Die Worte, die das Leben schreibt - Adelia Saunders - E-Book

Die Worte, die das Leben schreibt E-Book

Adelia Saunders

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Beschreibung

Magdalena hat eine eigentümliche Gabe. Die junge Frau kann die Geschichten fremder Menschen auf deren Haut lesen: Wie bei einem Tattoo, das nur sie sehen kann, erscheinen ihr Namen, Ereignisse, banale und tragische Details – Botschaften, die das Leben selbst mit Geheimtinte notiert zu haben scheint. Als sie in Paris einem amerikanischen Studenten begegnet, erkennt sie ihren eigenen Namen auf dessen Wange. Aber welche Rolle sollte sie im Schicksal von Neil spielen? Oder in dem von dessen Vater? Eine rätselhafte Geschichte verbindet das Leben dieser drei Menschen – und die Liebe. Denn Neil ist von der jungen Frau mit den hellen Augen ganz hingerissen.

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Buch

Magdalena hat eine eigentümliche Gabe. Die junge Frau kann die Geschichten fremder Menschen auf deren Haut lesen: Wie bei einem Tattoo, das nur sie sehen kann, erscheinen ihr Namen, Ereignisse, banale und tragische Details – Botschaften, die das Leben selbst mit Geheimtinte notiert zu haben scheint. Als sie in Paris einem amerikanischen Studenten begegnet, erkennt sie ihren eigenen Namen auf dessen Wange. Aber welche Rolle sollte sie im Schicksal von Neil spielen? Oder in dem von dessen Vater? Eine rätselhafte Geschichte verbindet das Leben dieser drei Menschen – und Liebe. Denn Neil ist von der geheimnisvollen jungen Frau mit den hellen Augen völlig hingerissen. Aber ist er auch bereit, ihr auf ihrem Pilgerpfad bis ans Ende der Welt zu folgen?

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Jörn Ingwersen

Für Nick

MAGDALENA

Vilnius 1991

Wenn in alten Zeiten ein Kind geboren wurde, stand die Glücksfee draußen am Fenster und flüsterte: Es wird reich werden. Es wird groß und stark werden. Es wird bekommen, was ihm zusteht. Wenn dann das Kind gewaschen und gewickelt war, setzte sich die Hebamme ans Fenster und lauschte. Es wird nur so lange leben, wie das kleine Feuer brennt, mochte die Glücksfee wohl sagen. Und wenn die Hebamme wusste, was sie tat, riet sie der Familie, das Feuer niemals verlöschen zu lassen. Also verbrachte die Mutter ihre Tage damit, die Flammen mit Zweigen am Leben zu halten, und ihr kleiner Sohn wuchs in einer stets warmen Küche auf, bis er – so hieß es in den Geschichten – ein reiches Mädchen heiratete, das nichts für die alten Sitten übrig hatte, in der Küche nicht sonderlich bewandert war und den Rat der Schwiegermutter in den Wind schlug: Und so fiel er im selben Moment tot um, als sie den Ofen erkalten ließ.

Das war die Geschichte, die Magdalenas Mutter ihr von Zeit zu Zeit erzählte, bis sie eines Tages, als sie gerade lesen lernte, noch bevor sie ahnte, dass sie irgendwie anders war, ihre Mutter fragte, wieso die Hebamme nicht verhindert hatte, dass die Glücksfee mit ihrem Stift durchs Fenster hereinkam.

»Was denn für ein Stift?«, fragte die Mutter.

»Um ihren Namen zu schreiben.«

»Welchen Namen?«

»Auf dem Baby.«

»Was redest du?«, fragte ihre Mutter.

»So wie hier.« Magdalena fuhr mit ihren kleinen Fingern über die Worte, die am Hals und an den Armen der Mutter geschrieben standen, suchte nach Glück, was im Litauischen ein Wort war, das auch Frohsinn bedeutete, und außerdem etwas, das im Grunde weder das eine noch das andere war. Sie fand es am Handgelenk ihrer Mutter, wo die weiche Haut die Buchstaben zusammenfaltete. »Hier«, sagte sie. Die Buchstaben zuckten mit dem Herzschlag ihrer Mutter. Magdalena strich mit den Fingern über das Wort und überlegte, wo die Glücksfee wohl gelernt haben mochte, ihren Namen so sauber zu schreiben, wenn man bedachte, dass sie doch eine Fee war und nie eine Schule besucht hatte.

Doch die Mutter riss ihre Hand zurück. »Sehr witzig«, sagte sie, lachte jedoch nicht. Sie fühlte Magdalenas Stirn, um nachzusehen, ob sie fieberte, und schickte sie zu Bett. Danach erzählte sie die Geschichte vom Glück, das draußen vor dem Fenster stand, nie wieder.

2008

RICHARD

Paris, Juni

Inga Beart verlor so vieles in Paris, dass es ihren Biografen gar nicht einfiel, ihre Schuhe zu erwähnen. Damals berichteten mehrere Zeitungen, sie sei barfüßig an Bord des Schiffes gegangen, das sie zurück nach New York bringen sollte. Es hieß, sie habe den helfenden Arm des Schiffsarztes zurückgewiesen und sei dann auf Zehenspitzen übers Deck getappt. Meines Wissens jedoch hat niemand je zu klären versucht, was eigentlich genau mit ihren Schuhen passiert ist. Sie waren rot, mit hohen, schmalen Absätzen, und Historiker meinen, während ihrer gesamten Karriere sei sie in der Öffentlichkeit kaum jemals ohne diese Schuhe gesehen worden. Als sie Frankreich 1954 verließ, waren ihre roten Schuhe einer ganzen Generation von Lesern ebenso bekannt wie die blassen Augen und tintenfleckigen Lippen auf dem Umschlagfoto oder die Art und Weise, wie sie noch der schlichtesten Phrase etwas Feines, etwas Lyrisches entlocken konnte.

Ich mache den Biografen keinen Vorwurf, dass sie ihren Füßen kaum Aufmerksamkeit gewidmet haben. Im Vergleich mit dem gewalttätigsten Ereignis in Inga Bearts kurzem Leben wird ihnen der Umstand, dass ihre Schuhe fehlten, wie ein geringfügiges Detail erschienen sein, und Gelehrte konzentrierten sich stattdessen auf die letzten Zeilen, die sie auf dem Schiff zurück nach Amerika geschrieben hatte – ein Geständnis, obwohl niemand es glauben mochte, in die Farbe ihrer Koje geritzt, mit einem Bleistiftstummel, den sie unter der Zunge versteckt hatte. Denn da war ihr alles andere natürlich längst genommen worden.

Von allen offenen Fragen, die in Bezug auf Inga Bearts letzte Monate geblieben sind, beschäftigt mich das Verschwinden ihrer roten Schuhe am meisten. Jahrelang hatte ich daran gedacht, nach Paris zu fahren, um vielleicht selbst herauszufinden, was damit passiert sein mochte, obwohl ich natürlich wusste, dass es so gut wie unmöglich wäre, knapp fünfzig Jahre später noch Hinweise auf das Schicksal eines Paars Schuhe zu finden. Ich hatte einige Historiker danach gefragt, doch die zuckten nur mit den Schultern oder musterten mich skeptisch – diesen alten Mann, der sich für ein Paar Pumps interessierte, die längst zu Staub zerfallen waren. Sie müssten wohl in Paris geblieben sein, erklärte man mir. Mit diesen Schuhen hätte sie ohnehin nichts mehr anfangen können, nachdem die Krankenschwestern ihre Sachen gepackt und sie auf den Heimweg geschickt hatten.

