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Zwei Freundinnen erobern die Werbewelt.
Margot und Lieselotte sind unzertrennlich, seit sie sich das erste Mal begegnet sind. Begeistert von Mode und Reklame durchforsten sie jede Zeitschrift, die sie in die Finger kriegen. Die schillernde Werbewelt, das ist ihr Traum. Beide schaffen es, einen Job in der Reklame zu ergattern, Lieselotte als Model, Margot als Sekretärin. Aber sie merken schnell: Um sich in dieser Männerdomäne zu behaupten, müssen sie gegen völlig veraltete Konventionen ankämpfen ...
Ein eindrucksvoller Einblick in die Anfänge der Werbewelt und ihre Abgründe und zwei einfühlsam erzählte Frauenrealitäten im geteilten Deutschland.
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Seitenzahl: 437
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ostberlin, 1961: Die junge Margot träumt davon, Werbetexterin zu werden, und beginnt eine Lehre als Sekretärin bei der Deutschen Werbe- und Anzeigengesellschaft. Allerdings muss sie schnell feststellen, dass die Meinung von Frauen nicht unbedingt gefragt ist. Ihre beste Freundin Lotte würde gern für eine Werbeagentur modeln, stattdessen muss sie im Konsum Regale einräumen. Beide sind nicht zufrieden – es muss sich etwas ändern! Dann hat Lotte Glück: Sie begegnet Werner, der für die Sibylle fotografiert, und er nimmt sie mit in die schillernde Welt der Modereklame. Ihre Karriere kommt jedoch nicht wirklich ins Rollen. Margot lernt unterdessen Tim kennen, einen Werbetexter, der ihre Ideen großartig findet und ihre Hilfe beim Texten gern annimmt. Doch er verkauft Margots Vorschläge als seine eigenen. Werden Lotte und Margot es schaffen, sich durchzusetzen und ihre Träume zu leben?
Melanie Fischer ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Ihre Leidenschaft war es schon immer, durch die Welt zu reisen und unterwegs Ideen für neue Geschichten zu sammeln. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Brandenburg.
Im Aufbau Taschenbuch ist bereits ihr Roman »Die Fernsehfrauen – Mit uns beginnt die neue Zeit« erschienen.
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Melanie Fischer
Die Werbefrauen – Wir schaffen eine neue Welt
Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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Prolog: Berlin — Sommer 1956
Kapitel 1: Margot — Berlin 1961
Kapitel 2: Lieselotte
Kapitel 3: Margot
Kapitel 4: Lieselotte — August 1961
Kapitel 5: Margot — Dezember 1961
Kapitel 6: Lieselotte
Kapitel 7: Margot — Januar 1962
Kapitel 8: Lieselotte
Kapitel 9: Margot — April 1962
Kapitel 10: Lieselotte — August 1962
Kapitel 11: Margot
Kapitel 12: Lieselotte
Kapitel 13: Margot — Oktober 1962
Kapitel 14: Lieselotte — März 1963
Kapitel 15: Margot
Kapitel 16: Lieselotte — August 1963
Kapitel 17: Margot
Kapitel 18: Lieselotte — Januar 1964
Kapitel 19: Margot — Juli 1964
Kapitel 20: Lieselotte
Kapitel 21: Margot — Oktober 1964
Kapitel 22: Lieselotte
Kapitel 23: Margot — Februar 1965
Kapitel 24: Lieselotte — März 1965
Kapitel 25: Lotte — September 1965
Kapitel 26: Margot — Februar 1966
Kapitel 27: Lotte
Kapitel 28: Margot — März 1966
Kapitel 29: Lotte — Juni 1966
Kapitel 30: September 1966 — Margot
Kapitel 31: Lotte
Kapitel 32: Margot — Dezember 1966
Kapitel 33: Lotte
Kapitel 34: Margot — Dezember 1967
Kapitel 35: Lotte
Kapitel 36: Margot — Juli 1967
Kapitel 37: Sommer 1970
Anmerkungen der Autorin
Danksagung
Impressum
Prolog
Sommer 1956
Im Friedrichshain saßen zwei Mädchen auf einer Bank und blickten in die untergehende Sonne. Die letzten Tage war es immer bewölkt gewesen, umso mehr genossen sie nun die ersten warmen Sonnenstrahlen.
»Kannst du glauben, dass wir uns bereits mehr als unser halbes Leben kennen?«, fragte Margot.
Lieselotte lächelte und dachte an ihre erste Begegnung zurück. Sie hatte bitterlich geweint, als ihre Eltern ihr erzählten, dass sie nach Berlin ziehen müssten. Bis heute erinnerte sie sich daran zurück, wie ihr bei der Ankunft die alten Hauseingänge auffielen, und die Kinder, die auf der Straße spielten. Ihr war alles sehr trist vorgekommen.
»Verrückt, dass das Schicksal oder besser gesagt das Ende des Krieges uns damals genau in eure Straße geführt hat.« Lieselotte reckte ihr Gesicht wieder in die Sonne und schloss die Augen.
»Ich weiß noch, wie ich dich das erste Mal gesehen habe. Du hattest Lumpen und kaputte Schuhe an. Dein Gesicht war schmutzig, und du hattest eine Puppe fest im Arm.« Margot war in Prenzlauer Berg, einem Arbeiter- und Wohnviertel im Osten Berlins, geboren und aufgewachsen. Sie meinte immer, sie lebe gern dort, und obwohl viele Kinder auf der Straße gemeinsam spielten, sei sie sehr froh gewesen, als Lieselotte dazukam. Vom ersten Tag an hätte sie gewusst, dass eine besondere Freundschaft sie verband.
Lieselotte erinnerte sich wieder. »Und du hast dagestanden, mich angelächelt und mich gefragt, wie meine Puppe heißt.«
»Ich konnte nicht anders. Du hast mir so leidgetan, und ich hatte noch nie ein so hübsches Gesicht gesehen. Deine blauen Augen haben einfach geleuchtet. Egal, wie schmutzig du aussahst und wie schäbig deine Sachen waren. Deine Ausstrahlung hat mich sofort in den Bann gezogen. Und dann haben unsere Mütter darum gebeten, dass wir in eine Klasse kommen, weil wir uns so gut verstanden haben.«
»Aber deine Eltern haben auch gleich damit gedroht, alles rückgängig zu machen, sollte die Schule darunter leiden«, sagte Lieselotte und knuffte ihre Freundin in die Seite. »Ich finde, du übertreibst immer, was mein Aussehen angeht«, bemerkte sie und drehte sich gedankenverloren eine Locke ins blonde Haar.
»Tu ich nicht, Lotte. Bis heute bist du die schönste Frau, die ich kenne.«
Lieselotte mochte ihren Namen nicht, weshalb sie fast alle nur Lotte nannten. Sie zog die Nase kraus. »Ich sehe ganz in Ordnung aus«, sagte sie und lachte. Sie erinnerte sich an die ersten Tage in der neuen Wohnung und dass sie Angst gehabt hatte, aber das dunkelhaarige Mädchen, dem sie dann begegnet war, hatte ihr die Angst sofort genommen. »Du warst mein Fels damals. Ohne dich wäre alles viel schwerer gewesen. Du hast mich in der Schule an die Hand genommen und nicht mehr losgelassen.«
»Du siehst nicht nur gut aus, du bist auch die beste Freundin auf der ganzen Welt, und deine Hand lass ich auch jetzt nie mehr los.« Margot nahm Lottes Hand und drückte sie.
»Und du bist meine beste Freundin.« Lotte legte den Arm um sie.
»Ach, ich habe da was.« Margot beugte sich vor, griff nach dem Beutel, der zwischen ihren Beinen an der Mauer lehnte, und holte eine Zeitschrift heraus.
»Gib her!« Lotte riss ihr das Magazin aus der Hand.
Seit jeher war das eines ihre Lieblingsbeschäftigungen. Sie blätterten in Magazinen für Mode und waren fasziniert von den Mannequins, den Waren und Reklameslogans darin.
