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Kurz bevor er Selbstmord beging, verwandelte Jorge Barón Biza die Katastrophe im Zentrum seines Lebens in ein literarisches Meisterwerk. In Die Wüste und ihr Samen beschwört er einen radikalen Formverlust, findet einen einzigartigen Ausdruck, eine Sprache zwischen Ruin und Sehnsucht. Dieser Roman führt in eine Sphäre, in der Linien, Konturen, Grenzen keinen Halt mehr geben und vom Menschsein nichts bleibt als ein Schwindel.
Beim Unterschreiben der Scheidungspapiere schüttet der Vater der Mutter Säure ins Gesicht. Der gemeinsame Sohn ist anwesend, es ist der Sommer 1964, Argentinien steht politisch kurz vor dem Kollaps, und er beginnt zu erzählen. Von den hilflosen Versuchen der ersten Minuten, den Schaden zu begrenzen, von der seltsamen Erleichterung, als er erfährt, dass sich der Vater eine Kugel in den Kopf geschossen hat, von der Reise an der Seite der Mutter nach Mailand zu einem Spezialisten, von seiner ganz persönlichen Höllenfahrt durch Bars und Bordelle. Und eben immer, immer, immer wieder vom Gesicht der Mutter, dieser sonderbaren Masse Fleisch, die auseinander, ineinander, übereinander läuft und in den sonderbarsten Farben leuchtet.
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Seitenzahl: 324
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jorge Barón Biza
Die Wüste und ihr Samen
Roman
Aus dem Spanischen von Frank Wegner
Mit einem Nachwort von Alan Pauls
Suhrkamp Verlag
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Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel El desierto y su semilla bei Ediciones Simurg, Buenos Aires.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.
© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025© Eterna Cadencia SRL, 2013© Nachwort: Alan Pauls 2012©der deutschen Übersetzung desNachworts SuhrkampVerlagGmbH, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung: nach einem Konzept von Willy Fleckhaus
Umschlagillustration: Oliver Munday
eISBN 978-3-518-75882-3
www.suhrkamp.de
Für Dr. Sylvia Bermann und meine Tante mit dem Namen einer Tante, María Luisa Pando de Sabattini
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
Quellen
Alan Pauls
Jorge Barón Biza – Der Mensch aus dem Kellerloch
Informationen zum Buch
Die Wüste und ihr Samen
DU BIST HIER WEGEN DIR streichle diesen Gedanken
aus Fleisch wie die Freiheit in der Dünung der Dunkelheiten
verbrenne ihn nicht mit dem Hauch von Nostalgie
die reisenden Lüste das Rätsel der Aufsässigkeit
sie blitzen auf und warten nicht und geben dir was du dich traust
dass du den alten Wunden nicht erliegst.
Du bist hier unter Brüdern die dir antworten
kaum hörbar und auf Seiten
die die Fülle der Stille entblättern
ihre Schönheiten schützen jede Regung deiner Lider
ihre Not ist das bewundernswert eigene Geheimnis
entziffere es mit diesen Lippen die eine dunkle Linie trennt
dem Lichtstrahl des Sinnlichen der Entladung in die Glieder
sie läutern dein Los verwüsten deinen neu entstandenen Ort
in dem Raum ohne Trost bist du der höchste Gast.
[1985]
Federico Gorbea
Noch unmittelbar nach der Attacke bot Eligias Gesicht einen rosigen und ebenmäßigen Anblick, dann aber begann sich zusehends das Muskelgewebe zu kräuseln, das trotz ihrer siebenundvierzig Jahre und einer früheren Schönheitsoperation, mit der ihre jugendliche Nase zur Stupsnasigkeit verkürzt worden war, ausgesprochen sanfte Konturen gezeigt hatte. Dieser gezielte kleine Eingriff damals, der ihrer Starrköpfigkeit mehr als drei Jahrzehnte lang den aufgesetzten Ausdruck von Verwegenheit verliehen hatte, wurde zu einem Symbol des Widerstandes gegen die großen Veränderungen, die jetzt die Säure bewirkte. Ihre Lippen, die Fältchen um die Augen und das Profil der Wangen verwandelten sich in einer funktionswidrigen Kadenz: Rundungen entstanden, wo es früher keine gegeben hatte, und sie korrespondierten mit dem Verschwinden einer Kontur, die bislang ein unverwechselbares Merkmal ihrer Identität gewesen war.
Eligias arglos sinnliches Gesicht nahm Abschied von seinen Formen und Farben. Unter ihren ursprünglichen Zügen entstand ein neues Gebilde: nicht ein geschlechtsloses Gesicht, wie Arón es gewollt hatte, sondern eine neue Wirklichkeit, von der Verpflichtung entbunden, einem Gesicht zu ähneln. Eine andere Schöpfung trat in Kraft, ein System, das unbekannten Gesetzen gehorchte.
Wer sie im August, September, Oktober und November des Jahres 1964 täglich sah, musste den Eindruck gewinnen, dass sich die Materie ihres Gesichts vom Willen seiner Trägerin vollständig emanzipiert hatte, dass es sich in beliebig neue Formen verwandeln, in die vielen Schattierungen dramatischer Sonnenuntergänge verfärben und in alle Richtungen davontanzen konnte, während im Zentrum ihre kokette Nase als der einzige künstliche Bestandteil des ursprünglichen Gesichts die Stellung hielt.
Es war eine bewegte und buntscheckige Phase des Fleisches, eine Zeit der Eigenmächtigkeiten, in der die von jeder Form gelösten Farben an die verschwommenen Passagen erinnerten, die Filmemacher einschieben, um das Unbewusste seinem stupidesten und naivsten Verständnis entsprechend zu veranschaulichen. Diese Farben ließen alle Kultur hinter sich und verhöhnten jeden medizinischen Versuch, der sie auf ein wie auch immer geartetes Ordnungsprinzip hätte zurückführen wollen.
Während der Fahrt von Aróns Wohnung in die Klinik – im Wagen des Anwalts, der uns vor dem Treffen versichert hatte, es könne nichts Schlimmes passieren – riss Eligia sich die durchnässte, brennende Kleidung vom Leib. Die Reflexionen der Neonlichter huschten über ihren Körper. In der Straße mit den Kinos mussten wir an einer Ampel halten, wo eine Menschenmenge trotz unseres Hupens in aller Ruhe die Fahrbahn überquerte. Vereinzelt glotzten Leute in den Wagen, unsicher, ob bei uns erotische oder sinistre Dinge im Gange waren. Das flackernde, flirrende Licht fiel in kalten Akkorden auf das Blech des Wagens und auf Eligias Körper. Im Kino an der Ecke lief Irma la Douce, das riesige Porträt Shirley MacLaines umrahmt von roten und violetten Blumengirlanden: Shirley im knappen Röckchen – wie sie damals nur die Prostituierten trugen –, mit baumelndem Handtäschchen am Arm.