Damit könnten die Historiker Recht haben. Ich weiß über Inga Beart nicht mehr als alle anderen. Ich bin meiner Mutter nur ein einziges Mal begegnet, und als ich ihren Besuch datieren wollte, war niemand bereit, mir dabei zu helfen. Nicht nur Tante Cat, auch der Rest der Familie bestritt rundweg, dass dieser Besuch je stattgefunden hatte. Ich weiß nur, dass ich nicht älter als drei gewesen sein kann, denn an meinem vierten Geburtstag war sie schon in Paris, und als sie dann zurückkam, hätte natürlich niemand zugelassen, dass ich sie in ihrem Zustand zu sehen bekam.

Die Details jenes Tages, an dem sie mich besuchen kam, haben sich derart mit Szenen aus alten Filmen und Bruchstücken ihrer zahllosen Biografien vermischt, dass ich nicht mehr sicher sein kann, was damals tatsächlich passiert ist und was ich mir in meiner Fantasie später ausgemalt habe. Die Erinnerung ist zu detailliert für einen kleinen Jungen, das will ich gern zugeben, aber ich habe gelesen, dass die Erinnerung an scheinbar wahllose Informationen bei Kindern in diesem Alter manchmal bemerkenswert zutreffend ist. Und obwohl es recht selten vorkommt, muss es wohl auch auf mich zutreffen, denn ich erinnere mich so deutlich an die Schuhe meiner Mutter, dass ich sie noch heute vor mir sehe, wenn ich nur die Augen schließe.

Die Erinnerung ist umrahmt von etwas, das wie eine Spitzendecke aussieht, vermutlich aber Tante Cats Plastiktischdecke ist, was mich zu der Vorstellung veranlasste, ich hätte mich während des Besuchs meiner Mutter unter dem Tisch versteckt. Der Rest meiner Erinnerung – eine blaue Tür, eine zerbrochene Teetasse – passt nicht recht zu Tante Cats Küche. Das alles muss später hinzugekommen sein. Doch der Anblick dieser Schuhe gehört mir allein. In den Stunden oder auch nur Minuten, die ich dort unter dem Tisch verbracht habe, während sie und Tante Cat sich unterhielten, konnte ich mir einen Teil von Inga Beart aneignen, der sämtlichen Verlegern und Forschern und Fans und Reportern und selbst Tante Cat und den Ärzten entgangen war. In der gesamten Literatur findet sich – so detailliert ihr Leben auch beschrieben sein mag – keine einzige Erwähnung ihrer Schuhe, die so präzise wäre wie meine Erinnerung. Einigen Biografen habe ich zu erklären versucht, dass ich sie mir genau ansehen konnte, aber niemand schien sich dafür zu interessieren, und in ihren Büchern schrieben alle das, was Tante Cat gesagt hatte, dass nämlich Inga Beart nie bei uns gewesen sei.

Man kann sich im Leben jedoch nur weniger Dinge wirklich gewiss sein, und wahrscheinlich hatten diese Biografen und Uniprofessoren ihr Kontingent an Gewissheit schon anderweitig verbraucht. Einmal bin ich ihr begegnet, das weiß ich genau, und im Laufe der Jahre habe ich mir, wenn ich nicht schlafen konnte, die Füße meiner Mutter eingeprägt. Ich sah, wie ihre Knöchel zuckten, als flatterten kleine Vögel unter der Haut. Ich kannte das weiche Leder und das Rot dieser Schuhe genau, und ich sah die Stellen, an denen sie zerkratzt und geflickt waren. Für mich war das alles kein Zufall: Ich sah, dass ihre Sohle gebrochen war, bevor irgendwer sonst es bemerkte – es war die linke Sohle, einmal quer über den Fußballen gespalten, als hätte sie auf Zehenspitzen gestanden, lange, sehr lange.

Ich denke, es dürfte wohl am sinnvollsten sein, meinen Bericht mit jenem Morgen zu beginnen, an dem ich in Paris eintraf. Ich habe versucht, mich an meine ersten Momente in der Stadt zu erinnern. War da ein Geräusch, das etwas Bekanntes in mir wachrief? Oder ein Geruch, der mir fremd und doch vertraut war? Die Wahrheit ist, dass mir nach den vielen Stunden im Flugzeug alles neu und fremd vorkam. Ich weiß nur noch, dass mir – als ich endlich aus dem Airport-Shuttle auf den Boulevard de Sébastopol hinaustrat – auffiel, wie früh am Morgen es noch war.

Zu dieser Uhrzeit herrscht eine ungewöhnliche Stille, die ein Mensch vom Lande der Stadt gar nicht zutraut. Lose Fahrradspeichen klimperten ihre kleine Melodie auf dem Kopfsteinpflaster einer Gasse, und das erste Sonnenlicht fiel auf endlose Reihen milchfarbener Steinhäuser. Doch war mir nicht danach, mich an der Stille zu erfreuen. Ich machte mir Sorgen um den alten Koffer meiner Tante Cat. Die Verschlüsse hatten nachgegeben, und auf dem Gepäckkarussell lag der Koffer in einer Plastikwanne, mit Klebeband umwickelt, auf dem stand, dass mein Gepäck während des Fluges beschädigt worden war.

Ich hätte wissen sollen, dass der Koffer die Reise nicht überstehen würde, und traute mich nicht, das Klebeband zu lösen und den Koffer gleich dort auf dem Flughafen zu öffnen – ich bezweifelte, dass ich ihn je wieder zukriegen würde. Zum Glück hatte ich meine Notizen und alle wichtigen Dokumente in meiner Tasche bei mir. Im Koffer waren nur Kleidung und ein paar Bücher. Erst als der Shuttlebus schon anfuhr, fiel mir ein, dass sich unter den Büchern auch die neueste Biografie über meine Mutter befand, erst vor wenigen Monaten erschienen. Dieses Buch brauchte ich dringend für meinen Termin am nächsten Tag im Französischen Nationalarchiv, und ich war nicht sicher, ob davon in Paris ein neues Exemplar aufzutreiben wäre.

Als mir der Busfahrer also mein Gepäck aushändigte, kniete ich auf dem Bürgersteig und fing an, das Klebeband abzureißen. Ich hatte das Buch als Letztes eingepackt, ganz oben im Koffer, ohne zu bedenken, wie alt diese Verschlüsse waren und dass ein schweres Buch zuerst herausfallen würde.

Ich klappte den Koffer auf. Die Unterhemden, die ich eingepackt hatte, waren zerknüllt, als wären sie rausgefallen und wieder reingestopft worden, aber das Buch war da. Der Umschlag hatte einen Fleck bekommen, und ich holte mein Taschentuch hervor, um ihn wegzuwischen. Nicht, dass mir das Buch am Herzen gelegen hätte: Es war nur eine weitere sensationslüsterne Nacherzählung des Lebens meiner Mutter, verfasst von einem britischen Professor namens Carter Bristol. Dieser Bristol hat eine ganze Reihe revisionistischer Biografien verfasst, und wenn er darin zu geschmacklosen Schlussfolgerungen über diverse Berühmtheiten gekommen war, dann hatten ihn diese nur umso erfolgreicher gemacht. Der Umschlag des Buches – Bristols Name übergroß mitten auf dem Foto meiner Mutter – ärgert mich besonders, aber den Fleck habe ich trotzdem weggewischt. Es ist nämlich ein hübsches Foto, eines der wenigen, auf denen sie direkt in die Kamera blickt. Vor dem dunklen Hintergrund haben ihre hellen Augen etwas Unheimliches, was mich an eine Beschreibung erinnerte, die ich mal in einer Zeitschrift gelesen hatte: Inga Beart blicke aus zwei Leerstellen in die Welt hinaus, stand dort. Ihre Augen seien Lücken in der Schöpfung, die nie ausgemalt worden waren.

