetzt kennst Du deine Aufgabe. Ein Versagen oder den Verrat unseres Bundes bezahlst du mit deinem Leben!“
Wie benebelt von seinen Gedanken erwiderte Niccolo.
„Ich werde die Kirche und Gott nicht noch einmal enttäuschen.“
Der Erste Konsultor ließ Niccolo noch etwas Zeit seine Gedanken zu sammeln, als er Alfonso ansah und mit einer ahnungsvollen Stimme zu sprechen begann.
„Alfonso! Es war schwer für mich, etwas über deine Person zu erfahren, was für deine Verschwiegenheit und Vorsicht spricht. Du gibst dich nicht nur als kirchentreuer Soldat, sondern du bist es auch. Was dich aber für meine Aufgabe wertvoll macht, ist deine Herkunft. Du bist der Spross einer der reichsten Familien in Florenz und sogar mit dem Papst verwandt. Du hast die besten wirtschaftlichen Kenntnisse und Beziehungen zu den meisten Händlern und Bankiers in Italien und Europa.“
Entrüstet sah Alfonso den Ersten Konsultor an, im Kopf ging er sofort alle Möglichkeiten durch, bei denen er sich selbst verraten haben könnte. Es musste einen Spion in seinen Reihen geben. Er blickte in die Augen des Ersten Konsultors und versuchte mit aller Gewalt in seinen Gedanken zu lesen. Er musste jetzt auf alles vorbereitet sein. Seine Angst wurde immer größer. Denn als Schatzmeister der Inquisition hatte er nicht nur die Kirche bereichert, sondern auch den Einfluss und die Macht seiner Familie ins Unermessliche gesteigert. Jetzt war er verunsichert, eine Flucht war nicht möglich, wie konnte er nur blindlings in diese Falle laufen? Er konnte den Blick des Ersten Konsultors nicht standhalten und setzte zu einer Ausrede an, als ihn dieser mit einer wegwerfenden Geste unterbrach. Er hatte jeden Mut verloren. Selbst die Kerze wäre beinahe erloschen. Was hatte das zu bedeuten? Schweigen durchzog den Raum.
„Ein Versagen hätte ich schwerlich akzeptiert, aber Gier und Verrat“, offenbarte der Alte gereizt und schwieg erneut.
Alfonso war gebrochen! All seine Macht, all sein Geld konnten ihn jetzt nicht retten. Was auch immer jetzt von ihm erwartet würde, er würde sich diesem beugen müssen.
Unerwartet und nicht mehr auf den Verrat eingehend, begann der Erste Konsultor in aller Ruhe Alfonsos Aufgaben zu beschreiben. Als erstes wolle er alle Möglichkeiten prüfen, wie mit Niccolos Giornalie zusätzlich Gewinn erwirtschaftet werden könne. Dazu müsse er durch gezielte Propaganda bei seinen reichen Geschäftspartnern die Nachfrage und das Interesse steigern. Als nächstes solle er das Mäzenatentum unterwandern und sich als Förderer und Bewunderer ausgeben und so viele Professoren und Hauslehrer wie möglich durch bessere Bezahlung, Ausstattung und Unterstützung abwerben. Mit dem Ziel Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen zu gründen, die mit kirchlichen Universitäten in der Lehre zusammenarbeiteten und ihre Forschungsergebnisse Partnern aus Handel, Politik, Medizin oder Militär zur Verfügung stellen würden. Natürlich gegen sehr gute Bezahlung. Sein Vermögen würde bei diesem Unterfangen über die Anfangszeit hinweg helfen. Alle Gewinne würden in die Unternehmung fließen. Seine eigenen Geschäfte dürfe Alfonso weiterführen, müsse aber sein wirtschaftliches Talent, seine Geschäftskontakte und sein Netzwerk von Inquisitoren, die er zu seinen Spionen und Geschäftspartnern ausgebildet hatte im vollem Umfang zur Verfügung stellen. Die Aufgabe, die viel Geschick erfordern würde, sei die Übernahme und Überwachung der Händler und Hersteller von Druckwerkzeugen, Druckmaterialien und Verlegern. Und natürlich würde Niccolos Schule für Giornalisti zum Netzwerk seiner Forschungseinrichtungen eingegliedert und unterstützt. Mehr musste der Erste Konsultor nicht hinzufügen. Er war sich sicher, dass Alfonso nicht versagen würde. Mehr noch, Alfonso würde seiner Natur entsprechend das bestmögliche Geschäft aus dieser Situation schlagen und somit der Kirche und sich selbst zur wirtschaftlichen Macht, Vermögen und Ansehen verhelfen. Und dafür brauchte es ein besonderes Werkzeug.
„Alfonso, das Werkzeug das uns zu unserer Macht verhelfen wird, ist das Geldwesen selbst. In den Archiven fand ich unzählige Berichte darüber, wie einfach mit diesem Werkzeug Einfluss errungen und gehalten wurde. Aber das Werkzeug gehört uns nicht! Die Geldschöpfung, die Geldverteilung und der immer stärker wuchernde Terminhandel und Absicherungshandel. Der Geldverkehr, die Banken und die neuen Finanzinstrumente müssen in unsere Hände gelangen. Geld muss unsere neue Religion werden! Deine Abstammung und die aktuellen Streitigkeiten unter den Geldhäusern eröffnen uns in diesem Jahr eine Gelegenheit, wie sie in Zukunft nicht mehr existieren wird. Ich muss dir nicht sagen, was es für dich bedeutet, Alfonso. In einem Jahr erwarte ich Ergebnisse von dir, von denen dein Leben abhängen wird.“
Der Erste Konsultor sah Alfonso an, bis dieser kurz und entschlossen nickte, denn für Worte fehlte ihm die Kraft. Also fuhr der erste Konsultor fort.
