Die Wilden - Eine französische Hochzeit - Sabri Louatah - E-Book
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Die Wilden - Eine französische Hochzeit E-Book

Sabri Louatah

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Beschreibung

Politik und Intrige - die große französische Familiensaga

Am Vorabend der französischen Präsidentschaftswahlen erschüttert ein Attentat die Nation. Opfer ist Idder Chaouch, der erste Kandidat arabischer Herkunft, ein charismatischer und weltgewandter Politiker, der die Menschen mitreißt und der politischen Landschaft neues Leben einhaucht. Ins Fadenkreuz der Ermittlungen gerät die weitverzweigte Familie Nerrouche, algerische Einwanderer in dritter Generation, die voller Stolz auf ihren Kandidaten sind und ihn mit aller Kraft unterstützen. Doch innerhalb von 24 Stunden wendet sich das Blatt und die Familie gerät unter Verdacht, die Sicherheit des Staates zu gefährden. Das Schicksal der Familie wird zum Sinnbild einer zerrissenen Nation.

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Zum Buch

Am Vorabend der französischen Präsidentschaftswahlen erschüttert ein Attentat die Nation. Opfer ist Idder Chaouch, der erste Kandidat arabischer Herkunft, ein charismatischer und weltgewandter Politiker, der die Menschen mitreißt und der politischen Landschaft neues Leben einhaucht. Ins Fadenkreuz der Ermittlungen gerät die weitverzweigte Familie Nerrouche, algerische Einwanderer in dritter Generation, die voller Stolz auf ihren Kandidaten sind und ihn mit aller Kraft unterstützen. Doch innerhalb von vierundzwanzig Stunden wendet sich das Blatt und die Familie gerät unter Verdacht, die Sicherheit des Staates zu gefährden. Das Schicksal der Familie wird zum Sinnbild einer zerrissenen Nation.

Zum Autor

Sabri Louatah, 1983 in Saint-Étienne geboren, lebt heute mit seiner Frau in den USA. Die Unruhen in der Pariser Banlieu Anfang der 2000er Jahre inspirierten ihn zu seinem Roman-Zyklus »Die Wilden«, der in Frankreich von Publikum und Kritik gefeiert wurde. Zurzeit arbeitet Louatah an der TV-Adaption der Serie.

SABRI LOUATAH

DieWilden

Eine französische Hochzeit

Roman

Aus dem Französischen von Bernd Stratthaus

Wilhelm Heyne Verlag

München

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Les Sauvages

bei Flammarion, Paris

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Copyright © 2011 und 2012 by Sabri Louatah

Die Originalausgabe erschien in zwei Bänden unter den Titeln Les Sauvages – Tome 1 und Les Sauvages – Tome 2 bei Flammarion.

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel / punchdesign, München, Umschlagabbildung: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (PHOTOCREO Michal Bednarek, Nik Merkulov)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-20768-7V001

www.heyne-encore.de

SAMSTAG

KAPITEL 1

Krim

1.

Man würde sich bald entscheiden müssen, wer »in Ruhe« im Festsaal bleiben dürfte und wer zum Rathaus mitkommen müsste. Die Familie der Braut war zu groß, sie würden unmöglich alle auf einmal ins Rathaus passen. Vor allem war der Bürgermeister nicht gerade für seine Geduld in derartigen Situationen bekannt. Sein Vorgänger (ein parteiloser Linker) hatte Hochzeiten am Samstag einfach ganz verboten, um den ruheliebenden Anwohnern des Stadtzentrums das Hupkonzert, den Raï und den Autokorso mit den weiß-grünen Fähnchen zu ersparen. Der neue Bürgermeister hatte dieses Verbot zwar aufgehoben, drohte aber ohne zu zögern, wann immer ein aufgekratzter Familienklan ein öffentliches Gebäude auf den Kopf stellte, es wieder in Kraft zu setzen.

Zu denen, die keine Lust mehr hatten, sich auch nur einen Zentimeter wegzubewegen, gehörte Tante Zoulikha. Sie saß auf ihrer Couscoussière und fächelte sich mit der aktuellen Ausgabe von 20 minutes Luft zu. Die Titelseite mit dem Schlagwort »JAHRHUNDERTWAHL!« hatte der alte Ferhat abgerissen. Er trug eine irrwitzige graugrüne Uschanka, eine Fellmütze, die ihm den Schweiß über die Ohren trieb. Einer seiner jungen Neffen hatte versucht, ihn zur Vernunft zu bringen, doch sobald jemand das Thema ansprach, wies Ferhat ihn mit einem kurzen Runzeln des Kinns ab und murmelte dann in einem leisen, fast professoralen Tonfall, den man sonst von ihm nicht kannte, seine Analyse der letzten Umfragen vor sich hin.

An diesem Nachmittag waren alle ein bisschen komisch drauf. Angeblich ging die Zahl der Gäste seitens der Brautfamilie in die Hunderte. Außerdem war es für einen 5. Mai zu heiß. Das Ergebnis des ersten Wahlgangs hatte das Land in einen Dampfkochtopf verwandelt, und es schien, als wäre Cousin Raouf die einzige Schraube, die ihn noch am Explodieren hinderte. Er besprühte sich mit Wasser aus einem Zerstäuber und tippte dabei auf seinem iPhone herum. Seine Großmutter warf ihm einen ratlosen Blick zu – sie verstand diese jungen Menschen einfach nicht, deren Leben sich nur mehr über zwischengeschaltete Bildschirme abspielte. Raouf folgte dem Twitterfeed einer Frau, die ganz vernarrt in Umfragen war, und dem Liveticker einer politischen Webseite. Er zündete sich eine Zigarette nach der anderen an und kommentierte die Wahlprognosen, die ein Kollege – ebenfalls Geschäftsführer eines Halal-Restaurants in London – auf seiner Facebook-Seite postete.

Raouf galt wegen seiner Nadelstreifenanzüge für tausend Euro als besonders elegant. Heute trug er allerdings – und zwar schon seit zwei Tagen – ein bedrucktes T-Shirt, auf dem das lächelnde Gesicht des sozialistischen Präsidentschaftskandidaten prangte: ein schlecht geschnittenes tailliertes Shirt, das unter seinem Sakko Falten schlug. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, sodass seine sehnigen Unterarme zu sehen waren. Es wirkte fast, als pochte der Puls der ganzen Nation in seinen Adern.

Die Großmutter, die ihn dafür getadelt hatte, nicht von Anfang an einen Anzug zu tragen, hatte inzwischen weder Kraft noch Lust, wem auch immer noch irgendetwas vorzuwerfen. Stumm thronte sie in Raoufs blitzblankem Audi. Er hatte die Klimaanlage angeschaltet und lauschte mit halbem Ohr den kabylischen Liedern, die aus den festtäglich geschmückten Autos drangen. Die Großmutter streckte eines ihrer dünnen Beine aus dem Fahrzeug und ließ den Blick über den Parkplatz schweifen, auf dem die Sprösslinge ihres Klans in kleinen Grüppchen herumstanden.

Mit ihren ungefähr fünfundachtzig Jahren (niemand kannte ihr genaues Geburtsdatum) genoss die Großmutter einen besonderen Status innerhalb der Familie: Alle wurden von ihr terrorisiert. Sie war schon seit einer Ewigkeit verwitwet, und niemand hatte je erlebt, dass sie Mitleid zeigte, Milde walten ließ oder auch nur ein freundliches Wort zu irgendeinem Menschen sagte, der die Pubertät bereits hinter sich hatte. Wie ein fleischgewordener Vorwurf stand sie zwischen ihren schnatternden Töchtern und wurde von ihrer außergewöhnlichen Zähigkeit angetrieben. Diese schien zugleich von einem Pakt mit dem Teufel herzurühren und aus der Gewissheit gespeist zu sein, dass sie sie noch alle überleben würde.

Während die versammelte Gesellschaft wartete, fingen die Jungs, die sich um die Musik kümmern sollten, mit dem Soundcheck im Festsaal an, und die Großmutter zog sich wieder in die wattige Stille des Audi zurück.

»Warum seid ihr denn schon hier?«, wandte der DJ sich an Raouf.

»Wir brauchten einen Treffpunkt, bevor wir zum Rathaus fahren.« Er machte sich nicht mal die Mühe, die Kopfhörer abzunehmen. »Wir sind gleich wieder weg, wir warten nur noch auf die anderen Gäste.«

Der DJ schien immer noch skeptisch zu sein. Ihm hing ein Stück Salat zwischen den Zähnen – zwischen sehr großen Zähnen –, und er roch nach Zwiebel.

»Ihr seid die Familie des Bräutigams, oder? Also, ihr müsstet mal die Musik in den Autos abstellen, wenn’s euch nichts ausmacht. Die Nachbarn sollen vor heute Abend nicht zu sehr gestört werden. Und die Frau da mit der Couscoussière …«

»Was ist mit ihr?«

»Ich dachte, ihr hättet ’nen Partyservice engagiert?«

Raouf wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er hob verlegen die Hände und wandte sich zu seiner Tante Zoulikha um. Sie saß wie eine ehrwürdige bauchige Flasche aus rosigem Fleisch stoisch und makellos da und atmete unter der Kastanie, deren knospende Zweige sie kein bisschen vor der prallen Sonne schützten, angestrengt ein und wieder aus. Drei weitere Tanten, die im spärlichen Schatten einer Pappel ungeduldig von einem Fuß auf den anderen traten, unterhielten sich über ihre jüngste Schwester, das Sorgenkind Rachida, während Dounia, die Mutter des Bräutigams, zwischen den einzelnen Grüppchen hin- und herlief und langsam unruhig wurde, weil niemand Lust zu haben schien, die Fahrt zum Rathaus anzutreten.