Lotte betrachtete die Mannequins und die Kleider ganz genau, studierte die Gesichter und die Mimik der Frauen. Später würde sie sich vor den Spiegel in ihrem Zimmer stellen und versuchen, die Posen möglichst genau nachzuahmen. Sie träumte davon, einmal in so schönen Kleidern vor der Kamera zu stehen.
Margot dagegen interessierte sich mehr für die Texte, die Farben und Anordnung einer Reklame. So konnten die Freundinnen stundenlang sitzen und sich begeistert austauschen.
»Und da haben wir wieder den Beweis«, bemerkte Margot, als sie die Zeitschrift durchgeblättert hatten.
»Wofür?«
»Dafür, dass du die hübscheste Frau bist, die ich kenne.« Sie hielt die Zeitschrift in die Luft. »Keine Frau hier drin sieht so gut aus wie du.«
»Ach, Margi, du musst das sagen, du bist meine Freundin, und streng genommen bin ich noch keine Frau, sondern ein Mädchen.«
»Eine Freundin muss die Wahrheit sagen, und das tue ich, Mädchen oder Frau, ganz egal. Wer weiß, wie hübsch du noch wirst.«
Lotte gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Du bist die Beste.«
»Ich stelle mir gerade vor, dass wir zwei einmal Reklame machen. Du als Mannequin, und ich schreibe die Texte dazu.« Margot hatte nie Ambitionen gehabt, vor der Kamera zu stehen, sie war mehr der kreative Kopf. Sich alles auszudenken und zu planen, wie die Werbung am Ende aussehen sollte, fand sie spannend. Oft waren ihr die Texte zu langweilig, oder sie sprachen nicht die richtigen Leute an. Sie blickte verträumt zum Horizont. »Ja, das wäre es.«
Lotte zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, aber wenn es jemand schafft, dann wir.«
»Wir müssen uns versprechen, hier und jetzt, dass wir immer füreinander da sind und uns unterstützen, dass wir unsere Träume verfolgen werden, komme was wolle.«
»Versprochen, für immer und ewig.«
Sie verhakten ihre Zeigefinger und schlossen die Augen.
In all den Jahren waren sie füreinander da gewesen. Sie konnten über alles sprechen, ganz egal, ob es um Jungs oder ihre Familien oder Sorgen ging. Jede hatte ihre ganz eigenen Vorstellungen, wie ihr Leben einmal aussehen sollte, aber sie stellten sich vor, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten.
Sie machten die Augen wieder auf. Margot lächelte und nickte. Gedankenverloren blickten die Freundinnen in den Himmel.
»Wie hieß sie eigentlich noch mal?«, fragte Margot plötzlich und runzelte die Stirn.
»Von wem sprichst du?«
»Von deiner Puppe.«
Lotte lächelte. »Sie hieß Lilli.«
Kapitel 1
Berlin 1961
Margot saß auf dem Teppich in ihrem Zimmer und zeichnete. Um sie herum waren Modezeitschriften auf dem Boden verteilt, im Radio liefen die Blue Diamonds. Sie hatte die Schule abgeschlossen, in ein paar Wochen würde sie anfangen zu arbeiten. Den letzten freien Sommer wollte sie noch einmal genießen, bevor der Ernst des Lebens begann, wie ihr Vater zu sagen pflegte. Das Leben war auch jetzt bereits anstrengend, dachte Margot. Sie freute sich darauf, nicht mehr die Schulbank drücken zu müssen, sondern endlich arbeiten gehen zu können und ihr eigenes Geld zu haben.
Wie jeden Tag in den Ferien war Lotte gekommen. Sie lag bäuchlings auf dem Bett, blätterte in einem Magazin und wippte im Takt der Musik mit den angewinkelten Beinen. »Das ist hübsch, oder?« Sie hielt das Magazin in Margots Richtung.
»Ja, das sieht super aus«, bestätigte die Freundin und konzentrierte sich gleich wieder auf ihre Zeichnung. Sie machte ein paar Notizen an den Rand, dann stand sie auf und lief zu Lotte ans Bett.
»Schau mal, was ich mir überlegt habe.«
Lotte setzte sich auf. »Mann, du hast wirklich Talent«, bemerkte sie, als sie die Zeichnung sah.
»Danke«, sagte Margot stolz.
»Komm, wir versuchen, das nachzustellen«, schlug Lotte vor.
»Meinst du?«, fragte Margot und blickte skeptisch auf ihre Zeichnung. »Haben wir alles da?«
»Egal, wir improvisieren ein bisschen.«
Margot lachte. »Na dann los!«
Beide kramten in den Schränken, suchten nach den passenden Kleidungstücken und tanzten dabei zur Radiomusik auf der Stelle.
»Und, wie sehe ich aus?«, fragte Lotte, als sie schließlich alles gefunden hatten und sie sich umgezogen hatte.
»Warte.« Margot schob ihren Bleistift hinter das Ohr, ging zu ihrer Freundin und zupfte das Shirt zurecht, das Lotte in den langen blauen Rock gesteckt hatte. Sie hielt ihre Zeichnung neben Lotte und nickte zufrieden. »Das sollte nicht so straff sein, das muss locker sitzen. Sieh hier!« Sie deutete auf die Frauensilhouette, die sie gezeichnet hatte, und tippte mit dem Bleistift darauf. »Jetzt noch der Hut, setz ihn so auf.« Sie reichte Lotte den Hut und betrachtete ihre Freundin mit schief gelegtem Kopf.
Neben den Zeitschriften lagen überall Kleidung und Zeichnungen von Frauen auf dem Boden. Seit sie sich kannten, zeichnete Margot Frauen und Kleider, und Lotte zog alles an, was sie oder die Eltern an Kleidung besaßen. Sie nähten aus Stoffresten Klamotten und spielten Mannequins. Nur dass Margot vorgab, was Lotte anziehen sollte, und dann erstellte sie oft einen Werbetext dazu.
»So?«, fragte Lotte. Sie drehte sich im Kreis und lief im Zimmer auf und ab.
»Du musst im Flur laufen, da ist mehr Platz.«
Die beiden Mädchen gingen in den Flur, und Lotte lief von vorn nach hinten und posierte am Ende.
»Sie sehen heute Lieselotte Stede in einem langen blauen Rock und einem hellblauen Nicki. Die Dame von Welt trägt das, was ihr gefällt. Nee, warte, du musst noch die Strumpfhose dazu anziehen.«
»Ich mag keine Strumpfhosen.«
»Ich weiß, aber eine Dame von Welt muss eine Strumpfhose anziehen. Sonst passt mein Text nicht.«
Lotte stöhnte. »Aber es sieht uns doch keiner. Können wir nicht so tun, als ob ich eine anhätte?«
Margot stemmte die Hände in die Hüften. »Darum geht es nicht. Los, Strumpfhose anziehen! Es muss perfekt sein.«
Lotte wusste, dass Margot ihr Spiel oft sehr ernst nahm, und tat ihr den Gefallen.
»Ach du, sei doch nicht immer so perfektionistisch«, bat Lotte und hüpfte auf einem Bein durch das Zimmer, während sie versuchte, die Strumpfhose über den linken Fuß zu bekommen.
»Was machst du denn da?« Margot lachte.
»Ich mag diese Dinger einfach nicht.« Lotte sank aufs Bett, und lachte mit. Margot warf sich neben ihre Freundin und sah mit ihr an die Decke. Sie liebte diese Nachmittage mit Lotte.
»Meinst du, ich werde mal ein richtiges Mannequin?«
»Wenn du lernst, Strumpfhosen ordentlich anzuziehen.«
»Das ist gemein.« Lotte tat, als wäre sie beleidigt. »Am liebsten würde ich mich für immer hier im Zimmer verkriechen und Mannequin spielen. Ich habe keine Lust, im Konsum eine Lehre zu machen.«
»Ich verstehe dich, aber vielleicht wird es nicht so schlimm, wie du denkst.«
Lotte drehte das Gesicht zu ihrer Freundin. »Ist das dein Ernst? Was soll daran gut werden? Ich werde mit meiner Mutter arbeiten und Konserven in Regale einsortieren.« Sie verzog das Gesicht.