Eligia schrie nicht. Sie riss sich die Kleidung herunter und stöhnte leise. Es wäre mir lieber gewesen, sie hätte gebrüllt, vielleicht hätten dann einige Fußgänger aufgehört, so dumm oder lüstern zu grinsen, und uns durchgelassen. Aber Eligia stöhnte bloß mit geschlossenem Mund, riss sich die säuregetränkte Kleidung vom Leib und verätzte sich dabei auch die Handflächen, die zu den wenigen von der tückischen Flüssigkeit verschont gebliebenen Körperpartien gehörten. Mit den Handrücken hatte sie einiges von der Säure abwehren können, die Arón ihr in die Augen zu kippen versuchte – er wollte, dass sie erblindete und sein Bild sich ihr als letzter Eindruck einprägte –, eine blitzschnelle Verteidigungsgeste, in der sich die argwöhnische Unruhe verriet, mit der sie an dem Termin teilgenommen hatte; doch unterwegs in die Notaufnahme verätzte sie sich mit ihrem feurigen Striptease auch die anfangs nicht betroffenen Handflächen.
Ich kannte sie damals nicht besonders gut, empfand aber immer eine eigenartige Zärtlichkeit, für sie, die so engagiert war, so fleißig, mit ihrer schlichten Kleidung, ihrer ganzen Pädagogik. Sie trug schon immer kurze Haare, zum Zeichen, dass sie eine moderne Frau war, und um ihr kräftiges Kinn und die vollen Lippen zur Geltung zu bringen. Stets hatte sie einen Hauch Rouge aufgetragen, der die Sinnlichkeit ihres Mundes vertuschte. In ihrem ursprünglichen Gesicht gingen schwere Lider über ihren Augen nieder, ihr Blick aber war wach und voller Lebendigkeit. Sie war immer stolz auf ihre hohe Stirn gewesen und versuchte, sie durch ihre Frisur noch mehr zu betonen.
Ihr Gesicht war der Ort, wo sich ihre Geschichte, das Blut der Presotto – arme italienische Einwanderer –, ihr hartnäckiger Glaube an die Vernunft und ihre Wissbegierde am deutlichsten abzeichneten. Doch diese Konstanten ihres Gesichts waren eben dabei sich aufzulösen.
Wir waren beide wortkarg. Meine Kindheit hindurch stand alltags die polnische Hauslehrerin zwischen uns. Eligia war anderweitig beschäftigt, mit ihrer Forschung und der Politik. Aber in meiner Jugend wurde mir klar, dass nicht alle Versäumnisse der Hauslehrerin angelastet werden konnten. Als wir im Exil in Montevideo lebten und ich auf ein deutsches Internat ging, war Eligia ja schon nicht mehr bei uns. An den Wochenenden kam sie mich gelegentlich besuchen, und die Fragen, die ich ihr dann stellte, blieben in der Schwebe. Sie hörte mir zwar zu, lächelte schwach oder wandte mir sogar den Kopf zu, aber sie antwortete nicht oder nur das Nötigste oder mit einer Gegenfrage: »Warum magst du denn keine Geisteswissenschaften?«, »Lernst du hier Latein?« oder »Ich weiß nicht«. Ich empfing diese Antworten wie unfertige Figuren, als würde etwas zwischen uns unvollständig bleiben.
Mit vierzehn Jahren kehrte ich aus Montevideo nach Argentinien zurück. Mit achtzehn, als Eligia und Arón sich ein weiteres Mal trennten, beschloss ich, bei Arón in der Hauptstadt zu bleiben. Sie dagegen folgte einem Ruf auf einen Lehrstuhl für Geschichte der Pädagogik in Córdoba, der Provinz, aus der sie stammte, und von da an sahen wir uns nur noch in großen Abständen.
Sie saß auf dem Beifahrersitz, stöhnte, ohne zu schreien, und das war nicht meine Schuld: Ich hatte sie gewarnt, dass Arón sich in den letzten Jahren, in denen er mit mir zusammenlebte und länger von ihr getrennt war als während ihrer früheren Trennungen, in ein gefährliches Wesen verwandelt hatte.
Ich beugte mich über ihre linke Schulter und tupfte ihr mit meinem Taschentuch ein paar Tropfen Schweiß oder Säure ab, und der Stoff färbte sich gelb, als sei die Baumwolle zu Seide geworden. Die Schatten der Nacht verbargen diese Hälfte ihres Gesichts mit einem dunkelvioletten Schleier, in dem das Weiß ihres Auges glomm, das durch die Windschutzscheibe nach einem Ziel dieser schmerzvollen Reise Ausschau hielt. Als ich mich in meinen Sitz zurückfallen ließ, konnte ich im Rückspiegel von ihrem Gesicht nur das dunkel umschattete, auf einen fernen Punkt gerichtete Weiß ihres Auges sehen, auf dessen unterem Lid eine leuchtend purpurfarbene Quaste blühte, wie in einem Trickfilm, wo auf groteske Weise ein übernächtigtes Tierchen dargestellt werden soll. Die übrigen Regionen ihres Gesichts waren ein Geheimnis, das in der Dunkelheit schwelte.
Nach einigen angespannten Momenten beugte ich mich wieder zu ihr vor, diesmal über ihre rechte Schulter. So konnte ich die andere, vom Kinovordach herab beschienene Hälfte ihres Gesichts betrachten, die sich wegen der Lichtwechsel deutlich von der im Schatten liegenden Hälfte abhob. Auch das dem Neonlicht ausgesetzte Auge wirkte starr und auf ein fernes Ziel gerichtet. Ich flüsterte ihr zu: »Wir sind gleich da!«, obwohl weder sie noch ich den Anwalt am Steuer gefragt hatten, wohin wir eigentlich fuhren. Auf ihrer Wange bemerkte ich ein pastoses Gelb und einen zweiten Fleck derselben Farbe zwischen ihren Augenbrauen, der bis an den Rand der Dunkelheit reichte und sich vermutlich auf der anderen Gesichtshälfte weiter ausbreitete. Die übrige vom Licht beschienene Gesichtshälfte bestand aus scharf gegeneinander abgesetzten Purpurtönen.
