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MAXIM VOLAND ist zurück.
Nach seinem Ausflug in „Die Republik“ widmet er sich in seinem neuen Thriller „DIE WERTLOSEN" der modernen Yakuza.
Maxim Voland ist das offene Thrillerpseudonym von SPIEGEL-Bestsellerautor Markus Heitz und steht für Krimi, Thriller und Action fernab von Phantastik.
Und darum geht’s:
Bei einem Feuergefecht krimineller Banden in Berlin-Mitte vor einem angesagten Sushirestaurant werden mehrere Unbeteiligte im Kugelhagel getötet. Unter den Opfern sind ein alter Oyabun, seines Zeichens ehemaliger Anführer und Mentor eines Yakuza-Clans, sowie ein deutscher Geschäftsmann.
Die Leute des Oyabun, die Shibuya Seidō-kai, senden daraufhin das Killerkommando „Oni“ aus Japan, mit einem eindeutigen Auftrag: Sämtliche Mörder des Oyabun sollen sterben!
Diese Nachricht versetzt die ansässigen Banden in Aufruhr – und auch die Berliner Polizei.
Der deutsche Geschäftsmann hingegen gehörte zu einem ominösen deutsch-japanischen Freundschaftsverein in Düsseldorf. Dort leben über achttausend Japanerinnen und Japaner, es existiert mit "Little Tokyo“ ein eigenes Viertel, und auch jede Menge japanischer Firmen haben sich dort niedergelassen.
Während die Ermittlerteams in Berlin und Düsseldorf fieberhaft den Spuren der Yakuza durch die Großstädte folgen, treffen die arabischen und russischen Banden martialische Vorbereitungen für die Auseinandersetzung mit den „Oni“ …
> DIE WERTLOSEN. Berlin: Tod eines Yakuza
holt die faszinierende Schattenwelt der Yakuza nach Deutschland, denn auch hier hat die japanische Mafia ihre Schaltstellen. Und sie expandiert stetig …
„4 Blocks“ trifft auf „Black Rain" , „Pflicht und Schande“ auf „Dogs of Berlin“, „John Wick“ auf „The Outsider“.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2023
Inhaltsverzeichnis
IMPRESSUM
DRAMATIS PERSONAE
BEGRIFFE DER YAKUZA & JAPANISCHE AUSDRÜCKE
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
NACHWORT
Die Wertlosen | Berlin: Tod eines Yakuza von Maxim Voland (Pseudonym)
© Markus Heitz, 2023
c/o Briefgestöber, Reindorfer Dorfstr. 1, 21244 Buchholz i. d. Nordheide
Lektorat: Hanka Leo
Korrektorat: Uwe Raum-Deinzer
® Daimon-Entwurf: Megumi Maria Loy
Umschlaggestaltung: Designomicon | Anke Koopmann, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock
Druck und Printdistribution im Auftrag des Autors: tolino media GmbH & Co. KG, Albrechtstr. 14, 80636 München
Als E-Book mit anderem Cover erhältlich.
Rechteanfragen: AVA International, Hohenzollernstr. 38 Rgb, 80801 München, [email protected]
Fiktionshinweis:
Sämtliche in dem Roman vorkommende Figuren sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, Ereignissen und Vorkommnissen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Frei erfunden sind außerdem die Yakuza-Gruppe Shibuya Seidō-kai, deren Emblem (Daimon) und der Karatestil Kidō.
Mehr Informationen zu SPIEGEL-Bestsellerautor Markus Heitz und seinem Crime-Pseudonym Maxim Voland unter www.mahet.de.
Dort finden sich auch Informationen zu Merchandise rund um die Werke.
BERLIN
Jin Park: Inhaber des Sushi-Restaurants Miyajima
Nari Park: Jins Tochter und Geschäftsführerin des Miyajima
Patrick Schwarz: Sushi-Meister im Miyajima
Vadim „Väterchen Frost“ Morosow: Chef der Kompanija
Ulita „Lita“ Morosow: Vadims Frau
Zoya Morosow: Vadims Tochter
Wassilii „Tobolsk“ Fomin: aufsteigendes Mitglied der Kompanija
Anton, Vladimir: Mitglieder der Kompanija
Pjotr Morosow: Vadims Cousin und Mitglied der Kompanija
Puschkin: Pjotrs Assistent
Brozinski: Musikmanager
Yasin Al Tajir: Chef des gleichnamigen Clans
Saad, Ahmad, Nour, Makram, Vahid: Clanmitglieder
Gan: Besitzer eines Spätis
Tobias Großmann: Kriminalkommissar beim LKA Berlin
Shadia Rajab: Kriminalkommissarin beim LKA Berlin
Kreuzner: Oberkommissar in Berlin-Mitte
TOKIO
Katsumi Takahashi: ehem. Oyabun der Shibuya Seidō-kai
Tadashi Tanaka: Katsumis Begleiter
Akeno Sato: Mitglied der Shibuya Seidō-kai und Anführer der Oni
Shin, Hideo, Ryu, Ginzou, Yūki: Mitglieder der Shibuya Seidō-kai und Oni
Naoto Itō, Kurier der Shibuya Seidō-kai
DÜSSELDORF
Kristin Blume: Kriminalhauptkommissarin beim LKA Nordrhein-Westfalen
Miles Nuremberger: Kristins bester Freund
Tatjana Vierthaler: Oberkommissarin beim LKA Nordrhein-Westfalen
Egbert „Edgy“ Handschuh: Privatdetektiv
Alex Naoto Nakamura: Inhaber eines Geschäfts für japanische Räucherstäbchen und buddhistisches Zubehör
Arndt Ehrens & Bianca Meißner-Ehrens: Vorsitzende des deutsch-japanischen Freundschaftsvereins Kiku und Inhaber des Import-Export-Unternehmens Daria
Hiroki Watanabe: Ex-Yakuza
Hopp, Weilerstätt: Streifenpolizisten
Thijs „Rutger“ Visser, Luuk „Floris“ Bakker: Auftragskiller
Jennifer „Keiko“ Milch: Gelegenheitsprostituierte
Murakami: Yakuza
Anego/Anesan: Bezeichnung für die Frau des Oyabun; wörtliche Bedeutung: ältere Schwester
Aniki: Anrede für den Vorgesetzten oder Dienstälteren; wörtliche Bedeutung: älterer Bruder
Bakaga: Beschimpfung; wörtliche Bedeutung: Idiot
Bakuto: Glücksspieler, traditionelle Gewerbeform der Yakuza
Bōryokudan: die offizielle japanische Behördenbezeichnung für die Yakuza; wörtliche Bedeutung: gewalttätige Gruppe
Chinpira: Schlägertypen
Daimon: Bandenemblem
Dōgu: Slangwort, Yakuza-Ausdruck für Waffe; wörtliche Bedeutung: Werkzeug
Dojo: Kampfsport-/Kampfkunstschule
Hahaoya: Mutter
Junkōseiin: Assoziiertes, offiziell nicht verzeichnetes Mitglied einer Yakuza-Bande
Kagyōmei: Rufname in der Yakuza-Welt
Kai: Verein, Vereinigung; wird häufig an den Namen eines Syndikats angehängt
Kaichō: altern. Bezeichnung des Bosses, vgl. Oyabun, Kumichō
Kanbu: einfache Führungskräfte der Yakuza
Kanpai: Trinkspruch; wörtliche Bedeutung: zum Wohl, Prosit
Karateka: jemand, der Karate ernsthaft/als Kampfkunst betreibt
Keigo: neutrales Japanisch
Keizai Yakuza: Wirtschaftskrimineller unter den Yakuza
Kobun: Gefolgsmann
Kōseiin: offizielles Mitglied einer Yakuza-Bande, vgl. Kumiin
Kumi: Bande, Gang
Kumichō: Boss, Anführer einer Organisation
Kumiin: Alternativbezeichnung für das offizielle Mitglied einer Yakuza-Bande, vgl. Kōseiin
Kusoyarō: Beschimpfung; wörtliche Bedeutung: Arschloch
Mentsu: Slangwort, Reputation, Prestige, guter Ruf, Ansehen; wörtliche Bedeutung: Gesicht
Nasake: Mitgefühl
Ninkyō: Edelmut, Ritterlichkeit
Ninkyō Dantai: Selbstbezeichnung der Yakuza-Clans wörtliche Bedeutung: die ritterlichen Organisationen
Okamayaro: Schimpfwort; wörtliche Bedeutung: Schwuchtel
Oyabun: ritueller Vater, Yakuza-Boss
Oyaji: vertrauliche Anrede eines Yakuza-Bosses
Rei: Etikette, Höflichkeit
Sensei: Anrede für Unterrichtende jeglicher Art; wörtliche Bedeutung: Lehrer
Senshu: Sporttreibende
Wakagashira: Titel für Yakuza-Unterboss und designierter Nachfolger des Oyabun; wörtliche Bedeutung: junges Haupt
Yakuza: Krimineller, auch als Ya-san bezeichnet
Yamebō: Yakuza-Aussteiger
Yami: Finsternis, Dunkelheit, Illegalität
Yubitsume: Abtrennen eines Fingerglieds
„Ihr wundert euch, warum sich einige Yakuza immer noch großflächig tätowieren lassen und dafür riskieren, nie wieder Zutritt in die Onsen, die öffentlichen Badehäuser, zu erhalten?