»Dann hättest du dich mehr umschauen müssen, aber Lieselotte Stede dachte halt, es ergibt sich ohne ihr Zutun etwas Besseres.«
»Du hast ja recht«, stöhnte Lotte. »Du hast so ein Glück, dass du die Suche ernster genommen hast.«
Margot lächelte. »Ja, ich hoffe, es wird so toll, wie ich es mir vorstelle. Aber es war eben kein Glück, es war einfach mein Wunsch.«
»Wenn ich mich hier so umschaue, brauchst du keine Lehre mehr. Du kannst bereits alles.«
»O doch, die brauche ich. Ich will alles lernen – so richtig, nicht nur so tun.«
Lotte zog sich die Strumpfhose hoch, stand auf und hielt Margot die Hand hin. »Aufstehen! Lass uns den Lauf beenden.«
Das ließ Margot sich nicht zweimal sagen. Sofort war sie wieder der Profi, der sie glaubte zu sein, wann immer sie dieses Spiel spielten. Sie hoffte, dass sie solche Nachmittage noch oft mit Lotte erleben würde, auch wenn beide nun einen neuen Lebensabschnitt begannen.
Endlich, dachte Margot. Heute war ihre Chance.
Vor zwei Wochen hatte sie ihre Lehre in der Berliner Niederlassung der Deutschen Werbe- und Anzeigengesellschaft begonnen. Eine staatliche Agentur, die für Werbung und öffentliche Plakate verschiedenster Art zuständig war. Sie hatte schon viele solcher Plakate in der Stadt gesehen, umso mehr freute sie sich jetzt, wenn sie eines sah. Sie schaute noch genauer hin und überlegte, was sie besser oder anders machen würde.
Am ersten Tag hatte sie vor dem grauen großen Gebäude mit den vielen Fenstern gestanden. Die fünf Buchstaben DEWAG zwischen den Fenstern waren bereits von Weitem zu sehen. Sie war so aufgeregt gewesen, dass sie kaum geschlafen hatte. Man hatte sie herumgeführt, und sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie in einem Büro fünf Männer sah, die um einen großen Tisch standen und angeregt diskutierten. Darauf hatte sie sich gefreut, doch sie musste schnell feststellen, dass sie nur für Schreibarbeiten eingeteilt war. Und wenn sie das Glück hatte – und das war erst einmal vorgekommen –, dass sie mitschrieb, wenn Kollegen einen Auftrag bearbeiteten, musste sie sich auf die Zunge beißen. Sie hatte es bei diesem einen Mal gewagt, eine Idee einzuwerfen. Man hatte sie angestarrt, als hätte sie einen Mord begangen, und ihr dann unmissverständlich klargemacht, dass auf ihre Meinung keinen Wert gelegt wurde. Seitdem war sie vorsichtig, und ihre anfängliche Euphorie für die Arbeit hatte einen gehörigen Dämpfer bekommen.
Heute war sie allerdings zum ersten Mal, seit sie ihre Stelle begonnen hatte, in eine Besprechung gerufen worden. Sie wusste, dass sie nicht ausgewählt worden war, weil man sie bisher in irgendeiner Form positiv wahrgenommen hatte, es lag schlicht an der Tatsache, dass die Chefsekretärin Angelika Dobrink heute krank war. Wenn diese wüsste, dass Margot ihre Vertretung war, dann würde sie kochen vor Wut, und diese Tatsache wiederum ließ Margots Herz schneller schlagen. Denn Frau Dobrink war eine biestige Person, die sie ständig spüren ließ, dass sie nicht viel von ihr hielt. Sie hielt im Allgemeinen wenig von anderen und war der Meinung, dass nur sie alles richtig machen konnte. Dabei kannte sie Margot nicht einmal, behauptete aber, sie sei ein junges unwissendes Mädchen. Sicherlich war sie noch jung, aber nicht unwissend, wenn es um Reklame ging. Sie hoffte, dass sie ihr irgendwann beweisen konnte, was in ihr steckte. Sie wollte alles lernen, was mit Reklame zu tun hatte, aber im Moment tippte sie nur langweilige Texte ab. Sobald es Texte waren, in denen es um Reklame ging, versuchte sie, sich alles zu merken. Las alles, was sie zwischen die Finger bekam. Sie musste einfach jede Chance nutzen, die sich ihr bot, und als gefragt wurde, wer den Termin anstelle von Frau Dobrink übernehmen könnte, war sie aufgesprungen und hatte »Ich!« gerufen.
Überpünktlich betrat sie vor allen anderen den Raum und setzte sich auf den für sie vorgesehenen Stuhl. Akribisch legte sie ihre Stifte vor sich ab. Sie hatte drei Stifte mitgenommen, falls einer den Geist aufgab. Sie strich das Papier und ihren Rock mehrmals glatt und setzte sich bequem hin. Sie hatte noch fünfzehn Minuten Zeit, bis die Besprechung losging. Sie fragte sich, ob es besser war, wenn sie den Stift bereits in der Hand hielt, und nahm ihn auf. Vielleicht wirkte das aber zu eifrig. Sie legte ihn wieder in die Reihe zu den anderen, es gab noch nichts zu schreiben, also war es einerlei. Dann schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Musste sie bereits etwas aufschreiben, sobald alle hereingekommen waren? Gab man ihr ein Zeichen, wenn sie etwas notieren sollte? Sie würde einfach alles mitschreiben, nur für den Fall. Kürzen konnte man immer noch. Sie nickte bestätigend. Erwartungsvoll blickte sie zur Tür und wurde immer nervöser. Was war, wenn sie mal auf Toilette musste? Schließlich konnte sie nicht einfach aufstehen. Am besten ginge sie noch mal, nur um sicher zu sein. Sie stand gerade auf, als der Erste den Raum betrat. Also setzte Margot sich wieder hin.
Der große Mann nahm ihr gegenüber Platz und legte seine Zettel vor sich. Er hatte dunkelblondes Haar und trug eine Anzughose und einen senfgelben Pullover. Er lächelte sie an.
»Hallo, darf ich mir einen Ihrer Stifte ausleihen? Ich habe meinen leider vergessen.« Er deutete auf ihre ordentliche Reihe.
»Bedauere. Nein!«
»Nein?«, fragte der Fremde verwirrt.
»Also eigentlich schon, aber ich brauche sie zum Schreiben.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Im Grunde wollte ich genau das auch damit tun – den Stift zum Schreiben gebrauchen. Ich dachte, das macht man so mit Stiften, und da Sie drei vor sich liegen haben …« Er zuckte mit den Achseln.
»Ja, stimmt, Sie haben recht, aber ich muss mitschreiben, und wenn einer nicht mehr funktioniert, dann habe ich Ersatz.«
Der Mann grinste nun. »Nervös? Sie sind neu, oder?«
Er hatte ein schönes Lächeln. Er war durchaus ein gut aussehender Mann. Er war nicht besonders alt, aber definitiv älter als sie selbst. »Ja, Margot Toles, die neue Facharbeiterin in der Schreibtechnik. In Ausbildung.«
»Freut mich. Lafersky, Texter und Graphiker. Ich denke, zwei Stifte werden reichen, nicht wahr?«
»Ja, vermutlich haben Sie recht.« Margot reichte ihm zögerlich einen über den Tisch. Auch wenn er recht hatte, war ihr unwohl dabei. Es lag im Bereich des Möglichen, dass beide nicht mehr funktionierten, und dann geriete sie in Schwierigkeiten.
Er nahm den Stift, und Margot bemerkte seine schlanken Hände.
»Vielen Dank.« Er testete ihn auf seinem Block. »Der Stift schreibt nicht.«
»Oh, eigentlich hatte ich sie vorher ausprobiert.« Margot blickte nervös auf die beiden verbliebenen Stifte.
