Die Witwe der Brüder van Gogh - Camilo Sánchez - E-Book + Hörbuch

Die Witwe der Brüder van Gogh Hörbuch

Camilo Sánchez

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Beschreibung

Paris im Jahr 1890: Johanna van Gogh Bonger ist mit Vincent van Goghs jüngerem Bruder Theo verheiratet, der Vincent finanziell aushält, damit dieser sich ganz seiner Kunst widmen kann. Als der Maler sich das Leben nimmt, stirbt kurz darauf auch Theo, erfüllt von tiefer Trauer. Johanna widmet sich fortan van Goghs umfangreichem Œuvre und erkennt die Bedeutung seiner Werke. Ihr Leben verändert sich von Grund auf, als sie sich in van Goghs Briefwechsel mit seinem Bruder vertieft und dessen Kunst zum Erfolg verhilft.

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Zeit:4 Std. 16 min

Sprecher:Doris Wolters

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Über dieses Buch

Paris im Jahr 1890: Johanna van Gogh Bonger ist mit Vincent van Goghs jüngerem Bruder Theo verheiratet. Als der Maler sich das Leben nimmt, stirbt kurz darauf auch Theo, erfüllt von tiefer Trauer. Johannas Leben verändert sich von Grund auf, als sie van Goghs Kunst zum Erfolg verhilft.

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Camilo Sánchez (*1958) ist Journalist und Herausgeber. Er hat bereits mehrere Gedichtbände veröffentlicht, Die Witwe der Brüder van Gogh ist sein Debütroman.

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Peter Kultzen (*1962) studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Camilo Sánchez

Die Witwe der Brüder van Gogh

Roman

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel La viuda de los Van Gogh bei Edhasa, Buenos Aires.

Dieses Werk wurde im Rahmen des »Sur«-Programms des Außenministeriums der Republik Argentinien zur Förderung von Übersetzungen verlegt.

Originaltitel: La viuda de los Van Gogh

© by Camilo Sánchez 2012

Vermittelt durch die Literarische Agentur Mertin, Inh. Nicole Witt

© by Unionsverlag, Zürich 2021

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Isaac Israels, Woman before Sunflowers by Van Gogh, 1917

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30858-9

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 22.06.2021, 19:25h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DIE WITWE DER BRÜDER VAN GOGH

1 – Im schweren Schatten, der sich hinter ihm die …

2 – Es ist der erste Sonntag im September 1890 …

3 – Ich schreibe wie jemand, der im Schlaf den …

4 – Wil ist wieder abgereist, und Zuleica hat ihren …

5 – Johanna kann es gut verbergen, aber innerlich kocht …

6 – Es ist der erste Tag des Jahres 1891 …

7 – Die Briefe ihres Schwagers kommen Johanna fast wie …

8 – Johanna lässt für eine Weile den Albtraum aus …

9 – Vincent spielt stundenlang in der Badewanne

10 – Nach einem strengen Winter sprießt und gedeiht es …

11 – Am Ende des Tages ist Johanna sehr erschöpft …

12 – Ein gerade geschnittener Rock aus dunklem Stoff …

Bilder

Über das Umschlagbild

Quellen

Abbildungsverzeichnis

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Über Camilo Sánchez

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Vrouw en profil voor De Zonnebloemen van Van Gogh, ca. 1917/18

Isaac Israëls

1

Im schweren Schatten, der sich hinter ihm die Treppe hinaufschleppte, kündigte es sich an: Als Theo van Gogh hereinkam, war ihm der Tod auf den Fersen.

Johanna sah ihn an. In drei Tagen war er um zehn Jahre gealtert.

Seine Frau würdigte er kaum eines Blickes, eine Begrüßung gab es nur für das Kind. Äußerst behutsam schob er die letzten Arbeiten seines Bruders unters Bett: mehrere aufgerollte Leinwände, die Farbe war noch kaum getrocknet. Anschließend legte er den Brief, der zwischen Vincent van Goghs Kleidern steckte, als er sich die Kugel in die Brust schoss, in die Schatulle aus Eichenholz. Danach kroch er zwischen die Laken und schlief ein.

Das Pferdegetrappel, das von der Straße zu hören ist, treibt Johanna van Gogh-Bonger an den Schreibtisch. Doch bevor sie mit ihren Aufzeichnungen beginnt, sorgt sie für Ordnung in der Wohnung, ihrer kleinen Welt, deren Existenz immer unsicherer wird.