„Wir werden eine Weltwährung etablieren, die mächtiger sein wird, als es sich Alexander der Große oder die Römer jemals erträumt hätten. Und die Menschen werden unser Geld lieben, mehr als Gott, mehr als ihr Leben.“
Vincenzo hörte so konzentriert zu, dass er langsam müde wurde. Obwohl noch nicht viel Zeit vergangen war, was er an der kaum abgebrannten Kerze sah, fühlte er sich kraftlos. Der überwältigende Plan des Ersten Konsultors und die Informationsflut versetzten ihn in seine Novizenzeit zurück, als ihn die ganze Theorie langweilte. Im Gegensatz zu diesen Plänen konnte er es damals kaum erwarten zu handeln und sich zu beweisen.
„Nun zu dir Vincenzo, wir kennen uns, seitdem du vor achtzehn Jahren zum Obersten der Inquisitoren aufgestiegen bist und deine Befehle direkt von mir empfängst. Du hast kein einziges Mal gezögert und bist im Dienste der Inquisition geblieben, selbst nachdem dich Niccolo abgelöst hatte. Aber was ich jetzt von dir erwarte, erfordert die größten Opfer von dir. Für deine Aufgabe wirst du zum Schatten werden, nicht nur für die Welt da draußen, sondern auch für deine engsten Freunde und Gefährten.“
Vincenzo spürte ein Unbehagen. Aber er war sich sicher - ein Zurück gab es nicht! Also schwieg er und hörte zu.
Vincenzo würde die Ausführung des Plans überwachen und zur Not eingreifen. Dafür würde er mit den Spionen des Vatikans zusammenarbeiten und die beste Spionageausbildung erhalten. Er würde monatlich nur dem Ersten Konsultor berichten und dabei auch alle Unterstützung erhalten, ohne Limit. Obwohl Niccolo und Alfonso zuhörten, fuhr der Erste Konsultor fort und schwor ihn darauf ein, auch seine Freunde zu überwachen und sie nicht nur von Schaden fernzuhalten. Für seine Aufgabe würde er seinen eigenen Geheimbund gründen.
DIE MODERATI!
Im Gegensatz zur Inquisition würden die Moderati verdeckt und ohne großes Aufsehen vorgehen. Sie würden für die Öffentlichkeit unsichtbar bleiben und ihre Aufgabe gemäßigt und unauffällig ausführen. Die Menschen dürften nicht erfahren, dass die ihnen zugänglichen Informationen und somit ihre Entscheidungen manipuliert und gelenkt würden. Die Inquisition hingegen würde Schritt für Schritt aufgelöst. Alle freiwerdenden Ressourcen sollten in die Hände der Moderati fließen. Die Ausbildung und die Nachfolge lägen nur in seinen Händen. Er würde völlig unabhängig handeln, ganz gleich was es kostete.
Der Erste Konsultor beendete seine Ausführung und schraubte den Kerzenhalter in der Mitte auf, die obere Hälfte stellte er noch mit der brennenden Kerze zurück auf den Tisch. Aus der unteren holte er eine Art Schlüssel heraus, stand mühsam auf und ging zur Tür. Die drei konnten nicht genau erkennen, was vor sich ging, aber es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis die Tür von außen geöffnet wurde und der Erste Konsultor den Raum verließ.
Die drei Gefährten blieben noch einen Moment sitzen, ließen ihre Gedanken schweifen und schauten sich gegenseitig an. Sie wussten, dass diese Zusammenkunft die Welt verändern könnte, aber für sie viel wichtiger, auch ihre Freundschaft verändern würde.
Zwei Schweizer Gardisten kamen in den Raum und forderten sie auf, den Raum zu verlassen. Kurz nachdem die drei den Raum verlassen hatten, fingen die Gardisten an, die weißen Wände und Möbel auf Notizen und Mitschriften zu untersuchen.
München 2018 – Der Fund
Lutz saß an seinem Arbeitstisch und starrte wie in Trance auf die Blätter, die vor ihm lagen. Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten hatte er die letzten Monate bewertet und vernichtet. Er hatte das Pech der Neue im Büro und zu sein, also blieb ihm die undankbare Arbeit. Dazu waren die meisten Blätter und Seiten verschmutzt, feucht oder beschädigt.