»Natürlich haben Sie das vorher gemacht. Schon gut, das war ein Scherz.« Der Mann schüttelte belustigt den Kopf
»Ach so«, sagte sie, aber fand es unverschämt, dass er sich über ihre Unsicherheit lustig machte. Es war ihr erster richtiger Auftrag, der nichts mit Sortieren, Abtippen oder Kaffee kochen zu tun hatte. In den letzten Wochen war ihr klar geworden, dass sie unter der Chefsekretärin Frau Dobrink so schnell keine wichtigen Aufgaben bekommen würde. Umso wichtiger war das jetzt hier. Sie wollte alles richtig machen und in Erinnerung bleiben. Sie beobachtete ihn unauffällig, wie er sich geschäftig ein paar Notizen machte. Margot überlegte, ob sie sich auch Notizen machen sollte, aber sie wusste nicht welche. Sie schrieb das Datum des heutigen Tages in die Ecke, aber dann wusste sie nichts weiter zu schreiben.
Der Mann blickte wieder hoch, lächelte, und sie blickte schnell wieder auf ihr Blatt und überschrieb das Datum noch einmal.
Dann kamen weitere drei Männer lachend in den Raum. Sie unterhielten sich laut miteinander und setzten sich auf die freien Stühle.
»Na, Tim, wieder der Erste?«, fragte ein Mann, der sich neben ihre neue Bekanntschaft setzte.
Tim ist also sein Name, dachte Margot.
»Nein, ich war nicht der Erste«, sagte er und zwinkerte Margot zu.
Der andere Mann folgte seinem Blick und schaute verwirrt.
»Kennst du die?«
»Ja, seit heute. Sie hat mir einen Stift geliehen.« Tim hielt den Stift wie eine Trophäe in die Luft und lächelte.
Margot merkte, wie sie errötete, und ihn schien ihre peinliche Verlegenheit auch noch zu amüsieren. Schnell blickte sie wieder auf ihr Blatt. Sie musste sich konzentrieren. Dass er immer wieder zu ihr schaute und lächelte, brachte sie durcheinander, und dass der Kollege neben ihm sie ohne Grund finster anschaute, ebenfalls.
Dann betrat Herr Töpfer, der Chef der Niederlassung, den Raum, und das Gemurmel, das aufgekommen war, erstarb.
»Ich begrüße Sie, meine Damen und Herren«, begann Töpfer, bevor er sich setzte.
Margot hörte ihrem Chef zu, der kurz nachdem er sich gesetzt hatte, wieder aufstand und im Raum auf und ab lief, weshalb viele Köpfe hin und her gingen. Margot protokollierte alles, was er sagte, haarklein. Herr Töpfer war damals bei ihrem Einstellungsgespräch auch dabei gewesen, aber da hatte sie kaum etwas mitbekommen. Erst jetzt nahm sie ihn genauer wahr. Er war kleiner als sie, und er hatte seine wenigen Haare von einer Seite über seine kahle Mitte gekämmt. Sie schätzte ihn auf fünfzig. Sein weißes Hemd spannte so sehr am Bauch, dass Margot fürchtete, die Knöpfe könnten jeden Moment abspringen und durch den Raum fliegen. Sie musste kichern. Schnell wendete sie den Blick ab und versuchte sich zu konzentrieren. Sie war noch nicht besonders schnell im Mitschreiben und konnte sich nicht erlauben, etwas zu verpassen.
»Alle Zeichen stehen auf Wachstum. Wie Sie alle wissen, brauchen wir noch ein wenig, um alles in Gang zu bringen. Aber die Bürger der DDR sind bereit, wieder Geld auszugeben. Die Produkte, die wir bewerben, sollen nicht helfen, sie zu verkaufen, vielmehr geht es darum, den Bürgern in anschaulicher Weise die Erfolge unserer Industrie, unserer Landwirtschaft und unseres Handels in Bezug auf Warenproduktion und Qualitätssteigerung zu demonstrieren.«
Margot war verwirrt. War Werbung nicht dafür da, Produkte zu verkaufen? »Herr Töpfer, mein Name ist Margot Toles, und ich frage mich gerade, warum …«
Herr Töpfer blieb abrupt stehen und sah sie irritiert an. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie die Person sind, die das Protokoll schreiben soll?« Er betonte die Wörter »schreiben soll«.
Margot nickte.
»Wie kommt es dann, dass Sie sich anmaßen, Fragen zu stellen?«
»Ich dachte, also ich habe mich gefragt, weshalb die Werbung nicht auf das Verkaufen der Produkte ausgerichtet ist?«
Herr Töpfer trat auf sie zu. »Sie sollen nicht denken oder Fragen stellen, sondern Protokoll führen. Und im Übrigen würden Sie nicht fragen, wenn Sie unseren Leitfaden kennen würden. Kennen Sie unseren Leitfaden?«
»Nein«, stammelte sie, schockiert über diesen Ausbruch.
Er tippte mit seinem Finger hart auf ihr Papier. Seine Wangen wurden rot. »Niemand hat Sie nach Ihrer Meinung gefragt. In Zukunft machen Sie das, wofür Sie bezahlt werden, Mädchen. Ist das klar?«
Die Blicke aller Anwesenden waren auf Margot gerichtet, und die meisten grinsten hämisch. Nur der Blick des Mannes mit ihrem Stift wirkte mitleidig. Margot hörte, wie er seinem Kollegen »Das ist nicht lustig« zuraunte.
Margot nahm ein leichtes Schulterzucken wahr und blickte dann wieder auf ihr Blatt. Sie konnte nicht glauben, dass das gerade passierte. Was hatte sie denn verbrochen? Sie hatte eine Frage gestellt. Eine Frage, die sie ernsthaft interessiert hatte.
Herr Töpfer begab sich wieder nach vorn und redete weiter, als wäre nichts gewesen.
Margot hingegen saß der Schock noch in den Knochen, und sie musste ein Zittern unterdrücken. Sie setzte den Stift an und schrieb das Gehörte mit. Das Einzige, was sie jetzt noch dachte, war, dass sie hoffentlich nachher noch lesen konnte, was sie schrieb.
Als Margot nach der Besprechung wieder an ihrem Schreibtisch saß, fragte sie sich, warum heute alles schiefgelaufen war, was nur schieflaufen konnte. Warum durfte man keine Fragen stellen? Ihr war ja klar, dass die Vorgaben gesteuert waren, aber wie der Töpfer reagiert hatte, war trotzdem demütigend. Irgendwie hatte sie sich die Arbeit anders vorgestellt. Was sie tun musste, war oft eintönig und langweilig und gar nicht so aufregend, wie sie geglaubt hatte. Andererseits war sie noch nicht lange da und in der Lehre. Sie musste Geduld haben, und das wusste sie auch, aber trotzdem konnte sie ihre Enttäuschung nicht verbergen.
Margot blickte auf ihre Mitschrift, die sie jetzt abtippen wollte, und bemerkte, dass sie den Namen Tim ungefähr fünfmal, während sie in Gedanken war, auf das Blatt gekritzelt hatte. Hastig strich sie die Namen durch, konnte sich ein Schmunzeln jedoch nicht verkneifen. Plötzlich entdeckte sie auf dem Fensterbrett eine Taube, die genau vor dem Fenster gelandet war. Sie blickten sich gegenseitig an.
»Aufgeben ist keine Option, richtig?«
Die Taube pickte, ohne etwas zu finden, und blickte sie wieder an. Eine Minute rührten sich beide nicht. Dann pickte die Taube noch einmal und hatte ein Korn im Schnabel. Sie sah Margot erneut an und flog dann davon.
»Ja, du hast recht, ich muss nur durchhalten.«
Lustlos saß Margot auf ihrem Bett, hörte Radio und blätterte in einer Modezeitschrift. Bisher konnte sie sich immer dafür begeistern. Sie hatte viele Hefte und schaute sich auch immer mal wieder ältere Ausgaben an. Oft waren sie mit handschriftlichen Notizen ihrerseits bekritzelt. Immer da, wo sie fand, dass der Text besser wurde, wenn man etwas anders schrieb. Es kam vor, dass sie Monate später noch eine andere Idee hatte und ihre alte Idee wieder durchstrich und die neue vermerkte. Sie liebte es, Texte zu verfassen und erfand zu alltäglichen Dingen nicht selten eine Formulierung. Ihre Eltern waren oft genervt von ihren Reimen und konnten dem Ganzen nichts abgewinnen. Irgendwie war alles so schwer geworden.