Zum einen, weil es Gruppenzugehörigkeit zeigt, zum anderen Coolnessfaktor und Überlegenheit, Andersartigkeit gegenüber dem Rest der Gesellschaft.
Davon abgesehen wurden Straftäter im japanischen Mittelalter für Diebstahl oder Betrug tätowiert, um die Tat sichtbar zu machen. Je nach Region gab es Striche auf Oberarme oder Stirn. Wer diskutiert mit jemandem, dem anzusehen ist, dass er Verbrecher ist?
Außerdem griff die Tattookunst ab dem 18. Jahrhundert um sich, ganze Berufssparten ließen sich Tinte unter die Haut setzen, wie Feuerwehrleute, Zimmerleute, Flößer, Bauarbeiter, aber eben auch Glücksspieler und Halbweltangehörige. Die konfuzianische Lehre verbot die „Verunstaltung“ des Körpers, was ihnen den Ruf von Outlaws gab.
Schuld an diesem Boom war ein bebilderter Roman: Die Räuber vom Liang-Schan-Moor. Er erzählt von 108 Helden, die gegen Korruption und Willkür der Obrigkeit kämpften, und von ihrer Armee aus Verfolgten und Geächteten, Bauern und Fischern, Kaufleuten und Beamten, ehemaligen Offizieren und Landadeligen, Mönchen und Frauen plus einiger Räuber. Und darin wurden vier als tätowiert beschrieben.
Das erklärt viel über die Eigensicht der Ninkyō Dantai, die „ritterlichen Organisationen“.
Manche sagen, dass die Tätowierung bei den Yakuza an Bedeutung verliert, seit die Organisationen offiziell verboten wurden. Ich glaubs nicht.“
Aus: Dōgu N°1, Yakuza Online Fanzine
Stichwortsuche: Tätowierungen
Deutschland, Berlin-Mitte
„Da drüben: Sushi! Jetzt!“ Zoya Morosow zeigte auf das Restaurant schräg vor sich. „Ich sterbe vor Hunger.“
„Nein. Wir waren lange genug unterwegs.“ Vadim Morosow sah aus wie ein netter älterer Mann, aber nett war er nie gewesen. Den Spitznamen Väterchen Frost verdankte er seinem langen weißsilbernen Rauschbart und seinem sechzigjährigen Gesicht, nicht seiner Freundlichkeit. Geschenke machte er schon gleich gar nicht. „Rüber zu den Wagen.“
Zoya schüttelte den weißblond gefärbten Schopf, auf dem ein Strohhut saß, und schwenkte Richtung Eingang. Dass sie Designerkleidung trug, war dank der angebrachten Namen für jeden sichtbar. „Nein. Sushi.“
„Take-away“, erwiderte Vadim unnachgiebig. Er hasste Sushi und Sashimi. Kalter Reis, kalter Fisch, alles war kalt. Und wenn es nicht frisch war, kotzte man sich die Seele aus dem Hals und schiss sich den Arsch wund.
Ehefrau Ulita, Tochter Zoya und drei Männer seiner Kompanija steuerten dennoch auf die Tür zu. Während die Damen russisch-overdressed waren, bevorzugten die Begleiter legere Outfits – einen wilden Mix aus Stoffhosen, bunten Hemden, Jogginganzug und übergroßer Basecap. Vadim selbst trug einen klassischen leichten Sommeranzug, ohne Sakko.
Miyajima stand über dem Restaurant. Schon der Eingang sah stilvoll aus. Ein Blick durch die Frontscheiben auf das Interieur bestätigte den ausgewählten Geschmack des Inhabers.
„Soll das Miami heißen?“, fragte Vlad und lachte hustend. Er fühlte sich beladen wie ein Packesel, hielt eine Batterie Einkaufstüten in beiden Händen. Gucci, Armani, Rolex, Chanel, lauter teure Dinge. Kleidung, Schmuck, Schuhe, sichtbarer Status.
„Eher Miyagi“, entgegnete Anton, der jeweils drei Schuhkisten auf den Armen trug, seit die Tüte unter der Last gerissen war. „Dieser kleine Lehrer, den sie bei Kobra-Kai ab und zu einspielen.“
Nur Tobolsk in seinem schwarz-weißen Edelmarken-Trainingsanzug sagte nichts. Wie so oft. Wer ihn nicht besser kannte, hielt den blondgelockten Hünen für stumm, und außer Vadim wusste niemand, wie er wirklich hieß. Er gehörte zu den Schlauen und war so etwas wie die rechte Hand des Chefs, auf mittlerem Level. Man konnte sich mit ihm unterhalten und Pläne schmieden. Vadim hatte ihn genau deswegen mitgenommen, kam aber nicht dazu, ein anständiges Gespräch mit ihm zu führen, was ihn noch mehr nervte. Bald würde er Tobolsk auf die Managementebene holen.
Anton und Vlad waren zwei aus der schlichteren Schlägertruppe. Mulis, Sherpas, Muskeltypen. Auch sie behängt mit unzähligen schicken Tüten.
Vadim hasste es, Zeug zu schleppen, das seine Frauen in Mengen einkauften. Bei der drückenden Sommerhitze in der Stadt ohnehin. Er wünschte sich, in seinem Pool auf der Dachterrasse zu dümpeln, einen Eiskaffee zu trinken und sich ums Geschäft kümmern zu können. Stattdessen: Berlin-Mitte. Volle Straßen, Hitze, Touristen und Einheimische, Stimmgewirr, Telefongespräche, Abgase, nervige Leben fremder Leute.
„Alles voll“, bemerkte Zoya enttäuscht beim Blick durch die breite Frontscheibe. „Und viele Asiaten. Ist ein gutes Zeichen.“ Sie mochte Sushi und wollte eine Entschädigung dafür, ihre Mutter beim Einkaufen begleitet zu haben. Lieber hätte sie Zeit bei ihrem Pferd und in schattiger Natur verbracht, als durch klimatisierte Läden und den Stadtsommer zu hecheln, Klamotten zu begutachten und Beraterin zu spielen. Aber abgemacht war abgemacht.
Lita, wie Vadim seine Gattin nannte, hielt ihr Smartphone in der Hand und scrollte. „Website gefunden. Man kann online bestellen.“ Sie sah ihre Tochter an, die ihr wie aus dem Gesicht kopiert war. „Was willst du haben?“
„Haben die eine gute Bewertung?“ Zoya fummelte auf ihrem Display herum, und ihre Miene hellte sich auf. Der Tag konnte noch gerettet werden. „Bestes Sushi der Stadt? Fünf Sterne durchgehend? Krass.“
Vadim atmete tief ein und aus. Er hasste Sushi und seine beiden Frauen, die das Ende des Einkaufsausflugs unnötig in die Länge zogen, mittlerweile gleich stark.
Vlad und Anton müllten den Gehweg mit den Tüten voller Luxusartikel zu, schüttelten die muskulösen Arme aus. Sofort zogen sie Kippenschachteln aus den leichten Hemdentaschen, steckten sich Zigaretten an und gafften die Gäste im Restaurant provozierend an, bliesen den Rauch gegen die Scheibe und machten sich maximal breit, um die Aussicht zu versperren.
Die überwiegend asiatischen Leute sahen irritiert hinaus und dann peinlich berührt weg.
„Lasst das. Ihr seht bescheuerter aus als Affen im Zoo.“ Vadim ging zwei Schritte zur Seite und nahm das Smartphone mit einer tätowierten Hand heraus. Stilisierte Ikonen, kyrillische Buchstaben, kleine und große Symbole drängten sich auf der faltigen Haut. Adern zogen sich wie chaotisch verlegte Leitungen darunter entlang. Tintenreliefe. „Passt auf, dass keiner die Knarren sieht. In Mitte rücken die Bullen bei so was schnell mit mehreren Wagen an. Darauf habe ich absolut keinen Bock.“
Tobolsk lehnte sich an die Wand und behielt die Umgebung im Auge, die Hände über dem polierten Emblem der Bauchgurttasche verschränkt. Hammer und Sichel in Gold auf Silber. Ein sarkastischer Gruß an den vergangenen Sozialismus.
Vadim checkte die Nachrichten, die er verschlüsselt über zwei Schattenserver bekam. Einnahmen aus den Bordellen, Gewinne aus den Drogenverkäufen der letzten Woche, ein geplatzter Immobiliendeal, zwei hinausgeprügelte Problemmieter und illegale Schnapslieferungen aus Polen sausten tabellarisch über das Display.
Und drei tote Araber. Plus abgebrannter Döner- und Falafelbude, in der die Al-Tajirs Stoff vertickt hatten.
Einmal mit allem. Vadim grinste böse und sah dennoch nett aus. Menschen wie ihn castete man für charismatische Silver-Hipster, denen man die Rettung der Welt zutraute.
Er hatte mit seiner Kompanija, wie er sein Unternehmen nannte, den Krieg um die Reviere in Berlin nicht angefangen. Die Al-Tajirs sahen das anders und krakeelten irgendwas von einem Überfall auf ihre Stoffkuriere, den Vadim nie in Auftrag gegeben hatte. Seine Leute wussten nichts davon. Offensichtlich ein inszenierter Grund, um sich mehr zu nehmen, als den libanesischen Arabern gebührte.