»Dann wird ja nur ihre Verwandtschaft da sein«, jammerte sie. Ihr Schleier flatterte, als sie mit ihrem Handy herumfuchtelte. »Wallah, das ist wirklich eine Schande, das macht man nicht … und Fouad«, rief sie – ihr zweitältester Sohn, der eigens aus Paris anreisen wollte, um Trauzeuge seines Bruders zu sein –, »Fouad, den erreiche ich nicht mal telefonisch!«

Onkel Bouzid nahm die Mütze ab, um sich über den kahlen Schädel zu wischen. Er hatte eine eigenartige Glatze, irgendwie ungleichmäßig und sehnig. Sie war von vorn bis hinten von einer Vene durchzogen, die so deutlich hervortrat, dass jeder stets befürchtete, ihm stünde ein Schlaganfall bevor.

»Jetzt beruhige dich mal, Dounia. Die Zeremonie im Rathaus beginnt doch erst in einer Stunde, und Slim ist noch nicht mal hier. Dafür immerhin alle anderen, oder nicht? Du hast dir so viele Sorgen gemacht – und jetzt sind wir eine ganze Stunde zu früh hier. Also, ganz ruhig. Ruhig!«, brüllte er fast, bevor er mit einem schiefen Lächeln hinzufügte: »Glaubst du wirklich, dass sie die Mutter des Bräutigams nicht reinlassen? Das Rathaus ist doch keine Diskothek. ›Ah, tut mir leid, geschlossene Gesellschaft.‹ Ich bitte dich! Jetzt rede mal ein bisschen mit Rab’. Die Arme steht da drüben ganz allein.«

Mit dem Handy am Ohr knetete Rabia ihre Löckchen und kicherte von Zeit zu Zeit wie ein kleines Mädchen. Sie war jung Mutter geworden. Sie selbst war vierzig, ihr ältester Sohn gerade achtzehn Jahre alt geworden. Sie beendete ihr Telefonat, um ihn anzurufen, aber er ging nicht ran. Also gesellte sie sich zum Grüppchen ihrer Schwager, die sich über Technik, die Präsidentschaftswahlen und die Sportergebnisse unterhielten und dabei gelegentlich ihre Frauen anschnauzten, die ihrerseits mit ihren überdrehten Rasselbanden alle Hände voll zu tun hatten.

2.

Und dann war da ganz hinten, hinter der Turnhalle, in der die Leute morgen wählen würden, weit weg vom Raï und all dem Geplapper Krim. Krim mit dem schläfrigen Blick, Krim mit den dichten, trotzigen, feindseligen Augenbrauen, Krim mit den merkwürdig platten Wangenknochen, mit denen er – das sagten alle – einem kleinen Chinesen ähnelte.

Er lehnte an einer Plakatwand, auf der nur noch zwei Wahlplakate klebten, und rieb ein silbernes Feuerzeug am fluoreszierenden Streifen seiner Trainingshose, als seine Mutter Rabia auf ihn zueilte, um ihn zu fragen, warum er nicht an sein Handy ging. Vor allem wollte sie aber wissen, ob er zum Rathaus mitkommen würde. Er steckte das Feuerzeug in die Tasche und zuckte mit den Schultern, vermied es aber, seine Mutter direkt anzusehen.

»Weiß nicht.«

»Wie, du weißt nicht? Was drückst du dich überhaupt schon wieder hier herum? Hast du wieder Hasch geraucht? Lass mich mal deine Augen sehen … Du hast mir versprochen, damit aufzuhören. Was soll ich jetzt davon halten? Dass man dir gar nicht trauen kann … Hast du Sarkozy das Hitlerbärtchen aufgemalt? Schau mich an! Warst du’s?«

»Nein, nein, war ich nicht.«

»Na gut. Du kommst schon mit, oder?«

»Ach, keine Ahnung«, maulte Krim. »Ich hab dir doch gerade gesagt, dass ich’s noch nicht weiß.«

»Also wirklich, wenn du’s jetzt nicht weißt, dann kommst du sicher nicht mit. Willst du deinen Cousin im Rathaus gar nicht unterstützen? Denk nicht lang darüber nach! Sag schon, ist es dir wirklich so egal, ob du ihn unterstützt?«

»Was willst du denn von mir?«, fauchte Krim sie an. »›Unterstützt du deinen Cousin?‹ Als wären wir im Krieg! Warum machst du mich hier überhaupt so an?«

Rabia blickte vom Display ihres Handys auf und zog ihren Sohn an der Hand zum Eingang der Umkleidekabinen. Der Hausmeister hatte dort gerade aufgeschlossen, um einige Stühle zu holen. Rabia steuerte geradewegs die Duschen an und drohte ihrem Sohn mit lauter Stimme: »Krim, du fängst jetzt nicht mit deinen kleinen Katzbuckeleien an. Nicht heute, das sag ich dir gleich.«

»Jetzt mach mal halblang und reg dich ab. Außerdem bedeutet ›Katzbuckeleien‹ was anderes.«

»Was?«, rief sie mit weit aufgerissenen Augen.

»Schon gut.«

»Und wieder ist es meine Schuld. Wenn ich so eine schreckliche Mutter wär, würdest du mir jetzt die Füße küssen. Reddem le rehl g’ddunit, geschieht mir ja ganz recht. Wenn man zu nett ist, ist man immer die Dumme. Aber gut, chai, ich werd’s mir merken …«

Zum zehnten Mal in den letzten fünf Minuten prüfte sie die Liste der eingegangenen Nachrichten. Sie war zwar erst vierzig, trotzdem waren Handys für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Sie ging beinahe furchtsam damit um – mit ausgestreckten Fingern, die sie im rechten Winkel aufsetzte, um ja keine falsche Taste zu erwischen. Sie hob den zerstreuten Lockenkopf und sah ihren Sohn an. In all den Jahren, die sie jetzt schon mit den Knirpsen in der städtischen Tagesstätte arbeitete, hatte sie gelernt, nie ernst dreinzublicken oder irgendwas mit strenger Stimme zu sagen. Sie war selbst flatterhaft und kindlich geworden. Sie ähnelte den Mädchen mit den Grübchen und den großen Kulleraugen, die sie den ganzen Tag lang mit den Kleinen malte. Die Kinder liebten sie – vielleicht schon deshalb, weil sie nie aufgehört hatte, eine von ihnen zu sein.

»Also, mein Schatz, du kommst schon mit, hm?«

»Mensch, du nervst! Du nervst! Verstehst du das? Du nervst!«

»Versprich mir, dass du mit dem Hasch aufhörst«, redete sie ihm noch mal ins Gewissen. »Denk an deine Schwester. Wenn du schon nicht an deinen Vater denken willst, dann denk an deine Schwester.«

»Schon gut, ich hab’s kapiert.«

»Was soll denn aus dir werden, wenn du …«

»Schon gut!«

»Papa hatte recht. Du verwandelst dich noch in einen Esel, wie Pinocchio.«

»Ich hab gesagt, es ist gut!«, brüllte Krim. »Es ist gut!«

Mit dem Blick, den Schultern, den Händen, seinem ganzen aufgewühlten Körper suchte er nach einem Fluchtweg.

3.

Rabia bestand auf dem Rathaus, weil Krim (der mit vollem Namen Abdelkrim hieß) zweiter Trauzeuge des Bräutigams war, vor allem aber derjenige seiner zwölf Cousins ersten Grades, der dem Bräutigam am nächsten stand. Rabia und Dounia, ihre Mütter, waren beste Freundinnen, Schwestern im Blut und im Schicksal (Liebesheirat, früh verwitwet), und trotz der zwei Jahre Altersunterschied und ihrer grundverschiedenen Leben waren Slim und Krim schon immer unzertrennlich gewesen. Früher hatte man sie scherzhaft Mohammed und Hardy genannt, die zwei Kanaken von Saint-Christophe. »Kanake« war – zumindest damals – Slims Lieblingswort gewesen. Er hatte es bei einem seiner Onkel aufgeschnappt und so oft gehört, dass es für ihn am Ende gar nichts mehr bedeutete: Schau mal, wie der Kanake rennt. Die Blondchen sind vielleicht Kanaken. He, du hast ’nen Kanaken am Schuh.

Sie hatten zusammen alles erlebt: Räuber-und-Gendarm-Spiele in der Siedlung der Großmutter. Grillfeste im Freien, bei denen ihre Väter bei der Dreierwette auf ihre Geburtsdaten gesetzt hatten. Die gefährlichen »Wir sehen uns draußen«-Momente, zu denen sie um fünf Uhr nachmittags Seite an Seite aufbrachen, mit gerecktem Kinn wie Westernhelden. Dann der genagelte Dielenboden im Büro des Schulaufsehers, die Hochzeiten, auf denen sie ihre kleine Cousine ärgerten, und schließlich und vor allem der Geruch der Pinien im Ferienlager, die sie erst anpinkelten, bevor sie gegenseitig ihre vorhautlosen Pimmel begutachteten.

Slim würde sich sein ganzes Leben an den Tag erinnern, an dem Krim in der Umkleide mit dem untrüglichen Beweis in der Hand brüllte, endlich habe er einen Männerschwanz.

