Die Wüstenfegerin - Daria Eva Stanco - E-Book

Die Wüstenfegerin E-Book

Daria Eva Stanco

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Beschreibung

1976 - ein Jahrtausende altes Geheimnis hält die deutsche Mathematikerin Maria Reiche in Atem: rätselhafte Zeichnungen in der peruanischen Wüste, hinterlassen von einer alten Kultur. Eine Verrückte, sagen die Leute, denn sie fegt mit einem Besen im Sand. Ein Thema für eine reißerische Biografie, findet Evelyns Onkel - und schickt sie für seinen Wissenschaftsverlag mit einem geheimen Auftrag zur Wüstenfegerin nach Nasca. Im Laufe ihrer Reise stellt Evelyn fest, dass sie mehr mit Maria gemeinsam hat als gedacht. Als sie Filmemacher Jo begegnet, kommt zudem eine verdrängte Seite in ihr zum Vorschein. Ein Sonnenuntergang auf einem Mumienfriedhof verändert schließlich alles ... Eine Geschichte, die zeigt, was echte Berufung und Leidenschaft bedeuten - basierend auf dem eindrucksvollen Leben von Maria Reiche, der Erforscherin und Retterin der Nasca-Linien.

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Für Lea Anaïs Sophie

Inhalt

PROLOG

1 – Maßnehmen im Nebel und flüsternde Steine

2 – Das Hebelgesetz für Mädchen und der schleimige Geschmack der Granadilla

Kahuachi, am Rio Nasca, im Jahre 424 n. Chr

.

3 – Die ungenügende Quadratur des Kreises und das Geräusch des Wassers in der Wüste

4 – Der Geruch von faulem Zauber und das Auftauchen eines blonden Prinzen

5 – Ein Finger, der verschwindet, und eine junge Frau, die unsichtbar wird

6 – Ein ungeschickter Pelikan und pappfüßiges Watscheln auf Zauberpapier

7 – Eine schwergewichtige Ohrfeige und die ersten Außerirdischen in der Pampa

Kahuachi, am Rio Nasca, im Jahre 424 n. Chr

.

8 – Reparierte Mumienpopos und ein alter Jüngling, der die Wüste fegt

9 – Linien des Schicksals im Teehaus und die zwei Seiten des Besens, von oben betrachtet

Kahuachi, am Rio Nasca, im Jahre 424 n. Chr

.

10 – Eine Spinne, die das Wasser liebt, und eine zerschnittene Eidechse

11 – Ein Feierabend in der Luft und die Angst, die von Herzen kommt

12 – Eine nackte Wüstenhexe im Rio Grande und ein Vollmond, der Bescheid wusste

Kahuachi, am Rio Nasca, im Jahre 424 n. Chr

.

13 – Das schmerzvolle Wehklagen des Kondors und die Liebe in Andeutungen

14 – In Gummi-Flipflops im Kongress und die wahre Bedeutung der Blumenvase

Kahuachi, am Rio Nasca, im Jahre 424 n. Chr

.

15 – Der endgültige Sieg der Luftwaffe und Autospuren neben Jahrtausende alten Linien

16 – Der unausweichliche Ruf der Berggötter und der Jungfernflug eines uralten Volkes

Kahuachi, am Rio Nasca, im Jahre 424 n. Chr

.

17 – Die narzisstische Kränkung eines VW-Käfers und beinahe eine Tunnelsprengung

18 – Ein alter Stock erobert die Welt und ein abgefahrener Zug, der gebremst wird

Kahuachi, am Rio Nasca, im Jahre 424 n. Chr

.

19 – Die große Frage nach dem Sargträger und die niemals verfehlte Wirkung eines Pisco-Sour

Kahuachi, am Rio Nasca,im Jahre 424 n. Chr

.

EPILOG

Danksagung

Maria Reiche – Zeittafel

Über die Autorin Daria Eva Stanco

PROLOG

Nicht, dass sie viel dabeigehabt hätte. Doch mit ihrem Koffer verschwand prompt das Gewicht des Abschieds in der Nische der Kabine.