Margot dachte an den letzten Sommer zurück. Wie glücklich Lotte und sie gewesen waren, nachdem sie die Schule endlich hinter sich gelassen hatten. Sie trafen sich fast jeden Tag und genossen ihre letzten Ferien.
»Lotte, ich bin so aufgeregt. Ich darf bei der DEWAG arbeiten.« Wie jedes Mal, wenn sie das sagte, verfielen beide in ein freudiges Kreischen.
»Und ich darf im Konsum mit meiner Mutter arbeiten«, rief Lotte. Wieder kreischten beide und bekamen dann einen Lachanfall. Denn natürlich war es nicht Lottes Traum, im Konsum zu arbeiten, aber sie hatte dem Wunsch ihrer Eltern fürs Erste nachgegeben und war ehrlicherweise auch nicht weiter auf die Suche gegangen. Sie hatte keine Idee, was sie machen wollte, außer einmal Mannequin zu sein.
Margot wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte ernst: »Ach, Lotte, du wirst auch noch das machen, wozu du bestimmt bist.«
Für Lotte war die Arbeit im Konsum ein notwendiges Übel, um ein wenig Geld zu verdienen und eine Ausbildung in der Tasche zu haben. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schon gut. Es hätte mich schlimmer treffen können. Meine Zeit kommt noch. Ich freue mich so sehr für dich, dass es für uns beide reicht.«
»Margot, wir sind zurück«, hörte sie ihre Mutter rufen und wurde aus ihrer Erinnerung gerissen.
Wie immer ging ihre Mutter direkt in die Küche und bereitete das Abendessen zu. Ihr Vater setzte sich in den Sessel und las die Zeitung, und im nächsten Augenblick würde sie Margot rufen, damit sie ihr half.
»Eins, zwei, drei«, zählte sie leise vor sich hin.
»Margot, kommst du bitte helfen.«
Margot musste unwillkürlich lächeln.
»Komme.« Sie zögerte es wie immer ein wenig heraus, um möglichst wenig helfen zu müssen.
Kapitel 2
Lotte hatte ihre Lehre im Konsum begonnen. Es war eine schöne Arbeit in den Ferien, um sich etwas dazuzuverdienen, aber jetzt, wo sie jeden Tag im Konsum stand, war es anders. Doch sie wusste, dass ihre Arbeit wichtig war, schließlich wurden hier Waren des täglichen Bedarfs angeboten, und sie konnte sich selbst die besten Sachen raussuchen, bevor sie ausverkauft waren. Die Warenengpässe waren noch immer groß, und es gab Dinge, die kamen rein und waren in weniger als drei Stunden ausverkauft, da war es gut, an der Quelle zu sein. Sie war wichtig, viele versuchten sich gut mit ihr zu stellen, um über sie an gefragte Dinge zu kommen. Die Gespräche mit manchen Kunden raubten Lotte den letzten Nerv, und sie musste viel Geduld und Verständnis für die Menschen aufbringen. Doch am meisten war sie genervt von den Prinzipien und strikten Arbeitsanweisungen. Die staatliche Kontrolle war groß.
Sie stand bereits seit acht Uhr im kleinen Konsum und füllte die Regale auf. Sie trug eine Schürze, die himmelschreiend hässlich war, und hatte ihre langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Über die Schürze hatte sie ewig diskutiert und versucht, sie anders zu tragen, damit sie besser aussah, aber die Vorgaben waren streng, und vor allem war ihre Mutter streng. Die Arbeit war in Ordnung, aber nicht das, was sie ihr Leben lang machen wollte. Sie liebte die Gespräche mit älteren Damen, sie waren immer nett. Neuerdings kamen auch einige Herren zum Einkaufen, die das früher ihren Frauen überlassen hatten. Außerdem brachte die Arbeit Geld, und das konnten sie und ihre Familie gut gebrauchen. Ihr Vater war krank, seit sie denken konnte, daher war ihre Mutter die Alleinverdienerin der Familie. Sie arbeitete auch in dem kleinen Laden und hatte Lotte überzeugt, hier ihre Lehre zu machen. Da Lotte nach der Schule nicht wirklich gewusst hatte, was sie machen wollte, machte sie das, wo sie keinen Aufwand hatte. Margot war anders, die wusste, was sie wollte und hatte auch etwas dafür getan. Darum beneidete sie sie sehr.
Alles war eingeräumt, heute war nicht viel Ware angekommen. Da gerade keine Kunden da waren und sie keine Lust auf Putzen hatte, genoss Lotte die Ruhe im hinteren Teil des Ladens. Sie hatte eine Zeitschrift dabei und blätterte darin, als die Eingangsglocke bimmelte. Sie wischte sich die schmutzigen Hände an ihrer Schürze ab und ging in den Kassenbereich, um zu sehen, ob ihre Hilfe gebraucht wurde.
»Margot«, rief sie, als sie ihre Freundin erblickte. »Was machst du denn hier?«
»Wir sehen uns gerade nur noch so selten, da dachte ich, ich komme nach der Arbeit im Laden vorbei.«
Lotte schlang die Arme um sie. »Du siehst gut aus, richtig seriös und wichtig.« Sie hielt ihre Freundin bei den Händen und strahlte.
Margot hatte noch den Bleistiftrock und die Bluse an, die sie während ihrer Arbeit bei der DEWAG trug.
»Ich sehe nur so aus. Wichtig bin ich wohl nicht. Du siehst aber auch gut aus – wie immer.«
»Ach, ich bin ganz schmutzig, und schau nur diese hässliche Schürze.« Lotte steckte sich eine lose Haarsträhne hinter das Ohr. »Ich habe gleich Feierabend. Hast du noch Zeit? Wir könnten spazieren gehen, und du erzählst mir, was so los ist in der Welt der Reklame.«
»Ja, klar, ich warte. Ich glaube, ich muss auch ein wenig Dampf ablassen. Die letzten Tage waren echt anstrengend.«
Die verbliebenen dreißig Minuten bis zum Feierabend räumten die beiden Freundinnen gemeinsam den Laden für den nächsten Tag auf.
Eingehakt spazierten sie in ihrem Lieblingspark. Das hatten sie früher fast jeden Tag getan, aber seit sie beide arbeiteten, fanden sie kaum noch Zeit dafür.
»Und nun erzähl, was ist los bei dir?«, fragte Lotte.
»Ich habe mir das Ganze anders vorgestellt. Ich dachte, ich könnte mich vielleicht irgendwo einbringen.«
»Aber du bist doch erst seit Kurzem da. Warte es ab, wenn die erst mal sehen, was du alles kannst.«
»Mhm, ich glaube, so ist das leider nicht. Was ich bisher so mitbekommen habe, ist die DEWAG mehr wie eine Kommandozentrale. Fast alle Ideen der Auftraggeber werden abgelehnt oder so verändert, dass es mit der Grundidee nichts mehr zu tun hat. Die Betriebe zahlen auch eine Menge Geld für Filme oder Plakate, die sie vielleicht so nicht wollen, aber um überhaupt Werbung zu bekommen, nehmen sie es dann hin. Ich war schon bei ein, zwei Besprechungen dabei, und irgendwie ging es immer darum, dass die Auftraggeber einlenken.«
»Echt?«
»Meine Aufgaben haben auch nichts damit zu tun. Ich bin wirklich nur eine Schreibkraft, und so wie ich das bisher erlebe, wird sich daran nichts ändern. Frauen werden für die kreative Seite nicht wahrgenommen, und ich glaube, die Männer da wollen das auch nicht anders. Und dann noch diese Frau Dobrink, die Chefsekretärin, die ist wirklich ein Drachen und lässt mich am liebsten nur Kaffee kochen. Eigentlich soll sie mir alles zeigen und beibringen, aber das tut sie nicht. Sie gibt mir ständig nur Aufgaben, auf die sie keine Lust hat. Aber vielleicht ist das immer so in der Lehre.« Margot seufzte.