Ich stieg aus, um die Menge zu vertreiben. Was mir nicht gelang. Als ich durch die Windschutzscheibe ins Wageninnere schaute, ergab sich mir das erste vollständige Bild von Eligias Verwandlung. Die beiden Gesichtshälften fügten sich zusammen: gedämpftes Violett auf der einen Seite, schrilles Gelb und Purpur auf der anderen. Und ich sah die beiden weit offenen, von brandiger Entzündung umringten Augen. Was ich zuvor aus den jeweils unvollständigen Perspektiven ebenfalls nicht in Gänze hatte würdigen können, war ihr Mund gewesen, der sich in der dunklen wie in der hellen Region magentarot verfärbt hatte; durch einen merkwürdigen Effekt hatte die Grenze zwischen der hellen und der dunklen Hälfte über die Lippen keine Macht. Das Magentarot des Mundes drang mit der gleichen Intensität in die violette Region vor, wie es aus der polychromen Region hervorstach, und die Lippen schienen aus sich selbst heraus zu leuchten. Seiner Breite und Röte wegen erinnerte ihr Mund, obwohl er unbeweglich blieb, an den eines Clowns.
In der Klinik bekam sie ein Beruhigungsmittel und hörte auf zu stöhnen. Sie wurde in die Notaufnahme gebracht, ich auf einen Whisky in die kleine, sterile Cafeteria geschickt. Als ich den dritten bestellte, wurde ich schief angeschaut, statt dass man sich über gute Kundschaft freute; die weiteren trank ich dann in der Bar an der Ecke. Man findet in der Nähe großer Kliniken immer irgendwelche Bars, die eine Art Demarkationslinie zwischen den Desinfektionsmitteln und dem Trubel markieren; Grenzbezirke, in denen wir den Schrecken des Lebens, die uns bis zu diesem Punkt getrieben haben, diejenigen entgegensetzen, die wir selbst entschlossen kultiviert haben. Das alles begriff ich später.
Vier Monate lang ging ich mehrmals täglich in diese Bar, aber nie kam ich mit irgendwem ins Gespräch. Mir gelang in diesen einhundertzwanzig Tagen kein einziger Vorstoß bei irgendeiner der Krankenschwestern oder Putzfrauen, die sich dort mit ihren Freunden trafen, um dem Klinikalltag zu entfliehen. Schwer zu sagen, ob die Leute nicht mit mir reden wollten, weil neuerdings ein Schatten auf meiner Persönlichkeit lag, oder weil ich selbst diesen Ort ablehnte, an dem Ärzte und Krankenschwestern sich küssten, nachdem sie das Leichentuch über ein Gesicht gezogen hatten.
Nach zwei Stunden nahm ich meine Krankenwache wieder auf. Eligia döste mit einem Ausdruck von Fassungslosigkeit. Hin und wieder entfuhr ihr ein tiefes Röcheln, unwillkürlich, ihrer selbst müde. Ich fragte, ob sie etwas bräuchte. »Nichts. Pass auf dich auf«, seufzte sie.
Arón erwähnte sie mit keinem Wort. Die Verätzungen verdunkelten sich zu einem herrschaftlichen Purpur, große zentrale Flächen, in denen sich eine Materie gravitätisch verdichtete. Jenseits des Purpurs umlief ein blasses Gelb die Ränder der Flecken, zaghaft angesichts der imponierenden Farbe im Zentrum. Der Schmerz machte sich wichtig, um in Eligias Körper seine Autonomie durchzusetzen, so wie in besseren Zeiten auch die Lust ihre Unabhängigkeit eingefordert haben dürfte. Aber während die Lust lässig und klar in ihrem Körper agiert hatte, kam der Schmerz plump daher und konnte oder wollte die gesunden von den verbrannten Stellen nicht deutlich trennen: Er vermischte das Unversehrte mit dem Verwundeten, um mit dieser Verwirrung die Schäden, die er angerichtet hatte, deutlicher zur Schau zu stellen.
Am nächsten Morgen, wir hatten uns bereits in einem Zimmer des Sanatoriums eingerichtet, sagte mir ein Angehöriger der Familie, die Polizei habe die Tür zu Aróns Wohnung aufgebrochen und ihn mit einer Kugel im Kopf vorgefunden.
»Besser so! Er war kein Typ fürs Gefängnis«, erklärte er.
»Trotzdem hat er ja öfters gesessen.«
Ich war der Einzige, der mit Arón während seiner letzten Jahre zusammengelebt hatte, und ich wusste, dass dieses Ende unvermeidlich war. Seine immer übleren Gewaltausbrüche waren mir zuwider, ebenso seine Romane, die ich kitschig fand – ich hatte nicht mal versucht, den letzten zu lesen, an dem er bis kurz vor seinem Selbstmord geschrieben hatte –, aber sein Kampfesmut nötigte mir doch eine gewisse Bewunderung ab, seine Bereitschaft, jederzeit alles aufs Spiel zu setzen, sogar das eigene Leben. Alle sprachen ehrfürchtig von seiner sprichwörtlichen Tollkühnheit, selbst die, die unter seinem Jähzorn hatten leiden müssen. Als ich erfuhr, dass er sich umgebracht hatte, machte ich ein Gesicht, das der Verneigung vor dem in Treue zu sich selbst gefallenen Krieger entsprach, obwohl ich von seiner Tat entsetzt war. Auch überfiel mich die Frage, die uns immer umtreibt, wenn sich jemand, den wir gut kennen, das Leben nimmt: inwiefern und auf welche Weise wir als Komplizen gewirkt hatten. Augenblicklich zwang ich mich, mir die Sorge aus dem Kopf zu schlagen, ahnte ich doch die von dem Beispiel ausgehende Bedrohung, die schlichte und schlichtende Idee einer weiteren, alles ins Lot bringenden Kugel.
Nicht ich: Als ich zu Arón zog, lernte ich ihn besser kennen als in den vorangegangenen Jahren mit ihren ständigen Ortswechseln, den Versöhnungen und neuerlichen Entfremdungen der Eheleute. In unseren vier letzten gemeinsamen Jahren war es von Tag zu Tag schlimmer geworden. Meine Verachtung wurde immer größer, bewegte sich aber auf einem Grund ständigen Staunens. Ich beschloss, mich in Opposition zu ihm neu zu erfinden, das genaue Gegenteil von ihm zu sein: keine Gewalt, kein Ressentiment, keine Wut. Und da ich mich nicht für einen Heiligen hielt, übte ich mich schon früh in Gleichgültigkeit.