Alles, was sie spürte, als die »Odenwald« sich mit Getöse vom Ufer löste, war der Stoff ihres Baumwollrocks, den der Wind an ihre Beine drückte. Regungslos stand sie an der Reling in dem Augenblick, als das Schiff ablegte und andere in gebauschter Wehmut mit Taschentüchern ihren Liebsten winkten. Ihre Gesichtszüge lösten sich. Nun ist es zu spät, dachte sie: Die Reise hat begonnen. Ein Zurück gab es nicht mehr – sie war jetzt weg. Nichts hatte sie mehr gewollt als das. Die Ankunft lag noch in weiter Ferne, aber das war Maria egal. Während der Boden unter ihren Füßen vibrierte, das gewaltige Gefährt sich dröhnend in Bewegung setzte, stand sie fest und sicher. Endlich!

Bei ihrem Abstecher nach Brüssel hatte sie die letzten Nachrichten aus ihrer alten Welt gelesen, bevor sie in Antwerpen an Bord gegangen war. An einem Kiosk mit internationaler Presse war ihr Blick über einige der nachweihnachtlichen Schlagzeilen geglitten:

»Kanzler Brüning lässt unser Volk hungern, um Mitleid bei den Geberländern zu wecken«

»Joseph Goebbels mit seiner Magda: Traumpaar der nationalen Opposition«

»Die Glocken läuten wie in jedem Jahr, aber ihre metallenen Stimmen künden keinen Frieden«

»Die Eiserne Front will gegen Nazi-Barone kämpfen«

»Die Weltreise der Elly Beinhorn: Notlandung am Persischen Golf«

Hier blieb ihr Blick haften. Eine Frau, deren Berufung es war zu fliegen und die sich von nichts in der Welt davon abbringen ließ – Maria bewunderte Elly für ihre Kühnheit und bangte um sie. Sie würde sich mit ihr freuen, wenn sie es den Männern zeigen würde und bald mit ihrem kleinen Flugzeug im Himalaya ankäme. Ob sie Ellys Weg in Peru würde weiterverfolgen können? Und wie würde es mit dem Deutschen Reich weitergehen? Sie war erleichtert, dass sie das politische Geschehen nur noch aus der Ferne beobachten würde. Wie ihr Rock waberten vage Ideen von einem neuen Leben um sie, sie falteten sich im Wind mal auf und dann wieder zu. So ist sie: die Zeit vor dem Anfang. Man ahnt den Zauber des Neuen, aber noch zählt alles nicht. In der Schwebe zwischen Ort A und B, in einer unsichtbaren Zwischenwelt. Hier verkehrt man im Konjunktiv: Was wäre, wenn? Wohin sollte ich? Wie könnte ich? Ob ich wohl?

»Vor hundert Jahren noch brauchten die Schiffe ewig über den Atlantik«, sagte eine deutsche Dame neben Maria zu einer anderen und riss sie aus ihren Gedanken. Beide Frauen hatten offenkundig Mühe aufgewendet, um möglichst wie Schauspielerinnen in modernen Kinofilmen auszusehen.

»Heutzutage geht alles so schnell, ist das nicht herrlich?«

Gerne hätte ihnen Maria gesagt, dass damals eben noch keine Schiffsschrauben eingesetzt wurden, und mit ihnen überlegt, wie die Menschen wohl in Zukunft reisen würden, aber sie verwarf den Gedanken wieder. Sie hätte sich anstrengen müssen nicht belehrend zu wirken und es schien ihr schier unmöglich, als eine von ihnen angesehen zu werden. Mit ihren runden Brillengläsern, ihren etwas schiefen Zähnen und der zwar strahlend hellen, aber doch eher praktischen Kleidung wirkte sie wie das, was sie nun einmal war: eine Mathematiklehrerin. Keiner kennt mich, dachte sie. Ich könnte jetzt auch jemand ganz anderes sein. Eine neue Persönlichkeit erfinden, die eine genaue Vorstellung von ihrem Leben hat.

»Wohin reisen Sie, schöne Dame?«

Maria prüfte mit ihrem Blick, welche der zwei Frauen wohl gerade angesprochen wurde. Aber die beiden waren gar nicht mehr da. Stattdessen stand ein Mann neben ihr an der Brüstung und schaute sie lebhaft an.

»Ich? Nach Peru«, antwortete sie schnell und suchte mit ihren Augen wieder den Horizont.

»Peru – das ist das Land der Mythen und Legenden, das Land der Inka-Kultur, die mit tausend ungelösten Rätseln zu Grabe ging. Wussten Sie das?«

Maria hatte sich wieder gefangen und schlüpfte in die Neue, die sie sein wollte. Es gibt keine Momente, solange man auf sie wartet!