»Das klingt nicht gerade spannend, aber lass dich nicht unterkriegen. Deine Zeit kommt noch. Ich habe auch das Gefühl, ich verrichte nur Arbeiten, die keiner machen will. Staub wischen und Fenster putzen. An die Kasse darf ich nur selten, obwohl das nicht schwer ist.«
»Ach, Lotte, ich hoffe, du hast recht. Sonst halte ich nicht bis zum Ende der Lehre durch.«
»Bleib stark, es wird bestimmt besser«, meinte Lotte.
»Jetzt beneide ich dich fast um deine Arbeit im Laden.«
»Gib’s zu, du willst diese Schürze!«, sagte Lotte lachend.
»Die würde mir bestimmt ganz wunderbar stehen. Jetzt habe ich dir die Ohren vollgejammert, aber wie geht es dir?«
»Es geht mir gut. Ich sehe die Arbeit beim Konsum als eine Etappe im Leben. Ich weiß, dass ich irgendwann etwas machen werde, wofür ich brenne.«
Der Nachmittag mit ihrer Freundin hatte Lotte gutgetan. Sie hatten viel zu wenig Zeit, und sie vermisste die Tage der Unbeschwertheit.
Sie schloss die Wohnung auf und begrüßte ihren Vater. Er lag in seinem Bett, und sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Ich bin wieder da«, rief sie ihrer Mutter zu.
»O gut, das Essen ist auch fertig.«
»Super, ich habe einen Bärenhunger.«
»Wie war dein Tag? Musstest du heute länger machen?«, fragte die Mutter, als Lotte die Küche betrat, und gab ihr einen Kuss.
»Nein, alles in Ordnung. Margot hat mich heute besucht, und wir waren noch spazieren. Isst Papa nicht mit?«
»Nein, er möchte heute liegen bleiben. Die Schmerzen sind zu groß.«
Es passierte immer öfter, dass Heinz es nicht mehr schaffte, an den Tisch zu kommen. Als er aus dem Krieg zurückkehrte, war nichts mehr, wie es war. Seine Muskeln bauten immer weiter ab, und man konnte nichts tun, außer hoffen, dass es nicht weiter so schnell bergab ging. Heinz war zwar fast zehn Jahre älter als Lottes Mutter Ursula, aber mit nicht einmal fünfzig Jahren eindeutig zu jung, um so zu leben.
Ursula stellte Stullen und Jägerschnitzel auf den Tisch.
»Lecker, ich liebe Schnitzel.« Lotte strahlte.
»Dann iss, du kannst es gebrauchen!«
»Mama!«
»Was?«, fragte Ursula und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. »Es ist doch nichts dran an dir. Sei froh, dass wir keinen Krieg mehr haben und es Essen gibt.«
Lotte verdrehte die Augen. »Jetzt geht das wieder los«, murmelte sie.
»Lieselotte, das ist ein ernstes Thema, und du weißt sehr gut, dass wir hungern mussten. Das alles hier ist nicht selbstverständlich. Dein Vater war im Krieg und hatte tagelang nichts zu essen.«
»Ja, das weiß ich, weil ich das schon mein ganzes Leben lang höre. Ich nehme das auch ernst, aber ich glaube auch, dass wir mal wieder aufatmen dürfen und das Leben genießen sollten. Auch du! Du opferst dich immer für alle auf, freu dich doch mal, dass alles besser geworden ist. Ich unterstütze dich ja jetzt auch.« Sie strich ihrer Mutter über die Hand. »Mama, tu mal etwas für dich. Die Arbeit im Konsum, die Pflege von Papa, der Haushalt. Mach dir keine Gedanken um mich, ich kann für mich selbst sorgen. Ich möchte noch lange was von dir haben.«
»Mhm«, brummte Ursula. »Und trotzdem musst du mehr essen.«
»Mama, mir geht es gut. Ich esse genug.«
Essen war für Lotte ein großes Thema. Es war nicht so, dass sie hungerte, aber sie achtete schon darauf, was und wie viel sie aß.
»Das hoffe ich.«
Lotte aß alles auf, was ihre Mutter ihr aufgetan hatte, damit es ausnahmsweise einmal keine Diskussion geben würde.
»Ich bin fertig. Ich geh ins Zimmer«, sagte sie mit vollem Mund, stand auf und stellte ihren Teller neben die Spüle.
»Kannst du nicht mal warten, bis ich aufgegessen habe?«
»Keine Zeit, ich muss was erledigen.«
Lotte kramte in ihrem Zimmer ihre Modezeitschriften zusammen und suchte die besten heraus. Die meisten waren bei Margot, aber sie wollte ihre Freundin morgen überraschen. Sie hatte heute so unglücklich gewirkt. Lotte wollte sie aufmuntern und daran erinnern, warum sie Reklame und das Texten so sehr liebte.
Kapitel 3
Margot hatte die Straßenbahn verpasst und war zu spät dran. Sie hatte nur noch eine Minute, als sie das Gebäude betrat, um zu ihrem Büro zu gelangen. Sie musste sich beeilen, sonst würde Frau Dobrink ihr einen Vortrag halten, und darauf hatte sie heute Morgen gar keine Lust. In ihrer Eile prallte sie im Flur mit jemandem zusammen.
»Oh, nicht so schnell.«
Ihr Kopf war gegen die Brust eines Mannes gestoßen, so heftig, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte. Es roch sehr gut, ganz anders als das ihres Vaters, frisch und anziehend.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte der Mann.
Margot blickte ihm nun endlich ins Gesicht. »Entschuldigen Sie, ich war in Eile.« Erst jetzt erkannte sie ihn, es war der Mann aus der Besprechung, der sich einen Stift bei ihr geliehen und ihn bisher nicht zurückgegeben hatte.
»Sie sind der Mann, der sich meinen Stift ausgeliehen, ihn aber nie zurückgegeben hat und nebenbei einen meiner peinlichsten Momente miterleben durfte. Tim, richtig?« Was sagte sie denn da? Wenn sie jetzt nicht aufpasste, konnte es ein neuer peinlicher Moment werden. Immer wenn sie nervös wurde, handelte sie unüberlegt.
Tim schmunzelte. »Ja, Tim. Tim Laferski. Ich erinnere mich. Ich hatte auch nicht vor, den Stift zu behalten. Ich werde ihn nachher suchen und Ihnen wiedergeben, versprochen.«
»Nein, nein, Sie können ihn gern behalten. Eigentlich habe ich genug Stifte.« Mist, dachte Margot, was hatte sie da nun wieder gesagt. Es wurde immer peinlicher. Der Mann lächelte sie weiter an.
»Gut, dann behalte ich ihn als Erinnerung an Sie, und nehmen Sie das aus der Besprechung nicht persönlich, Fragen werden bei der DEWAG nicht so gern gesehen. Ich habe es aufgegeben, alles zu hinterfragen. Arbeitet sich so leichter.«
»Danke für den Tipp, ich werde es versuchen.«
Er zuckte entschuldigend die Schultern.
Margot winkte ab. »Sie waren der Einzige, der nicht über mich gelacht hat.«
»Weil es nicht wirklich was zu lachen gab. Wie auch immer, ich wünsche Ihnen dafür heute einen wunderschönen Tag.« Er hielt ihr seine Hand hin.
Margot griff seine Hand. »Vielen Dank, den wünsche ich Ihnen auch.«
Er wollte zum Gehen ansetzen, hielt dann jedoch abrupt inne. »Wollen wir vielleicht einen Kaffee trinken gehen als Wiedergutmachung?«, fragte er.
Plötzlich fiel Margot wieder ein, weshalb sie gerannt war. »Nein, ich muss los.«
»Dann auf Wiedersehen«, sagte er enttäuscht.