Es war über ein halbes Jahr her, als er eine Festanstellung bei Max Od et Richard A. Tillmann 1711, einem kleinen traditionellen Wissenschaftsverlag in München, erhielt. Das war direkt nach seinem Physikstudium, bei dem er parallel ein Fernstudium zum Journalisten abgeschlossen hatte. Obwohl Lutz in seinem Jahrgang den besten Physikabschluss gemacht hatte, stand für ihn zum Ende des Studiums fest, dass er nicht promovieren würde. Für ihn war klar, dass er Wissenschaftsjournalist werden würde. Er fand es viel interessanter, sich mit den unterschiedlichsten Themen und Ergebnissen der Forschung auseinanderzusetzen als sich auf einem Gebiet zu spezialisieren. Er war Naturwissenschaftler und kein Ingenieur mit besserem physikalischem Verständnis, dachte er sich damals. Schon nach wenigen Tagen in seiner Tätigkeit als Journalist kam der Chefredakteur mit einer undankbaren Aufgabe auf ihn zu. Er war ein hochgewachsener sechzigjähriger Mann mit einer Halbglatze und wurde von allen nur bei seinem Vornamen Otto angesprochen. Das Archiv sollte bereinigt werden!
„Es ist eine aufregende Aufgabe für dich, bei der du sehr viel über redaktionelle Arbeit lernen wirst“, umschmeichelte Otto damals die Aufgabe.
Lutz ahnte sofort, dass ihn diese Aufgabe nicht sehr fordern, aber dafür sehr lange beschäftigen würde, doch als Otto ihn in den Keller geführt hatte, war er einfach nur fassungslos. Mehrere alte Regale, teilweise noch aus Holz, gefüllt mit Kartons, Ordnern und losen Blättern, die sich bis unter das Gewölbe stapelten. Die Regale standen links und rechts vom Gang, der den Raum teilte und von einem Treppenhaus zum anderen führte. Es roch unangenehm und die Beleuchtung war gerade so ausreichend, um Beschriftungen und Kommentare lesen zu können. Der Boden war schmutzig und die Wände waren feucht. „Warum zum Teufel befindet sich das Archiv an so einem Ort?“, dachte Lutz.
„Was genau soll ich machen und wo soll ich anfangen?“, fragte er damals, seinen Frust so gut wie möglich unterdrückend.
„Was du hier siehst“, Otto machte eine umfassende Bewegung, „sind unveröffentlichte naturwissenschaftliche Arbeiten, die es nie zu einem Peer-Review, also einem fachlichen Gutachten geschafft haben. Die Arbeiten, die wir veröffentlicht haben, werden an einem anderen Ort archiviert, wobei das meiste digitalisiert wurde. Du fängst am besten bei den Achtzigern an und arbeitest dich bis heute durch. Alles andere, bis einschließlich der Siebziger, lasse ich vom Hausmeister vernichten.“
Ohne Unterbrechung und ohne Lutz zu Wort kommen zu lassen sprach Otto weiter:
„Eigentlich ist es ganz einfach. Alle Arbeiten, die keine Quellenangaben haben, werden vernichtet. Alle Arbeiten, die keine mathematische Herleitung oder eine logische Basis haben, werden ebenfalls vernichtet. Alle Arbeiten, die nicht empirisch belegt und ausgewertet sind, ebenso. Kurzum, prüf einfach, ob die Arbeit gegen gute wissenschaftliche Praxis verstößt! Sobald eine Arbeit doch einen oder mehrere von diesen Punkten enthalten sollte, dann liegt es ganz an deiner Einschätzung, ob du sie vernichten oder mir vorlegen möchtest. Ich entscheide über das weitere Vorgehen. Falls du Fragen zu fachlichen Themen außerhalb der Physik hast, kannst du jederzeit die Kollegen um Unterstützung bitten. Bei uns arbeiten selbstverständlich auch Biologen, Chemiker, Informatiker, Ingenieure und andere Akademiker.“
„Gut, mache ich“, sagte Lutz, ging zögerlich zum achtziger Regal und nahm sich die erste Arbeit aus der Reihe A. Als er sich wieder umdrehte, war Otto bereits weg.
Das letzte halbe Jahr hatte er viele Arbeiten durchgelesen und auf eine seltsame Art und Weise war die Aufgabe unterhaltsam. Die Zeit verging schnell. Manche Schriften belustigten ihn, andere wiederum ließen ihn träumen und phantasieren. Dabei versetzte er sich in die Autoren und dachte darüber nach, welche Umstände sie bewegt haben mussten und wie wirr ihr Leben wohl war.
Mit der Zeit wurde Lutz immer schneller, da er sich einen Automatismus angeeignet hatte, bei dem er zusätzlich zu Ottos Kriterien weitere und immer wiederkehrende Merkmale verwendete, die für die jeweilige Zeit typisch beim Erstellen von wissenschaftlichen Arbeiten waren. Dadurch konnte er die Schriften zunächst nur überfliegen und anschließend wichtige Details lesen und bewerten. Von den Achtzigern war nur noch eine Arbeit auf seinem Tisch übrig, alle anderen hatte er bereits vernichtet.
Im Großraumbüro, das er sich mit zwanzig Mitarbeitern teilte, klingelte entfernt ein Telefon und Lutz wurde aus seiner Trance gerissen. „Wieder eine Arbeit, die ich vernichten kann“, dachte er sich. „Das war es mit den Achtzigern, was für ein glorreiches Jahrzehnt“, amüsierte er sich selbst. Er fand es merkwürdig und verstand immer noch nicht, warum man sich überhaupt die Mühe machte, solche Arbeiten zu archivieren. Es wäre besser gewesen, diese zurückzusenden oder sofort zu vernichten. Lutz stand auf und ging leise auf dem alten knirschenden Holzboden an seinen Kollegen vorbei. Er wollte zu Otto, um genau das zu fragen.