»Pff, Angeber! Das soll ein Männerschwanz sein?«

»Na, mach schon, dann zeig mal deinen.«

»Pff! Wenn ich dir mein Rohr zeige, fällst du in Ohnmacht.«

Aber Krim hörte schon nicht mehr zu, zu fasziniert war er von seinen langen, gelockten Haaren, die er fast noch hätte abzählen können und die dieses neue olivfarbene Geschlechtsteil umgaben, das tatsächlich bereits eine beachtliche Größe aufwies.

Man hatte Abdelkrim, ohne dass seine Umgebung je groß darüber nachgedacht hätte, immer Krim oder Krikri gerufen, bis die Pubertät – eine Fee, die ihn früh besucht und ihn für sein Empfinden auf fast schon zweifelhafte Weise verschwenderisch bedacht hatte – den Umfang seiner Unterarme auf das Doppelte hatte anwachsen und auf seiner Oberlippe einen bedrohlichen Flaum hatte sprießen lassen. Ab diesem Zeitpunkt war dann alles ganz eindeutig bergab gegangen.

Am Ende der achten Klasse wurde er in einen Zug mit technischer Ausrichtung gesteckt, und das nicht etwa, wie auf der Lehrerkonferenz und seinen Eltern erklärt wurde, aufgrund seiner Leistungen in Technik, die kaum weniger mittelmäßig waren als die in den anderen Fächern, sondern aufgrund des Interesses, das er angeblich für die Funktionsweise von Maschinen aufbrachte. Man habe seinen Weg für ihn gefunden, und es sei übrigens dumm, um nicht zu sagen fahrlässig, ihn weiterhin von einem handwerklichen Beruf abbringen zu wollen. Es war die gleiche Ansprache, die sich seine Tanten dreißig Jahre zuvor hatten anhören müssen, bevor man sie zu einer Lehre gezwungen hatte. Eine ganze Generation war inzwischen vergangen und hatte daran nichts ändern können.

Sein neues Collège lag ein gutes Stück außerhalb und war architektonisch eine Zumutung: ein Riegel aus Beton, der auf einem Hügel inmitten eines Industriegebiets thronte und neben dem eine Fahne wehte. Sie erinnerte so sehr an eine Totenkopfflagge, dass das Collège Eugène Sue auch unter dem Beinamen »Titanic« bekannt war. Tatsächlich schienen die vier Schornsteine bei Tagesanbruch im Nebel zu treiben, die Fenster waren bis hinauf zur dritten Etage vergittert. In der vierten befand sich dann die Schulverwaltung.

Zu Beginn des Schuljahrs lernte Krim, der handgreiflich wurde, sobald ein Fremder ihn Krikri rief, einen Jungen kennen, den sein Vater – ein sanfter Mann von labiler Gesundheit – später Lucignolo taufen sollte, nach dem charismatischen Gauner, der Pinocchio vom rechten Weg abbringt. Krim wurde zu seinem Adjutanten und fing an zu rauchen. Er ging nicht mehr zum Fußball und auch nicht mehr zum Klavierunterricht, für den er sich plötzlich schämte. Seine Mutter hatte ihn dort angemeldet, weil seine Lehrerin, die selbst Geige spielte, in der dritten Klasse behauptet hatte, dass er nicht nur ein enormes Talent besitze, sondern auch das, was sie mit irritierender Ehrfurcht »das absolute Gehör« nannte.

Im selben Winter stellte ein HNO-Arzt in Lyon bei Krim eine Hyperakusie fest: Er hörte mehr und besser als alle anderen, was vermutlich die Ursache für seine schlimmen Kopfschmerzen war. War das heilbar? Nein. Sie kauften Ohropax und dickere Vorhänge, und dann wurde nicht mehr darüber gesprochen.

Einige Wochen später, mitten in den Weihnachtsferien, in denen zum ersten Mal seit Jahren der Schnee liegen geblieben war, starb Krims Vater an den Folgen eines Arbeitsunfalls. Er hatte giftige Dämpfe eingeatmet.

Schnee, das ist bekannt, dämpft Geräusche, stillt den Schmerz und verleiht, solange er liegt, allem eine besondere Würde. Doch der Tod des Vaters schwelte und überdauerte die Zeit und beförderte Krim bald an den Rand eines Systems, das alles in allem ausgerechnet denen nicht viel brachte, die sich an die Regeln hielten.

Fast wie von selbst wurde alles immer schlimmer – bis zu dem Tag, an dem Krim den Zorn einer Autorität auf sich zog, die noch viel brutaler war als der Staat. Mouloud Benbaraka war ein unangreifbarer Gangsterboss, der »Bernardo Provenzano des 42. Departements«, wie ihn die Tribune-Le Progrès getauft hatte. Krim hatte für seine Kumpane Schmiere gestanden, er hatte die Eingänge zu den Treppenhäusern überwacht, in denen Drogen verkauft wurden, und den Schrei einer Eule nachgeahmt, sobald er ein Zivilfahrzeug der Polizei hatte kommen sehen. Mit sechzehn verdiente er auf diese Weise fünfzehnhundert Euro pro Monat, eine Summe, die sein Vater selbst in seinen besten Jahren nicht heimgebracht hatte. Eines Tages gelang es ihm, fünfzig Gramm vom besten Shit zu klauen, den man in der Gegend seit Jahren zu Gesicht bekommen hatte. Mouloud Benbaraka bestellte ihn ein und zog ihm erst mal die Löffel lang. Krim wehrte sich und fing sich daraufhin ein paar Ohrfeigen ein. Als Mouloud Benbaraka sich ihm mit seinem Schakalkopf näherte, um sich seine Erklärungen anzuhören, biss Krim ihm ins linke Ohrläppchen, dass es blutete. Nazir, Slims mächtiger großer Bruder, musste all sein diplomatisches Geschick aufwenden, um den Zorn des Herrschers über die Unterwelt von Saint-Étienne zu besänftigen, der trotzdem schwor, Krim zu Hackfleisch zu verarbeiten, sollte er ihm jemals wieder zufällig über den Weg laufen.

4.

Rabia wusste natürlich nichts von diesem Vorfall, übrigens genauso wenig wie Slim. Es war, wie Nazir sich ausdrückte, eine Sache zwischen Krim und ihm, auch wenn der dicke Momo, Krims bester Freund, inzwischen eingeweiht war. Krim hatte gelernt, mit diesem Damoklesschwert über dem Kopf zu leben. Schließlich verschwinden selbst die schlimmsten Ärgernisse von allein, wenn man nicht den ganzen Tag an sie denkt. Und an den Abenden, an denen ihn die Angst quälte, schloss er irgendwann die Augen und wiederholte im Kopf eine der Sonaten, die er auf dem E-Piano spielte, das ihm sein Großvater geschenkt hatte. Die Musik reinigte und erleuchtete die Windungen seines Geistes und ließ keinen Platz mehr für das Chaos in der Welt.

Trotzdem gab es ein Problem: Luna, seine Schwester, die er auf seine Weise – seine grobe, schnörkellose Weise – stets verwöhnt hatte und die jedes Mal wie ein Schlosshund heulte, wenn ihre Mutter wegen Krims neuester Dummheit wieder aufs Kommissariat gerufen wurde. Es gelang ihm einfach nicht, sich dieser seltsamen Zone des Aufruhrs zu entziehen, die Lunas Traurigkeit für ihn verkörperte. Noch Jahre später sprach seine kleine Schwester in einem so moralisierenden Ton mit ihm, als hätte er irgendwas an sich, was sie unweigerlich zu Predigten und Vorwürfen herausforderte.

»Warum hast du Mama gesagt, dass auf Facebook ein Nacktfoto von mir steht?«

»Was?«

Luna war zu einer jungen Frau herangewachsen. Sie hatte ihr elegantestes schwarzes Kleid angezogen, das mit so vielen Pailletten bestickt war, dass es sogar absurd glitzerte, als im Schatten des Gebäudes nichts als ihre Wangenknochen zu sehen waren. Für einen Moment glaubte Krim, dass er sie wegen des Lärms der Anlage falsch verstanden hätte, die gerade getestet wurde, indem irgendjemand immer lauter wahllos Raïstücke anspielte.

Er verzog das Gesicht, weil ihn ein besonders blendender Lichtreflex erwischt hatte, und machte ein paar Schritte zur Seite.

»Was laberst du da von Facebook?«

»Hast du mein Konto gehackt? Nein, dafür bist du zu blöd. Hast du dich mit einer meiner Freundinnen angefreundet und dir dann meine Videos angesehen? Das glaub ich auch nicht. Weißt du, was du jetzt machst? Du gehst zu Mama und erzählst ihr, dass du das alles nur erfunden hast. Ist mir egal, wie, denk dir was aus, aber …«

Inzwischen lächelte Krim. Der Joint, den er in seiner Hand verbarg, entfaltete allmählich seine Wirkung.

»Armes Schwein«, warf Luna ihm an den Kopf, bevor sie sich wieder Richtung Sporthalle davonmachte.

Sie hatte einen trotzigen Gang, der fast sofort in einen Laufschritt überging, hielt die Fäuste geballt und die Arme angewinkelt, als müsste sie am Ende des Wegs über ein Pauschenpferd springen. Krim hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass ein fünfzehnjähriges Mädchen muskulöser als die meisten Jungen seines Alters sein konnte. Das Fitnessstudio hatte ihren Bizeps, ihre Bauchmuskeln, die Trapezmuskeln und sogar die Deltamuskeln gestählt. Wenn sie wie heute ein ärmelloses Oberteil trug, traten die Venen an ihren Unterarmen und vor allem ihr Trizeps hervor, selbst wenn sie die Arme einfach nur seitlich am Körper herabhängen ließ.