Nach dem Besuch des Verwandten betrat der Chefarzt unser Zimmer. Er wirkte täuschend tatkräftig. Er nahm auf einem Stuhl Platz und sah sich Eligia lange schweigend an, die ihm mit kurzen hoffnungsvollen Blicken antwortete. In seinem gestärkten Kittel mit den aufgestickten Initialen unternahm er zunächst eine passive Begutachtung. Schließlich beluden sich seine Augen mit drängenden Fragen, als wollte er in dieser Landschaft des Schmerzes einen Sinn erkennen, ohne dass es ihm gelang.
»Wie geht es Ihrem Magen?«, fragte er, während er das Formular auf dem hölzernen Klemmbrett überflog, das die Krankenschwester ihm hinhielt.
Unter dem Einfluss des Beruhigungsmittels antwortete Eligia mit teigiger, aber fester Stimme.
»Gut.«
»Das ist wichtig. Man muss gut für den Magen sorgen. Dort bilden sich die Nährstoffe, die den Schaden wiedergutmachen … Joghurt, reichlich Saft aus frischem Obst und Vitaminergänzungsmittel«, fügte er an die Krankenschwester gewandt hinzu.
»Eligia hatte schon immer eine eiserne Gesundheit«, warf ich ein.
»Ich möchte, dass Sie sie viermal täglich mit einer Tinktur waschen«, sagte er, nachdem er mich eindringlich angesehen hatte. »Es handelt sich um Mineralwasser, das Schwefel, Kupfer, Arsen und andere Elemente enthält. Wir müssen die Zersetzung hemmen.« Er deutete besorgt auf ein von Eiter durchsupptes Stück Verbandmull. »Wir müssen präparieren, dann kann der Organismus restaurieren. Die verschriebenen Mineralbäder werden sie wieder mit den Ursprungselementen in Berührung bringen. Und öffnen Sie nachts die Fenster, damit auch das Licht der Sterne und des Mondes ihren Körper badet … In welchem Verwandtschaftsverhältnis stehen Sie zu der Patientin?«
»Ich glaube nicht, Doktor, dass wir hier viel Sternenlicht abkriegen. Wenn ich die Fenster öffne, kommt höchstens der Trubel und das Gejammer aus den anderen Zimmern herein.«
»Hä? Er wird es nie verstehen.«
»Stimmt, Sterne nicht«, sagte Eligia, »aber Mond schon … Letzte Nacht bin ich aufgewacht, und er hat ein bisschen geschienen.«
»Aber Eligia«, sagte ich, als der Arzt gegangen war, »ein vernünftiger Mensch wie du! Enttäusch mich nicht. Man fängt mit dem Mond an und endet wie Arón.«
»Ein vernünftiger Mensch?«, fragte sie mit ermattender Stimme. »Das ergibt doch keinen Sinn …«
Ihre näselnde, schlaftrunkene Stimme schien in sich selbst zu versinken.
»Das ergab nur vorher Sinn.«
»Vorher?«
Eligia antwortete nicht.
Die Behandlungen begannen am nächsten Tag. »Säure ist etwas sehr Spezielles«, sagte mir der Arzt nach dem ersten Eingriff im kleinen Aufwachraum. Er schien sich dabei weniger an mich als an ein unsichtbares Publikum zu richten.
»Wir bekommen hier nicht oft solche Verätzungen auf den Tisch«, sagte er ohne Hast. »Im Moment können wir nicht transplantieren, wir müssen jeden Tag das nekrotische Gewebe abtragen, so lange, bis die Säure sich beruhigt hat. Glauben Sie nicht, dass ich das gerne tue. Das Verfahren besteht darin, das Innere nach außen zu kehren, einfach schamlos. Durch Feuer verursachte Verbrennungen können sofort abgedeckt werden, und je früher alles abgedeckt wird, desto besser: Die Natur schwenkt von selbst wieder auf einen vernünftigen Kurs ein. Wie Sie wissen, lassen wir hierzulande alles auf natürliche Weise heilen, ohne groß einzugreifen. In ihrem Fall werde ich nicht eher ruhen, bis die Transplantate verpflanzt sind und dieses ganze Delirium abgedeckt ist.«
»Und wie lange wird das dauern?«
»Schwer zu sagen. Aber wir müssen sicher sein, dass die Säure ihre Kraft verloren hat, sonst wird das transplantierte Gewebe nicht durchblutet, und es findet keine Hämostase statt.«
»Nur so ungefähr?«
»Um ganz sicherzugehen, würde ich zwanzig Tage warten, im besten Fall sind es bloß fünfzehn, kommt drauf an … Danach wird es ein paar Monate dauern, bis das transplantierte Gewebe angewachsen ist. Was habe ich nur für einen Beruf!« Er lehnte sich an die Wand und starrte vor sich hin. »Ungewissheit ist der Fluch meines Fachgebietes.«
Als sie aus dem Operationssaal kam, fehlten Eligia Teile ihrer Wangen, und ihre beiden Hände waren bandagiert. Die Handgelenke hatte man ihr am Bettgestell fixiert, der Arzt wollte nicht, dass sie ihr Gesicht anfasste, auch nicht im Schlaf.
Von da an war es Eligia unmöglich, sich selbst zu behelfen. Dafür kümmerten sich die Krankenschwestern sehr gut um sie. Jemand hatte den Badezimmerspiegel von der Wand genommen, und mit fixierten Händen war es ihr eben auch verwehrt, sich durch Berührung einen Eindruck von ihrem Gesicht zu verschaffen. Die Veränderungen ihres Körpers vermochte Eligia jetzt nur noch mittels ihrer Fantasie nachzuvollziehen, die sich von beiläufigen, gelegentlich aufgeschnappten Bemerkungen ihrer Pflegerinnen nährte.