Dämliche Penner. Gibt’s eben Ärger. Noch würde Vadim die Lage nicht beruhigen. Die Al-Tajirs hatten sich die blutige Fresse für ihre dummdreiste Lügerei verdient. Tote waren zwar in der Öffentlichkeit nicht gern gesehen, aber rund um die Hasenheide reagierten die Bullen weniger panisch auf so etwas.
Was jetzt, Väterchen?, blinkte es auf dem Display. Seine Kompanija wollte Anweisungen haben.
Abtauchen und abwarten. Die Bullen nicht zu viel reizen, antwortete er. Schnee gesichert?
Ja, Väterchen.
Bringt es an den üblichen Ort. Vadim sah zu seinen Frauen, die gemeinsam auf Litas Smartphone schauten. „Was ist? Habt ihr euren Fünf-Sterne-Fraß?“
„Dauert.“ Seine Gattin schwenkte ihr Handy. „Da steht: halbe Stunde.“
Hitze, Menschen, stinkende Autos überall. Vadims Geduld schmolz dahin. „Bestimmt nicht. Wir fahren.“ Pool, Eiskaffee, Dachterrasse.
„Nein!“, erwiderte Lita. „Das ist das beste Sushi von Berlin. Das will ich probieren.“
„Ich auch“, kam es von Zoya solidarisch-egoistisch. „Das sieht da drin voll schön aus. Da müssen wir mal in Ruhe hin.“ Auch wenn sie nicht aussah wie jemand, der gerne aß, würde sie liebend gern zwei, drei Stunden darin verbringen und sich durch das Angebot futtern.
Vadim sah zum rauchenden Anton, der schadenfroh grinste. Er wusste genau, was sein Moskauer Muli dachte: Wie gut, dass die Alte mich nicht nervt. Also würde er ihm die Pause versauen. „Geh rein und beschleunige das. Die sollen die Bestellung vorziehen.“
„Nummer 893“, ergänzte Lita. „Auf den Namen Smirnow.“
Antons heitere Laune schwand. Er nahm den letzten Zug mit der Fluppe im Mundwinkel, krempelte dabei die Ärmel hoch, damit man seine martialisch-kyrillischen Tätowierungen sah. Eindruck schinden, ohne Worte drohen und klarmachen, was folgen könnte, sollte 893 auf den Namen Smirnow nicht gleich in der Take-away-Box landen.
Noch in der Tür rannte Anton in eine Gruppe, bestehend aus einem alten und einem jüngeren Mann, beides Asiaten, die sich angeregt auf Japanisch mit einem europäisch aussehenden Mann unterhielten.
Der ältere Mann war um die achtzig und trug ein rot-weiß kariertes Anglerhütchen auf dem Kopf. In seiner Altherrenkleidung und mit der dicken Hornbrille sah er aus wie ein Vorzeigetourist. Er hielt eine geöffnete Pappbox in der Hand und zeigte gerade auf die Mochis.
Sein asiatischer Begleiter bevorzugte einen jugendlichen Asia-Street-Style, wie ihn Berliner Hipster gerne trugen, aber albern damit aussahen; ein bunter Rucksack in Form irgendeiner dümmlich grinsenden Anime- oder Mangafigur hing mit einem Riemen über der Schulter.
Der hellhäutige Europäer trug eine weiße Stoffhose und ein schwarzes Poloshirt, sprach dabei fließend Japanisch, als hätte er es von der Pike auf gelernt.
Beim Zusammenprall der Männer hüpften zwei Mochis aus der Packung, eine drittes fing der Senior mit beachtlichem Reflex auf.
Anton versuchte, sich mit bösem Blick und Gangstergehabe durch das Trio zu wühlen, wie er es immer und gerne tat. Aber der jüngere Asiate legte ihm eine Hand gegen die Brust und schob ihn einfach zurück, als wöge der Russe nicht mehr als eine Packung Reis. Dazu sagte er etwas Abfälliges auf Japanisch, was die Begleiter zum Auflachen brachte. Der Senior tat ausgelassen so, als wollte er den aufgefangenen Mochi nach dem Russen werfen.
Überrascht prallte Anton durch den Druck auf den Solarplexus rücklings gegen die Seitenscheibe und stieß sich den Kopf an. Die Gäste dahinter zuckten zusammen wie erschrockene Fische im Aquarium, wenn man gegen das Glas klopfte.
„Was ist denn das für eine Kung-Fu-Scheiße?“, stieß Anton auf Russisch aus und bekam ein rotes Wutgesicht. Sein geplanter cooler Auftritt war verkackt.
Die Leute im Restaurant freuten sich über die kleine Abreibung nach dem Gehabe.
„Was immer die Mandelmilch zu dir gesagt hat, sie hat recht.“ Vadim schüttelte maßregelnd den Kopf. „Entschuldige dich und lass den Alten mit seinen Freunden vorbei. Achte das Alter, Anton.“
Von der Straße erklang aggressives Motorröhren, viel PS und noch mehr Selbstsicherheit.
Vadim sah mit Augenwinkelblick die weiße Mercedes-Limousine langsam auf das Sushi-Restaurant zugleiten, während die dunkel getönten Scheiben nach unten surrten und sich drei junge Männer mit halbautomatischen Pistolen und MPs aus den Fenstern lehnten. Strumpfmasken verzerrten ihre Gesichter zu Fratzen, hier und da stachen schwarze Barthaare durchs Nylon, Gold glitzerte an den Fingern und um den Hals auf.
„Runter!“, schrie Tobolsk noch vor dem ersten Schuss und zog seine umgebaute Flobert Grand Power K22F aus dem Gürtelholster.
„Rein in den Laden!“, befahl Vadim „Geht in …!“
Rattern, schnelles Knallen, langsames Wummern röhrte, dröhnte, flog von der Limousine zusammen mit den Projektilen heran.
Merkwürdig lautlos entstanden Löcher in der großen Scheibe des Restaurants, die Gäste dahinter zuckten. Das Knistern des Materials ging in den unaufhörlichen Detonationen der Treibladungen unter. Eine Kakofonie der Gewalt.
Wie in Zeitlupe fuhr die sportliche weiße Limousine vorbei. Vor den Mündungen der Waffen blühten einzelne Feuerblumen auf, vor einer stand eine armlange, durchgehende, zuckende Flamme wie eine stachelige, leckende Zunge.
Vadim hatte sich geduckt und starrte zu seinen Frauen und den drei Schlägern.
Vlad tänzelte unter den Einschlägen grotesk vor dem berstenden Glas. Blut spritzte aus seinem Rücken und prasselte gegen Zoya, Lita und die fallenden Splitter. Seine Taurus G2 Halbautomatik hielt er in der Rechten, schwenkte sie bei jedem Treffer wie ein verkappter Elvis-Presley-Imitator, kurz bevor er einen Mord damit begehen wollte.
Die Frauen krochen inmitten sirrender, summender Kugeln in den Scherben herum: Zoya hastete schreiend durch die kaputte Scheibe in den Innenraum und zwischen die verstörten, panischen Gäste, wohin ihr Tobolsk folgte; Lita robbte kreischend auf Anton zu, von dem sie sich Schutz versprach.
Anton war blitzschnell hinter das asiatisch-europäische Trio geglitten, nutzte sie als Schutzschild. Dabei schoss er mit seiner CZ 45er Halbautomatik rechts und links an ihnen vorbei auf den Wagen.
Die Limousine hatte das Restaurant beinahe passiert, als sie ins Heck eines bremsenden Familienvans rauschte und absoff. Der Anlasser wimmerte und streikte, lautes Hupen setzte ein.
„Ihr Wichser!“ Vadim rannte zu Lita und zog sie auf die Beine, hob die verlorene Taurus-Pistole vom Boden auf und schoss auf die Angreifer.
Im Mercedes setzte hektisches Nachladen ein. Nicht eine Patrone mehr im Magazin. Nirgendwo. Die Männer hatten geplant, nach erfolgreichem Drive-by auf dem Abflug zu sein. Auf Arabisch fluchend zogen sie die Köpfe ein, die Geschosse der Taurus punzten Löcher in Kofferraum und Heckscheibe.
„Anton, bring sie rein!“, befahl Vadim und stieß seine Frau gegen das asiatisch-europäische Trio, das sich ebenfalls rückwärts in das Restaurant bewegte.
Da sprang die C-Limousine an und setzte mit quietschenden Reifen zurück. Qualm stieg aus den Radkästen, es stank nach heißem Gummi.
Erneut rotzten die Pistolen und vollautomatischen Maschinenpistolen im Stakkato Blei und Stahl in geraden Linien durch die Luft.
Um Vadim zischte und pfiff es, das Aufkreischen der Umstehenden vor Angst und Schmerz drang gedämpft zu ihm durch.
Er erwiderte das Feuer, die Taurus bockte in seiner Faust. Rückwärtsgehend stolperte er über liegende Körper und fiel durch die offene Tür in den Laden.
Das Trio im Eingang hatte etliche Kugeln abgefangen, für ihn, Anton und Lita.