Als hätte sie die Gedanken ihres Bruders gelesen, stürmte Luna mit einem Mal zu ihm zurück, drohte ihm mit dem Finger und hielt den eigenwilligen Schädel, der ein bisschen an einen Widder erinnerte, leicht gesenkt. »Wenn du Mama nicht erzählst, dass du das mit meinen Facebook-Fotos erfunden hast, wirst du es bereuen, das schwör ich dir.«

»Ach ja? Seit wann kennst du denn das Wort ›bereuen‹?«

»An deiner Stelle würd ich mich in Acht nehmen.« Und dann, ganz plötzlich, ein bisschen zögerlicher und unfähig, ihm direkt in die Augen zu sehen, fügte sie hinzu: »Ich hab Sachen gegen dich in der Hand, wenn ich also du wäre …«

»Mach schon, hau ab, wallah, ich hör dir nicht mal zu.«

»Glaubst du, ich hätte dich letzte Woche nicht mit dem dicken Momo gesehen?«

»Ach, hau schon ab, du fieses Stück.«

Doch statt darauf zu warten, dass sie ging, machte er sich lieber selbst in Richtung der dichten Büsche davon, die um die Sporthalle herum wuchsen.

5.

Auf dem Weg betrachtete er die Stacheln der Stechpalmen, die kleinen, ungenießbaren Beeren und die Ranken mit den auffälligen Blüten, deren Name er nicht kannte. Vom Eingang zu den Umkleidekabinen, in denen er sich so oft aufgehalten hatte, führte ein Weg hinauf zu einem Kunstrasenplatz, aber um dort hinzugelangen, musste man erst eine Art Pflanzenlabyrinth durchqueren. Dort suchte Krim sich ein Plätzchen, um weiter in Ruhe rauchen zu können. Er lauschte mal diesem Geräusch, mal jenem, sich plötzlich aus dem Gemurmel lösenden Stimmen, dem Zwitschern der Vögel. Ein Presslufthammer dröhnte ein paar Häuserblocks weiter, wahrscheinlich von der Schnellstraße her. Der Basso continuo war schwer erträglich. Außerdem lärmte ein Stück weiter noch der Motor eines Laubbläsers und spielte ein sich ständig wiederholendes, dramatisches Begleitmotiv, das eine Melodie ankündigte, die allerdings nie einsetzte.

Nach einer Weile vernahm Krim eine Stimme, die ihm bekannt vorkam.

»Das Schlimmste ist, dass die Hälfte der Leute, die heute Abend hier sind, sich nicht mal um einen Wahlschein gekümmert haben. Das macht mich ganz verrückt … Aber was soll man machen, soll ich sie zum Wählen zwingen? Ach, du meinst, weil sie Ausländer sind?«

Das war unverkennbar Raouf, und aus den Pausen, die den Fluss seiner Sätze immer wieder unterbrachen, folgerte Krim, dass sein Cousin telefonierte. Raouf war der Geschäftsmann der Familie. Krim konnte ihn zwar nirgends sehen, aber er stellte ihn sich in einem braunen Rollkragenpullover, einem gestreiften Sakko und mit einem perfekten Zahnpastalächeln vor.

»Nein, nein … Na ja, doch, Ausländer sollten natürlich wählen dürfen. Bei den Kommunalwahlen und … Ach, scheiß drauf, nein, bei allen Wahlen …«

Raouf war nach London gezogen, hier hatten sie ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr zu Gesicht bekommen. Krim fragte sich, ob er es mit dem Rauchen nicht ein bisschen übertrieb. Das Gesicht seines Cousins konnte er sich gerade beim besten Willen nicht mehr vorstellen.

Er schluckte und verlagerte das Gewicht, wobei er sich bemühte, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Durch die Zweige hindurch konnte er jetzt Raoufs Gestalt ausmachen, der ins Leere kickte, während er am Fuß der Sportplatzumzäunung in ein Headset sprach. Tatsächlich war er nur ein paar Meter von ihm entfernt. Krim spitzte weiter die Ohren und fragte sich, ob er es schaffen würde, nicht länger an den Joint zu denken, an die braunen Tabakkrümel, die sich mit jeder Sekunde zusehends in Rauch auflösten.

»Außerdem sind die meisten gar keine Ausländer. Ich meine, wie nennt man jemanden, der seit fünfzig Jahren hier lebt? Irgendwann muss es auch mal gut sein … Wenn du hier Steuern zahlst, solltest du auch wählen dürfen, und fertig … Mein Parteibuch für die Sozialisten? Ja. Nein, aber jetzt wart mal, hör mal zu, das ist nicht mehr wie vorher, das hier ist doch irgendwie ein historischer Moment. Ich bin in den PS nur wegen der Rechten eingetreten, du weißt schon, die Begegnung eines Mannes mit seiner Epoche. Ah, ah … Verdammt, ich hab nichts hier, keine Ahnung, wie ich es bis Montag aushalten soll … Was? Na klar. Machst du Witze? In den Umfragen steht es 52 zu 48 Prozent, sogar in der vom Figaro, und Brice Teinturier hat auf TF1 gesagt, dass das Bündnis zwischen Villepin und Mélenchon das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Nein, das ist sicher. Außerdem ist seit der Debatte die Stimmung in der Öffentlichkeit umgeschlagen. Auf der einen Seite Sarkozy, der so nervös war wie noch nie und der mit dem Finger auf ihn gezeigt hat und ausgerastet ist. Und auf der anderen Seite Chaouch, der … Na, auf der anderen Seite Chaouch eben.«

Wenn er sich nur konzentrierte, dachte Krim, könnte er sicher erraten, mit wem Raouf sprach. Aber der Cousin ließ seinem Gesprächspartner kaum die Gelegenheit, auch nur Luft zu holen.

»Nein, daran glaub ich nicht mehr, die wollen uns mit ihren durchsichtigen Vorsichtsmaßnahmen doch nur verwirren. Immer dieses Blabla von wegen Wahlgeheimnis … Ach, Scheiße, er war doch Zweiter im ersten Wahlgang! Das hab ich doch nicht geträumt! Er hat eine perfekte Kampagne hingelegt – total positiv – und hat sogar kaum Sarkos Namen in den Mund genommen. Außerdem kann ich nicht glauben, dass … dass … hab vergessen, was ich sagen wollte … Die Franzosen sind doch wirklich Dumpfbacken. Ah, ah … Nicht schlecht … Nein, ich meine, die Leute lügen doch, wenn’s um den Front National geht, da ist es in Ordnung, da muss sich was ändern. Weil sie sich schämen. Das sind Protestwähler, da sind wir einer Meinung. Aber jetzt ist es doch genau das Gegenteil! Das ist eine Wahl der Hoffnung, die Leute sind stolz darauf – endlich ein paar Ideale, ein bisschen Schwung und Optimismus in dieser Welt voller Schwachköpfe und Bürokraten. Und Chaouch, der ist schließlich der Inbegriff der Tatkraft. Wenn die Leute ihn im Fernsehen sehen, dann sehen sie sich nicht, wie sie sind, so kleinkariert und hinterfotzig. Sie sehen sich so, wie sie sein wollen, sie fassen wieder Vertrauen in ihr Leben, in die Zukunft …«

Raouf schien von seiner überschwänglichen, fieberhaften Vorstellung schier überwältigt zu werden. Sein Blick huschte von rechts nach links, blieb nirgends hängen, er schaute sich genauso um, wie er redete: flüchtig und so rasend schnell, dass er aus der Ferne betrachtet gleich abzuheben schien.

»Wovor soll ich mich in Acht nehmen? Vor der Ernüchterung? So nach dem Motto, man macht einen poetischen Wahlkampf, und dann regiert man wie … Ach, Quatsch. Ich nehm mich gar nicht in Acht. Ich hab die Schnauze voll davon, ständig misstrauisch zu sein …«

Krim lag inzwischen gut gelaunt und der Länge nach ausgestreckt auf der Böschung und sah den bauschigen Wolken nach, die anmutig vor einem matt, fast weich azurblauen Himmel vorbeizogen. Er sah aus wie eine bequeme Matratze und schien alle einzuladen, wie es bestimmt auch mit dem Himmel über dem Paradies der Fall war.

Während Krim darauf wartete, dass Raouf weitersprach, drehte er sich noch einen Joint für später. Hinter den Büschen warf die Sonne den gezackt dreieckigen Schatten einer Tanne auf die abschüssige Wiese, und zwar so scharf, dass man sogar die kreuzförmige Spitze erkennen konnte. Hier im Schatten war es angenehm kühl, wie in einer Oase. Krim hatte nicht weniger als den perfekten Ruheplatz gefunden: irgendwas zwischen einem Versteck und einem Aussichtspunkt – ein idealer Schlupfwinkel unter freiem Himmel.

6.

»Okay, Moment noch«, sagte Raouf plötzlich leise und sah sich vorsichtig um, »ich muss dich um was bitten, wenn du zwei Minuten hast. Weißt du noch, wie wir das letzte Mal über MDMA gesprochen haben? Also, es gibt da so’n Mädel, ’ne Freundin von mir in London, die das genommen und auf Twitter gepostet hat, wie krass das war … Liebesdroge? Nein, wusste ich nicht. Aber was heißt das, so in der Art, man nimmt’s, und dann liebt man alle?«

Raouf zog an seiner Zigarette, und unwillkürlich bekam Krim eine Gänsehaut. Es war ein sattes, feuchtes Geräusch, ähnelte halb einem Saugen, bestimmt durchnässte Raouf gerade den Filter. Anscheinend hatte seine Nervosität gerade eine neue, kritische Schwelle überschritten.