In seiner Erscheinung fiel Lutz durch seine lockigen, braunen und halblangen Haare auf. Ansonsten war er ein drahtiger und sportlicher Typ, der aber von den anderen im Büro kaum wahrgenommen wurde, wie Lutz glaubte. Bis auf wenige Fragen zur Physik, die er den Kollegen stolz beantwortete, hatte er nur wenig mit ihnen zu tun. Dafür war er einerseits zu sehr mit seiner Aufgabe beschäftigt, andererseits herrschte auch ein eher kühles Klima zwischen den Mitarbeitern. Dennoch wirkte keiner unzufrieden oder war wütend über seine Situation. Fast jeder konzentrierte sich auf die eigenen Aufgaben, wie es Lutz schien. Gespräche waren meist nur fachlicher Natur und Privates wurde nur selten preisgegeben.
Ottos Tür, vor der ein kleiner, knallroter Fußabtreter lag, stand wie so oft offen. Also betrat er das Büro, das etwa halb so groß war, wie das von seinen Kollegen und von ihm. Zwei massive, antike Bücherregale aus Holz, gefüllt mit hunderten von Zeitschriften seines Verlages, flankierten den Raum. Ein Arbeitstisch aus alten Schiffsplanken und Wikingerverzierungen stand an der Fensterfront mit jeweils einem Lederstuhl davor und dahinter. Als Otto hinter seinem Laptop zu ihm aufschaute, ging Lutz bis an den Tisch vor und setzte sich. Dieses Ritual bedurfte keiner Worte und Otto bestand darauf. Nachdem er sich gesetzt hatte, erklärte Lutz, dass er mit den Achtzigern fertig sei und alle Arbeiten vernichtet hätte. Noch bevor Otto etwas sagen konnte, fragte Lutz ihn, warum er damit weitermachen und nicht sofort alles vernichten sollte.
„Sehr gut“, antwortete Otto.
„Das zeigt mir, dass die Kollegen für unseren Verlag gute Arbeit geleistet haben. Dennoch bitte ich dich durchzuhalten, ich habe da so ein Gefühl. Ich glaube du wirst noch etwas finden, das aus heutiger Sicht doch wichtig und wertvoll erscheint.“
„Na toll, ein Gefühl also“, dachte Lutz.
„Nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht, Otto; ich hatte nicht vor aufzugeben. Ich sehe auch ein, dass mir die Arbeit bei der zukünftigen Redaktionsarbeit helfen wird. Und darum geht es auch. Ich bin jetzt über ein halbes Jahr nur mit dem Archiv beschäftigt. Ich befürchte den Anschluss zu verlieren und nicht mehr auf dem aktuellen Wissensstand zu sein. Darüber hinaus habe ich nur wenig Einblick in die Aufgaben meiner Kollegen. Ich fühle mich ausgeschlossen.“
„Ich verstehe deine Sorgen, dennoch kann ich dir garantieren, dass du, sobald das Archiv bereinigt ist, schnell wieder auf dem Laufenden sein wirst. Das allgemeine Verständnis hast du, davon konnte ich mich beim Einstellungstest selbst überzeugen. Von siebenunddreißig Bewerbern hast du die besten Testergebnisse erzielt. Es ist egal, wie dein aktueller Wissenstand zu einem Thema ist, da sich die Wissenschaft immer mehr spezialisiert und sich immer mehr in Details verliert, wirst du dich sowieso unweigerlich neu informieren, recherchieren oder sogar forschen müssen. Was die Arbeit bei uns betrifft, wirst du persönlich von einem Mentor eingearbeitet. Er ist sehr gut auf seinem Gebiet, aber das wirst du dann noch früh genug erfahren.“
Lutz wusste nicht, was er mit diesem Versprechen anfangen sollte, zumindest hatte Otto grob beschrieben, wie es mit ihm weiterginge. Er nickte einmal kurz und entschlossen, so dass der sperrige, aber bequeme Lederstuhl, auf dem er saß, zum Schaukeln anfing. Otto lehnte sich gelassen in seinen Lederstuhl zurück und starrte Lutz eine Zeitlang an, dann stieß er sich mit den Beinen ab, wodurch er von seinem antiken Wikingertisch wegrollte. Er stand auf, ging um den Tisch und setzte sich unmittelbar vor Lutz auf die Tischkante. Lutz war die Nähe unangenehm. Er musste seinen Stuhl mit den Füßen etwas nach hinten schieben, um Otto ansehen zu können.
„Wir werden umziehen, Lutz. Ich sage dir das schon jetzt, weil ich dich nicht nur als Mitarbeiter, sondern auch als Freund sehe. Wie du weißt, haben wir eine eigene Internetpräsenz. Mit unserem Nachrichtenportal, den Social-Media-Plattformen, Streaming- und Video-Plattformen sowie der Online-Werbung verdienen wir bereits jetzt schon mehr als mit unseren Zeitschriften. Es ist eine finanzielle Gratwanderung, und eine schwierige Entscheidung, was wir online oder gedruckt veröffentlichen wollen. Ohne dabei an Bedeutung zu verlieren.“
Mit einer umrahmenden Gestik erfasste Otto sein Büro, ein typischer Münchner Altbau, wie das gesamte Gebäude mit schönen Fenstern, Decken und Wandverzierungen.