Ich wischte das Buch so gut wie möglich sauber und wickelte es in ein Hemd. Im Grunde sollte ich Bristol in gewisser Weise dankbar sein. Mein ganzes Leben habe ich dafür gebraucht, den Mut aufzubringen, und jetzt bin ich hier in Paris. Wenn Bristol nicht wäre, hätte ich wohl auch noch den Rest meines Lebens dafür gebraucht. Denn so sehr er die Fakten zum Privatleben meiner Mutter für seine eigenen Zwecke verdreht haben mag, scheint ihm in seinem Kapitel über ihre letzten Jahre in Paris doch eine echte Entdeckung gelungen zu sein: eine Handvoll Briefe und unveröffentlichte Fotos, von denen Bristol behauptet, sie stammten aus dem Sommer 1954. In der Fußnote steht: »Fonds Labat-Poussin. Archives Nationales de France.« Sollte das wahr sein, wäre es das erste neue Material seit Jahren, das irgendwer über sie gefunden hat.

Der Koffer meiner Tante Cat gehörte nicht zu der Sorte, die rollte. Er war schwer, und wegen der defekten Verschlüsse musste ich ihn vorsichtig tragen. Ich hatte mir ein Hotel in der Nähe des Nationalarchivs gesucht, nicht ahnend, wie schwer es mir fallen würde, der Wegbeschreibung dorthin zu folgen. Erst bog ich in eine schmale Gasse ein, die vor einer hohen Steinmauer endete, dann irrte ich durch kleine Straßen, die mein Stadtplan gar nicht kannte und die am Ende allesamt in eine andere Richtung führten als am Anfang.

Natürlich hatte ich mich gleich gefragt, ob Inga Beart wohl durch dieselben Gassen gekommen war, eines frühen Morgens, vor einem halben Jahrhundert. Ob sie vielleicht von einer Party kam, als eben die Straßenlaternen erloschen, ob sie sich einen Moment lang an eine davon gelehnt und zum selben Himmel aufgeblickt hatte, während dieser sich vor ihren Augen drehte. Ich hatte Fotos dieser Pariser Soireen gesehen: Inga Beart findet sich meist am Bildrand wieder, klammert sich – betrunken bis zur Bewusstlosigkeit – an einen fremden Arm oder wendet sich von der Kamera ab, die längst nicht mehr auf sie gerichtet war, sondern auf die neuen Autoren und bildenden Künstler, auf jüngere, frischere Schönheiten. Vermutlich hätten sie gar nicht bemerkt, dass meine Mutter sich davonstahl, auf wackligen Beinen, stolpernd vielleicht, weil sie mit ihrem Absatz zwischen den Pflastersteinen steckenblieb.

Da lief ich zufällig an einer Schuhmacherei vorbei und blieb kurz stehen, um einen Blick in den Laden zu werfen. Ich stellte mein Gepäck ab, gönnte meinen Armen eine Pause und sah mir die staubigen Regale hinter der Scheibe an. Es war nicht so, als hätte ich ernstlich erwartet, hier auf rote Pumps zu stoßen, die vor fünfzig Jahren zur Reparatur abgegeben worden waren und nun zwischen vergessenen Gummigaloschen und Sommersandalen darauf warteten, abgeholt zu werden. Trotzdem suchte ich danach, für den Fall der Fälle.

Während ich mir den Laden ansah, merkte ich gar nicht, dass ich den ganzen Bürgersteig versperrte. Eine junge Frau, ebenfalls mit Gepäck, musste auf die Straße ausweichen, wobei ihr Koffer vom Kantstein kippte und umfiel. Ich gab mir Mühe, mich bei ihr zu entschuldigen, woraufhin sie stehen blieb und etwas sagte, das ich nicht verstand.

»Tut mir leid«, erklärte ich, und als sie mich verwundert ansah: »Tut mir leid, ich spreche kein …«

»Ach, was. Ist schon okay«, sagte die junge Frau auf Englisch. Die brauche ich gar nicht erst nach dem Weg zu fragen, dachte ich. Sie sprach mit einem Akzent, der unmöglich französisch sein konnte.

»Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, sagte ich. Ich hob ihren Koffer auf und stellte ihn wieder auf den Gehweg. »Ich fürchte, Sie haben ein Rad verloren.« Ich suchte im Rinnstein danach.

»Das war schon so«, sagte sie.

Offenbar verwechselte sie mich mit jemandem, denn sie betrachtete mich eingehend, kniff ein wenig die Augen zusammen, als versuchte sie, ein bestimmtes Detail meines Gesichts unterzubringen. Ich wandte mich ab und begann unwillkürlich, vor mich hin zu zählen, eins eintausend zwei. Die Taktik hatte ich mir angeeignet, als damals die Probleme mit der Schulleitung begannen. In meinem letzten Halbjahr als Lehrer blickte ich den Mädchen in meiner Klasse nicht mehr offen in die Augen, sondern betrachtete stattdessen ihre Haare, während ich vor mich hinzählte, eins eintausend zwei, dann wandte ich mich langsam ab, damit nur keiner auf die Idee kam, der Blick würde zu lange dauern. Das Mädchen, das hier vor mir stand, hatte einen hohen, gleichmäßigen Haaransatz, mittelbraun. Eins eintausend zwei, dachte ich und richtete meinen Blick auf unsere beiden Koffer, eins eintausend zwei, dann auf die in Zellophan gewickelte Rose, die das Mädchen in der Hand hielt. Da fiel mir auf, dass das Mädchen außerdem einen Schuhkarton unter dem Arm trug.

»Ich halte Ihnen die Tür auf«, sagte ich auf Englisch. Als sie mich daraufhin mit leerem Blick betrachtete, nickte ich zum Schuhladen hin. »Wollen Sie rein?«, fragte ich.

»Nein«, sagte das Mädchen. Als sie merkte, dass ich ihren Schuhkarton musterte, sagte sie. »Nein, nein. Das sind nicht Schuhe.«

»Oh«, sagte ich, und zu mir selbst: eins eintausend zwei.

Das war der Moment, in dem ich merkte, dass sie mir auch irgendwie bekannt vorkam. Ich sah nochmal genauer hin, versuchte, die Form ihres Unterkiefers oder die Kopfhaltung unterzubringen.

»Wissen Sie Weg zu Bahnhof Montparnasse?«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Tut mir leid. Ich kenne mich in Paris nicht aus.«

Eins eintausend zwei, dachte ich, und als ich das Mädchen wieder ansah, wurde mir klar, was mir an ihm bekannt vorkam. Es war nicht so, als hätte ich ihr Gesicht schon mal gesehen – zumindest nicht genau. Aber eben erst hatte ich Bristols Buch in der Hand gehalten, mit diesem Foto von Inga Beart und ihren ungewöhnlich hellen Augen. Die junge Frau mit dem Koffer ähnelte meiner Mutter in keiner Weise, bis auf den Umstand, dass auch sie sehr helle Augen hatte, die ihrem Gesicht denselben abwesenden Ausdruck verliehen – sie sah mich an, doch ihre Augen mochten ebenso taumelnde Staubflocken betrachten oder auf irgendetwas gerichtet sein, das in weiter Ferne lag.