Margot war schon an ihm vorbei, als sie sich noch einmal umdrehte. »Nein, also ich wollte sagen, ich kann nur gerade nicht. Ich bin schon zu spät dran. Wie wäre es mit heute Mittag?«
Er lächelte. »Gern.«
Margot platzte ins Großraumbüro und blickte in das wütende Gesicht ihrer Chefsekretärin. Frau Dobrink hatte die Arme vor der Brust verschränkt. »Sie sind zu spät.«
Diese Frau wartete nur darauf, andere zu erwischen, und kostete den Moment dann ausgiebig aus.
»Ich weiß, und es tut mir leid. Es kommt nicht wieder vor«, erklärte Margot.
»Es darf nicht wieder vorkommen. Sie machen hier eine Lehre, und wenn Sie die nicht ernst nehmen, dann suchen wir jemand Neues.«
»Ich nehme die Lehre ernst.«
Frau Dobrink zuckte mit den Schultern. »Ich sehe, was ich sehe, aber wo wir gerade dabei sind: Ich habe mir Ihr letztes Protokoll angesehen. Es hatte ganze zehn Fehler.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch und hielt ihr das Blatt hin.
Margot nahm es entgegen und blickte darauf. Es waren nur Tippfehler. Es lag an der Schreibmaschine, einige der Buchstaben waren schwer zu drücken. Sie hatte um eine neue gebeten, aber ihre Vorgesetzte ignorierte ihre Bitte.
»Sie tippen das noch einmal ab. Fehler akzeptiere ich nicht, je mehr Übung Sie haben, desto schneller werden Sie auch. Machen wir uns nichts vor, Sie sind noch sehr langsam und ungenau. Ich kann das Schriftstück auch so annehmen, aber dann werde ich das für ihre Noten vermerken.« Sie blickte sie erwartungsvoll an.
Margot kochte vor Wut. Sie hatte schon so viele Schriftstücke in den Akten gefunden, die weitaus mehr Fehler hatten als ihre. Sie wusste mittlerweile, dass es hier nicht um das Schreiben ging. Frau Dobrink hasste sie einfach, wie sie alle jungen Frauen hasste. Zumindest musste es einem so vorkommen, wenn man sie mit anderen beobachtete. Die Chefsekretärin nutzte ihre Position aus, und das, obwohl sie selbst von den meisten Chefs nicht gut behandelt wurde. Sie schien die schlechte Behandlung geradewegs nach unten weiterzugeben. Diese Logik konnte Margot nicht nachvollziehen. Sollte man nicht aus Verständnis heraus genau anders handeln? Würde sie einmal eine Chefin sein, dann würde sie alles anders machen. Frauen sollten sich unterstützen.
Frau Dobrink hatte sich bereits an ihren Schreibtisch gesetzt und beschäftigte sich mit einem Schriftstück. Jetzt warf sie Margot über ihre Brillengläser einen Blick zu. »Ist noch was?«
Margot holte tief Luft. »Nein, es ist alles in Ordnung. Ich werde das Protokoll noch einmal abtippen, fehlerfrei.«
»Na, dann machen Sie sich an die Arbeit.«
Margot ging zu ihrem kleinen Schreibtisch, auf dem lediglich die Schreitmaschine und ein Blatt mit Notizen Platz fand.
»Und denken Sie dran, dass Sie heute acht Minuten länger machen.«
»Natürlich, Frau Dobrink.« Margot strich das Blatt wieder glatt, das sie noch einmal abtippen sollte, und begann mit der Arbeit. Das Klacken der Tasten ihrer Maschine erfüllte den Raum. Doch irgendwie konnte sie sich kaum konzentrieren, jedenfalls nicht so, wie sie es eigentlich wollte. Immer wieder musste sie an die Begegnung mit Tim denken und dass er mit ihr einen Kaffee trinken wollte. Für Margot war es der erste richtige Kontakt mit einem Kollegen aus einer anderen Abteilung. Sollten sie sich gut verstehen, konnte sie endlich die Fragen stellen, die ihr unter den Nägeln brannten. Die Aussicht auf eine Pause mit einem netten Kollegen ließen sie den Ärger mit Frau Dobrink vergessen. Bis zur Mittagspause hatte sie das Protokoll fehlerfrei abgetippt. Nicht ganz ohne Stolz ging sie an Frau Dobrinks Platz vorbei und ließ es auf ihren Schreibtisch fallen. »Ich bin in der Pause.«
Sofort beäugte die Chefsekretärin das Schriftstück kritisch.
»Machen Sie sich keine Mühe, es sind keine Fehler mehr drin.«
»Das beurteile immer noch ich!«
Margot verließ lächelnd das Büro.
Sie hatten sich entschieden, den Kaffee, den sie sich aus der Kantine geholt hatten, auf einer Bank in der Nähe zu trinken. Margot brauchte dringend frische Luft.
»Ich sage mal du, in Ordnung?«, fragte Tim.
»Ja, gern. Ich bin Margot.«
»Tim, aber das weißt du ja schon.« Er reichte ihr erneut die Hand. »Und was hat dich zu uns verschlagen?« Er nippte an seinem Kaffee. Margot war froh, dass er die Unterhaltung begann, denn sie fühlte sich ziemlich unsicher.
»Ich habe mich auf das Klicken und Klacken der Tasten gefreut.«
Tim lachte auf. »Ein netter Grund.«
»Tut mir leid, also im Ernst, meine Eltern wollten, dass ich etwas lerne, und ich wollte etwas, was mit Reklame zu tun hat. Sekretärin kam eigentlich für mich nicht infrage, und meine Eltern haben nichts mit Reklame am Hut. Dann hat mein Vater gesagt, dass er jemanden bei der DEWAG kennt. Tja, und bevor ich Sekretärin lernen muss ohne Bezug zu meinen Interessen, habe ich mich auf die Stelle beworben und wurde genommen. Ich hoffe, dass ich meine Kreativität ausleben darf, wenn ich hier fertig bin.«
»Das klingt nach einem Plan.«
»Und du? Wie bist du hergekommen?«, fragte Margot.
»Ich habe ein Jahr lang an der Kunsthochschule Weißensee studiert. Dann wurde ich wegen künstlerischer Phantasielosigkeit exmatrikuliert.« Tim lachte auf.
»So was geht? Wieso denn das?«
Er zuckte mit den Achseln. »Eine Begründung gab es nicht. Dann habe ich an der Fachschule für Werbung und Gestaltung hier in Berlin mein Studium beendet. So richtig wusste ich nicht wohin mit mir, aber ich wollte etwas Kreatives machen.«
»Das muss ein tolles Studium gewesen sein!« Wie gern hätte Margot studiert, aber ihre Eltern waren gegen ein Studium, und vermutlich hätte sie auch keinen Platz bekommen.
»Wenn du mit toll meinst, dass man die vier Leitlinien der Werbung stets parat haben muss, dann vielleicht.«
»Die vier Leitlinien?« Sie dachte an den Moment mit Herrn Töpfer zurück. Sofort lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
»Werbung muss der Parteilinie entsprechen, planbezogen und planmäßig und nicht zu vergessen wirtschaftlich sein«, leierte Tim gelangweilt runter. »Nach diesen Leitlinien arbeiten wir bei der DEWAG.« Er machte eine Pause und blickte sie an. »Hast du dir die Arbeit so vorgestellt?«
Sie blickte ihn an und legte den Kopf schief. »Ehrlich gesagt, nein! Nichts ist so, wie ich dachte, was aber nicht an dem Thema Reklame liegt. Vielmehr ist die DEWAG einschließlich Frau Dobrink das Problem.«
Er lachte auf. »Ja, die Dobrink ist fies. Und du hast recht, eigene Kreativität ist nicht sonderlich gefragt. Die Vorgaben sind sehr starr, aber man gewöhnt sich dran, und Geld verdient man auch. Momentan mache ich viel Plakatwerbung, und ab und zu schreibe ich Exposés und Texte für die Werbung.«
»Mhm. Woran arbeitest du gerade?«
»Ganz aktuell an Plakaten für das Versandhaus Leipzig. Da die Vorgaben hier sehr eindeutig sind, ist es nicht sonderlich spannend. Ansonsten arbeite ich gerade an einer Fischreklame. Das Schlimme ist, alles soll sich am besten reimen.«
»Meinst du, du kannst mir mal zeigen, was du machst?«
»Das lässt sich bestimmt einrichten.«
Margot strahlte. »Echt, das wäre super.«
»Freu dich nicht zu sehr. So spannend ist das nicht. Wir haben kaum Budget und sind den Weisungen der Partei ausgeliefert. Wie gesagt, da bleibt die Kreativität auf der Strecke.«
»Egal, ich freue mich trotzdem.«
»Und ich freue mich, wenn sich jemand für meine Arbeit interessiert.«
Margot fragte sich zum ersten Mal, wie alt Tim wohl war. Definitiv älter als sie selbst. Sie blickte ihn an. »Darf ich fragen, wie alt du bist?«
»Ich bin vierundzwanzig«, antwortete er.