„Wir wollen uns diesen Standort nicht mehr leisten und ziehen in zwei Jahren in ein modernes Bürogebäude in Leipzig.“
Lutz war wie vor den Kopf gestoßen. Er hatte Schulden, weil er eine neue Wohnung im Münchener Westen gekauft hatte, seine Eltern und seine Großeltern bürgten für seinen Kredit und hatten Eigenkapital zugeschossen. Mit seinen achtundzwanzig Jahren war er sich sicher, bei dem Verlag einen sicheren und sehr gut bezahlten Arbeitsplatz gefunden zu haben.
„In Zukunft wird sich vieles ändern müssen, wenn wir konkurrenzfähig bleiben wollen. Deine Kollegen wissen noch nichts davon. Ich bitte dich, das vorerst für dich zu behalten. Die Verlagsleitung diskutiert bereits alternative Arbeitsmodelle, die uns ermöglichen, viele Arbeitsplätze in München zu erhalten.“
Lutz schaute Otto ungläubig an und wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Nach einem kurzen Moment drückte sich Otto von der Kante ab und sprach bestimmend, in seiner vollen Größe stehend, auf Lutz herab.
„Umso wichtiger ist es jetzt, die Archive zu bereinigen und die Umstrukturierung unseres Verlages voranzutreiben. Sobald du im Archiv die Neunziger durchgearbeitet hast, wird es für dich einfacher. Der meiste Müll wird seitdem im Internet publiziert und die Verlage werden nicht mehr mit jedem Schwachsinn belästigt und zugemüllt“, äußerte Otto den letzten Satz verächtlich.
„Aber bei dem Bewerbungsgespräch hieß es, dass mein Arbeitsplatz langfristig sicher sei und ich viele Entwicklungsmöglichkeiten hätte. Du hast mir die Karrierewege persönlich aufgezeigt.“
„Dein Arbeitsplatz ist sicher, nur nicht der Standort. Wir werden eine Lösung finden, mit der du glücklich sein wirst, das verspreche ich dir. Ich muss dich jetzt leider auf später vertrösten, da ich zu einem Termin muss!“
Lutz verstand. Mit einem flauen Gefühl stand er auf, die Gesichter der beiden waren sich jetzt ganz nah, da Otto keine Anzeichen machte, zur Seite zu gehen. Die Blicke trafen sich kurz und Lutz sah etwas Gefährliches in Ottos Augen, vielleicht täuschte er sich aber nur. Beim Umdrehen schmiegte er seinen Körper am Stuhl und an Otto vorbei und verließ den Raum in Richtung Treppenhaus. Wie so oft war er wieder unterwegs zum Archiv im Keller.
Bevor er mit den Neunzigern anfing, sah er sich die leeren Regale an, die völlig verstaubt waren. Manche von ihnen waren in einem so schlechten Zustand, dass er sich wunderte, wieso sie noch nicht zusammengebrochen waren. Aber nicht nur die Regale, sondern auch die meisten Arbeiten waren feucht und verschmutzt, als ob es damals und heute niemanden interessiert hätte, was damit passierte. „Warum archiviert der Verlag diese Arbeiten und lässt sie dann so verkommen“, fragte er sich erneut. Mehrmals hat er seinen Schreibtisch abwischen müssen, nachdem er fertig gelesen hatte. Wobei er dabei den einen oder anderen blöden Kommentar von seinen Kollegen ertragen musste, die sich kurz darauf wieder in ihre Bildschirme vertieften. „Besser ein Lebenszeichen auf seine Kosten als gar keins“, dachte er gelangweilt. Die leeren Regale sahen schlimm aus, Risse und Schimmel durchzogen das Holz. Aus Neugier, ob die Regale noch halten würden, rüttelte er am Ende eines Regals und hörte plötzlich ein Krachen.
„Verdammt“, schrie er. „Das war ja so klar!“
Das Regal hatte vier Standbeine und eines der hinteren an der Wand musste gebrochen sein, aber es kippte noch nicht. Er ging zwischen dem letzten Achtziger und dem ersten Neunziger Regal zur Wand. Diese standen so eng zusammen, dass man sich nur parallel zu den Regalen bücken konnte, ohne mit dem Hintern gegen das Nachbarregal zu stoßen.
„Mist, jetzt muss ich auch noch im Dreck herumkriechen“, fluchte Lutz laut, als ihm klar wurde, dass er so nichts erkennen konnte.
Um seine Hose nicht zu beschmutzen, nahm er einen Umschlag mit einer Arbeit aus dem Regal und legte ihn auf den Boden. Er kniete sich hin und schaute sich das gebrochene Regalbein genauer an. Er sah, dass dieses völlig marode war und das abgebrochene Stück nicht einfach wieder unter den Stumpf geschoben werden konnte. „Naja, wenigstens kippt es nicht“, dachte er sich. Plötzlich schrie er und sprang ruckartig auf, wobei er das Neunziger Regal fast umgestoßen hätte. Etwas war über seinen Handrücken gelaufen als er sich abgestützt hatte. „Verdammter Keller“, fluchte er innerlich. „Zum Glück ist nichts umgefallen, ich muss es nur wieder hinschieben“, dachte er erleichtert. Beim Aufrichten schaute er zum Umschlag, der auf dem Boden lag und auf dem er gekniet hatte. Er wollte ihn aufheben, als er im Augenwinkel unter dem Neunziger Regal etwas liegen sah. Er bückte sich wieder und griff mit der Hand unter das Regal. Kurz darauf zog er einen Din A4 Briefumschlag hervor.