Sie sagte noch etwas in ihrer eigenen Sprache. Nach wie vor musterte sie mich. Ich konnte sehen, wie ihre Pupillen sich weiteten, wie Tinte in stillem Wasser. Zu spät fiel mir ein, meinen Blick auf die Stirn des Mädchens zu richten. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, wandte ich mich wieder dem Schaufenster des kleinen Ladens zu.

Es gibt da etwas, das man über meine Mutter sagt: Bei allem, was sie in anderen zu sehen vermochte, hat sie mich doch keines einzigen Blickes gewürdigt. Nach Aussage der Biografen wandte sich Inga Beart schon im Augenblick meiner Geburt von mir ab. Einer der Biografen zitiert eine Krankenschwester, die behauptet, dabei gewesen zu sein, und meint, sie könne sich auch nach Tausenden Geburten noch daran erinnern, denn selbst Leihmütter versuchten, wenigstens noch einen kurzen Blick auf ihr Baby zu werfen, bevor die Schwestern es wegbrachten. Inga Beart jedoch schloss die Augen, wie sich die Schwester erinnerte, und wollte sie erst wieder öffnen, als man mich gewogen, einen Fußabdruck genommen und der Fürsorge des Staates übergeben hatte. Als man ihr erklärte, es sei nun an der Zeit, die Papiere zu unterschreiben.

Es dauerte eine Weile, bis das Krankenhaus herausgefunden hatte, wo meine Verwandten lebten, und noch eine Weile länger, bis Tante Cat und Onkel Walt es einrichten konnten, mich abzuholen. Es fiel ihnen nicht leicht, ein weiteres Kind aufzunehmen, da Pearl noch nicht aufs Töpfchen ging und Eddie kaum sechs Monate alt war, und so verbrachte ich die ersten Wochen meines Lebens in einem Waisenhaus.

Als mein Sohn zur Welt kam, schwor ich, für ihn sollte alles anders sein. Er lag in seiner Krankenhauswiege und packte meinen Finger mit wilder, neugeborener Kraft, zu frisch auf dieser Welt, um irgendetwas halbherzig zu tun, und ich versprach ihm, solange es in meiner Macht läge, sollte er sich niemals allein fühlen. Glücklicherweise wusste ich damals noch nichts von den tausend Gründen, die es einem unmöglich machen können, ein solches Versprechen zu halten, und so saß ich die ganze Nacht vor der Glasscheibe der Säuglingsstation. Ich wollte sichergehen, dass mein Sohn nicht ohne seinen Vater war, wenn er die Augen aufschlug.

Ob sich meine Mutter je darum geschert hat, dass ich vielleicht einsam oder verstört sein mochte, ist nirgendwo belegt. Tatsächlich hat mich meine Mutter in all ihren Romanen und Kurzgeschichten, in ihrer umfangreichen Korrespondenz und den stundenlangen Interviews, die sie im Laufe der Jahre gegeben hat, kein einziges Mal erwähnt. Sämtliche Gelehrten haben darauf hingewiesen, und selbst den Zurückhaltendsten ihrer Biografen bleibt nichts anderes übrig, als es unter Schmerzen zuzugeben. Wie einer von ihnen sagte: »Für Beart, die erst an einen Menschen glaubte, wenn sie ihn niedergeschrieben hatte, existierte ihr eigenes Kind schlichtweg nicht.«

Möglich. Zugegebenermaßen lag es im Bereich des Möglichen, dass ich Inga Beart nie zu Gesicht bekommen habe – dass ich an jenem Tag, als sie uns auf der Ranch besuchte, unter dem Küchentisch meiner Tante Cat versteckt blieb. Aber sie ist zu mir zurückgekommen. So sehr sie es auch versucht haben mag, konnte meine Mutter mich doch nicht vergessen. Das ist das Einzige, dessen ich mir all die Jahre sicher war. Denn wenn ich die Augen schließe, sehe ich eine Doppelnaht direkt unter ihrem Fußgelenk, dann noch drei Stiche, und da beginnt der Riemen, verläuft von links nach rechts am linken Fuß und von rechts nach links am anderen. Außen haben die Schuhe Schnallen im vierten Loch. Direkt unter dem dritten Loch befindet sich eine Kerbe, eine abgewetzte Stelle, an der man erkennt, dass diese Schuhe vorübergehend etwas weiter getragen worden waren. In jungen Jahren habe ich diesem Detail keine weitere Beachtung geschenkt. Als ich jedoch später hörte, wie eine Schwangere einer Freundin ihr Leid klagte, ihre Füße seien immer so geschwollen, begann ich, mich zu fragen, ob diese Kerbe im Leder nicht mein Beitrag zum Leben meiner Mutter war, meine Marke, die ich bei ihr hinterlassen hatte.

Überrascht stellte ich fest, dass das Mädchen mit dem Koffer nach wie vor auf dem Gehweg stand. Ich hatte das Gefühl, sie wartete darauf, dass ich etwas sagte, obwohl ich mich nicht recht erinnern konnte, worüber wir eigentlich gesprochen hatten.

Die meisten anderen Läden in der Straße waren noch nicht geöffnet, doch hinten im Schuhladen sah ich den Schuster bereits bei der Arbeit. Gerade war er dabei, neue Schnürsenkel in alte Wanderstiefel zu fädeln. Neben ihm stand ein Paar roter Pumps, frisch poliert und zum Abholen bereit. Sie wirkten altmodisch, doch die Farbe war zu hell, und die Riemen waren falsch.

Die junge Frau musterte mich, als wäre sie nicht gänzlich überzeugt, dass wir einander unbekannt waren. Sie schien mir in etwa so alt zu sein wie mein Sohn. Ich behielt das Schaufenster des Ladens im Auge und überlegte, was ich sagen sollte.

Auf einem Regal über der Nähmaschine entdeckte ich eine Sammlung von Figuren, kunstvolle, kleine Dinger, komplett aus Einzelteilen von Schuhen gefertigt. Offensichtlich hatte der Besitzer des Ladens sie selbst gemacht, um sein Geschick mit Leder und Faden zu beweisen. Kleine Kreuzritter hielten Lanzen mit Spitzen aus Schusternägeln, die Einlegesohle eines Kinderschuhs war zu einem Schiff umgebaut, samt Takelage aus Senkeln und einem Segel aus Putztuch.

Ich wandte mich dem Mädchen zu. »Sind die nicht unglaublich?«, sagte ich.

»Wer?«, fragte sie.

»Hier.« Ich deutete darauf. »Diese Figuren im Fenster. Sehen Sie die kleinen Rüstungen? Mein Sohn wäre hin und weg.«

»Hin und weg?«, sagte sie.

»Ich meine, sie würden ihm gefallen.«

»Ah, ja«, sagte sie. »Die sind nett.«

Sie musterte die Kreuzritter. Ihre in Zellophan gewickelte Rose ließ den Kopf hängen.

»Als er noch klein war, haben wir so was auch gebastelt. Burgen und Ritter, und ich erinnere mich noch an ein Katapult – wissen Sie, was ich meine? Unseres bestand aus Eisstielen und einem Holzlöffel.«

»Ach?«, sagte das Mädchen.