Über dem Tisch aus Kirschholz, im vierten Stock des Hauses Rue Pigalle 8 in Montmartre, verklingen die Geräusche des Tages, die Stadt kommt zur Ruhe. Die zunehmende Dunkelheit löscht die Farbtöne aus, und was jetzt auf sie zukommt, ist schwer zu erkennen – was wird ihr die Zukunft bringen?

Sie beginnt, in ihr neues, unberührtes Tagebuch zu schreiben. Am Anfang steht die Nachricht, dass ihr Schwager gestorben ist.

Über Vincents Todeskampf wollte Theo nicht sprechen. Er erzählte bloß, er habe ruhig ausgesehen, wie er in dem Sarg auf dem Billardtisch der Auberge Ravoux lag, und es sei eine gute Idee gewesen, um ihn, den gerade erst Verstorbenen, herum einige seiner letzten Arbeiten aufzubauen.

Fast hätte ich einen unanständigen Gedanken geäußert, der mir darauf durch den Kopf ging: Also hat er es endlich doch noch zu seiner ersten Einzelausstellung gebracht. Aber ich schwieg, und Theo legte sich schlafen. Seit sechs Stunden ruht er nun schon aus, zum ersten Mal seit sein Bruder nicht mehr auf dieser Welt ist.

An anderer Stelle hat sie geschrieben: »Ich hatte immer ein wenig das Gefühl, als würde ich mich zwischen die Brüder van Gogh drängen, aber auch, als könnte ich vielleicht manchmal zwischen ihnen vermitteln.«

Während der vergangenen vier Jahre hat sie immer wieder weggesehen, wenn Theo Monat für Monat einen Umschlag mit einhundertfünfzig Francs auf den Weg brachte. Wie sie auch besänftigend auf ihren Mann eingewirkt hat, wenn er den Bruder wieder einmal aus Wut seinem Schicksal überlassen wollte.

»Wir mögen uns zwar von der Leidenschaft leiten lassen, aber überkochen darf sie trotzdem nicht«, sagt sie sich einmal mehr, während sie die Windeln ihres kleinen Sohns wechselt. Und weil ihr Mann keine Anstalten macht, das Bett zu verlassen, fasst sie einen Entschluss: Sie selbst wird die Todesanzeige aufsetzen, die an die Druckerei geschickt werden muss.

Da Johanna nichts von falscher Zurückhaltung hält, setzt sie Theos Namen an die Spitze der Liste der Abschiednehmenden, schließlich hat er sich als Einziger bis zuletzt um alles gekümmert. Ihrem diplomatischen Fingerspitzengefühl folgend, führt sie allerdings zwei Traueradressen an: die Wohnung in der Rue Pigalle 8 in Montmartre, die sie mit ihrem Gatten und dem Kleinen teilt, und, obwohl es ihr fast wie ein Zugeständnis vorkommt, die Adresse der Mutter der Brüder van Gogh: Herengracht, Leiden, in Holland.

Dann kommt ihr ein unangenehmer Gedanke in den Sinn. In der drückenden Pariser Sommernacht fragt sie sich zum ersten Mal, ob es gut war, zugestimmt zu haben, dass ihr Sohn seinem Onkel, dem Maler, zu Ehren Vincent genannt wurde.

Meine Brustwarzen sind rissig, weil der Kleine ständig danach verlangt. Ich versuche, mir mit Calendulasalbe Linderung zu verschaffen. Der übrige Körper beruhigt sich, wenn ich schreibe.

Mein Sohn, der kleine Vincent, schläft in seiner Eichenholzwiege. Er wird stark sein müssen, um den Fluch zu bannen, der auf seinem Namen liegt.

Es lässt ihr keine Ruhe, dass sie sich – es war im dritten oder vierten Monat der Schwangerschaft – nicht widersetzt hat, als ihr Mann Theo mit der Idee kam, die Familientradition fortzuführen und, falls es ein Sohn war, ihn Vincent zu nennen.

Wie viel Unglück auf dem Namen lastete, wusste sie damals allerdings nicht. Erst vor wenigen Tagen hat sie die ganze Geschichte in Erfahrung gebracht. Jetzt weiß sie, dass ihr Schwager nicht der Erstgeborene war.

Vor Vincent und Theo gab es bereits einen Sohn, der auch Vincent hieß. Er starb bei der Geburt, oder wenige Stunden danach – die Einzelheiten sind Johanna nicht bekannt.