Der Alte lehnte halb an der Seitenscheibe und zog sich daran mit stählernem Willen und einer Hand in die Höhe; das gefangene Mochi hielt er noch immer in der anderen. Der Hellhäutige regte sich nicht, während der jüngere Asiate verblutend versuchte, den albernen Anime-Rucksack zu öffnen, als befände sich darin die Rettung aus der Not.
„Yallah, yallah“, schallte es von draußen. Autotüren schlugen zu. Die Angreifer waren ausgestiegen und wollten Väterchen Frost endlich tot sehen.
Nicht mit ihm.
Vadim trat die Tür zu und feuerte die Taurus zweimal ab, jagte die Projektile durch das Holz des geschlossenen Eingangs, Splitter flogen umher.
Auch Anton löste seine Halbautomatik mehrmals auf gut Glück aus. Sonnenlicht drang durch die Löcher.
Draußen erklangen Schmerzensgebrüll und arabische Flüche.
„Wo ist der Hinterausgang?“, schrie Vadim und rappelte sich auf.
Etwa fünf Meter entfernt hetzte Tobolsk mit Zoya durch den Kugelhagel und schützte sie mit seinem breiten Rücken vor Treffern. Den Strohhut hatte sie längst verloren.
Vor Adrenalin spürte Vadim keine Schmerzen, sein Herz pumpte das gute Zeug durch die Adern. Er griff in Litas schwarze Haare und riss sie hoch, achtete nicht auf ihr Geschrei. Keine Zeit für Befindlichkeiten, wenn einen der Tod jagt.
„Da! Da lang!“, rief ein Angestellter des Restaurants und fuchtelte mit den Armen.
„Raus, raus! Los, raus!“ Einer der Sushi-Köche, ein Deutscher, sprang hinter der Anrichte heraus und riss eine Tür auf. „Herr Park will damit nichts zu tun haben!“
Vadim stolperte mit Litas Schopf in der einen und der Taurus-Halbautomatik in der anderen Hand durch den Innenraum des Miyajima, durch Geschrei und Geheule und Gejammere. Blind schoss er hinter sich, als er neues Knallen und Rattern vom Bürgersteig vernahm. Die Kugeln prasselten rings um ihn ins Mobiliar.
Dann stürzte Anton und blieb liegen. In seinem Rücken waren drei Löcher, die obere Schädelplatte fehlte und gab den Blick auf ein halb zerfetztes Hirn frei. Blut breitete sich um seinen Kopf aus.
„Wo ist Zoya?“, schrie Lita außer sich.
„Hier.“ Der deutsche Sushi-Koch langte neben den Tresen und riss sie am Arm hoch. „Sie ist unverletzt.“
Zoyas lange, fast weiße Haare hingen ihr wild ins Gesicht. Sie war blass, aber nicht panisch. Schlimm genug, dass sie unwürdig durch Glas robben musste. Zu gerne hätte sie eine Waffe gehabt, um die feigen Angreifer in die Hölle zu schicken. Am besten ein vollautomatisches Modell. Anlegen, abdrücken, erledigt.
Auch Tobolsk erschien aus der Deckung, die umgebaute Flobert im Anschlag und feuerte rasch in Richtung Eingang. Das dunkle, satte Bellen verriet das große Kaliber. „Ich gebe Deckung“, war alles, was er sagte.
„Sie werden sich an nichts erinnern“, schärfte Vadim den Angestellten ein. Er duckte sich, als zwei weitere Schüsse von außen erklangen. Mit seinen Frauen hetzte er durch die hinteren Räume des Restaurants und folgte der Ausschilderung zum Notausgang.
Keuchend gelangten sie ins Freie.
Vadim zog sein Smartphone, um Hilfe anzufordern, während sich die Frauen in den Armen lagen und nach Wunden absuchten. Sein Anruf wurde sofort in der Zentrale der Kompanija angenommen. „Weiter“, verlangte er telefonierend und entdeckte einen Streifschuss an seiner rechten Hüfte. Schmerzen fühlte er noch nicht. Adrenalin.
Tobolsk kam durch den Notausgang und lud dabei ein neues Magazin in die Halbautomatik, die Hände zitterten nicht einmal. „Meine Kugeln haben ihnen zu denken gegeben.“ Er blutete aus zwei kleinen Wunden am Arm, die ihn aber nicht beeinträchtigten. „Kann sein, dass sie trotzdem nachsetzen, Väterchen.“
Von dem Innenhof trat das Quartett auf eine unbelebtere Querstraße. Das Blut versaute die teuren Klamotten, machte Vadim und Tobolsk zu Hinguckern.
Grollend türmten sich schwarze Wolken über ihnen, erste Tropfen klatschten laut auf den warmen Asphalt.
Vadim zeigte auf einen Modeladen, vor dem eine zigarettenrauchende Verkäuferin stand. In ihren pink-brombeerfarbenen Klamotten war sie nicht zu übersehen.
Neugierig und unerschrocken schaute sie zu den Flüchtenden, von Angst keine Spur. Sie beging auch nicht den Fehler, ihr Smartphone zu zücken. Instinktiv wusste sie, dass es ihr letztes Foto gewesen wäre.
„Dahinein. Das ist sicherer, als durch die Gegend zu laufen“, befahl Vadim. „Georgenstraße. TotalY Fashion heißt der Laden“, gab er der Kompanija durch.
„Wir sind gleich da, Väterchen“, kam es zurück.
Er führte seine schniefenden, fluchenden Frauen in den Laden. „Schließen“, sagte er zur Verkäuferin im Vorbeigehen und langte in die Hosentasche, wo er Bargeld aufbewahrte. „Wenn jemand fragt, wir waren nie hier.“
Zoya stützte ihre Mutter und hasste den Tag. Hasste die Angreifer. Hasste es, keine Pistole tragen zu dürfen. Das würde sich bald ändern. Noch mal ließ sie nicht ungestraft auf sich schießen. Sie hatte abgesehen von ihrem guten Aussehen wenig von ihrer Mutter, die zu einem zitternden Bündel geworden war. Zoya konnte es kaum erwarten, aktiver Teil der Kompanija zu werden.
Die Verkäuferin im bonbonfarbenen Outfit machte angesichts des dicken Bündels Hunderter keinerlei Schwierigkeiten. Die Scheine wanderten von Vadims blutiger Hand in ihre, das frische Rot daran kümmerte sie nicht. Berlin war auf seine eigene Art jeden Tag irre, und gerade profitierte sie davon in Form zweier steuerfreier Monatsgehälter.
Tobolsk sicherte als Schlusslicht und huschte hinein.
Die Verkäuferin folgte in den Laden. Klackend verriegelte sie die Tür mit einer raschen Drehung des Griffs und ließ die Jalousien runterfahren.
Draußen setzte ein Platzregen ein, gleißend kreischte der Blitz aus dem Schwarzhimmel und schlug in die Erde ein. Die Lampen flackerten einen Moment, es grollte lange und dumpf.
„Geschlossen“, sagte die Verkäuferin gelassen durch das mechanische Summen und hielt anbietend eine Packung Zigaretten in die Runde.
Auf der Straße rasten drei Polizeifahrzeuge mit jaulenden Sirenen vorbei. In Mitte ging es schnell, wie Vadim gesagt hatte.
***
Jin Park stand in seinem Restaurant wie ein Fels in der Brandung. Nicht weil er widerstandsfähig und eisern genug war, um den grausam-schrecklichen Ereignissen zu trotzen. Es lag schlicht am Schock, unter dem er stand.
Durch die geborstene Scheibe sah Jin die Maskierten, die ihren verletzten Kumpan auf die Rückbank des weißen Mercedes warfen, einstiegen und davonjagten. Das Blut lief in Schlieren über den hellen Lack, malte verzerrte Linien auf die Karosserie.
Derweil lagen und kauerten Männer, Frauen und Jugendliche halb unter den Tischen oder hinter Dekorationen im Gastraum. Es wurde gerufen und geschrien, von irgendwoher erklang verzweifeltes, verängstigtes Weinen.
Die zahllosen Projektile der verfeindeten Parteien hatten Löcher in den Putz geschlagen, Holz zerfetzt, große und kleine Schäden angerichtet. Sushi, Suppe, Ramen, Getränke und Blut verteilten sich auf dem Boden, vermengten sich zu einem rutschigen Belag, auf dem die Schuhe und blanken Füße der Umherstolpernden und Flüchtenden ausrutschten.
Jin sah sein Lebenswerk tödlich verwundet. Aus dem Nichts war ein Kugelsturm gekommen, dröhnend durch sein Lokal getobt und wieder vergangen. Eine menschengemachte Gewalt, verheerend und vernichtend.
Jins braune Augen sahen alles und doch nichts. Sie erfassten die Toten und Verletzten, die Umherirrenden und Flüchtenden, die Geschockten, die apathisch in ihrem Versteck kauerten.
„Papa?“ Nari näherte sich ihrem wie versteinerten Vater, der ihr zum ersten Mal zerbrechlich und schutzbedürftig erschien. Der Fünfundfünfzigjährige hatte sonst für alles eine Lösung, doch nun stand er wie ein verschrecktes Tier im Scheinwerferlicht, unfähig, sich zu rühren.
