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Zwei zerstrittene Brüder, zwei Freunde mit einem gemeinsamen Ziel, dazu ein hartnäckiger Ermittler und eine gefährliche Software. Aus dieser Mixtur entsteht ein Kriminalfall, der sich rund um den Globus erstreckt und letztlich in Japan seinen Höhepunkt findet. Was für Christopher Willinger als lukratives Geschäft seinen Anfang nimmt, das entwickelt sich für ihn und die übrigen Protagonisten schnell zu einem gefährlichen Spiel um Macht und Einfluss. Immer mit dabei ist der Wunsch nach Gerechtigkeit für lange zurückliegendes Leid. Was wird am Ende siegen, die unmenschliche Gier nach immer mehr oder die Erkenntnis, das kein Unrecht ungesühnt bleibt?
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Seitenzahl: 530
Veröffentlichungsjahr: 2020
Die Klimaanlage surrte laut. Das Jahr 1998 war wieder mal eines der für Tokio so typischen heißen Jahre. Die riesige, in die Außenwand eingelassene Anlage schaffte es kaum, die Räume im Haus wenigstens auf eine einigermaßen erträgliche Temperatur herunterzukühlen. Dabei war es bereits kurz nach 21 Uhr, trotzdem herrschten draußen noch tropische Temperaturen. »Haruki, Takashi, macht ihr euch bitte fürs Bett fertig, es ist schon spät. Vergesst das Zähneputzen nicht.« Die beiden Jungen spielten in ihrem Zimmer, als sie die Aufforderung von Misses Takada von unten vernahmen. »Ja, Mum, wir gehen gleich ins Bad, lass uns noch diese Runde fertig spielen, bitte!«, versuchte Haruki noch ein paar zusätzliche Minuten vor der Spielkonsole herauszuschlagen. »Also gut, aber sobald ihr mit der Runde durch seid, ab ins Bett, ihr habt morgen wieder Schule und müsst ausgeschlafen sein.« Haruki und Takashi lachten und klatschten sich ab, jetzt konnten sie noch ein bisschen weiterspielen und vergaßen dabei vollkommen die Zeit. Kinder halt, wenn sie tun, was ihnen Spaß macht!
Eine Viertelstunde später stand plötzlich Harukis Mutter mit einem nicht mehr ganz so freundlichen Gesichtsausdruck in der Tür. »Ihr hattet doch versprochen, euch bettfertig zu machen und jetzt sitzt ihr immer noch vor dem Fernseher, ihr Rabauken. Ich glaube, ich muss euch die Konsole mal eine Zeit lang wegnehmen.« Haruki und seinem Kumpel stand der Schreck ins Gesicht geschrieben. »Entschuldige Mum, das Spiel war so spannend und ich war drauf und dran, gegen Takashi zu verlieren. Aber wir gehen sofort ins Bad und putzen uns auch gaaanz gründlich die Zähne, Ehrenwort.« Die beiden legten ihre Joysticks weg, schalteten die Flimmerkiste aus und rasten zusammen ins Bad. »Euch zwei kann man einfach nicht trennen, sogar ins Badezimmer geht ihr gemeinsam.« Haruki und Takashi lachten. »Wir sind halt die allerbesten Freunde Mum, da macht man das so, stimmt’s?«, meinte er in Richtung seines Freundes und stieß diesem den Ellbogen in die Seite. Die beiden waren 12 Jahre alt und von ihrem Wesen her ähnlich gestrickt. Man konnte sie getrost als absolute Frohnaturen bezeichnen. Die Tage im Jahr, in denen im Haus der Takadas nicht gelacht und rumgealbert wurde, ließen sich an einer Hand abzählen. Bei Geschwistern wäre das keine Überraschung, aber Takashi war nicht Harukis leiblicher Bruder. Seine Eltern waren vor nicht mal einem halben Jahr bei einem schrecklichen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Herr Yamamoto war mit seiner Frau auf dem Heimweg von einem Geschäftsessen, als er die Kontrolle über den Wagen verlor und frontal in einen entgegenkommenden Lkw raste. Beide waren laut der Autopsie aufgrund schwerster, innerer Verletzungen sofort tot und bekamen gar nicht mehr mit, wie ihr Auto Feuer fing und vollständig ausbrannte. Takashi hatte damals bei einer Tante übernachtet und erfuhr am nächsten Tag durch eine Mitarbeiterin des Jugendamtes, dass etwas schlimmes passiert war. Trotz seines jungen Alters verstand er damals sofort, dass die Eltern nicht mehr zurückkamen. Obwohl es ihm schwerfiel, so versuchte er, sich von der Situation nicht unterkriegen zu lassen.
Dabei war ihm sein bester Kumpel Haruki eine große Stütze. Dieser versuchte, ihn abzulenken und so manches Mal, wenn Takashi den Tränen nahe war, legte sein Freund den Arm um Takashis Schultern und munterte ihn mit einem seiner Sprüche auf. Durch den Unfalltod der Eltern wurde die Freundschaft zwischen ihnen noch viel stärker und tiefer, als sie es vor dem Unfall ohnehin schon war. Harukis Familie lebte ganz in der Nähe und erfuhr vom Schicksal des Jungen. Da er ein so guter Freund ihres Sohnes war, boten sie den Behörden an, ihn bei sich aufzunehmen. Seitdem lebte Takashi bei ihnen und sie hatten sogar vor, ihn zu adoptieren. Die benötigten Papiere lagen schon im Arbeitszimmer von Harukis Dad bereit. Hayato Takada war Buchhalter, arbeitete für unterschiedliche Konzerne und verdiente sehr gut. Seine Frau war als Lehrerin tätig. Deshalb würde ein weiteres Kind in der Familie kein Problem darstellen und sie wünschten sich ohnehin wenigstens drei Sprösslinge. Die Takadas hatten mit ihrer 14-jährigen Tochter Yui und ihrem Sohn Haruki bereits zwei Kinder und Takashi passte einfach sehr gut zu ihnen. So planten sie also eine Erweiterung der Familie. In den nächsten Tagen wollten sie Takashi von ihrem Vorhaben erzählen, ihn zu einem echten Takada zu machen. Bis dahin sollte niemand, auch nicht Haruki oder Yui und schon gar nicht Takashi, von ihrem Plan erfahren.
Nach dem Zähneputzen wollten die beiden in ihrem Zimmer verschwinden, aber Misses Takada hielt sie auf. »Sagt dem Herrn des Hauses noch gute Nacht, Dad ist unten im Wohnzimmer.« Beide nickten, schauten sich an, als hätten sie einen Plan und veranstalteten im selben Moment ein Wettrennen, um zu schauen, wer zuerst ankam. Mit lautem Lachen rasten die Jungs den Gang entlang, sprangen die Treppenstufen hinunter und standen laut schnaufend vor Harukis Dad, der mit Yui auf dem Sofa saß. Dieser schaute auf, schob seine dicke Brille bis an die Nasenspitze vor und meinte: »Na, wer hat gewonnen?« Haruki reckte die Faust in die Luft und rief: »Ich war natürlich schneller, Takashi ist zu lahm, um gegen mich zu gewinnen«, meinte er grinsend und die beiden Freunde mussten laut lachen. »Mum sagt, wir müssen schon ins Bett und wir wollten nur gute Nacht sagen.« Auch Takashi verabschiedete sich und sagte: »Gute Nacht, Mister Takada, schlafen sie gut.« Beide drehten sich um und wollten sich auf den Weg in ihr Zimmer machen, aber Harukis Dad rief seinen Sohn nochmal zu sich. Dieser drehte sich verwundert um, kehrte um und lief zurück ins Wohnzimmer. Dabei meinte er zu Takashi: »Geh schon vor, ich komme gleich nach.« Harukis Dad winkte dem neuen Familienmitglied zu sich und klopfte mit der flachen Hand auf den freien Platz neben sich. »Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, was für ein toller Junge du bist und dass du mich mächtig stolz machst?« Haruki wurde knallrot. »Daaaad«, presste er hervor und wusste nicht, was er erwidern sollte. »Ich finde, dass ein Vater seinem Sohn und auch seiner Tochter so etwas sehr viel öfter sagen müsste, als ich es bisher getan habe.« Bei diesen Worten schaute er erst Haruki und dann Yui an und legte um beide je einen Arm. »Deshalb habe ich heute ein Geschenk für euch.« Er fasste hinter sich, zog zwei kleine Geschenkpackungen hervor und überreichte sie beiden Kindern. Diese schaute sich etwas verwundert an, dann aber strahlten sie, weil sie gar nicht mit einem Geschenk gerechnet hatten. »Kommt, macht auf«, forderte Mister Takada die beiden auf. Das ließen sich Yui und Haruki nicht zweimal sagen und rissen das Geschenkpapier auf. Zum Vorschein kamen zwei kleine Dosen, in denen man normalerweise Schmuck aufbewahrte. Yui öffnete ihre Box vorsichtig und freute sich, als ihr eine Kette mit einem Anhänger entgegenfunkelte, der wie eine kleine Schatulle aussah. Als Haruki seine Dose öffnete, kam ebenfalls eine Halskette zum Vorschein. An ihr baumelte ein Anhänger in der Form eines Drachen. Kette und Anhänger waren aus Gold gearbeitet. »In jedem Anhänger ist je eine Botschaft enthalten. Ihr müsst mir allerdings euer Ehrenwort geben, dass ihr sie erst an dem Tag öffnet, an dem ihr euren 18. Geburtstag feiert, auf keinen Fall früher. Ich weiß, das ist noch eine sehr lange Zeit, aber das ist die Bedingung. Versprecht ihr mir, dass ihr euch daran haltet?« Yui und Haruki schauten einander an und sagten dann, nahezu zeitgleich: »Versprochen Dad!« Haruki schob hinterher: »Das ist aber ein wirklich spannendes Geschenk. Auch wenn es verdammt schwerfallen wird, wir öffnen es erst an unserem Geburtstag. Hast du auch ein Geschenk für Takashi, er ist bestimmt traurig, wenn er sieht, dass du uns was geschenkt hast und ihm nicht.« Mister Takada staunte und war zugleich noch ein bisschen stolzer auf Haruki, weil dieser nicht nur an sich dachte, sondern auch an seinen besten Freund. »Ja, für Takashi habe ich auch etwas, aber das ist noch ein großes Geheimnis. Aber wenn er sein Geschenk bekommt, freut er sich mit Sicherheit genauso, wie ihr beide, versprochen! So und jetzt geht es ab ins Bett, Haruki.« Sein Sohn wollte sich och nicht zufriedengeben und hakte nach. »Was bekommt denn Takashi von dir, auch eine Kette oder sowas.« Sein Dad schüttelte mit einem breiten Grinsen den Kopf. »Keine Chance, Junior, es wird noch nichts verraten, aber glaub mir, das Geschenk wird ihm auf jeden Fall große Freude machen. So, und jetzt frag nicht weiter, ab ins Bett mit dir.« Haruki gab sich mit den Erklärungen nur widerwillig zufrieden, sah aber ein, dass er nichts mehr rausbekommen würde. Er lief zu seinem Vater, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und lief ins Kinderzimmer. Nachdem sein Gespräch länger gedauert hatte, schlief Takashi bereits, als Haruki das Zimmer betrat. Also legte auch er sich so leise wie möglich hin und schlief schon kurz danach tief und fest. Beide merkten nicht mehr, dass Harukis Mum nochmal nach ihnen sah und dann lautlos die Tür schloss.