»Na, was denken Sie denn? Ich liebe Rätsel«, antwortete sie mit einem Schmunzeln, einen Seitenblick auf den Herrn wagend. »Und wenn mich ein Rätsel findet, dann lasse ich nicht davon ab, bis ich die Lösung habe.«

Der Mann lachte auf.

»Dann wartet Peru ja geradezu auf Sie! Mit wem ist die Frau, die die ältesten Rätsel der Menschheit lösen wird, denn unterwegs?«

»Alleine«, gab Maria mechanisch ihre Antwort auf die oft gestellte Frage.

»Ach«, sagte der Mann und lächelte charmant, »was bin ich heute für ein Glückspilz! Und wie möchten Sie das angehen – die Sache mit den Rätseln?«

Maria war überrascht. Sobald sie sich als alleinreisende Frau preisgab, löste sie sonst immer Reaktionen aus, die von leichtem Staunen bis zur schweren Empörung reichten. Aber dieser Mann schien nicht über sie urteilen zu wollen. Sie seufzte leise, fast unhörbar. Ihre bisherigen Erfahrungen wogen schwerer auf ihren Schultern als jede Reisetasche.

Mit einem Ruck wandte sie sich dem Mann zu, der wohl nicht viel älter war als sie:

»Ich tarne mich als Hauslehrerin bei einer deutschen Familie in Cusco, um das Land kennenzulernen und Geld zu verdienen«, sagte sie. »Den Rest meines ausgefeilten Plans verrate ich Ihnen, wenn Sie mir sagen, wohin Sie unterwegs sind.«

Marias Landsmann trug einen unauffälligen, gepflegten Schnurrbart. Feste Locken fielen ihm unter dem Hut in den Nacken. Das Sonnenlicht brach sich in seinen blauen Augen, als er den Blick auf den Horizont wandte und mit fester Stimme sagte:

»Meine Farm wartet in Kolumbien auf mich. Ich hatte gehofft, ich würde nicht alleine dorthin zurückkehren. Aber vielleicht wollte das Schicksal, dass ich jemanden Kluges treffe, wie Sie es sind.«

»Suchen Sie etwa eine Frau?«

»Ich bin gerade dabei, eine zu finden. Mein Name ist Rudolph Reinfürst«, sagte er feierlich und streckte die Hand aus. Anstatt ihm ihre Hand zu reichen, beugte Maria sich über die Balustrade. Der dunkle Bug durchschnitt den Ozean wie zerlassene Butter. Ihr dünnes Haar flatterte im Wind. Sie lächelte und hielt ihr Gesicht in den heraufschwappenden Duft von Salz und Freiheit.

Vier Wochen danach: Über dem Meer hatte sich ein Regenbogen aufgespannt. Maria betrachtete das eine Ende des Bogens, das unmittelbar vor dem Bug im Wasser verschwand. Das grelle Kreischen einer Möwe zeugte von Land. Wie durch ein erhabenes Tor glitt das Schiff unter dem Regenbogen hindurch, während an der Wasseroberfläche fliegende Fische umhertollten. Sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie sich wie die Heldin einer Abenteuergeschichte fühlen sollte oder eher wie die Protagonistin eines kitschigen Dreigroschenromans: Die Zeit würde es zeigen. Die ersten Berge tauchten am Horizont auf, rötlich-braune Gestalten hinter dichtem Dunst: Die vulkanischen Inseln von Puerto Rico waren das erste, was Maria von der Neuen Welt sah.

1

Maßnehmen im Nebel und flüsternde Steine

Als ob er ihr die Luft zum Atmen nehmen wollte, verhüllte der Nebel die Sonne an jenem Tag im März 1976. Dicht an dicht landeten gerade schwarze Krähen auf dem Koloss aus Sandstein.

»Das da oben ist der Peilstein«, sagte eine ältere Frau zu einer deutlich jüngeren und zeigte zu den Vögeln, die sich nicht angesprochen fühlten. Die Alte hatte ein Gesicht wie gegerbtes Leder, einen langen und dürren Körper und eine Brille mit runden Gläsern auf der Nase. Hier, in der englischen Grafschaft Wiltshire, an den sanften Biegungen des Flusses Avon, hatte die Sonne heute Schwierigkeiten, ihre Strahlen durch die Zwischenräume des Steinkreises zu strecken. Die junge Frau blickte hinauf. Während die ältere sich hinhockte, nahm die junge ihren Rucksack ab und holte ihr Notizbuch heraus. Prüfend schaute sie zu der alten Dame. Die machte eben halb hockend einige Schritte zurück und legte einen Winkelmesser auf die Grasnarbe.