„Muss wohl runtergefallen sein, aber warum liegt es dann unter dem Regal? Vielleicht wurde es hier vergessen oder von jemand aus Versehen mit dem Fuß unter das Regal geschoben“, rätselte Lutz und beeilte sich seinen Fund hervorzuholen.
Er bemerkte sofort das Gewicht, das auf eine umfangreiche Arbeit hindeutete. Er stand auf und drückte sich zwischen den Regalen wieder in den Gang. Trotz seiner Neugier beschloss er, den Umschlag im Büro zu öffnen, wie er es auch mit den anderen getan hatte.
An seinem Platz angekommen, öffnete er den Umschlag und zog die zusammengehefteten Blätter heraus. Ihm fiel auf, dass diese im Gegensatz zum Umschlag weder beschädigt noch schmutzig waren. Seine Neugier wurde weiter geweckt. Sie steigerte sich, als er merkte, dass an der zusammengehefteten Stelle noch Papierfetzen hingen. Etwa die Hälfte der Arbeit fehlte, die hinteren Blätter waren abgerissen. Die Arbeit selbst war mit einem alten Nadeldrucker gedruckt worden und enthielt handgezeichnete Abbildungen. Er begann zu lesen; wie immer fing er mit dem Titel und dem Autor der Arbeit an.
DIE WELTFORMEL UND DIE BIVARIATE VERTEILUNG VON HONIG ALS ABLEITUNG DES PANTA RHEI GEDANKENS VON ARTHUR SCHWARZ 04.02.1991
„Okey“, sagte Lutz zu sich selbst und musste schmunzeln, „schon wieder einer mit dem Thema Weltformel.“ Zumindest klang der Titel unterhaltsam für ihn. Er freute sich auf die Arbeit, denn Unterhaltung war ihm immer willkommen.
Aber zunächst tippte er Arthur Schwarz in die Internet Suchmaschine ein. Vielleicht gibt es irgendwelche Einträge zu diesem Typen. Doch das einzige, was er fand, beunruhigte ihn so sehr, dass er kurz zusammenzuckte.
ARTHUR SCHWARZ – IN SEINER VILLA IN MÜNCHEN AM 14.02.1991 TOD AUFGEFUNDEN. DIE STAATSANWALTSCHAFT GEHT VON EINEM SELBSTMORD AUS – NICHTS DEUTET AUF EIN GEWALTVERBRECHEN HIN.
Lutz war irritiert, denn er hatte den Umschlag bei den Arbeiten aus den Neunzigern gefunden. „Was für ein Zufall“, dachte er sich, „warum bringt er sich nur wenige Tage nach seiner Arbeit um?“ Der Autor schien auch keinen akademischen Titel zu besitzen. Es wurde kein betreuender Professor oder Doktor genannt. Eine Universität oder ein Institut wurden auch nicht genannt. Was war das für eine Arbeit? Lutz blätterte schnell zum Inhaltsverzeichnis.
Laut diesem hatte die Arbeit insgesamt 120 Seiten mit einer mathematischen Herleitung und einem großen Theorieteil, ein experimenteller Aufbau wurde auch beschrieben. Lutz schaute voller Hoffnung zum letzten Punkt. Tatsächlich, es waren sogar Quellenangaben vorhanden.
Er las weiter und schon die inhaltliche Zusammenfassung verblüffte ihn. Diese Arbeit war der Wahnsinn. Er musste sofort zu Otto und ihn informieren. Total aufgedreht und nervös nahm er die Arbeit und ging zu ihm. Die Tür war jedoch verschlossen. So ein Pech, endlich ein Erfolgserlebnis und dann war er nicht da. Suchend wendete er sich an Ottos Sekretärin.
„Er ist nach Leipzig zu einem Geschäftstreffen gefahren und wird erst morgen wieder ins Büro kommen. Aber er ist telefonisch erreichbar. Soll ich ihm was ausrichten?“
„Nein danke, Elfriede, ich werde bis morgen warten.“
Lutz ging wieder zu seinem Platz zurück. Auf dem Tisch lag noch der Umschlag, den Lutz voller Fragen anstarrte. Ihm fiel ein, dass er den Umschlag noch nicht einmal nach einem Namen oder einer Adresse geprüft hatte. Lutz untersuchte ihn genauer und sein Gespür täuschte ihn nicht, er fand eine Adresse. Es war jedoch nur noch die Straße einigermaßen lesbar. Er drehte den Umschlag und merkte, dass noch etwas darin sein musste. Er griff hinein und zog eine Notiz heraus.