Lautes Gepolter weckte Haruki mitten in der Nacht. Er lauschte und als er das Geräusch erneut hörte, sprang er aus dem Bett, lief zu Takashi und rüttelte ihn wach. »Hör mal, da ist irgendjemand im Haus.« Takashi rieb sich die Augen und erwiderte ziemlich genervt und noch halb schlafend: »Spinnst du, es ist mitten in der Nacht, vielleicht sind deine Eltern noch wach oder Yui braucht was zu trinken«. Kaum hatte Takashi ausgesprochen, da schepperte es schon wieder und diesmal war auch Harukis Freund der Meinung, dass das komisch sei. Plötzlich waren unten laute Stimmen zu hören, irgendwer schien sich zu streiten. »Sollen wir nachschauen, was los ist«, fragte Takashi und Haruki nickte vorsichtig, so als hätte er Angst, dass es jemand hören könnte. Sie schlichen zur Tür und Haruki drückte die Klinke ganz langsam herunter. Die Stimmen klangen immer ärgerlicher und Haruki meinte zu hören, dass es sein Dad war, der sich unterhielt. Als sie die Zimmertür halb geöffnet hatten, erkannten beide tatsächlich die Stimme von Mister Takada und je näher sie der Treppe kamen, desto mehr verstanden sie, was gesprochen wurde. »Was soll das, ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich immer loyal zu meinen Auftraggebern stehe, ich würde nie irgendwelche Dokumente stehlen. Wenn Sie wollen, durchsuchen Sie doch das Haus, meinetwegen vom Dach bis zum Keller, aber Sie werden nichts finden.« Auch Misses Takada war zu hören. »Machen Sie uns los, warum haben Sie uns gefesselt?« Die Stimme von Harukis Mutter klang angsterfüllt und zitterte. »Wenn Sie uns nicht sagen wollen, wo Sie die Unterlagen versteckt haben, dann werden wir uns ein bisschen mit ihren Kindern beschäftigen, vielleicht lockert das Ihre Zunge.« Haruki und Takashi schauten einander mit Angst in den Augen an. »Wir müssen die Polizei rufen«, flüsterte Takashi seinem Freund ins Ohr. Dieser nickte, zog Takashi am Ärmel des Schlafanzugs zurück ins Kinderzimmer und schloss leise die Tür. Dann rannte er zu seinem Bett, wo sein Handy auf dem Nachtkasten lag, griff es und wählte die Nummer der Polizei. Kaum hatte jemand abgenommen, flüsterte Haruki ins Telefon: »Bitte kommen Sie schnell, bei uns sind Einbrecher im Haus, die haben meine Mum und meinen Dad gefesselt und wollen uns was antun. Bitte, schnell.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung fragte nach Harukis Namen und seiner Adresse. Beides nannte er dem Beamten. »Weißt du, wie viele Einbrecher es sind und ob sie Waffen haben?« Haruki schüttelte den Kopf und erzählte dem Mann am anderen Ende, dass er im ersten Stock saß und nichts sehen, sondern nur alles hören konnte. »Wer ist noch im Haus?«, wollte der Beamte wissen. »Außer meinen Eltern noch meine Schwester Yui, mein Freund Takashi und ich. Bitte beeilen Sie sich, wir haben Angst, dass die Männer uns was Böses antun.« Der Polizeibeamte versprach, dass bald jemand kommen würde, um zu helfen. Als Haruki das hörte, blieb er nicht in der Leitung, sondern legte einfach auf. Dann schlich er wieder zur Tür und lauschte. Irgendjemand lief über den Flur und bevor sich die beiden verstecken konnten, wurde die Tür aufgerissen und ein maskierter und mit einer Pistole bewaffneter Mann stand vor ihnen. »Ach, da seid ihr ja, los, runter ins Wohnzimmer mit euch und macht keine Dummheiten, sonst knall ich euch einfach ab, verstanden?« Reflexartig nahm Haruki Takashis Hand und zog den wie versteinert dastehenden Kumpel hinter sich her. Hinter ihnen lief der Fremde her und stieß beiden in den Rücken, weil sie ihm zu langsam waren. Unten angekommen, sahen sie, dass auch Yui schon im Wohnzimmer saß und weinte. Sie war nur zwei Jahre älter als Haruki und ihr Gesichtsausdruck ließ erahnen, dass sie Todesangst hatte. »So, jetzt ist die Familie ja vollständig. Ich frage noch ein letztes Mal, wo sind die Unterlagen, die Sie haben mitgehen lassen?«
Beide Takadas waren gefesselt und Harukis Dad hatte eine Wunde auf der Stirn. Blut lief ihm über das Gesicht. »Ich kann nur noch einmal sagen, dass ich nicht weiß, wovon Sie sprechen.« Einer der beiden maskierten Männer nickte. »Ok, Sie wollten es ja nicht anders«, meinte er, griff in seinen Rucksack und zog eine Flasche hervor. Er öffnete sie und schüttete den Inhalt über Yui aus. Der Geruch von Benzin verbreitete sich im Zimmer. »Ein allerletztes Mal, wo sind die Unterlagen?«, fragte der Unbekannte, der inzwischen ein brennendes Feuerzeug in der Hand hielt, mit wütender Stimme. »Oh bitte, tun Sie das nicht, lassen Sie meine Kinder und meine Frau gehen. Bringen Sie meinetwegen mich um, aber meine Familie lassen Sie bitte in Ruhe. Ich habe doch keine Unterlagen. Ich würde sie Ihnen ja geben, wenn ich welche mitgenommen hätte, das habe ich aber nicht.« Mister Takada schaute den Fremden mit einem flehenden Blick an. »Schade«, meinte der Angesprochene und hielt das Feuerzeug an Yuis Haare, die sofort lichterloh brannten. Yui schrie auf und versuchte, die Flammen durch wilde Kopfbewegungen zu ersticken. Es gelang ihr nicht. Haruki und Takashi waren wie versteinert. Haruki wollte wegschauen, schaffte es aber nicht, seinen Blick nicht von seiner brennenden Schwester abzuwenden. Immer mehr von Yuis kleinem Körper wurde von den Flammen erfasst, sie schrie in Todesangst und in ihre Schreie mischten sich die ihrer Eltern. »Neeeiiin«, schrien beide laut und versuchten verzweifelt, sich loszumachen. Es war sinnlos. Sie mussten mit ansehen, wie Yuis Kleidung lichterloh brannte, die Kleine schrie entsetzlich, bis sie irgendwann ohnmächtig zur Seite fiel und nicht mehr bewusst mitbekam, wie sie bei lebendigem Leibe verbrannte. Der Geruch von Benzin war inzwischen dem Gestank von verbranntem Fleisch gewichen. »Das bringt hier nichts mehr, lass uns die Sache beenden«, meinte der zweite Einbrecher. Ohne Vorwarnung setzte er Misses Takada die Pistole an die Schläfe und drückte ab. Sie kippte zur Seite und der Teppich unter ihr färbte sich rot von ihrem Blut. Wieder war ein lautes »Neeeiiin« aus Mister Takadas Mund zu hören. »Ihr verdammten Mörder«, konnte er den beiden noch mit erstickter Stimme entgegenschleudern, bevor auch ihn der Tod durch eine Kugel aus nächster Nähe niederstreckte. Haruki und Takashi hatten das alles wortlos und mit tränenüberströmten Gesichtern mit angesehen. Die beiden zitterten vor Angst und Haruki blickte in die gebrochenen, toten Augen seines Dads. Der Mörder seiner Eltern kam auf die beiden zu, er würde auch sie eiskalt umbringen. Dazu kam es aber nicht mehr, denn aus der Ferne waren Polizeisirenen zu hören, die rasch näherkamen. »Shit, wir müssen weg, die Bullen sind im Anmarsch«, fluchte der zweite Unbekannte und zog den, der auf die beiden Kinder zulief am Ärmel seiner Jacke zurück. »Lass sie, die machen uns keine Schwierigkeiten. Los komm, wir verschwinden.« Der zweite nickte, nahm sich aber noch die Zeit, sich zu den beiden Jungs vorzubeugen und leise zu flüstern: »So ergeht es Menschen, die jemand bescheißen, der stärker und reicher ist.« Mit einem Grinsen ließ der Fremde von Haruki und Takashi ab und verschwand Richtung der Hintertür.