»Ist lange her«, sagte ich. »Mein Sohn geht jetzt aufs College. Aber er studiert Geschichte.« Ich deutete auf die Ritter. »Genau so was.«

Eigentlich hatte ich gehofft, diese Reise nach Paris könnte etwas sein, das mein Sohn und ich gemeinsam unternehmen. Mit seinem Highschool-Französisch wäre er mir eine große Hilfe gewesen, und die Recherche hätte ihm bestimmt gefallen – wir hätten ein gemeinsames Abenteuer daraus machen können. Ich hatte mir ausgemalt, dass er derjenige sein würde, der es fand: ein Foto meiner Mutter, das all die Jahre in den Pariser Archiven verschollen war. Ein Foto, das sich Carter Bristol nie näher angesehen hatte, weil ihr Gesicht verschwommen war – ihre Füße aber wären deutlich zu erkennen. Oder vielleicht ein Schnappschuss vom Gartenfest in einem Château: ein kleiner Bach, eine dunkelhaarige Frau mit Augen wie Flecken auf einem Negativ, den Bruchteil einer Sekunde zu spät, um ihr Lächeln einzufangen, während sie sich vorbeugt und die Zehenspitzen ins Wasser hält. Die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten, in einer Hand ihre Schuhe mit den Riemen, beide mit je zwei Kerben, wo die Schnalle ins Leder geschnitten hatte, die eine tief, die andere kaum zu erkennen. Daraufhin mein Sohn: Wow, Dad. Genau wie du gesagt hast.

Das Mädchen betrachtete mich eingehend. Dann lächelte sie. »Und sind Sie beide zusammen hier?«

»Mein Sohn? Nein, der ist nicht mitgekommen. Leider bin ich allein«, sagte ich.

»Ach, okay, tut mir leid«, sagte sie. Sie wich meinem Blick aus. Nach einer Weile sagte sie: »Dann sind Sie hier für eine – Reunion?« Sie betonte das letzte Wort, zog die Silben in die Länge, sprach es irgendwie falsch aus.

»Reunion? Nein, habe ich das gesagt?«

Das Mädchen lachte auf, wie zur Entschuldigung. »Ja, ich dachte, Sie hätten so etwas gesagt. Irgendwas von einem Wiedersehen mit der Familie.«

»Na, dann habe ich das wohl«, sagte ich. Es war nicht das erste Mal, dass ich laut vor mich hindachte. Ich wollte sie nicht verunsichern, also sagte ich: »Ist doch komisch, was einem manchmal so rausrutscht.«

»Verzeihung?«, sagte sie.

»Im Grunde haben Sie Recht.« Der lange Flug oder der abrupte Wechsel der Hemisphäre hatte offenbar mein Unterbewusstsein geweckt, denn wenn ich mich auch nicht erinnern konnte, das Wort je benutzt zu haben, nicht einmal im Stillen, war eine Reunion doch genau das, was ich mir vorgestellt hatte: Mein Sohn und ich würden alte Dokumente durchforsten, auf der Suche nach einem Bild von seiner Großmutter. Nach getaner Arbeit im Archiv würden wir am Abend bei einem Glas Bier unsere Notizen zu Inga Bearts Leben in Paris vergleichen. Wir drei, wiedervereint, mehr oder weniger, über alle Zeit hinweg.

Noch immer sah mich das Mädchen an, also sagte ich: »Ich bin hier, um zu recherchieren. Familienforschung. Und mein Sohn, der mag so etwas. Ich dachte … eine Reise nach Paris. Es sollte ein Geschenk werden. Zum Geburtstag.«

»Ja, das kann hübsch sein«, sagte das Mädchen.

Leider war das Gespräch ganz und gar nicht wie geplant verlaufen, als ich meinem Sohn diese Reise vorschlagen wollte. »Sei doch realistisch, Dad«, hatte er gesagt, als ich ihm von Carter Bristols Fußnote und der Möglichkeit erzählte, endlich ein Foto in der Hand zu halten, auf dem auch die Schuhe abgebildet waren. »Erinnerungen trügen oft«, erklärte er mir. Am Ende bin ich gar nicht dazu gekommen, ihn zu fragen, ob er mit mir nach Paris fliegen wollte.

»Na ja, manchmal …«, sagte ich, »… manchmal kommt es eben anders.«

»Ja«, sagte sie. »So ist das mal.«

Das Mädchen, das mich eben noch eindringlich gemustert hatte, war nun die Höflichkeit selbst – schließlich hatte sie mich nur nach dem Weg gefragt. Wahrscheinlich machte ich sie verlegen, wenn ich so redete.

»Hier«, sagte ich. Ich zückte den Stadtplan, den ich am Flughafen gekauft hatte, und gab ihn ihr mit zitternder Hand.

Sie schenkte mir ein kurzes Lächeln. »Für mich?«, sagte sie. »Okay, danke.«

Sie warf einen Blick darauf, dann klemmte sie sich den Plan unter den Arm und spähte durchs Fenster in die Schuhmacherei, als wäre ihr da drinnen etwas aufgefallen.

Ich nahm Tante Cats Koffer, doch zögerte ich einen Moment, bevor ich ging. Die Sprachmelodie des Mädchens hatte etwas ausgesprochen Nichtamerikanisches an sich, und die Art und Weise, wie sie ach und okay sagte, erinnerte mich an eine osteuropäische Dame namens Diana, die uns früher im Haushalt geholfen hatte. Ich wünschte, ich hätte das Mädchen gefragt, woher es kam, obwohl mir klar war, wie ungebildet ich geklungen hätte. Zu uns kommen so selten Ausländer, dass für mich wohl alle gleich klingen.

Dennoch rief der Gedanke in mir Erinnerungen an manche Nachmittage wach, an denen ich Diana, wenn sie mit ihrer Hausarbeit fertig war, nach Hause fuhr und wir unterwegs ins Gespräch kamen. Manchmal lud ich sie zum Mittagessen ein. Ich hatte mich nicht mehr bei ihr gemeldet, seit Onkel Walt im letzten Herbst von uns gegangen war, denn – offen gesagt – gefiel mir die Vorstellung nicht, dass sie für mich allein putzen sollte. Ich hatte überlegt, sie einfach so mal einzuladen, nur sah es im Haus natürlich schlimm aus, und dann lief irgendwann ihr Visum ab. In der Adventszeit rief sie an, um mir mitzuteilen, dass sie wieder in ihre Heimat ging, aber wir vereinbarten einen komplizierten Plan, Weihnachtsgeschenke zu tauschen – unsere Kinder leben beide drüben in England, und Diana fand es schade, dass sie sich nie begegnet waren. Doch Weihnachten kam und ging, dann war Frühling, dann Sommer, und als ich mich auf den Weg nach Paris machte, wusste ich immer noch nicht, ob die Kleinigkeiten angekommen waren, die ich meinem Sohn für sie mitgegeben hatte – und ich erhielt auch kein Päckchen von Diana.

Das Mädchen mit dem Koffer stand immer noch am Schaufenster und spähte hinein. Offenbar hatte sie mich schon vergessen. Ich wollte sie nicht erschrecken, indem ich unser Gespräch einfach wieder aufgriff, und außerdem wäre es uns beiden peinlich gewesen, wenn ich ihr zu erklären versucht hätte, dass mir ihr Akzent einen Stich versetzte. Aber in diesem Moment konnte ich ohnehin nur daran denken, dass selbst Dianas Lachen einen Akzent hatte, der sie als Ausländerin zu erkennen gab. Zu gern hätte ich der jungen Frau etwas Lustiges erzählt, damit sie lachte, nur um zu hören, ob es bei ihr auch so klang.