Nari war im Büro gewesen, um Abrechnungen vorzunehmen, und hatte erst spät bemerkt, was im Restaurant vor sich ging. Sie berührte ihn an der Schulter. „Bist du verletzt?“ Sie sah zu den vielen Gästen, die aus Schnitten und Wunden bluteten, die ihnen die Scherben und Querschläger zugefügt hatten.
Jin zuckte bei der Berührung zusammen. „Ich … ich glaube nicht“, sagte er abwesend. „Die Gäste … wir …“
„Krankenwagen und Polizei sind unterwegs“, sagte Nari sanft. „Ich habe den Notruf gewählt. Aber sie wussten schon Bescheid.“
Dann ging Patrick plötzlich in seiner langärmeligen schwarzen Kochjacke an ihr vorbei und strich ihr beruhigend über die Schulter. „Ich mach das.“
Der grauhaarige Sushi-Chefkoch kümmerte sich mit den Angestellten des Restaurants um die ruhigeren Verletzten, bei denen er die größere Gefahr für Leib und Leben vermutete. Er verteilte Desinfektionsmittel und Handtücher, um Blutungen zu stillen, ging zwischen den Verwundeten umher wie ein Feldarzt auf dem Schlachtfeld.
Nari beobachtete ihn. Die Ruhe und die Souveränität, die der Mittvierziger ausstrahlte, übertrug sich auf die Verängstigten. Der Anblick der Wunden und Toten schien ihm nichts auszumachen. Sogar an dem erschossenen Russen mit dem halb weggesprengten Hinterkopf schritt er achtlos vorbei, um sich um eine Verwundete zu kümmern.
Auch wenn es ein absolut unpassender Zeitpunkt war, bemerkte Nari erneut, wie gut ihr der Mann gefiel, den ihr Vater vor einigen Monaten eingestellt hatte. Auch wenn ein Verhältnis am Arbeitsplatz nicht professionell war und sich keinesfalls schickte und es einen Altersunterschied von dreizehn Jahren gab, konnte sie kaum widerstehen. Wenn er in der Nähe war, rutschte ihre Stimme automatisch in eine andere Tonlage, gelegentlich flirtete sie sogar. Seine Berührung von eben spürte sie noch ganz genau auf ihrem Rücken.
„Er lebt“, sagte Jin, als er die schwache Bewegung des Brustkorbs bei dem alten Japaner ausmachte. Der greise Gast mit dem karierten Hütchen hatte sich unter Aufbietung aller Kräfte zurück ins Lokal gezogen und kroch ächzend über den Boden. Eine breite Blutspur markierte seinen Weg. „Patrick! Der Mann lebt noch!“
Von draußen wurden Sirenen hörbar, Gesetz und Retter rückten an.
„Bin schon da.“ Der Sushi-Chefkoch eilte aus der Trümmerlandschaft herbei, in der Hand einen Erste-Hilfe-Kasten aus der Küche. „Wer?“ Erst dann sah er den betagten Japaner.
Jin schüttelte die Starre ab und riss sich zusammen. Es konnte nicht sein, dass sein Personal sich besser um die Verletzten kümmerte als er. Das verstieß gegen das Gebot der Fürsorgepflicht. Er musste zumindest mit gutem Beispiel dabei sein, denn Patrick war bereits vorangegangen, als gehörte das Miyajima ihm.
„Nari, hilf den Leuten“, befahl Jin und eilte zu dem Japaner. Sein Chefkoch kniete sich auf die andere Seite und half, den Mann auf den Rücken zu drehen.
Dabei wurden vier, fünf Wunden und Einschusslöcher im Oberkörper sichtbar, aus dem das Blut rhythmisch sprudelte wie aus erschöpften Geysiren. Mit jedem Herzschlag pumpte der Muskel die Adern und Organe leerer.
Erneut drohte beim Anblick der schweren Verletzungen, beim Geruch des Blutes und von Exkrementen, die aus dem zerstörten Bauchraum in Freie drückten, der Schock über Jin hereinzubrechen.
„Hier! Auf die Mittelwunde drücken“, befahl Patrick und reichte ihm ein Bündel Servietten, das er aus einer Halterung genommen hatte. Dabei zog er dem Japaner den Gürtel aus der Hose und band den Arteriendurchschuss im Oberschenkel ab.
„Woher kannst du das?“, würgte Jin heraus und presste das saugfähige Papier auf das Loch. Sogleich sog es sich voll. Es roch nach Urin, die Blase musste gerissen sein.
„Sanitätsausbildung. Ich war früher Rettungsassistent, Chef“, erklärte Patrick und blieb fokussiert bei der Arbeit. Sein Blick richtete sich auf die blubbernden Löcher in der Brust und am Hals. „Das wird hart. Hoffentlich haben die genug Blutkonserven dabei.“
„Die Krankenwagen sind da“, meldete Nari vom geborstenen Fenster aus.
„So lange halten wir ihn am Leben“, sagte Jin überzeugt.
Unvermittelt zuckte die linke Hand des Japaners in die Höhe, in der anderen hielt er ein halb zerdrücktes Mochi. Reismehlreste der pudrigen Ummantelung hafteten auf der Haut.
Die kräftigen Finger packten Patrick an der schwarzen Kochjacke und zogen ihn mit unwiderstehlicher Kraft zu sich herab. Über die gesprungenen, blutgesprenkelten Lippen kamen abgehackte Sätze, als wollte er vor seinem Tod eine letzte Botschaft von sich geben.
Jin verstand kein Wort. Koreanisch hatte mit Japanisch wenig gemein, für ihn klangen die Worte wie Kauderwelsch. Auch Patrick machte ein fragend-verblüfftes Gesicht.
Bei der Bewegung war das rotgetränkte Hemd des Alten leicht aufgeklafft, und in den Spalten wurde tätowierte, faltige Haut sichtbar. Die Motive ertranken in auslaufendem Blut.
„Der Gürtel hat sich gelöst“, sagte Patrick zu Jin. „Ziehen Sie ihn nach, schnell. Sonst ist er gleich tot!“
Jin ließ die Servietten los, die nass und verklumpt auf der zerstörten Bauchdecke liegen blieben. Mit glitschigen Fingern versuchte er, den Lederriemen um den Oberschenkel zu straffen, damit der Blutzufluss unterbrochen wurde. Er benötigte mehrere Anläufe.
„Fertig“, meldete er erleichtert.
Als er sich zu Patrick wandte, hatte der sich bereits erhoben. Die Augen des Japaners waren gebrochen und blind, die Pupillen starr.
„Kommen Sie, Herr Park. Wir haben es versucht. Helfen wir denen, die noch eine Chance haben.“
Jin sackte leicht zusammen. „Verdammte Scheiße. Ich hatte so gehofft …“
„Wir kamen zu spät“, sagte Patrick tröstend.
„Das ist schlimm. So schrecklich.“ Jin erhob sich und ließ sich die Hände mit Desinfektionsspray absprühen. Die Flüssigkeit wusch das Blut, Urin und Spuren der Exkremente von seiner Haut, tropfte auf den Boden in die große rote Lache. Seine Finger zitterten leicht. Gegen die Aufregung und die Nachwirkungen des Schocks half die Desinfektion nicht. „Wer waren diese Irren, die sich in meinem Miyajima beschossen haben?“
„Haben Sie die russische Familie nicht erkannt?“ Patrick bedeutete den eintreffenden Rettungssanitätern, wer von den notdürftig Versorgten am dringendsten Hilfe benötigte. Fortan hielt er sich zurück.
„Nein.“
„Der Typ mit dem Bart war Vadim Morosow. Sein Bild ist in den vergangenen Wochen mehrmals durch die Medien gegangen. Seine Kompanija und der Al-Tajir-Clan bekriegen sich.“ Patrick deutete auf den zerstörten Innenraum. „Anscheinend haben die Killer Morosow und seine Familie verfolgt.“
„Und die kommen ausgerechnet zu mir?“ Jin ließ die Schultern hängen und rieb sich die Finger mit dem Handtuch trocken.
Seine Gedanken ratterten.
Organisiertes Verbrechen bedeutete Ärger.
Großen Ärger.
Noch mehr Ärger, wenn man Aussagen gegenüber der Polizei machte.
Die Rettungskräfte schwirrten durch das Miyajima und verarzteten die Verwundeten, behandelten spontane Kreislaufzusammenbrüche.
Erste Polizisten betraten das Restaurant und orientierten sich rasch. Es würde nicht lange dauern, bis sie sich zum Inhaber durchgefragt hatten.
„Das ist ein einziger Albtraum“, murmelte Jin und winkte seine Angestellten hastig zusammen. „Hört alle mal zu: Niemand von uns wird sich an etwas erinnern“, schärfte er ihnen ein. „Wir haben keinen erkannt, wir haben nichts gehört.“
Nari schaffte es, sich neben Patrick zu schieben und leichten Körperkontakt herzustellen.
„Aber was ist mit …“, setzte der Souschef an.