Als die Polizei endlich bei den Takadas eintraf, war Yui bereits bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Die Flammen hatten schon die halbe Zimmereinrichtung in Brand gesteckt. Harukis Eltern lagen blutüberströmt auf dem inzwischen rot eingefärbten Teppich im Wohnzimmer. Haruki und Takashi standen unter Schock. Man brachte sie aus dem Haus und die Feuerwehr löschte die Flammen. Die Beamten versuchten zwar noch vor Ort, ihnen Informationen zu den Vorfällen zu entlocken, aber die beiden Jungs waren nicht in der Lage, auch nur ein Wort hervorzubringen. Die Polizei übergab sie schließlich Mitarbeitern des Jugendamtes, die sich um sie kümmerten und sie betreuten, zumindest so lange, bis klar war, was weiter mit ihnen geschehen sollte. In den nächsten Wochen erhielten beide therapeutische Unterstützung und es gelang der Polizei, einige Details zur Tat in Erfahrung zu bringen. Man untersuchte aufgrund der Aussagen der beiden Jungen das berufliche Umfeld des Vaters, aber auch die privaten Verhältnisse. Letztlich fand man keinerlei Hinweise darauf, dass Harukis Dad in irgendwelche krummen Geschäfte verwickelt war oder auf eigene Faust die Konzerne, für die er tätig gewesen war, in irgendeiner Form betrogen hatte. In Befragungen von Kollegen und Bekannten der Takadas wurden beide immer wieder als äußerst höflich und korrekt beschrieben. Es gab viele japanische, aber auch einige ausländische Freunde. Über entsprechende Abteilungen im jeweiligen Land wurden diese befragt, was aber ebenfalls keine neuen Erkenntnisse brachte. Die Polizei fand bei der Durchsuchung des Takada-Hauses heraus, dass die beiden Takashi adoptieren wollten. Diese Information hielten die Ermittler nach Rücksprache mit dem Jugendamt zurück. Sie hätte bei Takashi nur noch mehr Trauer verursacht, als er ohnehin schon empfand. Nachdem sich trotz intensiver Ermittlungen auch Monate nach dieser schrecklichen Tat keine neuen Hinweise ergaben, wurden die Untersuchungen irgendwann vorläufig eingestellt. Es konnte nicht abschließend geklärt werden, wer hinter den Morden steckte. Haruki kam zu einer Tante, Takashi wurde an ein Kinderheim übergeben, da er keinerlei Verwandte mehr hatte. Trotz der so entstandenen Distanz blieben die beiden in den kommenden Jahren in Kontakt miteinander. Erst, als sie ihren Schulabschluss in der Tasche hatten, verloren sie sich aus den Augen, weil sie an unterschiedlichen Orten bzw. sogar in verschiedenen Ländern studierten. Beide aber vergaßen nie, was sie in dieser unheilvollen Nacht erlebt hatten.
Mike saß in seinem Zimmer und bastelte wie üblich am Computer, den er selbst gebaut hatte. Christopher hockte am großen Tisch in der gemütlichen Küche, schaute seiner Mutter beim Kochen zu und fragte mitten ins Geklapper der Töpfe: »Wann kommt Dad eigentlich heim, Mum? Er ist jetzt schon zwei Wochen weg. Ich will wieder mal was mit ihm unternehmen, vielleicht Radfahren oder zum Angeln gehen.« Misses Willinger drehte sich zu ihm um, lächelte ihn an und erwiderte: »Gestern meinte er, dass er wahrscheinlich heute oder morgen mit seinem Auftrag fertig ist und dann nach Hause kommt. Ich schätze also, dass ihr am nächsten Wochenende etwas unternehmen könnt.« Christopher grinste. »Das wäre super, immer nur mit Mike zusammenzuhängen, ist auf die Dauer langweilig, der ist eh ständig nur mit seinem Computer beschäftigt. Ich bastle ja auch gerne, aber Mike ist jedes Mal wie weggetreten, wenn er sich an dieses Ding setzt. Ich beschäftige mich lieber mit der Software, das Herumbasteln an der Hardware ist nicht so wirklich mein Ding.« Christophers Mum lachte. »Vielleicht solltet ihr euch zusammentun und eine Firma gründen, ihr würdet euch fantastisch ergänzen. Dann könntet ihr gemeinsam an Projekten arbeiten. Du entwickelst die Software und dein kleiner Bruder bastelt den passenden Computer, auf dem sie dann läuft.« Christopher schien zu überlegen. »Cool, dann steht in allen englischen Zeitungen sowas, wie Zwei Zwölfjährige entwickeln Superrechner! Dann wäre Dad sicher megastolz auf uns«, meinte er, hob das Kinn in die Höhe und lachte laut.
Mike gesellte sich zu ihnen in die Küche. Schlaksig wie es seine Art war, trottete er zum Kühlschrank, nahm sich eine Dose Cola und setzte sich neben Christopher. »Wovon habt ihr gerade gesprochen, ich habe euch lachen hören?«, wollte er von seiner Mum wissen. »Wir haben eure Karriere als große Erfinder geplant. Ihr beide werdet eine Firma gründen. Dein Bruder ist für die Software zuständig und du baust die entsprechende Hardware. Wie wäre das, dann verdient ihr eine Menge Geld, werdet berühmt und braucht euch nie wieder Sorgen machen«, lachte Mikes Mum ihren Söhnen entgegen. »Ich würde euch sogar ein bisschen Startkapital geben und euer Dad wäre sicher, bereit, sich ebenfalls zu beteiligen.« Mike stützte das Kinn in beide Hände, überlegte und meinte dann: »Prinzipiell keine schlechte Idee, Mum, aber unsere Erfindungen müssten den Menschen zugutekommen. Geld zu haben ist zwar schön, aber mir wäre es wichtiger, was zu erfinden, was möglichst vielen Leuten nützt.« Mikes Mum legte einen beeindruckten Gesichtsausdruck auf: »Mike, so kenne ich dich, du wolltest schon immer nur wenig für dich, aber möglichst viel für andere Leute. Das ist ein sehr ehrenwerter Charakterzug, den du da besitzt. Erhalte ihn dir.«
»Aber Geld für etwas zu bekommen, das man erfindet, ist ja auch nicht soo schlimm«, warf Christopher seine Meinung in die Runde. »Wenn ich gute Arbeit mache, will ich auch ordentlich dafür bezahlt werden. Immerhin investiere ich meine ganze Zeit und Kraft, damit am Ende was Gescheites herauskommt. Das schreit nach einem angemessenen Honorar«, meinte Christopher und zeigte, dass er ganz anders gestrickt war, als sein zwei Jahre jüngerer Bruder. »Lasst uns mit euren Dad über die Idee sprechen, wenn er wieder da ist. Mal schauen, was er dazu sagt. Aber ich glaube, er wäre begeistert, wenn seine beiden Söhne gemeinsam an etwas arbeiten oder sogar eine Firma miteinander gründen.« Sie wandte sich wieder dem Herd zu und rührte in einem der Töpfe, als es an der Haustür klingelte. »Ich geh schon Mum, bleib hier«, meinte Christopher, sprang vom Stuhl auf und lief in Richtung Eingangstür. Als er sie öffnete, stand ein ihm unbekannter Mann vor der Tür und fragte nach Christophers Mum. Er lief in die Küche, erzählte von dem ihm fremden Mann und holte seine Mutter. »Guten Abend, Misses Willinger, dürfte ich Sie ganz kurz alleine sprechen, es geht um Ihren Mann.«
»Natürlich, bitte kommen Sie herein«, bat sie den Fremden ins Haus und lotste ihn ins Wohnzimmer. »Jungs, geht in eure Zimmer, ich rufe euch, wenn das Essen fertig ist«, schickte sie ihre Söhne nach oben, ahnend, dass etwas passiert sein musste. Als die Jungs den Raum verlassen hatten, schloss sie die Tür. Christopher und Mike wussten nicht, was sie von all dem halten sollten, beschlossen aber, nicht in ihre Zimmer zu gehen, sondern sich oben am Treppenabsatz niederzulassen und dort abzuwarten, was geschah.