ZU VIELE GUTE IDEEN! ICH HABE MICH SCHULDIG GEMACHT! DIE ARBEIT VON ARTHUR IST DIE EINZIGE, DIE ICH VOR OTTO RETTEN KONNTE. ARTHUR SELBST IST TOT. ICH HABE ANGST. OTTO IST GEFÄHRLICH. SVEN
Der Alarm
Sie genoss die Zeit mit ihren Freunden, obwohl sie genau wusste, dass es nur oberflächliche Freundschaften ohne Tiefgang waren. Mira war das egal. Sie nutzte jede Sekunde, um ein halbwegs normales Leben zu führen. Sie war außergewöhnlich, aber das Spiel mit der Normalität, wie sie es nannte, machte ihr so viel Spaß, dass sie ihre Aufgaben immer öfter zu vergessen schien. Bis auf einen Einsatz vor drei Jahren ist nie wieder etwas passiert, redete sie sich ein. Dennoch musste sie immer bereit sein.
Den ganzen Sommer über bis in den September hinein verbrachte Mira ihre Zeit am liebsten in einem trendigen Café, nicht weit von der Ludwig-Maximilian-Universität in München entfernt. Meistens war sie von Akademikern und Doktoranden umgeben, dennoch verliefen die Unterhaltungen extrem banal, teilweise sogar naiv. Nicht nur, weil sie in vielen Fachgebieten gut war, sondern auch weil sie ein zweites, extrem hartes Leben führte und ihre eigentliche Aufgabe alles andere unwichtig erscheinen ließ. Das machte aber nichts, die Normalität entspannte sie wie eine gute Droge.
Es war ihr letztes Jahr als Doktorandin, danach würde Mira sich entscheiden müssen. Aber im Moment promovierte sie an der Fakultät für Betriebswirtschaft, wofür sie sinnlose Umfragen, Analysen und Auswertungen durchführte. Nichtssagend, aber selbst das gehörte zu ihrer Ausbildung. Die Kunst, mit guten Argumenten aus Unwichtigem, Wichtiges und Bedeutsames zu gestalten und so die Mitmenschen zu manipulieren. Mira liebte es, mit Worten die Umgebenden zu beeinflussen, so dass sie bereit waren, alles für sie zu tun. Besonders einfach war es für sie, Männer zu beeinflussen. Die meisten Männer wollten sowieso immer nur das eine und weil sie dem aktuellen Schönheitsideal entsprach, fiel es ihr sehr leicht Männer für ihre Zwecke zu nutzen. Besonders reizvoll auf psychologischer Ebene war der Umgang mit starken, erfolgreichen und erfahrenen Männern. Ihr taten die jungen Frauen leid, die nichts über Manipulationstechniken wussten.
Ihr Körper war durchtrainiert, dennoch hatte sie eine natürliche und weibliche Figur, und fürs Schminken blieb in ihrem Leben sowieso nur wenig Zeit. Oft wurde sie für ihre natürliche Schönheit bewundert, was nicht nur Vorteile mit sich brachte. Ihre langen Beine und langen, welligen, schwarzbraunen Haare unterstrichen es nur noch. Sie hatte einige kurze Beziehungen hinter sich. Mal aus Lust am Sex, mal aus Lust am niveauvollen Umgang. Interessant waren für sie überraschenderweise die verschlossenen, geheimnisvollen und schüchternen Männer, von denen Sie lernen konnte und die ihre Sicht aufs Leben veränderten. Alle ihre bisherigen Beziehungen hatte sie vorzeitig beendet. Etwas Dauerhaftes war für Mira nicht möglich, da sie noch eine Entscheidung treffen musste, die ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellen könnte.
Mit ihren siebenundzwanzig Jahren hatte sie nur noch wenige Monate Zeit, bevor sie sich für Schatten oder Tarnung entscheiden musste. Ihre Mutter, eine Professorin für Chemie, die ein eigenes Forschungsinstitut leitete, hatte nach ihrer Ausbildung die Tarnung gewählt. Sonst wäre es ihr nicht erlaubt gewesen, eine Familie zu gründen. Der Preis dafür war, dass all ihre Kinder denselben Weg gehen mussten wie sie und nach ihrer Ausbildung ebenfalls eine Wahl treffen mussten. Mira hatte noch zwei ältere Brüder, die sich bereits für den Schatten und gegen ein Familienleben entschieden hatten. Seitdem hatte Mira nichts mehr von ihnen gehört. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt und ihre Mutter hatte ihr nur einmal gesagt, dass es besser und sicherer sei, wenn sie es nicht wisse. Seitdem wuchs ihr Bedürfnis ihn zu suchen. Aber die Zeit dafür war noch nicht gekommen.
Der Druck der Entscheidung lastete sehr auf ihr, das merkte auch ihr Meister, weshalb er ihr immer öfter erlaubte von den körperlichen Trainingseinheiten wegzubleiben. Seit sie sechs Jahre alt war, gehörte das tägliche Training mit ihrem Meister zu ihrer Ausbildung. Aber bis heute kannte sie nicht seinen Namen, was er mit ihrem Vater gemeinsam hatte. Für Mira war es nur deshalb möglich, die harten körperliche Übungen und Strapazen auszuhalten, weil Mira in ihm einen Vaterersatz sah und ihn nicht enttäuschen wollte. Die ersten beiden Jahre war es nur Tanztraining, um ihre Beweglichkeit, ihre Koordination und ihr Körpergefühl zu verbessern. Danach begann die richtige Ausbildung, das Martyrium, das sie zu einem begnadeten Werkzeug der Organisation, einer ausgezeichnete Hackerin und zugleich einer eiskalten Mörderin machen sollte.