„Nichts gesehen und niemanden erkannt“, zischte Jin. „Ich will nicht noch mehr Scherereien haben. Am Ende stehen Russen oder Araber in meinem Laden und drohen uns allen, damit wir irgendwelche Aussagen zurücknehmen. Also machen wir erst gar keine. Verstanden?“
Nari nickte als Erste und gab damit das Signal, in das die Übrigen einstimmten. Sie verstand die Beweggründe ihres Vaters sehr gut. „Wenn euch einer fragt: Es ging viel zu schnell, ihr hattet einen Schock. Danach haben wir uns um die verletzten Gäste gekümmert.“
„Sagt, dass es eine Handvoll Russen war, die hereingestürmt und durch den Hinterausgang wieder verschwunden ist. Mehr nicht“, betonte Jin. „Details sollen sich die Polizisten bei den Gästen im Restaurant erfragen. Wir werden schweigen.“
Erneut nickte sein Team, und er sah die Überzeugung auf den Gesichtern. Keiner wollte Besuch von Verbrechern bekommen, weder von russischen noch von arabischen. Null Aussagen, null Probleme.
Dieses Mal legte Nari eine Hand auf Patricks breiten Rücken und blickte ihm in die Augen. „Danke! Das war sehr überlegt gehandelt vorhin. Ich hätte das nicht hinbekommen. Und Vater auch nicht.“
Jin kannte seine Tochter zu gut, um sich in Tonfall und Blick zu täuschen. Ihr gefiel der Chefkoch. Nur ob ihm das gefiel, das wusste er noch nicht.
„Wie gesagt, das Überbleibsel meines alten Berufs. Bevor ich Koch geworden bin.“ Patrick lächelte karg. „Da kommt die Polizei, Herr Park. Die suchen Sie.“ Er bedeutete dem Personal, sich hinter den Tresen und die Theke zurückzuziehen. „Wir bleiben dann mal im Hintergrund.“
Jin nickte ebenfalls und hielt seine Tochter am Handgelenk fest, als sie sich zur Gruppe der Angestellten gesellen wollte. „Du bleibst. Bitte. Die Polizei will bestimmt mit uns beiden reden.“
Nari gehorchte, auch wenn es ihr schwerfiel. Sie wusste genau, dass es weniger um die Unterhaltung mit den Beamten als um Patrick ging. Nein, es war nicht professionell, aber das war ihr gerade noch egaler geworden. Nichts könnte schlimmer sein, als kurz vor dem Tod zu bereuen, etwas nie getan zu haben.
Und heute war ihr der Tod sehr nahe gewesen.
„Wir haben mal in den Archiven gesucht, und wir können sagen: Die Ninkyō Dantai sind viel ruhiger geworden. Im Jahr 2010 wurden laut National Police Agency (NPA) etwa fünftausend Japanerinnen und Japaner von Yakuza angegriffen und/oder verletzt. Das sind nur noch halb so viele wie damals in den wilden Zeiten, den 1980ern.
Apropos, Ende der Achtziger gingen noch etwa dreißig Prozent der Morde auf das Konto der Ninkyō Dantai, im Jahr 2017 waren es nur noch fünfzehn.
Von 2000 bis 2010 hat die NPA jährlich im Schnitt 170 Yakuza oder der Ninkyō Dantai nahestehende Personen verhaftet, und zwar wegen Mord oder Mordversuch. Also, gebt besser trotzdem acht und legt euch nicht mit denen an!“
Aus: Dōgu N°1, Yakuza Online Fanzine
Stichwortsuche: Verhaftungen
Deutschland, Berlin-Tempelhof
Shadia hörte gar nicht mehr hin.
Seit fünf Minuten plätscherte die Stimme ihrer Mutter auf Arabisch aus dem Smartphone, während die Kriminalkommissarin draußen vor dem großen Gebäude des LKA im Schatten stand und ihre E-Zigarette rauchte. Eine drückende Schwüle geißelte Berlin und brachte jeden zum Schwitzen, der sich im Freien aufhielt oder gar bewegte.
Weiße Schwaden quollen wie ausfahrende Geister über ihre Lippen, wurden vom Wind erfasst und lösten sich nach ein, zwei Metern restlos auf; es roch nach Apfel und Minze, Shadias Lieblingsmischung.
Wie alle E-Dampfenden redete sich die Vierundzwanzigjährige ein, dass die Liquids weniger schädlich als herkömmlicher Tabak waren, weswegen sie Kippen und Shisha aufgegeben hatte. Aber die Sucht nach Nikotin war geblieben. Der Job machte es nicht einfacher, und ihre Familie auch nicht.
Nur aus Höflichkeit hatte Shadia den Monolog nicht nach zwanzig Sekunden unterbrochen. Sie kannte jedes Argument, die Abfolge, konnte den Tonfall ihrer Mutter problemlos imitieren.
Kurze Stille in der Leitung, dann: „Kommst du eigentlich morgen zum Geburtstag von Großonkel Ahmed?“
Shadia stieß weißen Dampf in den grauen Himmel, der sich über Berlin wölbte, als kündigten die Wolken eine kleine Apokalypse an. „Nein.“
„Aber er ist der Älteste aus der Linie deines Vaters“, erwiderte ihre Mutter. „Ahmed erwartet es.“
„Ahmed ist senil. Er erkennt mich nicht einmal. Wann habe ich ihn das letzte Mal gesehen?“
„Du warst zehn, und er hat dir das Goldarmband geschenkt. Weißt du noch? Das mit dem Segenszeichen, das er von seiner Hadsch mitgebracht hat. Aus Mekka.“
Shadia erinnerte sich nicht. Vierzehn Jahre und viele Ereignisse lagen zwischen dem Zusammentreffen. Aber das goldene Band hatte sie tatsächlich noch, es lag in irgendeiner Schublade, zusammen mit weiteren Andenken, die sie niemals herausholte. Die Schublade war ein Ort des bewussten Ignorierens und Vergessenwerdens. Bis eben. „Na bitte. Das ist –“
„Seine Familie erwartet es.“ Ihre Mutter ließ nicht locker. „Und alle anderen.“
Shadia rechnete es ihr hoch an, dass sie als Einzige versuchte, das Band zwischen ihrer Tochter und dem Rest der Familie nicht gänzlich reißen zu lassen. Und sie bedauerte ihre Mutter, die zwischen sämtlichen Stühlen saß. „Ich denke nicht, dass man mich dort sehen will.“
„Solange du keine Fragen stellst, warum sollte dich jemand nicht sehen wollen?“
Shadia schaltete die E-Zigarette aus. „Weil es mein Job ist, Fragen zu stellen.“
„Auf einer Geburtstagsfeier?“
Bei der genug Leute sind, die einen SEK-Einsatz rechtfertigen, dachte sie. „Niemand will mich dort. Sie werden denken, dass ich gekommen bin, um Infos zu kriegen.“ Was für sie tatsächlich der einzige Grund wäre, bei Großonkel Ahmed aufzutauchen. „Und ich werde weder einen Tschador noch einen Hidschab anlegen, nur weil es die Tradition verlangt. Sie werden mich angucken, als wär ich der Schaitan in Frauengestalt. Onkel Mohammad fängt mich doch schon an der Tür ab.“ In Jeans, Tanktop und offenem Hemd wäre sie niemals von ihm reingelassen worden.
„Nur für den halben Tag, Shadia. Ich bitte dich.“
„Mama, du musst mich nicht bitten. Es funktioniert nicht.“
„Und wenn ich morgen sterbe? Kommst du dann auch nicht auf meine Trauerfeier?“ Ihre Mutter schraubte die Latte unbarmherzig höher. „Wegen der Familie?“
„Das ist kein passender Vergleich.“
„Ahmed ist Familie wie ich.“
„Du hast mich geboren, Mama!“
Ein langes Seufzen erklang als Antwort. „Bist du sicher, dass du keinen anderen Beruf machen willst?“ So begann Stufe zwei, die immer und immer und immer wieder folgte. „Dann kannst du zu jedem Familienfest und bist herzlich willkommen. Sie werden dich mit offenen Armen empfangen. Ich kann dir eine tolle Anstellung im Juwelierladen von –“
„Mama, meine Familie ist der Grund, warum ich diesen Job ergriffen habe“, unterbrach Shadia sie ruppig. Sie hasste es, an den Auslöser ihrer Entscheidung erinnert zu werden. An ihren toten großen Bruder, abgöttisch geliebt und unvergessen. In ihrem Herzen brannte sein Bild auf ewig, umhüllt von Rauchschwaden eiskalter Rachsucht.
„Das macht Hakim nicht lebendig“, raunte ihre Mutter. „Ich weiß, dass du bei der Sonderkommission bist, die den Bandenkrieg untersucht. Und habe Angst, dass du zwischen die Fronten gerätst.“
„Das werd ich nicht.“
„Oder dass du …“
Ein dienstlicher Anruf rettete Shadia vor weiteren Sorgen ihrer Mutter. „Mama, ich muss ans Telefon. Sag Ahmed einen lieben Gruß von mir. Aber sag es leise, sonst spucken die anderen aus, wenn sie meinen Namen hören. Ich liebe dich jetzt und für immer.“ Sie drückte ihre Mutter aus der Leitung und nahm den Anruf der Zentrale entgegen. „Kriminalkommissarin Rajab, LKA 41, Soko Flächenbrand?“
„Ja, hallo, Frau Kollejin, LKA-Zentrale hier. Hefticher Schusswechsel Berlin-Mitte, Friedrichstraße, Ecke Dorotheenstraße. Is aber schon durch. Einsatzleiter Kreuzner wartet vor Ort auf Se zwecks Einschätzung, ob die Vorjänge und das Muster zum Bandenkrieg passen. Ihr Kollege Großmann weeß Bescheid und meente, dasser gleich losfährt.“
„Verstanden.“ Shadia setzte sich in Bewegung und ging zu ihrem Roller, der unter einem Veloport zwischen Motorrädern und Fahrrädern geparkt stand. In Berlin kam man damit meistens schneller voran als mit dem Dienstwagen. Grund für Blaulicht und Martinshorn gab es nicht, die Lage war unter Kontrolle.