Zwanzig Minuten später öffnete sich die Wohnzimmertür, der Unbekannte und Misses Willinger traten in den Flur. Christophers und Mikes Mum hatte geweint, die Tränen hatten ihr Make-up verwischt und ihre Augen waren rot vom Weinen. »Ich danke Ihnen sehr für die Mitteilung und werde mich natürlich an das halten, was Sie vorgeschlagen haben«, meinte sie und dabei traf ihr Blick ihre beiden Jungs, die immer noch oben auf der Treppe saßen und alles beobachteten. Der Fremde verabschiedete sich freundlich, gab Misses Willinger die Hand und wünschte ihr viel Kraft. Nachdem er gegangen war, lehnte sie sich mit dem Rücken an die Eingangstür und versuchte, sich zu beruhigen. Sie atmete tief durch, richtete sich dann ruckartig auf und ging zurück in Richtung der Treppe. »Christopher und Mike, kommt ihr kurz zu mir ins Wohnzimmer, ich muss mit euch reden.« Die Brüder schauten sich an und bekamen ein mulmiges Gefühl. Ein dicker Kloß bildete sich in ihren Hälsen, sie spürten, dass etwas nicht stimmte. Sie liefen hinunter und betraten das Wohnzimmer. Ihre Mum saß auf der breiten Couch und winkte sie zu sich. »Setzt euch bitte.« Als sich beide gesetzt hatten, nahm ihre Mum sie in den Arm. »Der Mann, der eben da war, ist aus Dads Firma. Er war hier, um mir zu sagen, dass es ein Unglück gegeben hat. Eurem Dad ist etwas zugestoßen.« Noch bevor sie die ganze Wahrheit ausgesprochen hatte, rollten den beiden Brüdern Tränen übers Gesicht. Sie schienen zu ahnen, dass etwas ganz schlimmes passiert war. »Euer Dad hat ja in Japan gearbeitet. Gestern hatte er sich auf den Rückweg nach London gemacht. Am Flughafen in Tokio ist er dann einfach zusammengebrochen. Es waren sofort Ärzte da und man hat ihn ins Krankenhaus gebracht. Aber es war zu spät, man konnte ihm nicht mehr helfen. Euer Dad ist leider gestorben, vermutlich war es ein schwerer Schlaganfall.« Nach diesen Worten konnte Misses Willinger nicht mehr weitersprechen. Die Trauer übermannte sie und auch ihr liefen die Tränen übers Gesicht. Sie zog ihre beiden Jungs zu sich heran und nahm sie fest in den Arm. Lange saßen sie einfach nur so da, hielten sich fest und versuchten, sich gegenseitig zu trösten, obwohl eigentlich kein Trost möglich war.
In den nächsten Tagen versuchte Misses Willinger, den Alltag so gut wie möglich aufrecht zu erhalten. Nur in die Schule schickte sie ihre beiden Jungs nicht, sie hatte beim Direktor angerufen, ihm die Situation geschildert und sie zunächst für eine Woche entschuldigt. Christopher und Mike hatten sich seit der Todesnachricht in ihren Zimmern vergraben. Nur zum Essen waren sie unten erschienen, sprachen aber nur das Notwendigste und verzogen sich nach den Mahlzeiten gleich wieder in ihre Zimmer. Nachts hörte Misses Willinger ihre Söhne weinen. Dann ging sie zu ihnen, setzte sich einige Zeit aufs Bett und trocknete die nassgeweinten Gesichter. Nach etwa einer Woche erhielt sie eine Nachricht, dass der Leichnam ihres Mannes überführt worden war. Die Staatsanwaltschaft ordnete eine Obduktion an, bei der aber nichts gefunden wurde. Weder ein Schlaganfall, noch irgendeine andere Erkrankung waren als Todesursachen auszumachen. Peter Willinger war zwar letztlich an Multiorganversagen gestorben, was aber zu diesem geführt hatte, blieb ungeklärt. Misses Willinger entschied, dass ihre Söhne ihren Vater nicht noch einmal sehen, sondern so in Erinnerung behalten sollten, wie er zu Lebzeiten war. Sie selbst fuhr zum Bestattungsunternehmen, um ihrem Mann ein letztes Mal nahe zu sein. Sie hatte zwar Angst davor, wollte es sich aber nicht nehmen lassen, sich auf diese Weise zu verabschieden. Peter Willinger war in einem speziellen Raum aufgebahrt. Er lag in einem offenen, weiß ausgeschlagenen Sarg, eine helle Decke war bis zur Brust über ihn gebreitet. Die Hände hatte man ihm gefaltet. »Dabei war er überhaupt nicht religiös«, sagte sie bei diesem Anblick halblaut zu sich selbst und ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Man hatte ihn schön zurechtgemacht, die Spuren der Obduktion waren kaum zu erkennen. Ihr Mann hatte einen friedlichen Gesichtsausdruck und man hätte meinen können, er schliefe. Die Realität sah anders aus. Sie beugte sich über ihren Mann, fasste nach seinen Händen und schreckte kurz zurück, als sie die Kälte spürte. Sie löste sie aus der gefalteten Position und legte sie nebeneinander. »Leb wohl, mein Liebster, wir werden dich immer lieben und nie vergessen«, flüsterte sie ihm ins Ohr, gab ihm einen Kuss und verließ tränenüberströmt das Zimmer.
Am Tag der Beerdigung hielten sich die beiden Jungen sehr tapfer. Sie trugen ohne Murren ihre schwarzen Anzüge und rebellierten nicht mal gegen die sonst so verhassten Krawatten. Misses Willinger war ebenfalls schwarz gekleidet. Ihre rotgeweinten Augen verbarg sie hinter einer großen Sonnenbrille. Am schwersten fiel allen dreien der Gang von der Aussegnungshalle bis zum Grab. Christopher und Mike liefen neben ihrer Mutter, sie hielten sich an den Händen und gaben sich durch die Berührung gegenseitig Kraft, so gut es ging. Es waren viele Leute gekommen, vor allem von der Familie reisten Leute an, um ihrem Enkelsohn, Sohn, Bruder, Schwager, Onkel oder Neffen das letzte Geleit zu geben. Die Trauerfeier war gut gestaltet, Misses Willinger hatte sich für einen freien Trauerredner entschieden, denn sie beide waren überhaupt nicht religiös. Einigen Verwandten war diese Entscheidung zwar nicht recht, aber das war ihr egal, sie hatte die Feier so gestaltet, dass es Peter gefallen hätte. Später beim Zusammensein in ihrem Haus sprachen alle ihr und ihren Söhnen ihre Anteilnahme aus, manche nahmen sie ohne Worte einfach nur in den Arm oder streichelten ihnen die Wange. Christopher und Mike wurde das alles irgendwann zu viel und sie verzogen sich in Christophers Zimmer. »Wenn ich volljährig bin, finde ich raus, was wirklich passiert ist. Unser Dad fällt doch nicht einfach so um und ist tot, das glaub ich nicht«, meinte Christopher. Mike nickte nur, er war noch vollkommen in seiner Trauer gefangen und verstand gar nicht richtig, was sein älterer Bruder sagte.
In den nächsten Wochen und Monaten gewöhnten sich die Willingers ganz langsam daran, dass sie nur noch zu dritt waren. In den ersten Wochen kam es noch ab und zu vor, dass die Jungs beim Decken des Tisches den Platz ihres Dads versehentlich ebenfalls deckten. Wenn sie es bemerkten, brachen sie in Tränen aus und liefen in ihr Zimmer. Misses Willinger hatte alle Hände voll zu tun, ihre Söhne in solchen Situationen aufzufangen. Es waren vor allem ihre Zuneigung, ihr Verständnis und ihre Liebe, durch die Christopher und Mike mit der Zeit wieder in den Alltag und damit ins Leben zurückfanden. Die Jahre vergingen. Beide absolvierten erfolgreich ihre Schule und studierten. Und auch die Idee, die ihre Mutter am Tag der Todesnachricht hatte, verwirklichten sie. Sie arbeiteten zusammen an einer ganz neuen, geradezu revolutionären Software. Dass diese sie später erst entzweien und dann umso enger miteinander verbinden würde, ahnten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Wenn man an Japan im Jahre 2018 denkt, dann hat man ein Land vor Augen, in dem alles hochtechnisiert ist, man hat Begriffe wie Manga, Godzilla und Kampfsport im Kopf. Das Inselreich ist das Land der Tempel und der zur Vollendung gebrachten Kunst, Gärten bis ins kleinste Detail zu gestalten. Nippon, wie Japan früher manchmal genannt wurde, ist das Land des ewigen Lächelns, voller Menschen, die sich vor Freundlichkeit überschlagen und sich vor allem und jedem verneigen. Die auffälligste, aber auch schwierigste Eigenschaft von Japanern aber ist es, nie laut zu sagen, was sie denken und fühlen. Sie behalten ihre Gedanken für sich, verbergen sie hinter dem Lächeln, das sie einem entgegenbringen. Man weiß nie genau, was sie von einem halten, wie sie einen einschätzen, ob sie einen respektieren oder schlecht über einen denken.