Ein Jahr später, auf den Tag genau, kam wie durch höheren Beschluss jener van Gogh zur Welt, der eben erst gestorben ist.

Johanna weiß aber – und die Vorstellung will ihr seither nicht aus dem Kopf –, dass der erste Vincent auf dem kleinen Friedhof in Zundert begraben wurde, neben der Kirche mit den hohen roten Mauern und dem kleinen Glockenturm, der kaum über das Ziegeldach hinausragt, nur wenige Meter vom Haus der Familie van Gogh entfernt. Und sie weiß, dass der zweite Vincent, der, der sich gerade das Leben genommen hat, als kleiner Junge regelmäßig Blumen auf ein Grab legte, auf dem sein Name und sein Geburtsdatum zu lesen waren.

Eine schreckliche Vorstellung. Vincent soll in diesem Tagebuch ab sofort nur noch der Name für meinen Sohn sein.

Der andere, der Tote, der mit dem Kobaltblau und dem Gelb, der der Welt seine reifen Weizenfelder und Sonnenblumen entgegenhielt, wird auf diesen Seiten künftig van Gogh heißen.

Johanna muss den nun schon seit fast zwei Tagen im Bett liegenden Theo dazu bringen, seiner Mutter ein paar von den Todesanzeigen zu schicken.

Einfach ist das nicht.

Seit die Schwiegermutter Anna Cornelia Carbentus – eineinhalb Jahre ist es jetzt her – beim Aussteigen aus einer Kutsche der Transportgesellschaft Van Gend & Loos gestürzt ist, schmerzt ihre Hüfte, und gesehen haben sie sie seither nicht. Ihre schroffe und abweisende Art hat sich dadurch wohl noch verschärft. Johannas Bruder André, Theos bester Freund, nennt sie seit jeher »die Frau mit dem eisigen Blick«.

Johanna hilft ihrem Mann aus dem Bett und stößt ihn dann geradezu in eine Wanne voll kaltem Wasser. Er muss ein wenig zu Kräften kommen. Anschließend schreibt Theo an seine Mutter und lässt den Brief danach absichtlich auf dem Tisch liegen:

Vincents Tod ist ein Schmerz, der mir ewig nachgehen wird und den ich mein Leben lang mit mir herumtragen werde. Das einzig Gute, was man darüber sagen könnte, ist, dass er nun den gewünschten Frieden hat.

Das Leben wurde ihm schwer; aber es ist wie so oft: Jetzt rühmen sie alle sein Talent.

Johanna wundert sich, dass das Wort »jetzt« mit einer nervösen Linie unterstrichen ist. Ihr scheint dies jedoch falsch – Theo übertreibt, wenn er behauptet, jetzt würde alle Welt van Goghs Talent anerkennen.

Der kleine Vincent ist zwei Tage lang fast durchgehend weinerlich und fiebrig. Am Ende dieser Zeit zeigt sich ein winziges weißes Pünktchen an seinem Unterkiefer. Dass sein erster Zahn hervorkommen will, macht ihn so unleidlich.

Johanna stellt fest, dass sein Aufbegehren ein klares Ziel verfolgt: Es ist, als wolle ihr Sohn den Schmerz mit den Tränen aus sich herausfließen lassen. Theo dagegen, mit seinem wirren Bart und in dem dunkelgrauen Anzug, den er nicht einmal zum Schlafen auszieht, scheint sich geradezu wohlzufühlen in der Tiefe des Abgrunds, in den er sich hat sinken lassen.

Ich bemühe mich, dem Kummer meines Mannes so gut als möglich entgegenzuwirken.

Mit dem Tod hat sich eine weihevolle Untergangsstimmung in unserer Wohnung breitgemacht. Und ein Gefühl von Unwirklichkeit bei allem, was wir tun.

Johanna van Gogh-Bonger ergreift die Initiative. Dabei stützt sie sich vor allem auf Zuleica, eine junge Spanierin, die ihr im Haushalt zur Hand geht. Sie hat sich mehrere Exemplare des Artikels beschafft, den Maurice Beaubourg am Tag nach der Beerdigung veröffentlicht hat. »Um van Gogh zu begreifen, genügt es nicht, eins seiner Werke zu betrachten, man muss sie alle sehen«, hat er in der Revue Indépendante geschrieben.

Nirgendwo sonst in der Presse findet der Tod ihres Schwagers Erwähnung.