Aus der Tiefe ihrer Wangen sickerten in unregelmäßigen Abständen feine Rinnsale von Blut oder Wundflüssigkeit, die erst wahrnehmbar wurden, wenn sie auf das Bettlaken tropften, denn auf Eligias glänzendem, hautlosem Fleisch konnte man keine Flüssigkeit erkennen, weshalb ich unablässig darüber wachte, ob irgendwo Blut austrat, um es sogleich abzutupfen, bevor es das makellose Laken verschmutzen konnte. Flecken auf dem Laken zu verhindern, wurde zu einer Besessenheit. Wenn mir das nicht gelang, breitete sich der Fleck im Stoff aus, ehe er, graubraun, zu stocken begann. Ich versuchte dann, die Stelle mit Spucke zu säubern, verschmierte dadurch aber nur das eingetrocknete Blut. Ich fand keine Ruhe, bis nicht das Bettzeug gewechselt war, einen sichtbaren Fleck empfand ich als schwere Niederlage.
In den ersten Wochen blieb nichts an ihrem Fleisch stabil. Während gewisse Regionen ihres Gesichts sich leerten, schwollen andere an wie fragwürdige Früchte, die schon reif entsprungen schienen und einen Saft verhießen, den sie aus den höhlenartigen Leeren sogen, die sich um dieses seltsame Blühen herum zu öffnen begannen. Ich versuchte, die entstehenden Formationen mit Zuversicht zu betrachten, aber mit der Zeit fiel es mir immer schwerer, denn das, was heute ein Apfel auf ihrer Wange zu sein schien, war am nächsten Tag eine rote Birne und tags darauf eine gewaltige Erdbeere. Eligias Körper verwandelte sich in einem Rhythmus von Leere und Spannung. Diese Wandlungsfähigkeit des Fleisches verwirrte mich. Ich versuchte, etwas Erbauliches in das zu projizieren, was ich sah, konnte mich aber erst beruhigen, als ich alles, was vorging, als unverständlich und der Regeneration dienend akzeptierte, als eine Kraft, die Zeit und Materie jedes Mal erneuerte, wenn Eligia aus dem Operationssaal zurückkehrte.
Es kam mir so vor, als hätte ich etwas Ähnliches wie diese Überlagerungen von Früchten und Gesicht in manchen Kunstwerken schon einmal gesehen. Jetzt aber wurde ich unfreiwilliger Zeuge der Launen einer tollpatschigen, außer Kontrolle geratenen Substanz, die sich nicht die Mühe machte, ihre eigenen Entwürfe zu entfernen oder zu vervollkommnen.
Es vergingen zwei Wochen. Ihre vordere Halspartie wurde Stück für Stück kürzer. Ich arrangierte die Kissen so, dass die versehrten Sehnen nicht strapaziert wurden. Gesicht und Körper blieben beieinander, aber zusammenhanglos, nur durch eine Laune des Zufalls verbunden.
Das Ungewöhnliche geschah auf ihren Wangen. Die teilweise Entfernung hinterließ Fleischwülste, wodurch die Aushöhlungen noch tiefer erschienen, in denen das Auflodern der Farben eine trügerisch überschwängliche Lebensfülle erzeugte – die wilde Malerei eines von seiner Schaffenskraft berauschten Künstlers.
Am Grund der Schächte, die die Ärzte gruben, tauchten morgens nach den Operationen die fröhlichen Farben des ersten Tages wieder auf, die Farben der frischen Wunden, die Vitalität verrieten und Heilung versprachen. Anfangs mochte ich noch glauben, dass dieses Feuer eine ausgewogene Schönheit besaß: Die Farbtöne definierten sich wechselseitig, indem sie einander ergänzten oder kontrastierten. Manche Regionen hatten den gleichen Sättigungsgrad, und wenn es unterschiedliche Farbintensitäten gab, glichen sie sich in der Weise aus, dass um ein sehr kräftiges Purpur herum ein blässliches Violett entstand. Wenn das Gleichgewicht zweier Flecken sich verschob, bis ein Farbton den anderen beherrschte, kehrte sich die Situation mit dem nächsten Eingriff um.
Da sich die Farbflächen in den Höhlen verbargen, die die Ärzte öffneten, schaute ich mir die Abgründe beider Wangen von nahem an, um ihre Entwicklung zu verfolgen, in dem sehnlichen Wunsch, aus den Pinselstrichen möge Harmonie entstehen. So versenkte ich mich in die Mysterien des inversen Raums, die Mauernische ohne Skulpturen oder Statuen. Dort führten die Wunden ein zurückgezogenes, von den groben Wülsten abgeschirmtes Eigenleben. Die Wülste und die Gruben, die sie umgaben, bildeten einen immer tieferen Raum, auf dessen Grund jeder Punkt bereit schien, jeden Moment durch die Kraft aus der versehrten und qua Skalpell ständig erneuerten Haut mit lebenspraller Energie zu explodieren. Das tägliche Entfleischen erzeugte ein anderes, dem Körper und den Behandlungen fremdes Leben, autonomer Ursprung der von jeder Regelmäßigkeit befreiten organischen Substanz. Die Geschäftigkeit des Chaos greift um sich.
Dieses bizarre Blühen fand durch die Felsen ein Ende. Nachdem zwei Wochen lang das nekrotische Gewebe entfernt worden war, wurden ihr die ersten eiligen Transplantate appliziert. Der Rhythmus chirurgischer Eingriffe beruhigte sich darauf, die Operationstermine rückten in den folgenden drei Monaten immer weiter auseinander. Eligias Gesicht glänzte nicht mehr, es war jetzt von einer dunklen, undurchsichtigen Kruste überzogen. Die Zeit der Farben war vorbei, und es begann die Zeit der Formen. Auf ihrer Haut erschienen Linien, die sich auf unerwarteten Wegen ausbreiteten. Die Verläufe der Säure traten mit verschlagener Verzögerung zutage, schmolzen sich durch das Fleisch, erodierten es und verwandelten das Leben in Geologie, aber nicht in eine horizontale Geologie der Sedimente, sondern in den Faltenwurf einer vulkanischen Aktivität, der bereits erkaltet und wie für die Ewigkeit gemacht schien, fest, unverrückbar und ausdruckslos wie die Wüste.
Das Äußere hatte eine Bedeutung gewonnen, die mit dem Inneren konkurrierte. An Eligia wurden nicht mehr Formen modelliert, die auf ihrem Knochenbau beruhten, vielmehr entstand ein rivalisierendes Strukturprinzip, das an der Oberfläche anknüpfte. Die Muskeln passten sich Gesetzmäßigkeiten an, bei denen die Spannungen der Haut und die Lockerungen der Narben gleiche oder größere Kraft entfalteten als die Gelenke und Widerlager, als hätten die vom Fleisch entblößten Knochen ihre formgebende Effektivität eingebüßt und müssten fortan mit dem transplantierten Gewebe um die Modellierung des Körpers wetteifern.