In dieses so traditionsreiche und immer wieder von Erdbeben und Taifunen heimgesuchte Inselreich im Pazifik machte sich Christopher Willinger auf, um neue Geschäftsbeziehungen zu knüpfen. Japan war ihm nur aus wenigen Erzählungen seines Vaters Peter bekannt. Dieser hatte früher einige Jahre dort gearbeitet. Was genau er dort getan hatte, darüber schwieg er sich immer aus. Als er dann vor 15 Jahren plötzlich starb, hatte Christopher sich geschworen, herauszufinden, was passiert war. Deshalb versuchte er später, Nachforschungen anzustellen, bekam aber schon kurze Zeit später Besuch vom MI6 und dieser machte ihm unmissverständlich klar, dass es besser wäre, wenn er auf weitere Nachforschungen verzichten würde. Weil er sich, auch mit Blick auf seine Arbeit, keinen Ärger einhandeln wollte, beendete er seine Bemühungen. Aus dem Kopf gegangen war ihm die Angelegenheit aber nie. Jetzt tauchten die Gedanken an seinen alten Herrn wieder auf. Er hatte nämlich bei einer Elektronikmesse in London Kenzo Nakamura, den CEO eines großen japanischen Unternehmens kennengelernt, der sich für die von ihm entwickelte Überwachungssoftware interessierte. Mister Nakamura schien so überzeugt von Christophers Entwicklung, dass er ihn schon bei ihrem ersten Treffen nach Tokio eingeladen hatte. Dieser nahm die Einladung natürlich dankbar an. Wann hatte man als Gründer eines kleinen Start-ups sonst die Gelegenheit, der Chefetage eines multinationalen Unternehmens mit hohen zweistelligen Milliardenumsätzen das eigene Produkt vorzustellen? Alles andere, als die Einladung anzunehmen, wäre mehr als unklug gewesen. Christopher hatte lange an seiner Software gefeilt, bis er sein Ziel vor einigen Wochen endlich erreicht hatte.
Das von ihm entwickelte Programm hieß SaC, was für Spy and Change stand. Es war nicht nur in der Lage, Hacker effizient abzublocken, sondern konnte dazu verwendet werden, einen nahezu zeitgleichen Angriff auf das System des Hackers zu starten, und zwar so, dass dieser nichts davon mitbekam. Sollte also beispielsweise ein anderes Unternehmen versuchen, die Sicherheitsbarrieren eines Konzerns zu überwinden, drang die Software im Gegenzug in sämtliche Programme des angreifenden Unternehmens ein und kopierte unbemerkt alle Daten. Als Krönung war Christophers Software darüber hinaus imstande, ein eigens entworfenes Virus im gegnerischen System zu platzieren, das für einen vollständigen Systemabsturz und damit zur Verwischung sämtlicher Spuren sorgte. Mit seinem Programm hatte Christopher die Möglichkeit für potentielle Käufer geschaffen, das eigene Unternehmen unangreifbar zu machen und gleichzeitig vom Hackerangriff anderer zu profitieren. Vor allem dieser Umstand schien Mister Nakamura am meisten zu interessieren. Er hatte sich ausbedungen, dass Christopher zunächst nur mit seinem Unternehmen, Nakamura Electronics, verhandelte und erst anschließend eventuelle Einladungen anderer Interessenten annahm. Dieser Bedingung hatte Christopher gerne zugestimmt, erstens, weil es in dem Augenblick zwar Interessenten, aber keine wirklichen Kaufkandidaten gab, zweitens, weil ihm finanziell das Wasser bis zum Hals stand und drittens, weil er von Nakamura Electronics vorab einen Scheck erhalten hatte, der allein schon alle seine Geldprobleme löste. Er hatte lange an der Software getüftelt und war irgendwann gezwungen, die Fortsetzung seiner Arbeit durch hohe Kredite sicherzustellen. Die Banken machten inzwischen zunehmend Druck und forderten ihr Geld zurück. Bisher war er jedes Mal in der Lage gewesen, sie zu beruhigen und einen Aufschub herauszuhandeln. Aber langsam wurde die Luft dünn und er brauchte dringend eine Erfolgsmeldung. Aus diesem Grund hatte er Mister Nakamura zugesagt, zunächst ausschließlich mit ihm zu sprechen und etwaige Konkurrenten erst später zu kontaktieren.
So machte er sich also an einem Freitagabend auf den Weg zum Flughafen, um von London aus nach Tokio zu fliegen. Wie Mister Nakamura es ihm zugesagt hatte, lag an einem VIP-Schalter bereits ein Flugticket auf seinen Namen für ihn und zu seiner Verwunderung war es ein Ticket für die 1. Klasse. »Wow«, rutschte es ihm laut heraus, sodass die Mitarbeiterin am Schalter lächelte und erwiderte: »Wir hoffen, dass alles zu Ihrer Zufriedenheit sein wird. Wenn Sie es wünschen, steht Ihnen unsere Lounge zur Verfügung, um auf Ihr Boarding zu warten. Dort stehen Erfrischungen sowie ein Buffet bereit, damit Sie sich für den Flug stärken können.« Christopher nahm die Einladung dankend an und wurde von einer weiteren Mitarbeiterin zur Lounge geleitet. Er war begeistert, so würde er gerne öfter reisen. Vielleicht hatte er ja bald die Möglichkeit dazu, wenn die Verhandlungen mit Nakamura Electronics erfolgreich verliefen. »Hör auf zu träumen«, sagte er zu sich selbst und versuchte, sich wieder auf den Boden der Realität zu holen. Erst einmal blieb nämlich abzuwarten, ob sich alle anderen Verantwortlichen bei Nakamura Electronics genauso von seiner Software überzeugen ließen, wie der CEO des Konzerns. Außerdem müssten noch die Konditionen für eine Kooperation oder sogar einen Verkauf der Software stimmen. Er würde seine Arbeit auf keinen Fall unter Wert zur Verfügung stellen oder gar veräußern, das hatte er sich fest vorgenommen. Dazu hatte er zu viel Zeit, Talent und auch Nerven investiert. Viele Freundschaften waren wegen seiner Arbeit vor die Hunde gegangen, er hatte Beziehungen sausen lassen und selbst der Kontakt zur eigenen Mutter und zu seinem Bruder hatten sehr unter diesem Projekt gelitten. Nicht selten kam es zwischen ihm und Mike zum Streit wegen des Programms. Sie waren beide extrem begabt, wenn es um das Schreiben von Computerprogrammen ging und jeder von ihnen hatte immer wieder geniale Ideen. Sein Bruder hatte in den ersten zwei Jahren an der Software mitgearbeitet, war dann aber aufgrund von Meinungsverschiedenheiten ausgestiegen und hatte sich daran gemacht, eigene Softwareprogramme zu entwickeln. Mike war der Meinung, dass kein Unternehmen einen solchen Wettbewerbsvorteil, wie ihn SaC bot, haben sollte. Letztlich ging es um die Frage, ob es sich lohnte, eine so komplexe Software nur für einen einzigen Käufer zu entwickeln. Der Verkauf an mehrere Kunden wäre kontraproduktiv, denn damit würde sich der Vorteil aufheben und die Software wäre eigentlich nutzlos. Die einzige Chance, Profit zu machen, bestand deshalb darin, das eine, zahlungskräftige Unternehmen zu finden und die Software so teuer wie möglich an den Mann zu bringen. Nachdem sie sich nicht einigen konnten, zog sich Mike zurück und ging seine eigenen Wege. Seit dieser Zeit gab es nur noch sehr wenig Kontakt zwischen den beiden und wenn sie sich sahen, gingen sie fast immer im Streit auseinander. In der Software steckten also immerhin fast 10 Jahre Entwicklungszeit und so manch menschliche Niederlage. Das alles wollte sich Christopher durch exzellente Konditionen ausgleichen lassen. Mit der Einladung durch Nakamura Electronics bot sich nun die Gelegenheit, auf die er knapp ein Jahrzehnt lang hingearbeitet hatte.
Mit solchen Gedanken im Kopf machte er es sich in der Lounge bequem, kontrollierte noch ein paar Mal, ob er auch wirklich alle Unterlagen dabei hatte und ließ sich den Champagner schmecken, den ihm ein freundlich lächelnder Mitarbeiter anbot, sobald er sich in einem der bequemen Sessel niedergelassen hatte. Im Kopf ging er immer wieder seinen Vortrag durch, schaute ab und zu auf sein Redemanuskript, freute sich auf den Flug und auch den Aufenthalt in der japanischen Hauptstadt. »Mister Willinger?«, riss ihn die Stimme eines jungen Japaners aus seinen Gedanken. »Ja«, entgegnete er und schaute etwas erschrocken in das Gesicht eines sehr sympathisch aussehenden, jungen Asiaten. »Verzeihen Sie bitte die Störung, ein Telefonanruf aus Tokio für Sie.« Etwas verdutzt griff er nach dem Handy, das ihm gereicht wurde. »Ja bitte, Willinger hier?« Am anderen Ende erklang eine Frauenstimme, die in hervorragendem Englisch erwiderte: »Guten Abend, Mister Willinger, ich verbinde Sie mit Mister Nakamura.« Wieder war Christopher sehr überrascht, denn soweit er wusste, war es nicht üblich, dass Japaner einem hinterhertelefonierten. »Hallo, Mister Willinger, ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich Sie so überfalle. Ich wollte nur hören, ob Sie mit dem Flugticket zufrieden sind. Falls Sie irgendwelche Wünsche haben, scheuen Sie sich nicht, meinen Mitarbeiter zu fragen, der Ihnen das Telefon gereicht hat. Er hört auf den Namen Sota Watanabe und ist mein persönlicher Assistent. Während des Fluges steht er Ihnen jederzeit zur Verfügung. Wir sehen uns dann in Tokio.« Christopher wusste zunächst gar nicht, was er erwidern sollte. »Danke sehr, Mister Nakamura, ich freue mich darauf, Sie zu treffen.« Der Jüngling mit dem Namen Sota lächelte, als ihm Christopher das Handy zurückgab. »Es wird Zeit, an Bord zu gehen. Wundern Sie sich nicht, es werden nur wenige Gäste mit uns reisen. Die Maschine gehört dem Unternehmen Nakamura Electronics und befördert ausschließlich persönliche Freunde oder Geschäftspartner von Mister Nakamura.« Sota ging vor. Als sich die beiden Männer dem Flugzeug näherten, sah Christopher, dass es sich tatsächlich um einen Airbus 380 handelte. Das Unternehmen musste wirklich sehr erfolgreich sein, wenn es sich einen solchen Flieger leisten konnte. Beim Näherkommen sah er den goldenen Schriftzug des Unternehmens auf dem riesigen Rumpf der Maschine, einmal in großen japanischen Zeichen und darunter in romanischen Buchstaben. Auf den Flügeln standen lediglich die japanischen Schriftzeichen des Konzerns. Sie waren ebenfalls goldfarben.