Stattdessen zählte ich wieder vor mich hin – eins eintausend zwei–, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich hielt Tante Cats Koffer fester und nickte dem Mädchen zu, das noch immer konzentriert ins Schaufenster spähte, dann machte ich mich auf den Weg die Straße entlang, etwas schneller als nötig.

Schon bald bereute ich, dass ich dem Mädchen meinen Stadtplan gegeben hatte. Ich wusste wohl, wie ich zu meinem Hotel kam, aber irgendwie konnte ich die Straße nicht finden. Wieder bog ich falsch ab, diesmal auf eine Hauptverkehrsstraße. Hier war einiges los. Junge Leute auf Motorrollern rasten auf rote Ampeln zu – und auf mich, der gerade die Straße überquerte.

Ich dachte, es wäre besser, wieder dorthin zurückzulaufen, wo der Shuttlebus mich abgesetzt hatte, um nochmal ganz von vorn anzufangen. Aber ich hatte ein wenig die Orientierung verloren, und zu allem Überfluss änderten sich die Straßennamen ständig, selbst wenn ich geradeaus gelaufen war. Die Arme taten mir weh von all den Büchern und Unterlagen, die ich mitschleppte, und plötzlich fühlte ich mich todmüde und fern der Heimat. Ich bog in eine weitere Straße ein, dann noch eine. Ich traute mich nicht stehen zu bleiben, um meinen Standort zu bestimmen, ganz zu schweigen davon, mir jemanden zu suchen, der des Englischen mächtig war, um ihn nach dem Weg zu fragen.

Ich war kurz davor, mich endgültig zu verlaufen, als mir ein alter Cowboytrick aus meiner Kindheit einfiel. Wahrscheinlich kannte ich ihn aus einem Louis-L’Amour-Roman. Dreh dich um bei deinem Ritt und such dir Orientierungspunkte für den Rückweg. Der Gedanke an die billigen Westernromane gab mir ein gutes Gefühl. Die Biegung, die der Bürgersteig beschrieb, war die eines Flusses – ich prägte sie mir ein –, denn die Läden und Restaurants sahen alle gleich aus, auch so eine Art von Steppe.

Ich lief denselben Weg wieder zurück, den ich gekommen war, bis ich auf die zugemauerte Gasse stieß, in die ich gleich zu Anfang falsch eingebogen war. Ich ging daran vorbei, kam durch enge Schluchten voll teurer Geschäfte und machte mir einen Spaß aus der Vorstellung, wie ein verirrter Cowboy sein Pferd vor einem dieser Geschäfte festband, um sich eine Tüte Makronen zu kaufen. Die Schluchten führten mich zu einer Baustelle an einem alten Kirchturm, dessen Form mir trotz des Baugerüsts bekannt vorkam. Wie der Kegel eines erloschenen Vulkans, der sich über der Steppe erhob.

Und tatsächlich war ich nach ein, zwei Häuserblocks wieder da, wo mich der Shuttlebus abgesetzt hatte, auf dem Boulevard de Sébastopol … Der nächste Bus traf gerade ein. Ich erkannte sogar die Stelle auf dem Gehweg wieder, wo ich gekniet hatte, um meinen Koffer aufzumachen. Und wieder wünschte ich, mein Sohn wäre hier bei mir. Er hätte nachsichtig seufzen können, wenn ich meinen typischen Pseudo-Lehrerwitz darüber machte, wie viele Touristen wohl durch Paris irren mochten, denen so manches irgendwie bekannt vorkam. Schließlich benutzten wir nicht ohne Grund dafür das französische Wort Déjà-vu.

NEIL

London, Mai

Als Neil endlich eine Busfahrkarte nach Swindon kaufte, waren die Weihnachtsgeschenke, die er dort abliefern sollte, bereits fünf Monate alt. An dem verabredeten Morgen kam er auf dem Sofa zu sich. Im Traum hatte er das Bindegarn gegessen, das früher immer draußen vor der Scheune von Nan und Pop lag. Falls Träume etwas zu bedeuten hatten, dann bedeutete dieser, dass er verkatert war. Worauf auch die leeren Gläser und Kartons von billigem Wein hindeuteten, die überall herumstanden. Irgendwer, vermutlich er selbst, hatte gestern Abend noch angefangen, aufzuräumen, denn auch im Ausguss standen Flaschen. Neil nahm welche heraus, um an den Wasserhahn heranzukommen. Er hatte einen fürchterlichen Geschmack im Mund. Er drehte den Hahn auf und trank aus der hohlen Hand.

Selbst in der Küche konnte er hören, wie sich Veejay, sein Mitbewohner, schnaufend im Bett wälzte. Außerdem piepte es, weil Neil seinen Wecker nicht abgestellt hatte. Vorsichtig wankte er zwischen den Gläsern hindurch, um ins Schlafzimmer zu gelangen. Es roch nach Füßen. Veejay, der sich gestern Abend an ein Mädchen von der Filmhochschule herangemacht hatte, schlief nun glücklicherweise allein, und so konnte nur Neil sehen, dass seine Augen nicht ganz geschlossen waren. Zwischen den Lidern sah man kleine, weiße Halbmonde. Es war unheimlich, und hätte Neil sich nicht selbst wie ein Untoter gefühlt, wäre er vielleicht losgegangen, um seine Kamera zu holen. Aus irgendwelchen Gründen leugnete Veejay, mit offenen Augen zu schlafen, genauso wie er leugnete, mit einem schweren indischen Akzent zu sprechen, wenn er mit seinen Eltern telefonierte. Neil stellte den Wecker aus.

In der Küche fing er an, die Flaschen in Plastiktüten zu verstauen, so leise wie möglich. Veejay war nicht leicht zu wecken und Alex’ Zimmertür wie immer verschlossen, doch das klirrende Glas bereitete Neil einen stechenden Schmerz im Kopf. Keine Partys mehr in dieser Wohnung, dachte er zum wiederholten Mal. Keine Wein-und-Käse-Partys mit den Mädchen von nebenan, denn immer ging es damit los, dass sie irgendwas Sprudeliges mitbrachten, und endete damit, dass Neil und Veejay rüber zum Tesco liefen, um kistenweise Wein zu holen. Und dann saßen alle herum und sahen sich Arsenal im Fernsehen an. Neil war ein lausiger Trinker. In Zukunft wollte er niemandem mehr was vormachen. Er mochte Fußball nicht mal und hatte endgültig genug davon, in Gegenwart der Mädchen dauernd darauf achten zu müssen, dass er dieses Spiel auch bei seinem korrekten Namen nannte, denn sie hielten jeden Amerikaner für einen Banausen, der kein hysterisches Interesse an einem Sport zeigte, dessen Spiele fast immer torlos endeten.

An einem Morgen wie diesem beneidete er Alex, der niemals ausging, nicht einmal wenn »Ausgehen« nur bedeutete, in der Küche mitzufeiern. Alex, ihr hauseigener Vampir ohne Freunde. Er wusste nicht, wovon Alex träumte, aber in diesem Moment hätte Neil alles dafür gegeben, in nüchternem Zustand auf diesen schwarzen Laken zu schlafen, die Alex zweimal wöchentlich wusch, eine Angewohnheit, die ihre lausige englische Waschmaschine dazu veranlasste, im Schleudergang unter dem Tresen hervor und quer über den Küchenfußboden zu wandern. Manchmal wettete er mit Veejay, wie weit die Maschine kommen würde, und überall am Boden sah man Markierungen früherer Ausflüge.