An jenem Tag war die Säure von unten nach oben in Eligias Gesicht gelangt: Zusammen mit ihren Anwälten hatte sie sich gerade erhoben, in der Annahme, die Unterredung mit Arón sei vorüber, noch immer etwas nervös, aber auch hoffnungsfroh, das Problem endgültig gelöst zu haben – es war alles geklärt, nach so vielen Jahren jetzt also doch die Scheidung. Arón blieb lächelnd sitzen und schenkte sich aus einer Karaffe eine Flüssigkeit ein, die Wasser zu sein schien. Die Säurespuren nahmen deshalb eine Richtung, die den Gesetzen der Schwerkraft zuwiderlief.
Die Verwandlung von Fleisch in Felsen überdeckte die strahlenden Farben. Ich begriff, dass die Illusion der Metaphern für mich gestorben war. Aróns Angriff hatte Eligias ganzen Körper in eine einzige Negation verwandelt, auf der übertragene Bedeutungen zu gründen nicht so einfach war. Die Fruchtbarkeit des Chaos verließ sie. Erst im Lauf der Monate begann ich das in seiner ganzen Tragweite zu begreifen, und noch viel später verstand ich, wie sehr die Unmöglichkeit, in ihrem Fleisch Metaphern zu sehen, sich für mich in die Unmöglichkeit verkehrte, Metaphern für die eigenen Empfindungen zu denken.
Die täglichen Früchte reiften nicht länger. Eine allgemeine Erstarrung erfasste Eligias Gesicht; die Protuberanzen verfestigten sich zu einer ausdruckslosen Mondlandschaft. Aber mit der Erstarrung gewannen die Höhlen und Leeren eine neue Bedeutung: Das versteinerte Fleisch verlieh Eligias Zügen eine Ruhe, die es erlaubte, Verbindungen zwischen der einen und der anderen Form herzustellen. Mit diesen festen Verbindungen lebte mein pedantischer Sinn für Gewissheiten und Perspektiven wieder auf, wodurch es mir möglich war, die Situation von einer rein räumlichen und unpersönlichen Warte aus zu analysieren, ohne dass mir sentimentalische Erwägungen in die Quere kamen. Ich stellte meine Beobachtungen auf einer abstrakten Grundlage an und richtete meine Aufmerksamkeit weder auf die Hand, die das Säureglas geführt hatte noch auf das Leiden des Opfers, weder auf den Hass noch auf die Liebe, die den Anschlag motiviert haben mochten, sondern allein auf die räumlichen Verhältnisse in Eligias Gesicht. Falls nötig, zerlegte ich mit den Augen die verbrannte Haut in so kleine Einheiten, dass sich aus dem, was geschah, jede menschliche Bedeutung verlor. Ich konzentrierte mich auf diese winzigen Segmente, stellte Verbindungen zwischen ihnen her und versuchte mir damit zu erklären, was dort vor sich ging.
Zuvor war man geneigt gewesen, die flüchtigen Früchte, die man auf Eligias ganzem Körper zu erkennen glaubte, zu berühren, um sich unter dem Vorwand, austretendes Blut oder Plasma abzutupfen, von ihrer unerwarteten Form zu überzeugen. Die Stollen und Spalten, die danach entstanden, erforderten einen genau prüfenden Blick, weil die erstaunliche Struktur dessen, was sich da zeigte, es so verlangte, zum anderen, weil das, was man während dieser steinernen Etappe wahrnahm, viel abstrakter – und also unwiderlegbarer und unfassbarer – war als die Faszination der Früchte in der vorigen Phase.
Ihr Antlitz entfärbte sich und nahm die Beschaffenheit jener Mulden an, die man unter der Asche Pompejis gefunden hatte und die die Stellen markierten, wo ein vom Vulkanausbruch überraschter Mensch verglüht war, eine Hohlform, die nur durch eine Fantasieanstrengung des Betrachters das Fleisch erahnen ließ, das sie gebildet hatte, bis ein einfältiger und frevlerischer Archäologe auf die Idee kam, sie mit Gips zu füllen. Wie die Chirurgen packte auch den Archäologen jenes lähmende Entsetzen, das einen zwingt, weiter hinzuschauen, und er verlegte sich auf die einfache Zurschaustellung des Grausamen, wo vordem bloß Löcher in der Lava gewesen waren: eine allgemeine Theorie dessen, was uns zerstört hat und weiter bedroht.
Die steinerne Präzision präsentierte sich, auch wenn sie nur Ruinen zustande brachte, als die ewige Kehrseite aller menschlichen Gesichtszüge, als die – grauenhaft erkennbare und gegenwärtige – Grenze unserer Illusionen, als Nicht-Sein, das sich mit der Akribie des Feldmessers im Inneren des Lehms einnistet, der wir so nachlässig selber sind. Auf diese Weise vollzog sich an Eligia der Übergang von den Halluzinationen der Erscheinung zu den falschen Gesetzen der Ausstaffierung.
Und doch scharte Eligia, wenn ihr die Betäubungs- und Beruhigungsmittel von Zeit zu Zeit einen Moment ungetrübten Bewusstseins gewährten, ihren Körper erneut um sich und trotzte den Fragmenten, die in dieser Phase von einem hermetischen Gesetz regiert wurden, mit ihr als Geisel, Ahnungen von Vervollständigung ab, ein »ich werde mich der Steinwüste nicht ergeben«, eine hartnäckige Würde, die sich um ihre fortschreitende Erosion nicht scherte.
Mir gefiel der Gedanke, dass die brandneue topografische Erstarrung in Eligias Gesicht Aróns Absichten zunichtemachte: Er hatte das Fleisch, das er liebte, indem er es verätzte, nicht beseitigt, sondern – der Erschaffung romantischer Ruinen vergleichbar – durch Demolierung sublimiert. Wie das Auge instinktiv die unvollständige Geometrie eines Fliesenbodens rekonstruiert, so rekonstruierte auch ich anhand der kleinsten, erhalten gebliebenen Fragmente ihres Gesichts. Mein Blick ergänzte aus dem Gedächtnis die aktuellen Ellipsen ihrer Gesichtszüge, und diese Erinnerung intensivierte, was nicht mehr sichtbar war.