»Jetzt mal ehrlich. Du musst mir helfen. Ich werd ohne irgendwas die zwei Tage mit dieser ganzen Sippschaft wirklich nicht durchstehen … Ach ja, ich wollt dich sowieso fragen: Warum kommst du denn nicht? Wegen Fouad, stimmt’s? Nein. Jetzt aber mal ernsthaft, euer Scharmützel wird doch wohl nicht hundert Jahre dauern! Hallo? Nazir? Ja. Nein, du warst irgendwie weg, ich hab nur gefragt, warum du nicht kommst, aber okay, ich weiß schon. Ach, Scheiße, immerhin heiratet dein kleiner Bruder …«

Darauf folgte langes Schweigen, so lange, dass Krim abschaltete. Er fing erst wieder an zu lauschen, als er seinen Namen aus Raoufs Mund zu hören glaubte. Aber das hatte er sich sicher eingebildet, Raouf sprach jetzt erneut von Fouad, ihrem Cousin, dem Schauspieler, der seit Beginn des Jahres fünfmal die Woche im Fernsehen zu sehen war.

»Jetzt wart mal – als ich Anfang des Jahres nach Paris gekommen bin, nur für einen Abend, haben wir uns nicht mal getroffen! Und das letzte Mal, als ich im Facebook-Chat war, morgens um vier, war da erst keiner, und plötzlich ist Fouad aufgetaucht. Ich hab ihm geschrieben, aber er hat nicht geantwortet. Das ist später dann noch mal passiert. Aber viel schlimmer ist doch: Jedes Mal, wenn er auftaucht und meinen Namen in der Liste sieht, loggt er sich sofort wieder aus. Scheiße noch mal, du willst mir doch nicht erzählen, dass er das nicht absichtlich macht oder dass er morgens um vier was Besseres zu tun hat! Ach was … Hör zu, wenn ihn das jetzt ankotzt, mit seinen Cousins zu reden, wenn wir für ihn jetzt alle Bauern sind, weil er plötzlich ein Star ist, dann soll’s mir recht sein. Herzlichen Glückwunsch für ihn. Was soll ich sagen?«

Von dem Joint, den er durchgezogen hatte, bevor er in sein Versteck abgetaucht war, hatte Krim ein pelziges Gefühl im Mund. Mit ein wenig Mühe stand er auf und schlenderte zu den Umkleidekabinen zurück, um etwas zu trinken, ohne erst jemanden darum bitten zu müssen. Doch die Tür war mittlerweile abgeschlossen. Mit der Hand an der Klinke grübelte er über eine andere Lösung für sein Problem nach, als Raouf vom Sportplatz auf ihn zumarschierte, ihm zuzwinkerte, ihn bei den Schultern packte und um einen Gefallen bat.

Zuerst tauschten sie die üblichen Höflichkeitsfloskeln aus. Wie es so ging, mit der Gesundheit, der Familie. Allerdings schien Raouf die einsilbigen Antworten seines kleinen Cousins gar nicht hören zu wollen. Als er endlich zur Sache kam, war es an Krim, ihm nicht mehr zuzuhören, so sehr faszinierten ihn die Tics des Kokainsüchtigen. Das glatt rasierte Gesicht seines geschäftstüchtigen Cousins schien ständig und in rasender Geschwindigkeit in Bewegung zu sein – ein Gesicht, das bleich geworden war: durch die Anzüge, durch die Abendessen in der Stadt, die Nähe zum Nordpol und den Umgang mit einer reichen, blutleeren, unnachgiebigen blonden Meute.

»He, hörst du mir überhaupt zu, Krim? Ich hab dich gerade gefragt, ob es möglich wäre, mir noch vor heute Abend was zu besorgen.«

»Was denn?«

»Ein bisschen Shit zum Beispiel«, erwiderte Raouf und fügte nach kurzem Zögern hinzu, während er sich weiter in einem fort auf der Lippe herumkaute: »Kennst du dieses neue Zeug – MDMA?«

»Nee. Was soll das sein?«

»Schon gut, vergiss es. Ist so ’ne Art Ecstasy, nur besser.« Raouf legte sich die Hand in den Nacken und fügte geistesabwesend hinzu: »Angeblich eine Liebesdroge …«

Bei dem Gedanken an die Liebesdroge schob er die Hand in die Tasche und zog einen Fünfzig-Euro-Schein heraus, den er Krim in die Hand drückte.

»Falls du was findest. Wenn nicht, ist es auch egal. Kannst du behalten. Sadakha. Ist nur ’ne Kleinigkeit.«

Er werde ihn auf dem Laufenden halten, erwiderte Krim. Raouf ließ sich seine Nummer geben und rief ihn dann kurz an, damit er umgekehrt auch seine Nummer hatte. Anschließend tauchten beide in die gedämpfte Unruhe ein, die noch immer auf dem Parkplatz herrschte.

7.

Wenig später schrieb Krim in Onkel Bouzids Auto an den dicken Momo, er solle sich über MDMA schlaumachen. Während er auf die Antwort wartete, spürte er, dass er allmählich seine Superkräfte verlor. Gesichter, an die er sich nicht mehr erinnerte, Stimmen, die er verwechselte – bald würde er wahrscheinlich nicht mal mehr eine falsche Note heraushören, und mittelfristig würde er anfangen, den näselnden Gesang von diesem Cheb zu mögen, der Onkel Bouzids Autoradio zum Knistern brachte. Der drehte die Musik ein bisschen leiser und drückte auf den Zigarettenanzünder.

»Also, Krim. Ich hab deiner Mutter versprochen, dass wir uns mal ein bisschen unterhalten. Du bist jetzt siebzehn Jahre alt. Wann hast du Geburtstag?«

»Gestern.«

»In Ordnung. Seit gestern bist du also achtzehn Jahre alt. Jetzt hör mir mal gut zu …«

Krim wusste genau, worum es sich drehte. Er schaltete auf Durchzug und nickte ab da alle fünfzehn Sekunden.

Während er sich Vorwürfe darüber anhörte, dass er seinen McDonald’s-Job nach nur zwei Tagen geschmissen, seine Chefin mit der Hochsteckfrisur damit komplett vor den Kopf gestoßen hatte und seine Mutter so langsam zur Verzweiflung brachte, freute er sich insgeheim an der sanften Art seines Onkels, die ihn an seinen Vater und an die Abende erinnerte, an denen er sich, weil alle so gut gelaunt gewesen waren, auf den Beifahrersitz hatte setzen und dort die Unebenheiten der mondbeschienenen Straße hatte genießen dürfen. Krim hatte das Gefühl, als spielte er Grand Theft Auto IV: Er nahm keine Aufträge mehr an, hielt sich von Missionen, Polizisten und Dieben fern und begnügte sich damit, endlos in den verzweigten virtuellen Städten herumzufahren, wo die Welt wie in der guten alten Zeit stillzustehen schien und die Erde noch eine Scheibe war, begrenzt von einem Ozean, den man nur vom Hörensagen kannte und jenseits dessen ein Leben für einen selbst undenkbar war.

Onkel Bouzid fuhr – wie sein Vater und wie er, wenn er am Steuer eines Wagens aus Pixeln saß – weite, großzügige Kurven. Bei seinem Onkel rührte das zweifellos von seinem Beruf her: Als Busfahrer bei der STAS, der Verkehrsgesellschaft von Saint-Étienne, fuhr er auf der berüchtigten Linie 9, die Montreynaud, einen sozialen Brennpunkt, mit dem Stadtzentrum verband. So wie er abbog, ohne sich um die Markierungen zu kümmern, war nur zu klar, dass er an weite Abstände und ein dreimal so großes Lenkrad gewöhnt war. Manche dieser Abbiegemanöver jagten Krim einen wohligen Schauer über den Rücken. Er fühlte sich gut, würdevoll und wichtig neben Männern, die ihr Fahrzeug so souverän steuerten. Dabei gab er sich der Illusion hin, dass irgendeines Tages das Gleiche auch für ihn gelten würde – nur dass es in Wahrheit so nicht funktionierte, in Wahrheit fing Onkel Bouzid nämlich an, sich aufzuregen. Er sah immer häufiger in den Rückspiegel und immer seltener zu Krim.

»… und dann muss man irgendwann ein bisschen Ehrgefühl entwickeln, néf, tfam’et? Ich hab doch auch Blödsinn gemacht, als ich noch jung war, was glaubst du denn? Dass du der Einzige bist? Das haben wir alle hinter uns. Aber irgendwann musst du auch mal erwachsen werden. Und dann musst du aufhören, dich mit deinen kleinen Kumpels aus der Vorstadt rumzutreiben. Die Leute sagen: Sarkozy ist wie ein Kärcher. Aber in Wahrheit hat er doch recht! Ich würd die ganzen rotznasigen Gangster auch wegkärchern. Ich seh sie ja den ganzen Tag, diese kleinen Vorstadtrowdys, und ich kann dir sagen, wenn einer von denen sich bei mir im Bus eine Kippe ansteckt oder eine alte Dame belästigt, dann kriegt er es mit mir zu tun. Ja, glaubst du vielleicht, dass am Ende die Gangster die Gesetze machen? Gut, jetzt zeigst du mal ein bisschen mehr Verantwortung. Vor allem jetzt, wo Chaouch vielleicht gewählt wird. Du hast hoffentlich deinen Wahlschein, hm? Du bist doch jetzt achtzehn, und da ist es doch so weit, hm? Du kannst wählen gehen. Nein, irgendwann musst du auch mal …«

Als das Auto gerade die Schnellstraße verließ und auf die Serpentinenstraße fuhr, die auf den Hügel und nach Montreynaud hinaufführte, bekam Krim eine Nachricht. Er verdeckte den leuchtenden Bildschirm mit der Hand.