Müde fragte sich Neil, warum er eigentlich wach war, und erst, als er draußen auf der Straße stand und bei jedem Klirren zusammenzuckte – während er eine Flasche nach der anderen durch die Gummilaschen des großen Glascontainers am Park schob –, da fiel ihm das Busticket wieder ein. Was auch erklärte, wieso er sich heute den Wecker gestellt hatte, an einem Sonntag, der normalerweise doch dafür da war zu rehydrieren und den Stoff zu lesen, den er am Samstag hätte fertig haben sollen. Swindon. Verdammt, dachte er. Er würde bei dieser Wie-hieß-sie-gleich anrufen und nächste Woche hinfahren müssen. Es war schon das dritte Mal, dass er ihr absagte, und langsam wurde es peinlich, aber es war ja schließlich nicht so, als hätte Wie-hieß-sie-gleich angeboten, nach London zu kommen. Warum sollte sie auch? Das Ganze war sowieso absurd.

Die Idee mit der Geschenkübergabe stammte bestimmt von Wie-hieß-sie-gleichs Mutter. Neils Vater hatte mit Weihnachten nichts am Hut. Er wäre nie auf so eine Idee gekommen. Wenn er ein Geschenk verschickte, dann per Post, wie jeder normale Mensch auch. Es war ja nicht so, als gäbe es in diesem Land keine Briefträger. Nein, das Ganze war ein hinterhältiger Plan von Wie-hieß-sie-gleichs Mutter. Wahrscheinlich sollte ihre Tochter Neil verführen, um an eine Greencard heranzukommen. Bestimmt würde es nur peinlich werden.

Neil schob die letzte Flasche in den Glascontainer. Swindon. Sein Vater bat ihn so gut wie nie um einen Gefallen, aber er hatte Neil das Päckchen schon im November geschickt und gesagt, weil die Tochter seiner Freundin auch in England wohnte, hätten er und seine Freundin beschlossen, ihre Weihnachtsgeschenke auf diesem Weg zu übergeben. Und dir bietet es eine Möglichkeit, jemand Neues kennenzulernen, hatte Neils Vater gesagt. Ständig wollte er wissen, ob Neil denn auch neue Leute kennenlernte, was irgendwie einen seltsamen Beigeschmack hatte, denn Neil war ziemlich sicher, dass die Unbeholfenheit, die er von seinem Vater geerbt hatte, ihn gerade daran hinderte, neue Leute kennenzulernen und – falls doch – davon abhielt, die interessanten Dinge zu sagen, mit denen man sich andere zu Freunden machen konnte.

Der Form des Geschenks entnahm Neil, dass es sich um ein kleines, handgeschnitztes Pfeil-und-Bogen-Set handelte, wie sie sein Vater gern für teures Geld den Yuta-Frauen abkaufte, die in der Weihnachtszeit draußen vor der Tankstelle standen. Seitdem hatte das Geschenk unter Neils Bett gelegen, und jedes Mal, wenn er den Bus nach Swindon nehmen wollte – das, wie sich herausstellte, weit außerhalb von London lag –, ergab sich irgendwas anderes oder er vergaß es einfach, und er musste Wie-hieß-sie-gleich anrufen (wie hieß sie denn nun eigentlich?) und sich irgendeine Ausrede einfallen lassen. Okay, isss okay, sagte sie dann. Kommst du nächste Woche, okay?

Eine der Flaschen war nicht ganz leer gewesen, und Neils Hände klebten vom Wein. Er wischte sie an seiner Jeans ab. Es wäre schön, das Päckchen seines Vaters nicht mehr unter dem Bett liegen zu haben, weil es Neil jedes Mal, wenn er seine Schuhe suchte, an Zuhause erinnerte. Es war in dasselbe Weihnachtspapier gewickelt, das Nan und Pop immer benutzt hatten. Nan hatte jedes Mal einen nagelneuen Dollar dazugelegt, als Anreiz, das Papier nicht zu zerreißen, und jedes Jahr sezierten Neil, sein Cousin und seine Cousine ihre Geschenke, schlitzten das Klebeband mit dem Daumennagel auf und zogen vorsichtig heraus, was darin steckte. Dann sammelte Nan das Papier ein und strich die Falten im Bart des Weihnachtsmannes glatt, um es im nächsten Jahr wieder zu benutzen. Das wurde zum Familienwitz, denn natürlich hätte sie ihre Dollars auch sparen und davon neues Geschenkpapier kaufen können. Neil hatte das Päckchen von seinem Vater unterm Bett verstaut, weil es ihn deprimierte. Wenn er es umdrehte, konnte er den gezackten Rand und das kleine Stück von vergilbtem Klebeband sehen, mit dem das Papier an der Papprolle befestigt gewesen war. Es verriet ihm, dass sein Vater den Rest der Rolle aufgebraucht hatte. Nan war gestorben, als Neil gerade auf die Highschool kam, und inzwischen lebte auch Pop nicht mehr, doch Neil wäre nie auf die Idee gekommen, dass selbst das Weihnachtsmannpapier ein Ende nehmen würde.

Es war erst zehn Uhr. Wenn er sich beeilte, konnte er den Bus vielleicht noch erwischen. Und wenn er das Päckchen dann abgeliefert hatte, würde er seinen Vater anrufen und ihm erzählen, dass Professor Piot ihn als Forschungsassistenten für den Sommer ausgewählt hatte. Seit zwei Wochen wusste Neil davon, und es war eine große Sache – Professor Piot war praktisch eine Berühmtheit. Außerdem wäre Neil den Sommer über in Paris. Ein paarmal hatte Neil seinen Vater deswegen schon fast angerufen, dann aber doch nicht. Telefonieren konnten sie beide nicht so gut. Bei ihrem letzten Gespräch im Januar hatten sie sich beinah gestritten, und Neil waren ein paar Sachen herausgerutscht, die er nicht hätte sagen sollen. Er sollte seinen Vater anrufen und sich entschuldigen, auch wenn es eigentlich nicht seine Schuld gewesen war. Aber weil dieses Geschenk immer noch unter seinem Bett lag, hatte er den Anruf wieder und wieder verschoben, denn bestimmt würde ihn sein Dad fragen, ob er denn schon in Swindon gewesen sei.

Im Bus wurde Neils Kater unerträglich. Sein Magen fühlte sich leer an, gleichzeitig aber auch, als wäre er gern noch leerer. Neil atmete ein paarmal tief durch. Während sie durch die kleinen Straßen rumpelten, merkte er, wie jedes Schlagloch, jede Bodenwelle zum Tumult in seinen Eingeweiden beitrug. Er wünschte, er hätte sich eine Tüte von den Curry Chips gekauft, auf die Veejay schwor. Er wünschte, er wäre zu Hause im Bett. In einem Hauseingang sah er einen schlafenden Obdachlosen liegen und hätte ohne Weiteres all seine gesellschaftlichen Privilegien dafür hergegeben, diesen schaukelnden Bus gegen den Bürgersteig eintauschen zu können, der sich nur langsam bewegte, mit der Drehung der Erde, dem Kreisen des Planeten um die Sonne, dem Wandern der Kontinentalplatten und …

Neil bekam einen grausamen Schluckauf, da sich der Inhalt seines Magens offenbar nach einer stabileren Umgebung sehnte. Er sah sich um. Die Toilettentür war zugeklebt, und die Fenster im Bus ließen sich nicht öffnen. Der Platz neben ihm war leer, aber gegenüber saß eine Frau mit einem kleinen Mädchen. Die Kleine schlief so tief und fest, wie nur Kinder in Bussen schlafen, und auch die Frau hatte die Augen geschlossen. Ihre Haare waren in ein afrikanisches Tuch gewickelt. Immer wieder sank ihr Kinn auf die Brust, und jedes Mal schlug sie die Augen auf. Sie wäre bestimmt nicht begeistert, wenn er seinen Sitz vollkotzte.