Irgendwie wirkte er viel erwachsener, aber in erster Linie war er nett – und er roch gut. Margot schloss die Augen und genoss die Sonne, die ihr auf das Gesicht schien, seine Gesellschaft und seinen Duft, der ihr auch jetzt wieder dezent in die Nase stieg. Ab und zu blinzelte sie zu ihm hinüber. Tim saß ganz entspannt da, dann stellte er seine Tasse auf dem Boden zwischen seinen Beinen ab und legte seine Arme auf die Banklehne.
Sie zuckte kurz zusammen, als seine Hand ihre Schulter streifte. Die Berührung löste etwas in ihr aus, was sie nicht beschreiben konnte, ein ungewohntes Gefühl, das jedoch keineswegs unangenehm war.
»Ich muss dann mal wieder«, sagte Tim plötzlich und nahm seine Tasse wieder auf.
»Ich auch«, entgegnete Margot. »Ich muss bereits acht Minuten länger machen, wenn ich jetzt noch die Pause überziehe, wird die Dobrink wollen, dass ich hier übernachte.«
»Lass dich bloß nicht zu sehr von ihr schikanieren.«
»Ach, ich weiß mir schon zu helfen.«
»Das glaube ich gern.« Als Tim aufstand, berührte er sie noch einmal an der Schulter.
Margot war sich sicher, dass es eine ganz bewusste Geste und nicht aus Versehen war.
»Es war schön, die Pause mit dir zu verbringen«, sagte er lächelnd, als er sie an ihrer Bürotür verabschiedete.
»Fand ich auch.«
»Ach und hier.« Er hielt ihr einen Stift hin.
»Danke«, sagte sie lächelnd.
Margot saß an ihrem Schreibtisch und drehte den Stift in ihrer Hand. Tim hatte ihn gehabt, und sie hielt ihn an ihre Nase in der Hoffnung, dass er nach ihm roch. Tat er nicht, er roch einfach wie ein Stift. Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Irgendwie hatte dieser Tim ihr den Kopf verdreht. Zum Glück war heute Freitag, und sie freute sich auf das Wochenende. Wochenenden hatten allerdings immer einen Haken: Das wöchentliche gemeinsame Abendessen mit ihren Eltern und ihrer Schwester samt Familie am Sonntag. Nach dem Auszug von Edith aß jeder, wann er wollte, aber auf diesen einen Tag in der Woche bestand ihre Mutter.
Noch vier Stunden, dann hatte sie es geschafft. Sie blickte auf den Stapel mit Schriftstücken, die sie noch abtippen musste. Frau Dobrink, der Drache, hatte ihr wieder zusätzliche Arbeit hingelegt. Man konnte es nicht schaffen, egal, wie fleißig man war. Manchmal hatte Margot das Gefühl, sie legte ihr irgendwas zum Abtippen hin, was kein Mensch brauchte. Einmal hatte sie die Chefsekretärin dabei beobachtet, wie sie eine frische Arbeit von ihr ungelesen in den Papierkorb warf.
Margot ergriff das oberste Blatt vom Stapel und nahm sich vor, extra schnell und gut zu arbeiten.
Als Margot die Tür zu Hause aufschloss, war ihre Mutter dabei, die obligatorische Kanne Tee zu kochen. Der Wasserkessel pfiff. Margot betrat die Küche und fing an, den Tisch zu decken. Früher hatten sie zu viert am Esstisch gesessen, aber ihre Schwester Edith war bereits mit ihrem Mann zusammengezogen, ihr zweites Kind war unterwegs. Jetzt lag die volle Aufmerksamkeit auf Margot, und es gab Tage, da nervte es so sehr, dass sie sich ihre Schwester zurückwünschte, was wirklich etwas heißen sollte. Schon als Kinder hatten sie unerbittlich miteinander konkurriert, woran ihre Eltern nicht ganz unschuldig waren. Vor allem ihre Mutter hatte Edith und sie permanent miteinander verglichen, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein konnten und jede von ihnen ihre eigenen Interessen und Vorlieben hatte.
»Wasch dir bitte noch die Hände«, meinte ihre Mutter.
»Natürlich«, sagte Margot genervt und unterbrach das Tischdecken. »Wie alt muss ich eigentlich werden, damit du aufhörst, mich wie ein Kind zu behandeln?«
»Nun übertreib doch nicht gleich wieder!«, entgegnete ihre Mutter.
»Da ist ja unser Margotchen«, begrüßte ihr Vater sie.
»Hallo, Papa!« Seit sie denken konnte, hatte sie ein besseres Verhältnis zu ihm als zu ihrer Mutter. Er war entspannt und lag ihr nicht ständig mit irgendwas in den Ohren, was sie wie zu tun hatte.
Als alle saßen, tat ihre Mutter allen das Lieblingsessen des Vaters auf. Kohlroulade mit Kartoffeln und brauner Soße.
»Ich hoffe, es schmeckt«, betonte sie und begann zu essen.
»Und wie war dein Tag?«, fragte der Vater.
»Ganz passabel«, antwortete Margot. Sie wollte nicht darüber sprechen. Sie hatte es einmal versucht zu erklären, was ihr an der Lehre stank, aber ihre Eltern hatten es nicht verstanden. Arbeit war für sie eben Arbeit. Man bekam nichts geschenkt, und Spaß musste sie ohnehin nicht machen. Es war leichter, wenn ihre Eltern erzählen konnten. »Wie war euer Tag?«, fragte Margot daher zurück.
»Wie es aussieht, bekommt meine Brigade wieder die Prämie«, sagte die Mutter, als hätte sie nur auf diese Frage gewartet. Der Stolz in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen.
»Schön für dich«, sagte Margot pflichtschuldig.
»Das ist toll, Rita«, freute sich der Vater. »Wir können das Geld auch gut gebrauchen.«
»Reiner, es geht dabei nicht nur ums Geld.«
Da war es wieder, das Thema Geld, sie hatten genug zum Leben, aber nie genug, um große Sprünge zu machen, wie ihr Vater zu sagen pflegte. Er hatte es satt, doch ihre Mutter war zufrieden, wie es war.
Ihre Eltern arbeiteten beide beim VEB Kabelwerk. Ihre Mutter war Lohnbuchhalterin, und ihr Vater war als Maschinenfahrer dort angestellt. Jede Arbeitsgruppe stand in Konkurrenz zueinander, und am Ende wurde überprüft, welche Brigade die beste Leistung und Qualität brachte.
»Ich finde das nicht gut. Ich meine, dass man untereinander verglichen wird. Das schürt doch nur Unzufriedenheit«, sagte Margot.
»Ganz und gar nicht. Das ist ein Ansporn«, erklärte ihre Mutter.
»Das mag für dich und deine Brigade stimmen, wenn man immer gewinnt, aber wie ist es für die anderen und jeden Einzelnen? Stell dir vor, du ackerst wie ein Tier und am Ende gewinnt immer dieselbe Brigade. Vielleicht weil eine Brigade nicht so stark ist. Das finde ich nicht gerecht.«
»Ach, du wieder mit deinen Ansichten.«