Erhalten: Heute um 16.02 Uhr.

Von: N

Morgen ist der große Tag, ich hoffe, du bist bereit.

Krims Miene verfinsterte sich. In den letzten Monaten hatte Nazir ihm im Schnitt zehn Nachrichten am Tag geschickt, die von »Läuft’s?« bis zu philosophischen Sinnsprüchen à la »Allein die Hoffnung macht die Menschen unglücklich« reichten.

Krim hatte gelernt, sich ein eigenes Bild zu machen, seit er sich seinem älteren Cousin angenähert hatte. Womöglich hatte er ihm zu verdanken, dass er überhaupt noch am Leben war. Mouloud Benbaraka hätte ihm vielleicht nur die Augen ausgestochen oder die Eier abgeschnitten, allerdings ging auch das Gerücht, er habe einen Typen angezündet, der seiner alten Mutter nicht den nötigen Respekt entgegengebracht hatte …

Nazir hatte mit ihm verhandelt und so die Haut seines kleinen Cousins gerettet – immerhin war Nazir aus demselben Holz geschnitzt wie Mouloud Benbaraka: Er machte sich keine Illusionen, er sah die Dinge, wie sie waren, statt sich irgendwelchen Hirngespinsten hinzugeben. Was er Krim geschrieben hatte, war der Beweis dafür, und Krim hatte all die Nachrichten trotz eines aus- und nachdrücklichen Verbots sorgfältig archiviert. Er war sogar so weit gegangen, die wichtigsten auf einen gefalteten Zettel zu schreiben, den er immer in der Tasche seiner Jogginghose bei sich trug.

Auf Nazirs jüngste Nachricht antwortete Krim schlicht, dass es ihm gut gehe und er sich bereit fühle. Dann hielt der Wagen an einer roten Ampel direkt vor einem Plakat von Chaouch, der Krim direkt anzusehen schien. Krim wandte den Blick ab. Er fügte seiner Nachricht noch ein »Was ist MDMA?« hinzu, was er auf den Shit schob und worauf Nazir seltsam trocken antwortete:

Erhalten: Heute um 16.09 Uhr.

Von: N

Muss dich nicht interessieren. Und außerdem: heute keine Drogen.

8.

Das Viertel, in dem sein Onkel wohnte, war womöglich das heruntergekommenste der ganzen Stadt – und es war Mouloud Benbarakas Reich. Aus Angst, entdeckt zu werden, drückte Krim sich unwillkürlich tiefer in den Sitz.

Die Straßen auf dem Hügel trugen die Namen berühmter Komponisten, die Häuserblocks die von Singvögeln: Drosseln, Rotkehlchen, Meisen … An den Hochhäusern – an ganzen Hochhausblocks – waren Tausende von Fenstern mit Parabolantennen gespickt, die beim Vorbeifahren in der drückenden Sonne aufblitzten. Der Beton bröckelte von den Balkons, Vorhänge und Wände bleichten aus. Trotz der Kinderwagen voller Einkäufe, die die Eingangstüren blockierten, und trotz der Mütter, die sich von der Straße aus mit den durchgeknallten Nachbarn aus dem ersten Stock stritten, hatte man das Gefühl, als könnten die Hochhäuser jeden Moment wie im Fernsehen explodieren. Zwanzig Stockwerke, die urplötzlich in sich zusammenfielen – niemand hätte sich darüber gewundert. Die Umgebung war trostlos. Sie schrie regelrecht nach einer Abrissbirne, wie der Regenwald nach Regen schreit.

»Na los, wir haben keine Zeit zu verlieren«, drängelte Onkel Bouzid und kletterte über die Reste einer zertrümmerten Tür am Eingang seines Hochhausblocks, an der ein A4-Zettel die Kleinkriminellen der Wohnsiedlung immer noch warnte: »HIER GIBT ES NICHTS MEHR ZU STEHLEN.«

Onkel Bouzid stürzte die Treppe hoch und in seine Einzimmerwohnung, in der es penetrant nach Fußschweiß roch. Darüber lag die Note eines moschuslastigen Aftershaves, das er seit seiner Jugend in den Siebzigerjahren benutzte.

»Probier den mal an«, forderte er Krim auf und zeigte auf einen grauen Anzug und ein blaues Hemd, das er von der Kleiderstange seines Schranks gepflückt hatte.

Die linke Schranktür wies Spuren von Gewalteinwirkung auf, wahrscheinlich von Faustschlägen, die vielleicht noch gar nicht lange her waren. Während Krim sich im Badezimmer umzog, verriet Bouzid ihm sein großes Geheimnis. Er stand direkt hinter der Tür, hatte aber vergessen, dass zusammen mit dem Badezimmerlicht auch der ohrenbetäubende Ventilator ansprang, weshalb Krim nur noch drei von vier Wörtern verstehen konnte.

Als er mit dem Sakko in der Hand wieder herauskam – leicht benommen durch den Hunger, der ihn seit dem Joint langsam zu quälen begann –, blickte der Onkel ihn wie ein geprügelter Hund mit großen braunen Augen an. Sein Kinn zitterte wie das von Charles Ingalls in Unsere kleine Farm, und er sah vollkommen fertig aus.

»Bis an mein Lebensende werd ich zahlen müssen. Fünfhundert Euro pro Monat, und zarma, das alles nur wegen einer lächerlichen Kneipenschlägerei.«

Krim wusste nie, wie er auf große Ansprachen reagieren sollte. Seine Mutter hielt auch oft welche, mit ähnlich weit aufgerissenen Augen, die einen davon zu überzeugen versuchten, dass wir letztendlich doch alle zum selben großen Blumenkohl der Menschheit gehörten. Peinlich berührt von der ganzen Ernsthaftigkeit schlug Krim die Augen nieder und stellte im selben Moment fest, dass er noch anständige Schuhe brauchte. Ob sein Onkel Bouzid daran wohl gedacht hatte?

»Du musst mit den Dummheiten aufhören, Krim. Verdammt, du bist noch jung, du bist intelligent, du bist bei guter Gesundheit, hamdullah, du hast das Leben doch noch vor dir. Versprich mir, dass du damit aufhörst.«

»Ja, ja, ich versprech’s dir.«

»Nein, nein, ich meine es ernst. Schwör mir, dass du aufhörst.«

»Ja, ist ja schon gut. Ich schwöre es.«

»Na gut«, schnaufte der Onkel und klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst schon sehen, alles wird gut. Und denk daran, morgen ist Wahl. Freut dich das nicht, dass Chaouch Präsident wird, inch’Allah? Ein arabischer Präsident, wallah, und wenn’s auch nur ist, um die Gesichter der Franzosen auf der Arbeit zu sehen. Ich freu mich schon drauf, dass er gewählt wird. Du etwa nicht?«

»Doch, doch.«

»Na, komm schon, jetzt suchen wir dir noch Schuhe und eine Krawatte. Hattest du schon mal eine Krawatte an? Das muss sein, hm? Slim heiratet schließlich nicht jeden Tag.« Plötzlich hielt er inne und betrachtete den Aufzug seines Neffen genauer. »Okay, er ist ein bisschen zu groß. Aber das geht schon. Du musst auch mal ein bisschen was essen, oder willst du irgendwann aussehen wie Slim? Der arme Tropf, er ist wirklich ganz mager.«

Während sein Onkel den Kopf in die Abstellkammer gleich neben der Eingangstür steckte, musterte Krim die Wohnung, in der sein Onkel lebte, seit ihn seine letzte Freundin verlassen hatte. Bouzid ging nur mit Französinnen aus, und nach jeder neuen Liaison »blieb nur der Saft einer Merguez«, wie er sich ausdrückte: Sie meinten es nie ernst und seien gemein zu ihm, und er schwor jedes Mal beim Leben der Großmutter, dass es nun wirklich das letzte Mal sei; dass er sich jetzt ein gutes Mädchen suchen werde, sprich eine Muslimin, eine sanfte und fruchtbare Muslimin.

»Kennst du Aït Menguellet?«, fragte er Krim, der gerade mit der Fingerspitze über eine CD fuhr. Auf dem Cover war ein Mann abgebildet, der seinem Vater zum Verwechseln ähnlich sah, ein rund Vierzigjähriger mit einem langen, schmalen, offenen, tragischen und schnauzbärtigen Gesicht.

Krim schüttelte den Kopf.

»Na, dann schenk ich sie dir. Du hattest doch Geburtstag. Wir können sie uns im Auto anhören, wenn du willst. Ist mal was anderes als dieser ewige Raï. Ich sag dir jedenfalls gleich, diese Kameltreibermusik kommt uns heute Abend noch zu den Ohren raus …«

Krim stopfte die CD in die Tasche seines neuen Sakkos. Es war das erste Mal, dass er ein Sakko mit Achselklappen trug – und eine Stoffhose mit einem ziemlich komplizierten Reißverschluss. Sein Oberkörper in Grau, Blau und Braun mit der schmalen Krawatte gefiel ihm, im Gegensatz zu seinen Beinen, an denen die schwarzen Mokassins sich mit der hellen Hose bissen, wie es weiße Socken mit dunkler Kleidung getan hätten.