Endlich hatten sie die Bodenwellen hinter sich, doch dafür steckten sie nun im Verkehr fest. Der Bus schob sich auf eine Kreuzung und blieb stehen. Die Ampel war grün, doch nichts bewegte sich. Sie wurde rot, dann wieder grün. Neben ihnen erstarb der Motor eines Lkws, und als er wieder angelassen wurde, stieß er bläulichen Qualm aus. Die Ampel sprang auf Rot, doch eine Wolke von Abgasen wehte auf und färbte sie lila.

Zu seinem Vortrag über die Zweite Industrielle Revolution hatte Professor Piot rußgeschwärzte, halb verwitterte Backsteine mitgebracht, um die Auswirkungen der Luftverschmutzung im London der Jahrhundertwende anschaulich zu machen. Noch heute sind Regenschirme schwarz, erklärte er, weil sie in Mode kamen, als auch der Regen schwarz war, und zum Ende des viktorianischen Zeitalters lief Silber so schnell an, dass die Menschen nicht mehr davon aßen – obwohl dafür auch sozioökonomische Faktoren verantwortlich sein mochten. Da es immer mehr Jobs in Fabriken gab und der Preis der Arbeit stieg, hätte man teure Diener einstellen müssen, um all die hübschen, schweren Teller zu polieren … Der Bus fuhr wieder an. Neil lehnte sich ans kühle Glas der Scheibe und überlegte, ob die Menschen zu Queen Victorias Zeiten ihre schmerzenden Köpfe wohl an Saucieren gekühlt hatten. Schließlich nahm der Bus Fahrt auf, die Außenbezirke der Stadt zogen hinter einem verwischten Fleck an der Scheibe vorbei. Nach einer Weile verwischten auch Neils Gedanken, und er nickte ein.

Professor Piot glaubte an etwas, das er Beobachtetes Wissen nannte, und gab sich alle Mühe, seinen Studenten zu vermitteln, was man alles aus der Vergangenheit lernen konnte, indem man die Gegenwart betrachtete. In Frankreich beispielsweise, woher Professor Piot kam, konnte man noch heute erkennen, ob eine Stadt vor hundertfünfzig Jahren eher republikanisch oder monarchistisch eingestellt gewesen war, nämlich daran, ob die Züge dort hielten oder nicht. Hatte die Stadt einen Bahnhof, konnte man darauf wetten, dass sie republikanisch geprägt war, denn nur die Städte, die sich mit der neuen République gut stellten, bekamen eine Bahnverbindung mit der Hauptstadt. Professor Piot erzählte, in kleineren Orten müsse man sich nur ansehen, wie weit das Mahnmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs von der Kirche entfernt war, um einschätzen zu können, welches Verhältnis die Menschen nach Kriegsende, als die meisten jungen Männer tot waren, zur Religion hatten. Tatsächlich bestand ein statistisch signifikantes Verhältnis zwischen der Anzahl junger Männer, die in der Schlacht gefallen waren, und der Entfernung zwischen Kirche und Denkmal. Je mehr tote Soldaten, desto weniger waren die Bürger bereit, ein Denkmal auf dem Kirchhof zu errichten. Stattdessen stellten sie es vor dem Rathaus auf. Professor Piot hatte erzählt, in einigen Dörfern gäbe es Denkmäler mit gebrochenen Kreuzen – absichtlich zerbrochen, vielleicht sogar von vornherein, um zu dokumentieren, was die Menschen in diesem Ort vom Himmel hielten.

Während Neil vor sich hin dämmerte, wich das Dröhnen des Busmotors der nasalen Stimme von Professor Piot. Neil hoffte, es würde auf seinen zukünftigen wissenschaftlichen Rang hindeuten, nicht so sehr darauf, dass er ein Streber war, wenn es in seinen Träumen derart oft um das Historische Seminar ging und er Professor Piot reden hörte, möglicherweise weil er in diesem Semester zwei Kurse bei ihm belegt hatte. Manchmal hörte Neil sich sogar schon mit Professor Piots Akzent denken, was definitiv zu weit ging, und in seiner Sprechstunde – Professor Piot war auch Neils Tutor – musste er sich sehr konzentrieren, um ihn nicht versehentlich nachzumachen.

Neil spürte, dass etwas gegen seinen Fuß stieß. Er schlug die Augen auf. Das kleine Mädchen von gegenüber krabbelte unter den Beinen der Mutter herum und griff nach dem Geschenk von Neils Vater. »Keine Sorge«, sagte Neil, als die Mutter die Kleine wieder auf ihren Sitz hob. »Meinetwegen dürfte sie es auspacken, aber … es gehört mir leider nicht.«

Er lehnte seinen Kopf gegen eine neue, kühlere Stelle an der Scheibe. Mittlerweile hatten sie die Stadt hinter sich. Etwas Gelbes blühte auf den Feldern rundum. Bis in weite Ferne zog sich die Farbe übers hügelige Land, wie mit einem Textmarker bemalt.

Professor Piot hätte bei einem Blick aus dem Busfenster sicher etwas lernen können. Neil betrachtete die endlose Weite gelber Blüten, doch fiel ihm dazu nur ein, dass es in England keine Sprinkleranlagen gab. So unüberschaubar Colorados Prärie den Pionieren vorgekommen sein mochte, war dort mittlerweile doch jedes Fleckchen Grün von gepunkteten Linien durchzogen, einem Gitternetz aus Hochdruckleitungen zur Bewässerung des Bodens. Als kleiner Junge war Neil mit seinem Cousin und seiner Cousine an Sommernachmittagen oft unter Pops Sprinklern hindurchgelaufen und hatte sich das Wasser auf den Rücken prasseln lassen. In England dagegen regnete es ständig, und Neil überlegte, ob die britischen Bauern es wohl leichter hatten, weil sie nicht ständig kaputte Bewässerungspumpen reparieren oder sich fragen mussten, ob die Leute flussaufwärts mehr abpumpten, als ihnen zustand. Das Gelb der Felder war so grell, dass es wehtat, also schloss Neil für den Rest der Reise die Augen, dachte an Nan und Pop und überlegte, wie es seinem Vater wohl ergehen mochte, da er die Farm jetzt ganz allein bewirtschaftete.

ENDE DER LESEPROBE

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»Indelible« bei Bloomsbury USA,

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Wunderraum-Bücher erscheinen im

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Random House GmbH.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe

2017 by Adelia Saunders

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

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in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

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Umschlaggestaltung und Konzeption: buxdesign | München

Umschlagillustration: © Ruth Botzenhardt

Redaktion: Alexander Behrmann

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21419-7V001

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