Trotz der Fesseln begann Eligia mit ihrer Bewegung zu experimentieren. Es waren kleine, lokal begrenzte Bewegungen, die sie wohl ausführte, um in Ermangelung anderer Sinne zu einer kinästhetischen Vorstellung ihres neuen Körpers zu gelangen. Damals dachte ich nicht genug nach, um zu verstehen, wie groß ihr sehnsüchtiges Verlangen gewesen sein muss, von der Wandlung zu erfahren, die mit ihr vorging. Aus meiner Sicht war es Unsinn, sie das ganze Ausmaß ihrer Veränderung wissen zu lassen; ich befürchtete, dass es sie zu hart treffen würde, und die Ärzte gaben mir Recht. Es schien wichtiger, sie in ihrer Entschlossenheit zu bestärken, sich um jeden Preis zu wandeln, Veränderung zu wollen, auch wenn sie nicht genau wusste, worin sie bestand. Erst Jahre später begriff ich, wie sehr unsere als gute Absicht maskierte Feigheit – die der Ärzte, die der Krankenschwestern, meine eigene – ihr eine Art Folter bereitete, die kein Opernschurke schlimmer hätte ersinnen können.
Wenn Eligia sich in den engen Grenzen bewegte, die ihr die Fesseln ließen, zeigten ihre bis zur Unwahrscheinlichkeit zerfressenen Gesichtszüge deutlich, dass ihr etwas Unmögliches zugestoßen war: so maßlos war ihr Leiden, dass ihre Wirklichkeit nicht mehr überzeugte. Der Zustand ihres neuen Körpers raubte ihr jede Freude, jeden Stolz und überantwortete sie einem ausweglosen Schicksal und einem unbedingten Wollen: ihre Situation zu verändern. Ohne sich sehen, ohne sich berühren zu können, vermochte sie ihren Körper nur als Baustelle zu denken, als etwas, das nicht ist, sondern sich erst darauf vorbereitet zu sein. Sie zog eine Mauer um die auf bloßes Leiden reduzierte Gegenwart; sie war so intelligent, dem Schmerz keine reflexive oder existenzielle Konnotation anzudichten. Sie musste, wollte sie davon loskommen, ein bestimmtes Ziel ins Auge fassen und daran festhalten.
Sie fragte nicht nach den Techniken, die an ihr zur Anwendung kamen; es schien ihr wichtiger, sich zu vergewissern, dass sie auf dem Weg in ein anderes Leben war. Jedes Anzeichen dafür nahm sie mit großer Erleichterung auf. Ihr Bewusstsein war mit Zukunft geflutet. Jedes Tun, jedes Ding hatte in jenen schweren Tagen Bedeutung nicht als das, was es war, sondern nur als Rettungsanker oder doch wenigstens als Strohhalm, um ihr in eine neue Existenzform hinüberzuhelfen. Dieses Bedürfnis nach Zukunft wirkte sich positiv aus, weil es erstens wesentlich und konstant war und weil es zweitens auch ihren neurotischen Juckreiz für immer beseitigte – mit Stumpf und Stiel sozusagen – und auf die Hoffnung eine notwendige Rationalität gründete.
So wirkt in uns die mäandernde Kraft des Guten, der Übergang vom Vergänglichen zu Gott.
Meine Schwester zog nicht in die Hauptstadt, weil sie fast noch ein Kind war, und wir einigten uns darauf, dass sie in der Provinzstadt bleiben sollte, in der sie in den vergangenen vier Jahren bei Eligia gelebt hatte. Mein Bruder musste sich um die Familiengeschäfte kümmern, damit wir die kostspieligen Behandlungen bezahlen konnten. Ohne dass je direkt darüber gesprochen worden wäre, fiel es mir zu, für Eligia zu sorgen.
Ich hatte es immer gehasst, für andere Verantwortung zu übernehmen. Jetzt war ich für Eligia zuständig. Im Krankenhaus hielt ich mich mit Pseudoaufgaben beschäftigt, duschte nie und benutzte nicht einmal das für Angehörige bereitstehende Bett. Sobald ich einen freien Moment fand, ging ich zum Duschen und Kleiderwechseln in Aróns alte Wohnung, wo ich mich wieder einrichtete, weil ich nichts Eigenes hatte. Einen Monat vor dem Angriff war ich nach einer Diskussion mit ihm aus dieser Wohnung geflohen. Er machte mir Angst.
Ich streunte damals zwanzig Tage lang in der Stadt herum. Spätnachts, wenn die Winterkälte die Menschen vertrieb, wurden die Plätze wieder zu Gärten, auch wenn noch ein Nachgeschmack von Barbarei in der Luft lag, als wäre die Gegend geplündert worden, kaputte Laternen, Müll, den der Wind vor sich hertrieb, von Tausenden von Schuhen zertrampelte Beete, deren schützende Einfassungen nur noch als Hinweis dienten: »Hier war mal Grün!« Eine jähzornige Kraft verwüstete tagsüber die Plätze und wütete gegen jede Bank, jede Statue, jeden Weg. Nach Mitternacht aber schien es, als läge die Katastrophe schon lange zurück. Trotz des neuerlichen Furors am Tage flößten die Sträucher und Bäume das Vertrauen ein, alles überstehen zu können, und schienen nachts miteinander zu tuscheln, eingekesselt von einer Gebrauchsarchitektur, die in der Dunkelheit nicht mehr als einen starren Rand darstellte.
Wenn kein Wind wehte, stand ich unbeweglich da wie die Bäume und trank in ruhigen Schlucken, eingeschmolzen in eine zeitlose Faszination, bis im Morgengrauen die ersten Busse den Zauber brachen. Solchen stillen Nächten entstieg ich stets in einer üblen Laune.
Wenn dagegen nachts der Wind die Äste tanzen ließ und ein Spiel der Gegensätze zwischen starren Stämmen und schwankenden Kronen entfesselte, wurde mein Körper aktiv, und ich ging hierhin und dorthin, um zu sehen, ob sie standhielten oder nachgaben, und um keinen Anblick dieses Aufruhrs aus keinem Blickwinkel zu verpassen.
Ein Verwandter fand und überzeugte mich schließlich, bei ihm einzuziehen. Kurze Zeit später attackierte Arón Eligia.