Johanna legt den Artikel in eine Mappe, zu den anderen – vier sind es –, die auf die jüngste Flut von Bildern eingehen, die Johanna so gut sie kann in der Wohnung in der Rue Pigalle unterzubringen versucht.

Sie glaubt zu wissen, wie ihr Schwager auf Beaubourgs Äußerungen reagiert hätte. Dessen Lob hätte ihm maßloses Unbehagen bereitet und ihn dazu gebracht, sich voll wilder Selbstkritik auf all das zu stürzen, was es in seinen Augen zu verbessern galt.

Immer diese dramatisch übertriebene Bescheidenheit.

Später hätte es ihm leidgetan, und er hätte Beaubourg, wie um den Auftritt wiedergutzumachen, eins seiner so anrührenden Bilder geschenkt.

Der Streik der Pariser Droschkenkutscher – ihre Arbeitgeber weigern sich, neue Fahrzeuge anzuschaffen – wird lückenlos befolgt. Die Zeitungen berichten von der Unruhe, die die Stadt ergreift: Die Reichen ärgern sich, weil sie nicht zu Fuß gehen möchten, die Touristen, weil ihre Zeit knapp bemessen ist. Ohne den gewohnten Verkehr wirkt alles seltsam leer und unbelebt.

Andererseits hat es zur Folge, dass Johanna an diesem Samstagabend im August 1890 ungestört das beeindruckende Pflaster der Pariser Straßen wahrnehmen kann: Im neuartigen Licht der Gaslaternen glänzt es prachtvoll.

»Die Droschken stehen in den Schuppen, die Pferde in ihren Ställen, und die Herren Kutscher sitzen in der Kneipe – unter Louis-Philippe hätte man sie eingesperrt«, sagt eine elegant gekleidete Dame auf dem Markt zu Johanna. Offensichtlich träumt sie von der Rückkehr unwiederbringlich vergangener Zeiten.

Als der Streik am Sonntag beendet wird, gelingt es Johanna, Theo zu einer kleinen Reise zu überreden. In Gesellschaft des kleinen Vincent wollen sie das gewaltige Schiffshebewerk Les Fontinettes kennenlernen, das den Fluss Aa mit dem Canal de Neufossé verbindet.

Staunend sehen sie zu, wie dort mithilfe eines gewaltigen Troges große Kähne umgesetzt werden, als handelte es sich um Papierschiffchen.

»Wozu die Wissenschaft nicht alles imstande ist, sobald sich damit Geschäfte machen lassen«, sagt Theo, der sich zum ersten Mal wieder für etwas anderes als den Tod seines Bruders zu interessieren scheint.

Nach ihrer Rückkehr lässt Johanna sich zu Hause in einem Stuhl vor van Goghs Gemälde einer Sternennacht über der Rhône bei Arles nieder.

Der Anblick der riesigen durch die Luft schwebenden Schiffe ist ihr noch lebhaft in Erinnerung.

»Was führt weiter oder kommt von weiter her, ein Fortschritt auf künstlerischem oder auf technischem Gebiet?«, fragt sie sich.

Da sie bis zum frühen Morgen nicht einschlafen kann, setzt sie sich schließlich an ihr Tagebuch.

Ich war mit dem Kind beim Arzt. Im Wartezimmer war unter anderem begeistert die Rede davon, dass die Nationalversammlung einen 58-Millionen-Francs-Kredit auf fünf Jahre bewilligt hat. Aber nicht für Schulen oder Krankenhäuser, nein, für den Bau von Kriegsschiffen.

Was für ein Wahnsinn!

Theo nimmt an kaum etwas Anteil. Heute hat er den ganzen Tag kein Wort gesagt. Die Trauer macht ihn überaus schweigsam, und ich fürchte erneut um seine Gesundheit.

Johanna lädt ihren Bruder André und seine Frau Annie, Baronin van Werwolde, zum Abendessen ein.

Ganz Aristokratin, entsteigt Letztere, bekleidet mit einem dieser neuartigen, herrlich bequemen Kautschukkorsetts, schwarzem Spitzenunterrock und darüber einem leichten Leinenkleid, ihrer frisch aus England importierten Mietdroschke und schwärmt begeistert von ihrer neuesten Entdeckung: »Die vielen neuen Mosaiken überall werden die eintönige Architektur dieser Stadt verändern!«, verkündet sie frivol näselnd, während André sich nervös über das Haar streicht, das so fein ist, wie man es eher bei einer Frau oder einem Kind erwarten würde.