Onkel Bouzid schob ihn aus der Wohnung und verriegelte sorgfältig alle drei Sicherheitsschlösser an der Tür.

»Und das Militär? Hast du schon mal übers Militär nachgedacht? Da gibt es eine ganze Menge Möglichkeiten, sag ich dir. Oder bei der Marine. Koch bei der Marine. Man muss sich Ziele setzen, verstehst du? Das Wichtigste ist, dass man Ziele hat.«

Fast schon gerührt betrachtete Krim Bouzids glänzenden Schädel. Dann hörte er die Stimme eines Mädchens am anderen Ende des Treppenhauses. Sie spurtete los, um mit einem einzigen Satz die sechs Stufen zu nehmen, die zum Fahrstuhl führten.

Die Staubkörner auf dem Flur flimmerten im Sonnenlicht, das von den zerbrochenen Scheiben des Dachfensters bis zu den karamellfarbenen Beinen des Mädchens quer durchs Treppenhaus fiel.

Als die Kleine zum Sprung ansetzte, hatte Krim erst den vagen Eindruck, dann eine Vorahnung und war sich bald absolut sicher, dass dies das letzte Mal war, dass er seine Füße in dieses Gebäude gesetzt hatte.

KAPITEL 2

Im Rathaus

1.

Mit schmerzhaft verdrehtem Nacken hob Zoran beide Hände in Richtung der vierten Etage. Die kleine Katze, mit der er den Vormittag verbracht hatte, durfte sich unter keinen Umständen aufs Sims hinauswagen. Er gestikulierte ebenso ausladend wie vergebens und flüsterte eindringlich, weil er sich nicht traute zu schreien, damit er das Tier nicht erschreckte.

»Gaga, Gaga, geh rein, geh wieder rein!«

Marlon hatte das Kätzchen Gaga getauft, und zwar als Hommage an die damals neue Königin der Popmusik, aber auch, weil er gerade erst in einem Pappkarton ein Buch seines Vaters gefunden hatte: den Versuch einer umfassenden Enzyklopädie des Gaga – des Dialekts von Saint-Étienne –, der bei ihm zu einem halbstündigen hysterischen Lachanfall geführt hatte. Zoran hatte nur verstanden, dass er nun ebenfalls lachen sollte.

Das war vor dem Streit gewesen. Jetzt musste Zoran von hier weg. Aber weil er so überstürzt aufgebrochen war, hatte er vergessen, das Fenster der Einzimmerwohnung zu schließen. Noch mal nach oben gehen konnte er nicht. Marlon hatte darauf bestanden, dass er die Schlüssel drinnen zurückließ. Er selbst wäre nicht vor Sonntag zurück, wahrscheinlich sogar erst am Montag. Zoran dachte kurz darüber nach, die Feuerwehr zu rufen, doch die Katze hatte sich bereits wieder auf den Rückweg gemacht. Wahrscheinlich war sie von einem Taubenpärchen verscheucht worden, das auf einer Rohrleitung vor sich hin gurrte.

Zwei Passanten drehten sich nach Zoran um. In diesem Stadtviertel konnte er in seinem Aufzug auch nur auffallen. Er hatte diesmal sämtliche Register gezogen, ohne groß darüber nachzudenken. Dazu entschlossen hatte er sich im letzten Moment vor dem verspiegelten Kleiderschrank, in dem er seine Gestalt betrachtet hatte, wie er dastand, mit dem Gewicht auf einem Bein und vor der deprimierenden Kulisse dieser unordentlichen Wohnung, aus der er übers Telefon hinausgeworfen worden war. Sein Look bestand aus einer Hüftjeans mit heller Waschung auf den Oberschenkeln, schimmernden Ballerinas sowie einem T-Shirt, auf dem ein Union Jack aus Pailletten aufgestickt war. Er hatte es selbst abgeschnitten und gekürzt, damit jeder seinen flachen Bauch und das Bauchnabelpiercing bewundern konnte.

Die Jeans war das Geschenk eines Typen gewesen, den er in Lyon kennengelernt und der an ihm eher einen weiblichen Kleidungsstil gemocht hatte. Was das Oberteil und die Ballerinas betraf, die eigentlich Marlons Schwester gehörten, hatte er sie sich einfach aus dessen Kommode genommen und dabei auf Rumänisch zu sich selbst gesagt – vielleicht auch zu Gaga, mit der er sich in letzter Zeit immerhin genauso oft unterhalten hatte wie mit Marlon: »Wenn man schon für einen Dieb gehalten wird, kann man auch gleich stehlen.«

Nachdem er herausfordernd in Richtung eines Typen genickt hatte, der zuvor stehen geblieben war, die Hände in die Hüfte gestemmt und ihn begafft hatte, nahm Zoran seinen Koffer und sah ein letztes Mal zum angelehnten Fenster hoch. Friedlich spiegelte sich darin der schnurgerade weiße Streifen, den ein Flugzeug oder ein anderes motorisiertes Gefährt am kristallklaren Himmel hinterlassen haben musste.

Er ging am Friedhof vorbei, der oben auf dem Hügel lag und auf den er seit drei Wochen von seinem Fenster aus hinabgeblickt hatte. Dann lief er zu der Bar hinunter, in der er sich um Punkt 16 Uhr verabredet hatte. Ein Ultimatum. Er war ein bisschen spät dran, trotzdem war von dem Mann, den er hier treffen wollte, weit und breit nichts zu sehen. Auch sein Lieblingskellner stand nicht hinterm Tresen, und seine Vertretung, eine rothaarige Frau, schien schlechte Laune zu haben.

»Das hier ist bloß der letzte Rest aus den Fässern«, warnte sie ihn gleich und kippte ein Glas voll gelblichem Schaum ins Spülbecken.

Zoran zögerte kurz, ehe er die paar Meter zum Tresen zurücklegte. Er hasste diesen Fliesenboden, auf dem die Stuhlbeine quietschten.

»Gib mir Whisky«, sagte er und ließ seinen Koffer neben einen der Barhocker fallen. Dann schob er sich mit einer Pobacke auf den Hocker und sah ihr direkt in die Augen. »Gib mir Whisky.«

»Hast du überhaupt Geld?«

»Ja.«

»Zeig’s mir.«

»Warum ich muss zeigen? Warum er muss nicht zeigen?« Er wies zu einem Stammgast hinüber, der am anderen Ende des Tresens saß und mit Daumen und Zeigefinger die Spitzen seines aschblonden Schnurrbarts glattstrich.

»Hör zu, wenn du hier einen Aufstand machen willst, dann kannst du dir das gleich wieder abschminken. Ich hab die Schnauze voll von …«

»Von was?«

»Von euch allen halt! Wann geht ihr wieder zu euch nach Rumänien zurück? Ihr seht doch, dass ihr hier nicht bleiben könnt. Kein Platz hier, keine Arbeit! Ihr kommt doch, um zu arbeiten?«

»Keine Arbeit in Rumänien.«

»Hier auch no Arbeit, gar nichts, nada. Ganz ehrlich …«

Der Schnurrbartträger knurrte. Wollte er der Kellnerin signalisieren, dass sie nicht zu weit gehen, oder ihr bloß mitteilen, dass sie leiser sprechen solle?

Zoran starrte die furchtbare Frau herausfordernd an. Sie hatten hier beide die gleichen Rechte. Aber die Schwierigkeiten, die es ihm bereitete, Sätze in dieser unmöglichen Sprache zu bilden, führten dazu, dass er gegen seinen Willen zu stammeln begann und die Augen niederschlug.

»Ich treffe Mann, vier Uhr, er zahlen tausend Euro. Wenn ich tausend Euro, ich auch zehn Euro. Also, gib Whisky. Teuer Whisky.«

Die Kellnerin verdrehte die Augen und tippte sich an die Stirn. »Was erzählst du da von tausend Euro? Das hier ist kein Stundenhotel, kapiert? Also, raus jetzt! Raus! Los, verschwinde!«

In diesem Moment tauchte ein Kunde auf, ein kleiner Mann im Anzug, der stark schwitzte. Er kam aus Richtung der Treppe, die zu den Fremdenzimmern hinaufführte; vielleicht auch nur vom Klo. Zoran sah ihn eindringlich an, während die Kellnerin ihn freundlich verabschiedete und er die Bar verließ. Zoran hätte sie am liebsten umgebracht, als er sah, wie ihr Blick sich sofort wieder angewidert auf ihn richtete.

»Also, du musst jetzt gehen. Sonst ruf ich die Polizei.«

Zoran rutschte von seinem Barhocker und beschimpfte die Kellnerin dabei auf Rumänisch. Dann fragte er den Trinker, der schlaff überm Tresen hing, doch der hatte hier seit dem frühen Nachmittag niemanden gesehen. Es war jetzt 16.30 Uhr. Sein Ultimatum hatte also nicht funktioniert.

2.

In der Hoffnung, auf den Mann zu stoßen, der ihn reich machen sollte, irrte Zoran ziellos im Stadtzentrum umher. So gut wie jeder, der ihn an diesem Nachmittag sah, drehte sich nach ihm um und konnte sich einen abschätzigen Kommentar – sei es mit Gesten oder leise gemurmelt – nicht verkneifen. Einige sprachen sogar laut genug, dass er es hörte: ein bärtiger Lebensmittelhändler, eine Mutter, die an ihrem Kinderwagen rauchte, ein paar arabische Jugendliche in Jogginganzügen, zwei Bauarbeiter, die gerade Pause machten, eine kleine Alte, die wahrscheinlich auf der Präfektur arbeitete, und ein Elektriker mit behaarten Schultern.