„Sie soll’n am Tatort an der Absperrung warten, bis er einjetroffen ist.“
„Aha?“ Shadia nahm einhändig den Helm aus dem Klappfach am Roller. „Weil?“
„Wees ick nich. Steht so of meener Anweisung. Kommt von janz oben, Frau Kommissarin.“
„Danke.“ Shadia legte auf.
Mit einer Mischung aus Wut und Trotz im Bauch setzte sie den Kopfschutz auf die dunklen Haare und schwang sich auf den Roller. Sie kämpfte nicht nur gegen ihre Familie, sondern auch gegen Vorurteile in den eigenen Reihen.
Manchmal, nur manchmal, stand sie kurz davor, doch die Seiten zu wechseln. Man würde sie dafür in ihrem Clan auf Händen tragen.
Aber genau an diesen Händen klebten Unrat, Schmutz und das unsägliche Leid vieler Menschen. Sowie das Blut von Hakim.
Shadia atmete durch und schnaubte die Wut davon, startete den Roller und fuhr los.
***
Deutschland, Berlin-Mitte
„Halal ist das nicht.“ Tobias fand seine Begrüßung witzig.
Der Fünfunddreißigjährige stieg aus dem dunkelgrauen 7er-BMW, fuhr sich über den breiten, hellen Schnauzbart und verbarg sein Grinsen, die kurzen blonden Haare waren nach hinten gekämmt. Er betrachtete die umherliegenden, abgedeckten Toten auf dem arkadenüberdachten Bürgersteig. „Ich dachte, die Araber machen das so, wenn sie ein Schlachtfest veranstalten?“
„Hatten wir nicht etwas vereinbart?“, erwiderte Shadia, die bereits vor einer Viertelstunde eingetroffen war. Über ihren Schuhen spannten sich Plastiküberzieher. Weiße Duschhauben für schwarze Sneaker.
„Was meinst du?“ Tobias hängte sich eine Dienstmarke um den Hals, weil er das cooler fand, als sie am Gürtel oder im Portemonnaie zu tragen. Er mochte es, wichtig zu wirken. Deswegen mochte er es auch, in der aufgestockten Sonderkommission Flächenbrand des LKA 41 zu sein, die sich mit dem jüngst ausgebrochenen Bandenkrieg befasste. Zwanzig Männer und Frauen waren abgestellt worden, um den Irrsinn zwischen Russen und Arabern zu stoppen. Der Erfolg war derzeit nicht messbar, der Misserfolg hingegen in Toten und Sachschäden zu beziffern. „Irgendeine Abmachung, die ich –“
„Dass du kein Idiot mehr sein wolltest?“ Shadia, dunklerer Teint, schwarze Haare und mit erkennbar orientalischeren Wurzeln als er, warf ihm die Überzieher für die Schuhe zu.
„Ach, galt das über letzte Woche hinaus?“, erwiderte Tobias in unschuldigem Ton. „Okay, der Halal-Gag war drüber.“
„Kein Wunder, dass niemand sonst mit dir in der Soko zusammenarbeiten will. Reiß dich zusammen. Beantrage ich meine Versetzung und gebe dich als Grund an, landest du doch am Schreibtisch der Verkehrsabteilung Potsdam.“ Shadia deutete über die abgedeckten Leichen. „Hab etwas Respekt.“ Sie sah, dass er den Mund öffnete. „Sag jetzt nichts Dämliches.“
Tobias fiel es schwer, aber es gelang ihm. „Man könnte meinen, du bist meine Vorgesetzte.“ Shadia war eine Streberin, eine Aufstrebende, eine Getriebene. Die Beste überall, die jüngste Kriminalkommissarin Berlins. Und doch für manche das Schlimmste, wie er aus guter Quelle wusste. Die Migrationshintergrundermittlerin, die als Aushängeschild fungierte. Daher ließ er sie lieber an der langen Leine und hielt sie auf Abstand. „Du weißt bestimmt schon alles zum Tathergang, oder?“
„Nein. Mir wurde gesagt, dass ich auf meinen ranghöheren Kollegen warten soll.“ Sie zeigte auf das rote Flatterband. „Also hab ich gewartet.“
Das hatte sie wirklich. An der Absperrung und mit einem Tee in der Hand, gekauft in der Bäckerei um die Ecke. Gewartet zwischen einem Dutzend Rettungswagen, Polizeifahrzeugen und der Feuerwehr, als ginge sie das alles nichts an. Wie ein Gerät, das nicht eingeschaltet worden war und doch dringend gebraucht wurde.
Sie hatte zugesehen, wie die Verletzten ärztlich versorgt, wiederbelebt, ruhiggestellt wurden. Wie die Spurensicherung in Ganzkörperschutzanzügen und mit einfachen Atemmasken wie auf einer Alienmission durch das Chaos gelaufen war, Aufsteller platziert und mehr Aufsteller aus dem Transporter geholt hatte. Zu viele Hülsen, zu viele Beweise.
Wie die Polizeimannschaft ausgeschwärmt war, Straßen abgesperrt und Verkehr umgeleitet hatte, und wie Berlin-Mitte im Stauchaos versank. Dabei blieb der Tatort eine bizarre Insel der Ruhe, auf der es leiser wurde, je mehr Rettungswagen in Richtung Charité losfuhren.
Den kurzen Wolkenbruch hatte sie unter einem Vordach abgewartet. Noch nie hatte sie die Leute von der Spurensicherung so schnell und so laut fluchend rennen gesehen.
„Schön. Dann sind wir auf dem gleichen Level.“ Tobias sah sich um. Die Hitze brachte ihn trotz dünner schwarzer Stoffhose und weißem Hemd zum Schwitzen. „Wer ist der Einsatzleiter?“
Shadia nahm ihr Smartphone aus der Tasche. „Oberkommissar Kreuzner. Er hat die ersten Maßnahmen koordiniert.“ Sie drückte die Ruftaste. „Ich fone ihn an.“
„Ist er aus Berlin-Mitte?“
„Ja.“
„Na, dafür hat er das gut gemacht. So oft passiert das nicht im schönen glitzernden Zentrum. Höchstens mal was mit Geldtransportern.“ Tobias ging los. „Wo stecken die anderen?“
„Wir sind die Einzigen. Man war der Meinung, wir zwei sind die Richtigen, weil wir die Al-Tajirs am besten kennen. Und ihre Handschrift erkennen. Geben wir kein Go und ziehen den Fall nicht zur Soko, setzt der Präsi eine zweite Kommission ein. Flankierend zu unserer. Ist ja Berlin-Mitte.“ Ein Mann meldete sich am anderen Ende. „Ja, Kollege, hier Kriminalkommissarin Rajab. Mein Vorgesetzter ist jetzt da.“ Sie blickte nach rechts, wo ein Uniformierter die Hand erhob und winkte. „Ah, gut. Wir sind gleich bei Ihnen.“
„Die Scheiße kam nicht von mir“, sagte Tobias. „Nur damit du das weißt.“
„Was denn?“
„Dass du auf mich warten sollst. Keine Ahnung, wer die Anweisung ausgegeben hat. Polizeirat Witt vielleicht.“ Im Gehen überschlug er die Anzahl der abgedeckten Körper. „Drei im Eingangsbereich und vermutlich noch welche vorne im Restaurant. So, wie das hier aussieht.“
Shadia hatte eine Ahnung, wem sie die Zügel verdankte: ihrer Herkunft und jemandem zwei Karrierestufen über ihr. Als Deutsche mit arabischen Wurzeln galt sie mal als Vorzeigebeispiel für Integration, mal als potenzielle Verräterin in den Reihen der Kriminalpolizei. Seit bekannt geworden war, dass Informationen von migrantischen Polizisten an Clans weitergegeben wurden, hielten sie manche für ein trojanisches Pferd. Dass sie zudem gut aussah und schon so manchem Kollege einen Korb gegeben hatte, machte es nicht leichter. „Es wurden zehn Verletzte ins Krankenhaus gebracht.“
„Hoffentlich kommen die alle durch.“ Tobias grinste und erwartete Lob.