Kälte und Scham röteten der Jüngeren die Wangen, als sie die leeren Seiten in ihrem Büchlein umblätterte: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, … die 8. Seite sollte es heute sein. Sie sollte damit aufhören, dachte sie. Verdammtes Zählen. Wieso konnte sie nicht einfach frei sein?

»Der ist 7 Meter 10 hoch« – sie fuhr zusammen, als sie die Alte zu sich reden hörte. »Ist Ihnen diese Messmethode bekannt?« Sie spürte, wie sie automatisch den Kopf schüttelte. Dabei empfand sie ihre eigenen Bewegungen als fahrig, viel fahriger als die der alten Dame. Schon bewegte diese sich weiter zum nächsten steinernen Ensemble, sie unsicher hinterher. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 Schritte. Dann blieb sie stehen. Die Krähen hörten nicht auf zu krächzen. Nervös schaute sie auf. Sie legte ihre Hand auf das kalte, dichte Gestein.

»Welche Geschichte diese Steine wohl erzählen würden, wenn sie flüstern könnten?«, hörte sie sich die ältere Dame fragen, während feiner Dampf ihrem Mund entwich und bald eins mit dem Nebel wurde.

Zwei Tage zuvor: Bill Miller hob mit spitzen Fingern ein Sektglas an seinen Mund. Der Chef des Next Dimension Verlages würde heute und hier, in der Londoner Residenz des deutschen Botschafters, unter prachtvollen Kronleuchtern und zwischen Gemälden alter Meister, Maria Reiche dazu bringen, ein Jahrtausende altes Geheimnis zu lüften. Schon vor zwei Jahren hatte er sie schriftlich darum ersucht, ihre Theorie über die rätselhaften Wüstenzeichnungen Perus zusammenzustellen. In einer kleinen Buchhandlung in Bloomsbury hatte er ihren Touristenführer zufällig in die Hände bekommen – der Titel »Geheimnis der Wüste« hatte ihn angesprochen, als im nasskalten London wieder einmal keine Aussicht auf Sommer bestand. Damals bekam er eine wirsche Absage von einer Frau Renate Reiche, ihrer Schwester. Jetzt wartete er, bis die Reporter von der BBC weg waren, um endlich persönlich mit Maria Reiche sprechen zu können.

»Was halten Sie von der Ausstellung?« Einer der Besucher hatte Millers Gedankenstrom unterbrochen.

Stimmt, die Ausstellung: An den eichenholzvertäfelten Wänden hingen Fotografien der Wüste Perus. Auf den meisten waren in den Wüstenboden eingravierte Zeichnungen von Tierfiguren zu sehen. Da gab es Luftaufnahmen eines hundert Meter langen Kondors, einer Spinne, eines Wesens mit Spiralschwanz. Die Konturen schienen mathematisch exakt mit Zirkel und Lineal gezogen worden zu sein. Und dann waren noch gerade Linien zu sehen, die am Horizont endeten. Die meisten Bilder waren schwarzweiß, doch gab es eine Handvoll Farbfotos, auf denen die ungewöhnlichen Farben der Wüste zu erkennen waren. Deutlich hob sich hier das feine Ockergelb der Gravuren vom rötlichen Braun der Erde ab. Es wirkte unwirklich, diese rätselhaften Zeichnungen auf Geröll und Sand gerade hier zu betrachten, in der vom letzten Staubkörnchen gereinigten Botschaftsresidenz. Auf einem Bild war Maria Reiche in heller Kleidung auf einem Esel sitzend zu sehen, im Hintergrund sandfarbene Berge vor blauem Himmel, und daneben zwei dunkelhäutige, lächelnde Frauen in indigenen Trachten. Bill konnte sich kaum vorstellen, wie es sich für sie anfühlen mochte, unter diesen Bedingungen zu arbeiten: Hitze, staubige Trockenheit, kilometerweite Einsamkeit, eine fremde Kultur.

»Man kann davon halten, was man möchte«, antwortete er diplomatisch, »sie bringt uns eine andere Welt nahe – mit den geheimnisvollen Symbolen eines ausgestorbenen Volkes.«

Der fremde Mann lachte und Miller wusste nicht, ob es aus Verlegenheit oder Zynismus war.

»Ich bin Archäologe …«, begann der Mann, als sich prompt ein weiterer Herr hinzugesellte. »Ach, und mein Kollege hier ist Geograf. Er ist von der Universität Heidelberg«, sagte er.