Sie alle hassten ihn von dem Moment an, da sie begriffen, dass er kein Mädchen war, aber ihr Hass speiste sich vor allem aus der Tatsache, dass er auch nicht mit absoluter Sicherheit kein Mädchen war, dass er noch lange nach dem ersten Eindruck eine sexuelle Zweideutigkeit verkörperte: von seinem provokanten Hüftschwung bis zur kleinsten Gesichtsregung. Sein karminroter Nagellack, den er die ganze Zeit demonstrativ anpustete, trug ebenso zum Hass bei wie sein trotzig herausfordernder Blick und die bebenden Nasenflügel, die ständig Probleme zu wittern schienen.

Außerdem hatte er einen Schönheitsfleck unter dem linken Auge. Wenn uns jemand ganz besonders unangenehm ist, kann es passieren, dass sich unsere ganze Feindseligkeit, die er in uns erregt, auf einen Leberfleck konzentriert. Zorans Schönheitsfleck war bläulich, erschreckend rund und schrie förmlich nach Aufmerksamkeit für dieses ganze verunsicherte Wesen. Zorans Vater hatte ihn wegen dieses Flecks oft verprügelt.

In der Öffentlichkeit wirkte er selbstsicher, ja attraktiv. Mit seinen gelblichen Augäpfeln, den enorm breiten Schultern und seiner dunklen, unreinen Haut war er nicht schön, aber bei den Männern, deren Aufmerksamkeit er erregen wollte, brauchte man nicht schön zu sein, es genügte, jung und gut geschminkt zu sein, schmale Hüften und einen unbehaarten Oberkörper zu haben und eine tierische Hitze auszustrahlen, einen Geruch nach Stall und Sünde.

Nachdem er sich Kaugummis gekauft hatte, begab er sich auf den Platz vor der Kathedrale, auf dem sich ein paar Kinder um einen alten Brummkreisel zankten. Dann glaubte Zoran plötzlich, von einem Mann in einer beigen Jacke verfolgt zu werden, und lief in die Mitte des Kirchenvorplatzes, wo ihm nichts passieren konnte. Drei Reihen aus jeweils vier Wasserfontänen sprudelten aus einer unsichtbaren Quelle unter dem Pflaster hervor. Nachdem die Sonne kurz hinter einer Wolke verschwunden war, zeigte sie sich nun wieder. Zoran betrachtete den Schatten, den eine der senkrechten Fontänen warf und der über die grauen Bodenplatten lief. Dort schien er langsamer als das Wasser zu versickern, als gehörte er in eine andere Wirklichkeit. Sein eigener Schatten schien sich wenig später ebenfalls zeitversetzt zu bewegen, sodass er ihn aufmerksam betrachten konnte. Und genau in diesem Augenblick – als er seine Schultern, seinen ganzen Körperbau und sein Geschlecht verfluchte – hörte er das Hupkonzert.

Alle auf dem Platz hielten inne, um dem mit rosafarbenen und weißen Bändern geschmückten Autokorso und den dunkelhäutigen, lächelnden Gesichtern nachzusehen, die lauthals ein arabisches Lied mitsangen. Zoran folgte der Gesellschaft und fand sich unversehens inmitten einer kleinen Menge Schaulustiger wieder, die das Spektakel auf dem Rathausplatz verfolgen wollten. Ein Typ machte einen Schritt zur Seite und trat ihm dabei auf die glänzenden Schuhe. Zoran stieß ihn grob weg, und der Typ zog sich ohne Weiteres zurück. Vielleicht war es keine Absicht gewesen. Zoran spuckte seinen Kaugummi aus, um sich eine Zigarette anzuzünden, und stellte fest, dass er gar keine Zigaretten mehr hatte. In unmittelbarer Nähe rauchte niemand, mal abgesehen von einem großen Kerl, der allerdings nicht aussah, als wäre mit ihm gut Kirschen essen. Also nahm er sich einen weiteren Kaugummi und machte zum Spaß Blasen.

Ein paar Augenblicke später, während immer mehr gut gekleidete Menschen am Fuß der Treppe herumstolzierten und sich dabei sehr wichtig vorkamen, zeigte ein dickes blondes Mädchen mit dem Finger auf Zoran. Die Mutter beugte sich zu ihr herunter, damit sie ihr etwas ins Ohr flüstern konnte. Die kleinen grünen Augen, die von ihrem pausbäckigen Gesicht fast verschluckt wurden, funkelten wie zwei Diamanten in einer verbotenen rosigen Grotte. Zoran wollte sie gerade zum Lachen bringen, indem er noch ein paar Grimassen schnitt, als er in der Menschenmenge das vertraute Gesicht des Mannes entdeckte, mit dem er eine halbe Stunde zuvor verabredet gewesen war.

»Slim!«, rief er.

Er wich dem Blick des Mädchens aus und versuchte, sich einen Weg zu bahnen. Es war tatsächlich Slim. Sein Herz schlug schneller, und die Hitze erschien ihm plötzlich unerträglich. Er wollte Slim, den er nun zweifelsfrei identifiziert hatte, bereits die Hand auf die Schulter legen, wurde dann aber von einem kahlköpfigen Mann beiseitegerempelt, der ihn hatte kommen sehen.

»Ich ihn kennen«, protestierte Zoran und zeigte auf den jungen Araber.

Doch der Glatzkopf schob ihn ohne großes Aufhebens in die Menge zurück, so wie es ein Bodyguard getan hätte. Und als hätte er eine Vorahnung, was im nächsten Moment über ihn hereinbrechen würde, hielt Zoran sich schützend beide Hände über den Kopf und ging so schnell in die Hocke, dass er seine Jeans reißen hörte.

Ein, zwei Paar starker Arme hoben ihn vom Boden hoch und trugen ihn durch die Menge davon. Er hatte nicht einmal mehr Zeit, um Hilfe zu rufen, sich irgendwie zu wehren und zumindest zu versuchen, sich zu befreien. Der Typ, der ihn gepackt hatte, verfrachtete ihn auf den Rücksitz eines Autos, das mit einem Kavaliersstart anfuhr und davonraste, allerdings ohne quietschende Reifen. Alles ging so schnell, dass es für Zeugen dieser Szene ein Leichtes war, sich wieder ihrer Beschäftigung zuzuwenden und so zu tun, als wäre nichts passiert.

3.

»Erinnerst du dich noch an Bachir? Bestimmt – Aïchas Sohn, Krim, allouar! Krim, erinnerst du dich noch an Bachir? Krim, ich rede mit dir!«

Es war so unerklärlich, dass sich in der Familie niemand mehr den Kopf darüber zerbrach. Vielleicht war es Tante Rabias Lebensfreude, die ihre Nichten, Schwestern und die Männer ansteckte und die keine Beleidigung je schmälern konnte. Krim war der Einzige, der inzwischen immun dagegen war. Der unfassbare Redefluss seiner Mutter erzeugte in ihm nur noch ein vages Gefühl der Ermüdung. Während er eine Nachricht tippte, beobachtete er seine Mutter, die zwischen den Verwandten hin- und herflatterte. Sie redete mit den Händen, ja sogar mit den Haaren. Sie hatte hohe Wangenknochen, die Spur eines südfranzösischen Akzents, dessen Ursprung sich niemand erklären konnte, und vor allem ein herzliches Lachen, das ihr die Tränen in die Augen trieb. Es wurde ganz unwillkürlich von einem vertraulichen Tätscheln der Schulter ihres Gegenübers begleitet. Frauen desselben Temperaments, die sozial auf einer höheren Stufe standen, hätten sich damit begnügt, den Ellbogen des Gesprächspartners zu streifen oder ganz nebenbei kurz ein, zwei Fingerglieder zu drücken.

»… na, und Bachir hat also eine Therapie gemacht, bei diesem Psychologen, wie heißt er gleich, bei Doktor Bousbous, Basbous, ich weiß nicht mehr, ich glaub, er stammt aus dem Libanon, vielleicht ist er auch Jude, Boulboul, Bouboul … Zu ihm ist Rach’ auch gegangen, und er hat nichts gemacht, ich schwör es dir, ganz ehrlich, was machen diese Psychologen eigentlich für einen lächerlichen Kram? Man kommt hin, man redet, wallah, wozu soll das gut sein? Ich sag dir, man sollte besser in Ruhe zu Hause bleiben und sich mit seinem Ehemann unterhalten, stimmt’s oder stimmt’s nicht, khalé?«

Sie hatte sich an einen Schwager gewandt. Müde sechzig, mit einem schmalen Gesicht, ein bisschen wie ein Affe, freundliche Augenbrauen, der starke algerische Akzent seiner Generation. Sie nannte ihn aus Respekt und wegen seines Alters »Onkel«, auch wenn sie gar nicht blutsverwandt waren. Rabia hatte immer einen Onkel bei der Hand, den sie als Ohrenzeugen benutzte und an dem sie demonstrierte, dass alles, was sie von sich gab, interessant war. Sie lud ihn ein, am Gespräch teilzunehmen, und lachte lauthals selbst über die kleinste Bemerkung.

»Ah, hab immer schon gesagt, dass Psychologen nix taugen.«

»Ahtek’m sara – genau. Was ich sagen wollte, ach ja, er ist also zu Doktor Abitboul gegangen, so hieß er, Abitboul, und jedes Mal musste er ein-, zweihundert Euro hinblättern, ich schwör es dir, das war schlimmer als im Kasino, matéhn,