Sie hätte ihren Meister überprüfen, ausspionieren oder verfolgen können. Es reizte Mira zu wissen, wer er war, aber diesen Schritt hatte sie trotz ihrer Fähigkeiten nie gewagt. Dafür bedeutete er ihr einfach zu viel.
„Was machst du heute Abend“, fragte Lisa, obwohl sie die Antwort schon kannte. Die Sonne war bereits untergegangen und sie wusste, dass Mira gleich weg musste.
Beide arbeiteten an der Fakultät für Betriebswirtschaft, an einer Doktorarbeit. Lisa mochte Mira, wurde aber immer wieder von ihr vertröstet, wenn es darum ging, nach der Arbeit oder in der Freizeit etwas zu unternehmen. Sie wusste auch nicht viel über ihr Privatleben, weil Mira ihre Fragen immer in einer Weise beantwortete, die Lisa zwar zufriedenstellte, aber keinerlei Informationen lieferte. Lisa bemerkte nicht, dass Mira sie manipulierte.
„Worauf hättest du denn Lust“, fragte Mira und überraschte Lisa.
„So richtig weiß ich es noch nicht; um ehrlich zu sein habe ich nicht mit dir gerechnet, aber wenn du wirklich willst, könnten wir in die neue Bar gehen, von der die Kollegen erzählt haben.“
Es war nach 22 Uhr, und Mira wusste, dass ihr Meister morgen früh auf sie warten würde. Er würde es bemerken, wenn sie müde wäre. Dann würde er Mira wie ein kleines Kind behandeln und ihr ein schlechtes Gewissen einreden. Und obwohl beide wussten, wie das Spiel mit den Worten funktioniert, würde es dennoch funktionieren. Wegen ihres schlechten Gewissens würde sie noch härter trainieren als sonst.
„Gerne, ich freue mich sehr. Muss nur noch kurz nach Hause und mich umziehen“, sagte Mira, die an diesem Tag eine Sommerhose, Sneaker und eine einfaches Top trug.
„Das muss ich auch noch. Wo wollen wir uns danach treffen?“
Ein leises Klingeln ertönte an Miras Armband, kurz darauf vibrierte es. Mira erstarrte. Die Abläufe die jetzt kamen, hatte sie schon so oft trainiert, dass alles blitzschnell und ohne Nachzudenken ablief. Sie zog ihr Smartphone hervor und fuhr mit ihrem Finger am Armband entlang. Das Smartphone schaltete sich sofort aus, um nur ein paar Sekunden später mit einem unbekannten Betriebssystem neu zu starten. Lisa erschrak und verstand nicht, was los war. Miras Blick war jetzt eisig und ihr Körper zitterte vor Anspannung. Das hatte sie noch nie erlebt. Was war nur los?
„Kann ich dir irgendwie helfen Mira, ist alles in Ordnung?“
Mira reagierte nicht, sie sah nur auf den Bildschirm. Ein Notfall! Sie wurde vom automatischen Notfallsystem, einer künstlichen Intelligenz der Organisation, für einen Einsatz ausgewählt. Ihre Aufgabe war es, die Erstreaktion einzuleiten!
Jeder in der Organisation hatte vor Jahren ein modifiziertes Smartphone sowie ein Armband erhalten. Sie hatte ihres vom Meister bekommen. Bei einem Notfall würde die Ursache von der künstlichen Intelligenz analysiert, die verfügbaren Kräfte bewertet und, wenn nötig, einem Einsatz zugewiesen. Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden, weil jeder in der Organisation permanent überwacht wurde und ihre Daten sekündlich abgeglichen wurden. Aber nicht nur ihre Position war dem System bekannt. Das gesellschaftliche Umfeld wurde ebenfalls anhand der Smartphones, Internet und GPS sowie elektronischer Zahlungsmittel in der Umgebung bewertet und überwacht. Bei Komplikationen oder Auffälligkeiten wurden zusätzlich Aufzeichnungen von Kameras, die Mobilität der Einsatzkräfte und ihre psychische und physische Verfassung geprüft.
„UNBEFUGTER ZUGANG“, stand auf ihrem Smartphone. Wurde die Organisation angegriffen? Ein Gebäude ihrer Organisation, nicht weit entfernt, wurde von einem Mann unbefugt betreten. Er war zwischen 1,83 und 1,85 Meter groß und sportlich. Die Aufnahmen seines Gangs und der Körperhaltung deuteten mit einer 89,7%en Sicherheit darauf hin, dass er weder Kampfsportler noch professioneller Einbrecher war. Weitere Aufnahmen zeigten, dass er keine Waffen oder gefährliche Gegenstände bei sich trug. Seine Identität konnte noch nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Er hatte kein mobiles Gerät bei sich und die Rückverfolgung der Kameras in der Umgebung wurde noch ausgewertet. Der Befehl lautete diesen Mann in den nächsten 12 Minuten und 45 Sekunden zu neutralisieren und zu verhören. Unauffällig!