Trotz Annies Gegenwart kann Johanna ihren Bruder einen Augenblick zur Seite nehmen, um mehr über die Umstände von van Goghs Tod zu erfahren. Ihr Mann hat ihr die Einzelheiten bis jetzt vorenthalten.

Noch am selben Abend wird Johanna sie in ihrem Tagebuch festhalten:

Am Sonntagnachmittag schoss van Gogh sich in die Brust, würdig bis zuletzt weigerte er sich jedoch, Doktor Gachet, der uns telegrafisch benachrichtigen wollte, unsere Adresse zu nennen – Theo sollte seinen Todeskampf nicht mitansehen müssen.

Doktor Gachet sandte schließlich früh am Montagmorgen eine Nachricht in Theos Büro in der Kunsthandlung Goupil.

Theo und André nahmen daraufhin den ersten Zug und benachrichtigten Johanna von Auvers aus. Sie nahm an, es handle sich bloß um einen erneuten Ausbruch der Krise.

Von der Kugel in der Brust verriet Theo in der ersten Nachricht nichts. Er wollte nicht, dass ich mir Sorgen machte, obwohl es diesmal tatsächlich Anlass dafür gab. Typisch für die beiden Van-Gogh-Brüder, dieses Verhalten.

Als wüssten sie nicht, welche Gewalt man gegen andere ausübt, wenn man versucht, deren Gefühle im Zaum zu halten.

Als die beiden schließlich an van Goghs Lager eintrafen, musste André sich vor allem um Theo kümmern, der sich vor Kummer kaum auf den Beinen halten konnte. Sein Bruder, der Maler, dagegen war trotz des hohen Fiebers hellwach, lag, ohne zu klagen, halb aufgerichtet im Bett und zog an seiner Pfeife, während das Leben allmählich aus ihm schwand.

Erhitzt, wie er war, sprach er unaufhörlich vor sich hin: »Ich wars, nicht Theo, und auch nicht Elisabeth!« und ähnliche Äußerungen, die sich womöglich auf ferne Kindheitserlebnisse bezogen. Manchmal nur schwer Verständliches – »Was ist das schon, ein einsamer Mensch, der von irgendwoher mit einer Farbe zurückkehrt?« – oder ganze Passagen aus Richard III., Überreste aus der Zeit seiner fanatischen Shakespeare-Begeisterung.

Theo sagt während des ganzen Essens kaum ein Wort. »Am schlimmsten war die Geschichte mit dem Priester«, ist alles, was er irgendwann während der Hauptspeise von sich gibt.

André ergänzt das Übrige: Da es sich um einen Selbstmord handelte, hatte der Pfarrer von Auvers sich geweigert, die Begräbniskutsche der Gemeinde zur Verfügung zu stellen, weshalb Émile Bernard in der Hoffnung, dort mehr Entgegenkommen zu finden, trotz allen Abschiedsschmerzes ins nahe gelegene Dorf Méry gehen musste.

Draußen ist Vollmond, und die Lilien im Hof scheinen sich ihm dankbar entgegenzuneigen. Selbst im quirligsten und schäbigsten Teil Montmartres kehrt Ruhe ein.

Ich schreibe bei Nacht, weil mich dann niemand mit seinen Gedanken in Beschlag nehmen kann.

Und ich schreibe, obgleich es mich nach anderem verlangt: Der Kleine in seiner Wiege brabbelt vor sich hin, als wollte er mich zu sich rufen. Eben noch schien er ganz gefangen vom Schnarren einer Rassel. Er hat neugierig geblinzelt und nach dem Ursprung des Geräusches Ausschau gehalten.

Johanna macht sich an die Zubereitung der Entenbrust, die sie am Vorabend in Cognac und Zitrone eingelegt hat.

Sie wird sie mit schwarzen Oliven garnieren, die der Maler mitgebracht hat, als sie sich vor einigen Monaten erstmals persönlich begegnet sind und Vincent van Gogh endlich mehr wurde als ein Mann, dessen Bilder sämtliche Wände ihrer Wohnung bedeckten, der ebenso regelmäßig wie besessen Briefe schickte, dessen seelische Krisen – während ihrer Verlobungszeit und auch nach ihrer Heirat – die gemeinsamen Nächte mit Theo überschatteten und an den dieser Monat für Monat einen Scheck über einhundertfünfzig französische Francs auf den Weg brachte.