Christopher betrat das Flugzeug und staunte nicht schlecht, denn alles war vom Feinsten. Keine endlosen Sitzreihen dicht neben- und hintereinander, sondern breite und luxuriöse Sessel, die sich im Raum verteilten. Es gab Einzelsitze, Sitzgruppen mit Tisch für Meetings und sogar verschließbare Abteile, in die man sich bei längeren Flügen zurückziehen konnte. Es stand eine gut gefüllte Bar zur Verfügung und jede Menge Personal sorgte dafür, dass es den Fluggästen an nichts fehlte. Sota begleitete Christopher zu seinem Platz und erklärte ihm das eine oder andere Detail. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Es dauert noch ein paar Minuten, bis wir starten. Wir erwarten noch einen zusätzlichen Gast, der sich leider ein wenig verspätet. Sobald er an Bord ist, werden wir unverzüglich losfliegen.« Christopher war begeistert und genoss es in vollen Zügen, wie er umsorgt wurde. »Kein Problem, ich laufe ganz sicher nicht weg«, erwiderte er mit einem Lächeln. »Könnten Sie mir einen Whisky bringen?« Sein Gegenüber nickte freundlich und erwiderte: »Aber gerne, ich bin gleich wieder zurück.« Er verschwand in Richtung Bar und Christopher ließ seinen Blick durch die Maschine schweifen. Überall war der Schriftzug von Nakamura Electronics zu sehen, als Stickerei auf den Rückenlehnen der Sessel, als Intarsien in die Tischplatten eingearbeitet und als Webmuster im Teppich. Alles war aus hochwertigsten Materialien gearbeitet und strahlte schlichte Eleganz aus. Nichts kam übertrieben protzig daher, wie man es beispielsweise von russischen Oligarchen oder arabischen Ölscheichs und ihren Privatjets kennt. Das gesamte Interieur wirkte zurückhaltend und dadurch erst recht stilvoll. Genau so müsste auch sein Privatflugzeug eingerichtet sein, dachte er gerade, als Sota mit einem Glas Whisky zurückkam und ihn aus seinen Gedanken riss. »Der andere Gast ist jetzt ebenfalls eingetroffen, wir werden also in Kürze starten. Bitte schnallen Sie sich an, ich sage Ihnen Bescheid, wenn Sie sich wieder frei bewegen dürfen. Auf dem oberen Deck stehen Ihnen ein Wellnessbereich und eine Bibliothek zur Verfügung.« Christopher war erstaunt und bedankte sich. Erst wollte er den Start abwarten und sich das Oberdeck später anschauen. Der Whisky war ausgezeichnet, er hatte selten einen so guten Tropfen getrunken. Die Maschine hatte inzwischen ihre Startposition erreicht und hob wenig später Richtung Tokio ab. Christopher fühlte sich wohl in seiner Haut, genoss den edlen Tropfen, merkte, dass er die Augen kaum noch offenhalten konnte und schlief innerhalb kürzester Zeit ein.
Ein sanftes Rütteln und die freundliche Stimme von Sota weckten Christopher aus seinem tiefen Schlaf auf. »Mister Willinger, wir erreichen gleich Tokio, vielleicht möchten Sie sich noch etwas frischmachen? Herr Nakamura hat sich erlaubt, einige Kleidungsstücke in Ihrer Größe besorgen zu lassen, scheuen Sie sich nicht, etwas auszuwählen. Sie finden alles dort hinten in Kabine 6.« Christopher hatte scheinbar fast den gesamten Flug verschlafen. Irgendwer hatte zwischendurch sogar unbemerkt den Sitz in eine Relax-Position dirigiert, so dass er sich jetzt gut ausgeruht fühlte. Er ging zur besagten Kabine, öffnete die Tür und fand sich in einem kleinen, abgeschlossenen Apartment wieder, das mit einem großzügigen Wohnbereich, einem Schlafzimmer sowie einem eigenen Bad ausgestattet war. Dort machte er sich frisch, ging in den Schlafraum und begutachtete die Kleidung, die für ihn im Schrank hing. Es waren Anzüge in unterschiedlichen Farben. Er wählte einen dunkelblauen, tailliert geschnittenen Anzug eines angesagten japanischen Modelabels aus. Als er die Kabine wieder verließ, begegnete er Sota, der ihm nach einer unauffälligen Begutachtung ein Lächeln schenkte und meinte: »Eine sehr gute Wahl, wenn ich das bemerken darf, Mister Willinger. Der Anzug steht Ihnen ausgezeichnet. Es freut mich, dass ich etwas gefunden habe, das Ihr Wohlwollen geweckt hat. Wir werden gleich landen, ich würde Sie bitten, sich zu setzen und sich anzuschnallen.« Christopher kam dem Wunsch nach und kurz darauf spürte er in der Magengrube, wie der Pilot den Sinkflug einleitete und das riesige Flugzeug in Richtung Erde lenkte. Als die Maschine schließlich aufsetzte, gab es nur einen kaum spürbaren Ruck, ansonsten war nichts von der Landung zu merken. Christopher war nach dem langen Flug froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Es gab nicht vieles, vor dem er Angst hatte, aber während seiner Schulzeit war ein Freund bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Dieses Ereignis hinterließ tiefe Spuren in seiner Seele und er litt seitdem unter höllischer Flugangst. Vor einigen Jahren hatte er es mal mit einem Konfrontationstraining probiert, um die Furcht vor dem Fliegen zu überwinden. Aber letztlich war es hinausgeworfenes Geld, denn die Angst war geblieben.
Christopher war jetzt also in Tokio und Sota hatte den Auftrag, ihn mit dem Wagen in die Konzernzentrale von Nakamura Electronics zu bringen. Er äußerte allerdings den Wunsch, mit der Metro zu fahren, lediglich sein Gepäck ließ er mit dem Wagen transportieren. Die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln war bei ihm inzwischen zu einem Tick geworden. Wann immer er in eine Stadt kam, die er noch nicht kannte, fuhr er zu allererst mit Bus oder Bahn. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass man einen Ort und die dort lebenden Menschen so am besten kennenlernen konnte. Sota schaute zwar etwas überrascht, entsprach aber seinem Wunsch, schließlich war er der Gast und sein Gegenüber hatte die Aufgabe, ihm alle zu erfüllen, wenn es möglich war. So stieg er also nach den notwendigen Formalitäten zunächst in die Bahn, die ihn vom Airport ins Zentrum brachte. Anschließend ging es mit der Metro weiter in Richtung Shibuya, wo sich die Firmenzentrale von Nakamura Electronics befand. Christopher beobachtete die an ihm vorbeieilenden Menschen. Er meinte, Unterschiede zu erkennen. Die Einen waren die weniger Erfolgreichen mit der oberflächlich guten Kleidung, die beim näheren Hinsehen schnell an Glanz verlor. Schaute man nämlich genauer hin, sah man deutlich, dass viele dieser Leute verschlissene, nicht passende Anzüge trugen und abgelaufene Hacken an viel zu großen Schuhen hatten. Sie konnten einem schon irgendwie leidtun, denn sie rannten sich vermutlich seit Jahrzehnten die Schuhsohlen krumm, um etwas zu erreichen, wenigstens einen Hauch von Erfolg zu haben, und traten letztlich doch nur auf der Stelle. Dann gab es die erfolgreichen Typen mit Maßanzug und perfekt sitzenden Schuhen, die schon allein durch ihre Erscheinung imposant wirkten. Lässig trugen sie ihre Workbags in der einen und das Handy in der anderen Hand. Sie waren deutlich in der Minderheit, wenn es um die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ging. Diese Typen nutzten lieber den Wagen der Firma und ließen sich von einem Chauffeur durch die Stadt kutschieren, was Zeit sparte. Denn die Metro oder die S-Bahn in der Rushhour zu benutzen, grenzte an Selbstmord. Das musste Christopher gleich bei seiner ersten Fahrt leidvoll erkennen. Jeder einzelne Waggon des Zuges war extrem voll und immer mehr Leute drängten hinein, egal, ob noch Platz war oder nicht. Draußen an den Türen standen Angestellte der meist privaten Bahngesellschaften und schoben die Einsteigenden kräftig in den Waggon hinein, sodass man drinnen fast keine Luft mehr bekam, geschweige denn, sich zu bewegen vermochte. Christopher sah tatsächlich Leute, die mit ihren Gesichtern geradezu an den Fenster- oder Türscheiben klebten. Trotz einer ständig Luft in den Waggon blasenden Klimaanlage war es im Abteil extrem stickig. Was bei Japanern auch bei größtem Platzmangel immer noch funktionierte, war die Bedienung des Handys, das alle Japaner bei sich hatten und fast ununterbrochen nutzten. Er musste schmunzeln und versuchte das aufkommende Gefühl von Beklemmung zu verdrängen. Christopher merkte, wie er sich wünschte, doch den von Nakamura Electronics bereitgestellten Wagen genommen zu haben. Jetzt, da er in diesem engen Zug stand, hätte er gerne zur zweiten Kategorie der eben beschriebenen Menschen gehört. Er wollte um jeden Preis Erfolg haben, das war bereits so, als er noch ganz klein war. Immer musste er beim Spielen der Gewinner sein, Niederlagen hasste er wie die Pest. Schon in der Grundschule galt er als der absolute Streber, der erst zufrieden war, wenn er in den Klassenarbeiten die beste Note von allen hatte. War einer besser als er, was eh nur selten vorkam, nervte ihn das unglaublich und er ließ seine schlechte Laune tagelang an seinem Bruder oder an den Eltern aus. Er war der klassische Karrieretyp, hatte zahllose, manchmal verrückte Ideen, war außergewöhnlich zielstrebig, engagiert und zu einem guten Teil verschlagen. Er hatte auch kein Problem damit, über die oft zitierten Leichen zu gehen. Ihm war es vollkommen egal, wenn jemand auf der Strecke blieb, Hauptsache er konnte das durchsetzen, was er für richtig hielt.