„Ja, okay. Es gibt Hoffnung für dich.“
Kreuzner war ein uniformierter Mittfünfziger in guter Verfassung und mit Gewichtigkeit im Gesicht. „Tach, Kollejen“, sprach er. „Ditt ist mal een Anblick für Mitte.“
„Als würde das in Neukölln ständig passieren“, erwiderte Shadia. „Aber ich weiß, was Sie meinen.“
„Ein hässlicher Anblick.“ Tobias trat in den Schatten der Arkaden. „Läuft alles, wie es aussieht.“
Kreuzner nickte. „Zeugenbefragung vor Ort is im Jange, Verkehrskameras und Überwachungskameras in der Umgebung ermitteln wir jerade.“ Er zeigte in die Luft, als schwebten die Linsen um sie herum. „Spurensicherung, Rekonstruktion des Tatherjangs. Was nich so schwer war. Die Aussagen sind jut. Und haufenweise. Und Handyfilmchen.“
Shadia prüfte rasch im Internet, was bereits an Mitschnitten online gelandet war. „Ja. Da gibt es schon einiges.“
Tobias sah auf den Peugeot-Familienvan mit verbeultem Heck, der einsam und mit eingeschalteter Warnblinkanlage auf der abgesperrten Straße vor dem Restaurant stand. „Fluchtautokollision?“
„Richtich jeraten“, sagte Kreuzner.
„Erfahrung“, konterte Tobias. „Bin ja Kriminaler.“
„Weißer Mercedes, neue C-Limousine, drei Schützen aus dem Auto“, ergänzte Shadia, was sie in dem Moment auf den verwackelten Aufnahmen sah. Das Berufsgerangel unter Kollegen konnte sie nicht ab. „Könnten Berettas sein und mindestens eine tschechische Skorpion-Maschinenpistole.“ Sie kniff die Augen zusammen und zoomte, so weit es die Pixel erlaubten. Eine AR-15 war im Hintergrund zu sehen, ein vierter Schütze vermochte sich nicht durch die anderen Männer zu drängeln.
„Ditt Nummernschild is jestohlen“, kommentierte Kreuzner. „Is bereits jeprüft und war zu erwarten. Ich schätze ma, dass man den Mercedes bald ausjebrannt irjendwo findet.“
Tobias sah auf Shadias Smartphone und die Aufnahme. Er fand es immer erstaunlich, wie verzerrend Nylonstrümpfe über Gesichtern wirkten. „Keine Chance, die Visagen zu erkennen“, stellte er fest. „Oder kannst du jemanden dem Al-Tajir-Clan zuordnen?“
Shadia deutete auf den baumelnden Schmuck um die Hälse der Männer. Panzerketten, arabische Zeichen auf Amuletten, ein Auge gegen das Böse, zwei Goldringe. Standardbehang, Klischee und Realität zugleich. „Damit vielleicht. Aber sicher ist das natürlich nicht.“ Sie schloss die App und sah den Polizisten an. „Was ist so weit schon sicher?“
„Weeße C-Limousine, drei Schützen dunklerer Hautfarbe, die zuerst ’nen Drive-by vor dem Miyajima veranstaltet haben.“ Kreuzner ging in den Berichtston über. „Nach dem Auffahrunfall hatter Wagen zurückjesetzt. Drei Schützen sind raus und ham durch die Eingangstür auf die gegnerische Partei jeschossen, ein vierter hat aus dem Mercedes weiterjeballert. Der Fahrer ist sitzen jeblieben.“ Er begleitete seine Ausführungen mit Handzeichen und ging langsam los, zog Shadia und Tobias wie an einer unsichtbaren Leine mit sich. „Eener is den Jegnern ins Restaurant jefolgt und wurde mindestens angeschossen, bevor sich der andere mit dem Verletzten über der Schulter zurückjezochen hat. Sämtliche Angreifer sind in der Limousine jeflüchtet, wa?“
Für die Polizistin fühlte sich eine Erstbegehung stets an wie Crime Sightseeing: On the left sight you can see, on the right side you can see, and you can take beautiful pictures from there. „Die gegnerische Partei?“
„Russen. Unschwer an Ausweisen und Tätowierungen zu erkennen. Anton Petrow und Vladimir Iwanow sind tot, vier weitere abjehauen. Een älterer Mann mit auffällijem silberweißem Rauschebart, een jüngerer mit breiter Statur und blonden Locken. Außerdem eine jüngere und eine ältere Frau, die laut Zeujenaussajen Ähnlichkeit hatten.“ Kreuzner fuchtelte beidhändig, als wiese er ein Flugzeug ein. „Sind durch den Notausjang des Restaurants jeflüchtet, haben untereinander Russisch und mit den Anjestellten des Miyajima Deutsch jesprochen. Danach verliert sich die Spur im Hof. Der Wolkenbruch hat alles wegjeschwemmt. So ’n Ärjer, wa?“
Tobias und Shadia wechselten Blicke, dachten dabei exakt dasselbe: Morosow, seine Frau und Tochter. Damit gehörte der Fall ins Ressort der Soko Flächenbrand. In ihr Ressort.
„Iwanow liecht da, von vorne durchsiebt. Den anderen hat’s im Restaurant erwischt. Schüsse in ’n Rücken und durch ’n Kopp“, redete Kreuzner weiter; dabei erreichten sie die Arkaden, wo zwei Tote eng nebeneinander abgedeckt lagen.
Daneben stand ein grellbunter Rucksack in Form einer schrillen Comicfigur mit asiatischem Einschlag. Anime, Manga, irgendwas, das Tobias vom Hörensagen kannte. Er sah auf den Stapel mit teuren Einkaufstüten daneben, umringt von Glassplittern und seltsam unangetastet. Ein paar Blutspritzer hafteten daran. „Was ist das?“
„Laut Zeujenaussajen jehörten die den Russen. Ham vor dem Restaurant auf ’ne Sushi-Bestellung jewartet. Kam zeitgleich eine Online-Bestellung für Smirnow und take away, die nicht abjeholt und nicht reklamiert worden is. Ditt Essen wollen Se aber nicht wissen, wa?“
„Nein. Alles klar.“ Tobias ging zu den Tüten und holte behördliche Aufkleber hervor, die bei Versiegelungen von Tatorten zum Einsatz kamen. Sorgsam klebte er sie auf die Taschen und setzte sein Kürzel darauf. „Beschlagnahmt. Nehme ich nachher mit. Beweismaterial.“
Shadia hob die gezupften Augenbrauen, schwieg aber. Sie ahnte, was mit den „Beweismitteln“ geschehen würde. Tobias konnte es einfach nicht lassen, Nebenverdienste einzufahren. Auch das hatte ihn beim Polizeipräsidenten in Bedrängnis gebracht.
„Also ham die Araber den Russen aufjelauert und wolltense erledigen. Ist wejen der Revierstreitigkeiten, wa?“, mutmaßte Kreuzner.
„Sieht so aus“, antwortete Tobias vage. „Passt zumindest ins Bild.“
„Außer den Schützen und den Russen sonst irgendwelche Beteiligte?“, erkundigte sich Shadia. „Irgendein Spotter der Angreifer im Restaurant? Sah es nach vorbereiteter Falle aus?“
„Nee. Im Restaurant jabs nur zehn verletzte Gäste.“ Kreuzner sah auf seinen Tabletcomputer, auf dem er sich Notizen gemacht hatte und wo die Ergebnisse der ersten Zeugenbefragungen aufliefen, die parallel stattfanden. „Sind auch keene Russen bei. Aber auffällich viele Asiaten. Touristen und welche, die in Berlin arbeeten.“
„Spricht für die Authentizität der Küche. Sollte ich mal ausprobieren, falls sie nach der Renovierung wiedereröffnen.“ Tobias blieb neben den abgedeckten Leichen am Eingang stehen, bückte sich und hob die Plane an. Er hatte wegen des bunten Motivrucksacks befürchtet, ein Kind darunter zu sehen. Allgemein hatte er wenig Skrupel in Sachen Rechtsauslegung, aber bei Kindern hörte der Spaß auf.
Stattdessen erblickte er einen jungen Asiaten und einen europäischen Mittvierziger.
„Der Weiße sieht aus wie ein Touristenführer.“ Ihm fiel auf, dass der Asiate die Hand im Sterben nach dem Rucksack ausgestreckt hatte. „Reisegruppe oder Zufall, dass sie zusammen hier starben?“
„’ne kleene Gruppe. Da drin liegt der dritte. Sie waren gemeinsam hier, wie ’ne Zeugin sich erinnert hat.“ Kreuzner sah auf sein Tablet und las nach. „Tadashi Tanaka und Arndt Ehrens. Tanaka hat einen japanischen Pass und ein Touristenvisum. Kommt wie der Dritte, Katsumi Takahashi, aus Tokio, wohnhaft in Shibuya. Der ist aber … “ Der Finger wischte und stoppte die Anzeige. „… achtundsiebzig Jahre alt.“
„Da fliegst du Tausende Meilen um die Welt, um als Japaner in einem Berliner Sushi-Restaurant von Arabern erschossen zu werden. Schöner Ironiekack“, fasste Tobias zusammen und zog sich Einweghandschuhe über, um den Rucksack zu öffnen. Er mochte es, in fremden Sachen zu stöbern. Es gab stets was zu entdecken und bei Kriminellen abzugreifen. „Habt ihr die bunte Haut durch die Einschusslöcher in der Kleidung gesehen? Ganz schön tätowiert, der junge Typ aus Tokio.“
Ziiippp machte der Reißverschluss und gab den Inhalt preis.
Darin lagen mehrere kleine Päckchen, alle sorgfältig mit gemustertem Tuch eingepackt. Eines davon hatte sich beim Aufprall geöffnet. Violette und gelbe Geldscheine spitzten hervor.
„Ach du Scheiße“, murmelte Kreuzner, der Tobias über die Schulter schaute.