Während die Entenbrust in der Pfanne schmort, schneidet Johanna drei duftende blaue Zwiebeln klein und zerdrückt mehrere Knoblauchzehen. Dabei lässt sie noch einmal den Augenblick Revue passieren, in dem Vincent van Gogh ihr zum ersten Mal gegenüberstand. Theo war zum Bahnhof gefahren, um ihn abzuholen – er wollte ihn keinesfalls auch nur eine Minute sich selbst überlassen –, und einige Zeit später entstiegen die beiden lächelnd einer Mietdroschke.

Obwohl Johanna ihn tatsächlich noch nie gesehen hatte, stellte sie erstaunt fest, wie sehr er dem Selbstporträt vor der Staffelei ähnelte, das mehrere Monate im Flur gegenüber der Ankleidekammer gehangen hatte.

Eine Sache ist ihr besonders im Gedächtnis geblieben: Vincent, wie er sich vor eins der Droschkenpferde stellt und ihm langsam, bei der Stelle zwischen den Augen beginnend, über die Schnauze streicht, als wolle er sich für die Fahrt vom Bahnhof bis hierher bedanken.

So etwas hatte Johanna noch nie gesehen.

Wenn sie jetzt daran denkt, zwei Monate später und nur wenige Tage nach dem Selbstmord, stellt sie fest, dass diesem Mann, der seinem ganz eigenen Rhythmus folgte und um einiges jünger wirkte als Theo, seine Todessehnsucht nicht im Geringsten anzumerken war.

Bei der Hitze dieser Tage ist Paris kaum zu ertragen. Etwas angenehmer wird es nur, wenn aus der Richtung, wo die großen Landhäuser stehen, ein leichter Wind weht und den Duft von frischem Gemüse heranträgt, der sich über den säuerlichen Geruch der in der Sonne trocknenden Pferdeäpfel legt.

Die Verabredung mit Edith Cherniac ist für Johanna in Wahrheit bloß ein Vorwand, um der Wohnung zu entrinnen, die sie unter Zuleicas Obhut zurücklässt. Die junge Spanierin, die sie besser zu kennen scheint als Johanna sich selbst, hat sie in ihrem Entschluss bestärkt. Schließlich spürt sie, wenn die Herrin des Hauses kurz vor dem Zusammenbruch steht, und sorgt jedes Mal gerade noch rechtzeitig dafür, dass sie ein wenig an die frische Luft geht.

Um halb fünf, eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit, lässt Johanna van Gogh-Bonger sich an einem Tisch des Café Vachette nieder, wo man freundlicherweise bunte Blätter auslegt, um die Gäste zum Schreiben anzuregen.

Im Lokal herrscht immer noch große Aufregung. Wie der Kellner berichtet, hat kurz zuvor der Dichter Verlaine, der ein paar Glas zu viel intus hatte, sämtliche Anwesenden belästigt, indem er mit seinem Stock auf den Holzboden klopfte und lautstark verlangte, man solle ihn ernst nehmen.

»Ich bin nicht betrunken, ich trinke einzig und allein, um meinen Ruf zu wahren«, soll er erhitzt verkündet haben.

Edith Cherniac kommt nur wenig zu spät. Sie trägt ein luftiges Kleid, das nicht ganz bis zum Boden reicht, und sie hat ein Geschenk für Johanna dabei: einen Artikel aus dem Observer über Percy Shelley. Dazu den neuesten Klatsch über das Museum und den Londoner Alltag, nichts wirklich Überraschendes.

Allerdings berichtet sie auch von einer Erfindung aus Nottingham, die sich zu einer Mode entwickelt hat: Water-closet heißt das Ding offenbar, und es ermöglicht es, im Sitzen Wasser zu lassen.

»Du müsstest sehen, wie stolz die Engländer auf diesen Apparaten thronen, einfach köstlich!«, sagt Edith, und die beiden kichern wie in früheren Zeiten.

Bald stellt sich heraus, was der eigentliche Hintergedanke von Ediths Besuch bei Johanna in Paris ist: Sie möchte mehr über diesen Vincent van Gogh erfahren.

Sie ist also auf der Suche nach einem Mann.

Vor ein paar Jahren hat sie ihn malen sehen, in Joinville-le-Pont und in der Rue des Abbesses, und seither geht er ihr nicht aus dem Sinn. Sie war begeistert vom sicheren Instinkt, mit dem er geduldig die Farben auf der Palette mischte, um anschließend in feuriger Präzision die nie gesehenen, maßlosen Töne auf die Leinwand zu setzen.