Während er noch in Gedanken war, bemerkte er plötzlich, wie sich jemand vorsichtig an ihn herandrängte. Zuerst wollte er es der Enge im Waggon zuschreiben, aber dann merkte er, dass die Person, die sich fast an ihn anschmiegte, eigentlich genug Platz gehabt hätte. Als er sich umdrehte, sah er mitten in das bildschöne Gesicht eines jungen Mannes, der scheinbar nicht so recht wusste, ob er lächeln oder Christophers Blick verschämt ausweichen sollte. Der Unbekannte entschied sich nach ein paar Augenblicken für ein vorsichtiges Lächeln, das Christopher erwiderte. »Verzeihung«, presste sein Gegenüber leise hervor, machte aber dennoch keinerlei Anstalten, sich von ihm zu lösen und auf Abstand zu gehen. Christopher war eigentlich bi, stand aber auch auf asiatische Männer, und was er vor sich sah, erachtete er durchaus als interessant. Der Mann war vielleicht 25, schlank und wirkte durchtrainiert. Seine Haare waren kurz, schwarz und dicht. Sein Gesicht war schmal, er hatte schön geformte Lippen und seine dunklen Augen wirkten offen und lebendig. Er hatte etwa Christophers Größe, sodass er ihm leicht in die Augen schauen konnte. Gekleidet war er wie einer der erfolgreichen Japaner, trug einen taillierten Anzug mit passender Krawatte und Einstecktuch. Sein leichter Mantel war locker über die Schultern geworfen. Er schien einen guten Geschmack zu haben. Auch Christopher bewegte sich nicht und ertappte sich dabei, wie er die sanften Berührungen zwischen ihren Körpern genoss. Beide hielten sich mit einer Hand an den Griffen über ihren Köpfen fest, das Schaukeln des Zuges sorgte dafür, dass ihre Körper immer wieder leichten Kontakt hatten. Sie standen so dicht zusammen, dass Christopher bei jeder Berührung einen sanften Druck spürte. Manchmal berührten sich ihre Arme, dann ihre Oberkörper und wenn der Zug stark ruckelte, prallten ihre Becken sanft gegeneinander. Christopher nutzte jede Berührung und versuchte, das jeweilige Körperteil unauffällig in die Richtung seines Gegenübers zu drücken. Der Jüngling schien dasselbe zu tun, denn irgendwann spürte Christopher deutlich die Wölbung in der Hose des Unbekannten an der seinen.
Ein wirklich sehr erotischer Moment. Sie waren beide ziemlich erregt, schauten sich tief in die Augen und mussten gleichzeitig lächeln. Hin und wieder berührten sich auch ihre Hände und irgendwann nahm Christopher allen Mut zusammen und ergriff unauffällig die Hand des Unbekannten. Der Zug war so voll, dass es gar nicht auffiel. So hielten sie doch tatsächlich eine Zeitlang inmitten der anderen Fahrgäste wie zwei verliebte Teenager Händchen. Der junge Mann hatte seine Augen geschlossen, atmete tief und gleichmäßig, als versuchte er, Christophers Geruch in sich aufzusaugen. Er schien die ganze Situation mehr als zu genießen. Soweit es ging, pressten sie sich aneinander. Ihre Gesichter befanden sich dicht nebeneinander und Christopher spürte den angenehm warmen Atem des Fremden an seiner Wange entlangstreichen. Viel hätte nicht gefehlt und ihre Lippen hätten sich berührt. Irgendwie kam Christopher die Situation total surreal vor, denn mitten in der Metro mit einem wildfremden Mann unbemerkt Händchen zu halten und seine steife Männlichkeit zu spüren, war schließlich alles andere, nur nicht alltäglich. Nach etwa 20 Minuten ließ Christophers Gegenüber unvermittelt seine Hand los und entfernte sich ein Stück von ihm. Er musste scheinbar aussteigen, denn er machte Anstalten, sich in Richtung Tür zu bewegen. Während des Umdrehens griff er in die Innentasche seines Mantels, zog etwas heraus und verbarg es in der Hand. Bevor sich die Türen an der nächsten Station öffneten, drehte sich der junge Mann noch einmal zu ihm um, schenkte ihm ein breites Lächeln, drückte ihm etwas in die Hand und rief beim Aussteigen: »Ruf mich an.« Dann war er auch schon verschwunden und Christopher war vollkommen verdutzt über das, was da gerade geschehen war.
Nakamura wartete, aber der Unbekannte blieb Christopher noch lange im Gedächtnis und so dachte er auch noch an ihn, als er den Nakamura-Tower erreichte. Ein wirklich imposantes Gebäude mit einer Höhe von mehr als 300 Metern. Die Architektur war modern, der Turm war eine Mischung aus Stahl, Beton und Glas, in sich verdreht und sah aus, als würde sich ein Korkenzieher vom Boden aus in die Wolken bohren. Jetzt am Abend war das gesamte Gebäude hell erleuchtet, in vielen Büros wurde also wohl noch gearbeitet. Christopher hatte den Tower noch gar nicht betreten, als ihm Sota bereits entgegeneilte und ihn mit einem sehr angenehmen Lächeln begrüßte: »Haben Sie ohne Probleme hergefunden, die Metro ist um diese Zeit ziemlich voll und dadurch ein wenig unübersichtlich«. Christopher musste schmunzeln: »Ja danke, die Enge hat mir nichts ausgemacht, ich bin gerne unter Menschen und genieße es, eine Stadt und ihre Bewohner auf diese Weise kennenzulernen. Sie ahnen nicht, welch anregenden Erlebnisse einem widerfahren können, wenn man mit der Metro fährt.« Sie durchschritten die gewaltige Eingangshalle, von der aus man tatsächlich bis zur höchst gelegenen Etage zu blicken vermochte. Als sie die Aufzüge erreichten, hatte Sota über sein Smartphone bereits eine der Kabinen bestellt. »Wir müssen bis ins oberste Stockwerk, dorthin kommt man nur mit einem speziellen Sicherheitscode. Wir legen großen Wert auf Sicherheit.« Christopher nickte. »Das verstehe ich nur zu gut, wer so viel Macht besitzt, wie Mister Nakamura, hat sicher nicht nur Freunde, sondern auch eine ganze Reihe von Neidern, die ihm nicht unbedingt Gutes wünschen.« Sota bedeutete Christopher, einzusteigen, als sich die Kabinentür lautlos vor ihnen öffnete. Sie traten ein, sein Begleiter hielt sein Smartphone direkt vor ein blau leuchtendes Display und die Tür schloss sich hinter ihnen. Christopher spürte in der Magengegend, als sich der Aufzug in raschem Tempo nach oben bewegte. »Darf ich Sie fragen, wie lange Sie bereits bei Mister Nakamura in Diensten stehen?« Sota lächelte: »Ich bin schon seit vier Jahren im Unternehmen und hatte die Möglichkeit, mich hochzuarbeiten, quasi vom Botenjungen zum persönlichen Assistenten. Ich bin auf das engste mit Mister Nakamura verbunden, er hat mich unterstützt.« Christopher hatte Sota interessiert zugehört. »Da hatten Sie großes Glück. Solch ein Werdegang ist nicht jedem vergönnt. Ich musste oft kämpfen für meinen Erfolg und ich hoffe, dass dieser Besuch die Krönung aller Anstrengungen wird.« Sota blickte ihn einen Moment lang an und Christopher meinte, in seinen Augen den gleichen Ausdruck zu erkennen, wie in denen des Fremden in der Metro. Bisher hatte sein Gaydar, also sein innerer Radar zum Erkennen schwuler Männer, immer ganz gut funktioniert. Aber bei asiatischen Männern war das nicht ganz so einfach, weil sie eben ihre Gefühle tief in ihrer Seele zu verbergen verstanden. »Ich hoffe, Sie nehmen mir die Frage nicht übel, aber sind Sie liiert, Sota, haben Sie Frau und Kinder?« Sein Gegenüber schaute ihn für einen kurzen Augenblick so an, als wolle er herausfinden, ob man ihm vertrauen könne, und antwortete mit einem breiten Grinsen: »Nein, ich bin ungebunden und genieße mein Leben, soweit es die meist knappe Freizeit zulässt. Ich bin immer noch zu haben und wenn die richtige Person vor mir steht, werde ich es hoffentlich merken.« Bei diesem Satz schaute Sota seinem Begleiter tief in die Augen und ein vielsagendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Christopher war natürlich aufgefallen, dass sein Gesprächspartner von der richtigen Person gesprochen hatte, nicht etwa von der richtigen Frau. Christopher lächelte zurück, gab ein leises »Hört, hört!« als Antwort und wandte sich der Fahrstuhltür zu, denn der Aufzug hatte angehalten und die Tür öffnete sich wie von Geisterhand.