Vier Jahre zuvor – ich war achtzehn und hatte begonnen, mich regelmäßig zu betrinken – hatte sich in mir die Einsicht verfestigt, dass der menschliche Hang zum Bösen lächerlich sei. In den Bars fiel das besonders auf: jämmerliche Säufer, die aufeinander losgingen, die alles verrieten, was ihnen an Gutem widerfuhr, und frohgemut ihre Perversionen in Szene setzten. Sie wirkten grotesk und hilflos. Aber selbst bei den dicken Fischen, Typen, die nüchtern und kaltblütig ihre Ziele verfolgten, nahm sich der Wille zum Bösen lächerlich aus angesichts der ihnen heillos überlegenen Verhältnisse von Ereignissen und Dingen.
Damals machte die Geschichte uns systematisch zu Witzfiguren. Es waren Zeiten politischer Unruhen, und die Nachrichten ließen Zivilisten und Militärs mit ihren Insignien der Macht an uns vorbeidefilieren, die uns entweder Strafen oder Paradiese in Aussicht stellten. Wenige Jahre oder nur Monate später waren sie wieder verschwunden, ohne Wort gehalten zu haben. Einige dieser Erlöser tauchten nach ihren Jahren der Macht leibhaftig in unseren Kneipen auf, mit erloschenem Blick, in dem nur dann etwas aufflackerte, wenn sie von ihrer ruhmreichen Vergangenheit faselten.
Und so war die Vorstellung, die ich schon in jungen Jahren vom Bösen hatte, eine zum Lachen.
Einmal brachte ein Anwalt einen von Aróns Ordnern mit Unterlagen in die Klinik, die wir brauchten, um den Nachlass zu regeln. Der Anwalt hielt Eligia die Dokumente vors Gesicht und erläuterte mit gelangweilter Stimme, worum es sich bei jedem einzelnen Blatt handelte. Zwischen den Behördenbriefen in Zusammenhang mit den zahlreichen, im Lauf von achtundzwanzig Ehejahren angestrengten Scheidungsverfahren fand sich ein Foto von Arón und Eligia, auf dem sie es sich sehr behaglich unter seiner Schulter eingerichtet hatte. Ich machte mir weder Gedanken über Eligias glücklichen Gesichtsausdruck noch über Arons Beweggründe, dieses Bild aufzubewahren. Unwirsch schnappte ich mir das Foto und steckte es in die Tasche, weil ich glaubte, sie würde ihn nicht mal auf einem Foto sehen wollen.
Als ich später in der Bar saß, betrachtete ich das Bild eingehender. Mir wurde klar, dass Eligias Verhältnis zu Arón weder einfach noch leicht in Worte zu fassen war. Diese Episode half mir, jede gesicherte Grundlage für meine Annahmen zu verwerfen. Mir stand der Sinn nicht nach Subtilitäten. Das aus Eligias Leiden und den Erfordernissen ihrer Behandlung errichtete Gerüst aus Notwendigkeiten half mir, mich nicht zu sehr in dem Thema zu verlieren. Aber die Vorstellung, dass sich das Chaotische leichter tolerieren ließ als das Wüste, was ich sowohl auf den geistigen Arón wie auf die physische Eligia bezogen hatte, blieb die Saat meines Bewusstseins jener Jahre: die Vorstellung, dass das Böse keine Angelegenheit des Willens war und dass es sich, wenn es denn den Menschen traf (viel seltener als sein Stolz vermutete), unter den gleichen Bedingungen ereignete wie in der Natur: ungewollt, absolut und subjektlos, wie in den Gesteinswüsten.
Um Eligia abzulenken, wenn sie bei klarem Bewusstsein war, machte ich es mir zur Gewohnheit, ihr die kurzweiligsten Artikel aus einem Magazin für Zeitgeschichte vorzulesen. Einmal blätterte ich durch alte Ausgaben und stieß dabei auf einen Artikel über den Widerstand gegen die faschistoiden Regierungen der Dreißigerjahre. Sah Aróns Foto. In dem Text war ein politischer Aufruf abgedruckt, den er 1934 verfasst hatte:
DIE ZEIT ZU KÄMPFEN IST GEKOMMEN!
Aus den ländlichen Regionen unseres Vaterlandes, aus den Schulen, Universitäten und Fabriken erschallt der Ruf einer neuen Generation, die sich weigert, weiter ungerührt die Anmaßungen der oligarchischen Clique hinzunehmen, die die demokratischen und republikanischen Fundamente unserer Nation für immer zu untergraben drohen.
Seit drei Jahren erschüttert eine schwere Krise unser Gemeinwesen. Wir haben das Zerbrechen der rechtsstaatlichen Ordnung erlebt, die Pervertierung gesetzlicher Normen, die Herabwürdigung unserer Justiz, die Demütigung unseres Stolzes auf der internationalen Bühne, die Entrechtung der Arbeiter, eine sinkende Kreditwürdigkeit im Ausland, den Ansehensverlust unserer Streitkräfte. Und heute sehen wir bewaffnete Gruppen mit einer plagiierten, auslandshörigen Ideologie ungestraft schalten und walten, die ihre Verachtung der Demokratie längst nicht mehr verbergen und die gewaltsame Einführung einer Klassendiktatur verkünden: Die konservative Rechte kämpft für die Errichtung einer solchen Diktatur, denn sie sieht darin die einzige Möglichkeit, sich ihre ungeheuerlichen politischen und wirtschaftlichen Privilegien zu bewahren, die unser Land beschämen und in die Armut treiben.
Die Welle der Gewalt, die mit ihrem Haß auf Rassen und Grenzen die alte Zivilisation erschüttert, darf bei uns keinen Widerhall finden.
Die Rechten bereiten die endgültige Abschaffung des in der Verfassung verankerten Mehrheitswillens der Bevölkerung vor, die brutale Versklavung der Arbeiterklasse und die Auslieferung der Quellen unseres Reichtums an den ausländischen kapitalistischen Imperialismus.
Angesichts dieses erniedrigenden Schauspiels gründen wir die Demokratische Vereinigung, eine zivile Kampforganisation, die sich von den Grundprinzipien der Verfassung leiten läßt.
Mit diesem Manifest wenden wir uns an alle aufrechten Argentinier und fordern sie zum Handeln auf. Wider die Schwäche und den Wankelmut appellieren wir an alle jungen Männer mit Geist, Körper und Seele, ungeachtet von Klasse oder Berufsstand.
Wir sind uns der Tragweite unserer Worte bewußt und übernehmen die volle Verantwortung für unsere Überzeugung. Dem Kampf auf ewig verpflichtet bleiben unsere Ehre und unser Leben. Arón Gageac.