Als sie heraustraten, standen sie in einem langen Gang. Boden und Wände bestanden aus weißem Marmor und in die rechte Wand waren goldene Schriftzeichen eingelassen, die Christopher als japanisch identifizierte und natürlich nicht übersetzen konnte. Seine Kenntnisse der japanischen Sprache waren eher dürftig. »Würden Sie mir sagen, was dort steht?«, fragte er Sota. »Das heißt soviel, wie „wo dein Herz ist, dort ist dein Verstand, achte also darauf, dass dein Herz stets am rechten Ort weilt“, ein sehr weiser Satz, wie ich finde.« Christopher nickte leicht und erwiderte: »Wenn das nur immer so einfach wäre. Das Herz verirrt sich leider allzu oft und wird häufig auf falsche Pfade gelenkt.« Sie erreichten das Ende des Ganges und standen vor einer großen, dunklen Holztür, in die die Initialen von Kenzo Nakamura als japanische Schriftzeichen in goldener Farbe eingearbeitet waren. Christopher wusste, was die Zeichen bedeuteten, er hatte sie vorher schon auf Briefen gesehen, die er von Nakamura Electronics erhalten hatte. Außerdem waren sie auf und im Flugzeug verteilt, das ihn nach Tokio gebracht hatte. Gegenüber der Fahrstuhltür standen zwei Sicherheitsleute in Zivilkleidung, aber mit Funk im Ohr. Unter ihren Jacken waren ihre Schusswaffen zu erkennen. Als sie Christopher und Sota sahen, verneigten sich die Wachen leicht, grüßten freundlich und baten darum, die Gäste abtasten zu dürfen. »Wie Sie vorhin bereits richtig bemerkten, hat Mister Nakamura leider nicht nur Freunde. Der große Erfolg seines Unternehmens ruft Neid hervor, darum ist diese Prozedur unumgänglich«, meinte Sota mit einem entschuldigenden Lächeln, nachdem die Durchsuchung abgeschlossen war. Einer der beiden Sicherheitsleute lud sie mit einer deutenden Handbewegung ein, den Gang entlang zu gehen und begleitete sie bis zu einer sich wie von selbst öffnenden Tür. Dahinter befand sich ein riesiger Raum, der auf der Seite, die der Tür gegenüberlag vollständig aus Glas bestand und einen Ausblick auf die abendliche Skyline von Tokio gewährte, wie er wohl nicht vielen Besuchern der Stadt vergönnt war. Im Raum waren verschiedene Sitzgelegenheiten verteilt, rechts und links führte je eine Tür in weitere Räume. Vor jeder dieser Türen war ein Schreibtisch positioniert, hinter dem eine Dame saß. Die rechte Tür musste zum Hausherrn führen, denn Christopher entdeckte wieder die Namens-Initialen, die in je einen der beiden Türflügel eingelassen waren. Automatisch wandte er sich nach rechts und Sota schaute ihn fragend an. »Die Initialen, die habe ich vorne an der großen Tür schon gesehen«, meinte Christopher und nun war er es, der lächelte. Sota ging vor, wechselte ein paar Worte mit der Empfangsdame, diese nickte, erhob sich von ihrem Stuhl, klopfte leise an die Tür und verschwand dann im dahinterliegenden Raum. Kurze Zeit später kehrte sie zurück, öffnete gekonnt beide Türflügel und lud sie mit einer freundlichen Geste dazu ein, den Raum zu betreten. Als Christopher vorbeiging, verbeugte sie sich leicht und schloss dann hinter ihnen die Tür.
Die Fensterfront des eben verlassenen Empfangsraumes setzte sich in dem Raum fort, den Christopher gerade betreten hatte, nur war die Aussicht noch besser. Man blickte direkt auf den Tokio Skytree, das zweithöchste Gebäude der Welt. Schon von weitem sah er seinen Gastgeber am anderen Ende des riesigen Zimmers an einem Schreibtisch sitzen. Kenzo Nakamura war ein Mann von etwa 60 Jahren, mit angegrautem, kurzem Haar und feinen, typisch japanischen Gesichtszügen. Wenn Christopher sich recht erinnerte, war sein Gastgeber nicht sonderlich hochgewachsen, vielleicht 1,65 Meter groß und mit einer sportlichen Figur. Als er jetzt eintrat, saß der Konzernchef fast am Ende des Büros hinter einem modernen Schreibtisch aus Glas, das Mobiliar war im Stil des Tisches gestaltet, gradlinig und ohne irgendwelche Spielereien. Alles wirkte sehr dezent und einladend. An den Wänden hingen Bilder moderner Künstler und auf Stelen bettelten Skulpturen um einen anerkennenden Blick der Gäste. Als sie eingetreten waren, hatte Mister Nakamura von seinem Tisch aufgeschaut, die randlose Brille wieder zurechtgerückt und sich erhoben. »Mister Willinger, ich freue mich, dass Sie sich die Zeit nehmen und mich in Tokio besuchen. Es ist mir eine Ehre, Sie in meiner Unternehmenszentrale zu begrüßen und ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug.« Christopher war von so viel Aufmerksamkeit gleichermaßen angetan wie überrascht, denn einmal lag es nach seiner Kenntnis nicht in der Natur der Japaner, so überschwänglich zu sein und außerdem war er, im Gegensatz zu Nakamura Electronics, nur ein kleines Licht in der Branche. Er hatte zwar eine durchaus interessante Software entwickelt, aber das Unternehmen seines Gesprächspartners war ein global agierender und milliardenschwerer Konzern. »Danke, der Flug war sehr angenehm und die Freude ist auf meiner Seite.« Kenzo Nakamura war inzwischen hinter seinem Schreibtisch hervorgetreten, ein paar Schritte auf ihn zugegangen und reichte ihm nun freundlich die Hand. »Einigen wir uns doch einfach darauf, dass wir uns beide freuen, einander zu begegnen.« Bei diesen Worten lächelte Nakamura fast schelmisch und zog Christopher, dessen Hand er immer noch schüttelte, in Richtung einer Sitzgruppe. »Setzen wir uns doch.« Nachdem sie Platz genommen hatten, winkte der Gastgeber seinen Assistenten heran. »Sota, bringe uns doch bitte Tee. Oder möchten Sie lieber etwas stärkeres, Cognac, Whisky oder Wodka?«
»Tee wäre mir recht«, erwiderte Christopher. Sota nickte und verschwand wortlos in einem Nebenzimmer. »Mein Assistent hat mir berichtet, dass Sie mit der Metro hierhergefahren sind. Hatten Sie eine interessante Zeit? Bei solchen Touren erlebt man ja immer wieder spannende Dinge und Fahrten mit der Metro eignen sich hervorragend, um die Menschen zu studieren.« Kenzo Nakamura lächelte geheimnisvoll und Christopher beschlich fast das Gefühl, dass er wusste, was ihm in der Metro widerfahren war. Unwillkürlich musste er an den Unbekannten denken und er konnte nicht verhindern, dass sich etwas bei ihm regte. Um dies zu verbergen, schlug er einfach die Beine übereinander und hoffte, dass es unbemerkt blieb. »Sie haben ja so Recht, Mister Nakamura, man trifft manchmal ganz unvermittelt sehr interessante Leute«, erwiderte Christopher und gab das Lächeln in Richtung seines Gastgebers zurück. Dieser nickte zustimmend. »Aber man sollte stets vorsichtig sein, nicht dass man auf Ganoven reinfällt.« Sota kam zurück und balancierte geschickt ein Tablett auf seiner rechten Hand. Er stellte es auf den Tisch und positionierte vor jedem der Anwesenden eine Tasse. »Ich hoffe, Sie mögen Grünen Tee.« Christopher nickte: »Grüner Tee ist wunderbar«, antwortete er. Sota füllte seine sowie die vor Mister Nakamura stehende Tasse mit der wohlriechenden Flüssigkeit und zog sich anschließend zurück. »Verzeihen Sie die simplen Teetassen und das einfache Servieren, aber für eine traditionelle Teezeremonie fehlt uns leider die Zeit«, entschuldigte sich Nakamura mit einem Lächeln, ergriff seine eigene Tasse und lud Christopher mit einer Handbewegung ein, es ihm gleichzutun. Schweigend tranken sie