Miller fokussierte seinen Blick hinter die beiden Herren und hielt Ausschau nach Maria Reiche. Sie war immer noch von Journalisten umgeben.

»Ich bin Bill Miller, Inhaber und Geschäftsführer von Next Dimension«, sagte er mechanisch.

»Ich weiß«, sagte der Archäologe ohne jegliche Gesichtsregung. Es war nicht schwierig, sich Bill Miller einzuprägen. Er trug das Rot seines Verlages stets vor sich her: Eine rote Krawatte und ein rotes Einstecktuch. Dass er zudem rötliche Haare hatte, war Zufall. Unter Wissenschaftlern wurde er »der rote Bill« genannt – und das hatte nichts mit seiner politischen Gesinnung zu tun.

»Planen Sie ein Projekt zu Maria Reiches Arbeit?«, fragte der Geograf interessiert.

Miller bejahte, auch wenn er mit der Umschreibung ›Projekt‹ nicht glücklich war.

»Die Arbeit von Maria Reiche stützt sich nicht auf wissenschaftliche Annahmen«, stellte der Archäologe fest, »ihre Theorie eines astronomischen Kalenders lässt sich in keiner Weise belegen. Es ist längst anerkannt, dass die Zeichnungen lediglich einen zeremoniellen Charakter hatten.«

Der Geograf pflichtete ihm bei: »Das ist über jeden Zweifel erhaben. Wissen Sie, wenn man ein professionell arbeitender Forscher ist, bekommt man den Eindruck, dass Frau Reiche stur das zu beweisen versucht, woran sie glaubt. Aber die Wissenschaft ist kein Basar, wo man sich das kaufen kann, wonach einem gerade ist, Herr Miller!«

»Natürlich nicht«, beteuerte der Verlagschef. Sein Verlag hatte sich mit gut recherchierten, wenn auch populär geschriebenen Wissenschaftsbüchern einen Namen gemacht, den er nicht aufs Spiel setzen wollte.

»Außerdem nutzt diese Frau unlautere Mittel«, ergänzte der Geograf.

Bill Miller horchte auf. Vielleicht wussten die beiden etwas, das er bei seinem Vorhaben berücksichtigen sollte.

»Frau Reiche, eine letzte Frage: Welche Eigenschaften schätzen Sie als Deutsche an der peruanischen Kultur?« Der Journalist der BBC saß ihr gegenüber, ein typischer Vertreter dieser Zunft in ausgestellten Jeans und Tweedjackett. Diese semiprofessionelle Lässigkeit, mit der er die Beine übereinanderschlug und sich in den Stuhl zurücklehnte, um die Antwort abzuwarten, hätte Bill Miller ungeduldig gemacht, hätte er seinen Blick auf ihn gerichtet. Aber der Verlagschef stand gerade noch am Büffet und war in sein Gespräch vertieft.

»Ich habe selbst vieles von der peruanischen Kultur übernommen«, antwortete Maria Reiche derweil vor der Kamera. »Ich bin flexibel geworden und kann mich an schwierige Situationen anpassen. Die Peruaner improvisieren einfach und finden immer eine Lösung, wie ausweglos die Situation auch erscheinen mag.« Sie schien nicht mehr sagen zu wollen.

»Haben Sie vielen Dank, Frau Reiche. Dürften wir Sie besuchen, um eine Dokumentation über dieses Wüstenrätsel zu drehen?«

Es waren vielleicht fünf Minuten, in denen Bill alles erfahren hatte, was er über Maria Reiche wissen musste.

»Tatsache ist: Sie zerstört mit ihrer Arbeit das archäologische Erbe«, schloss der Archäologe.

»Nach Ihren Ausführungen ist das offenkundig«, sagte Bill Miller.

Maria Reiche war jetzt nicht mehr von dem Kamerateam umzingelt. Miller tupfte sich mit seinem roten Stofftuch den Mund ab, entschuldigte sich bei den beiden Wissenschaftlern und ging entschlossenen Schrittes auf sie zu.

Es war nach dreiundzwanzig Uhr, als Bill Miller den Schlüssel im Schloss seines Reihenhauses im Norden Londons umdrehte. Im oberen Zimmer brannte noch Licht. Er legte Mantel und Aktentasche ab, lockerte seine Krawatte zunächst, entschied sich dann sie ganz abzustreifen und hängte sein Jackett auf den stummen Diener in der Eingangshalle. Dann ging er die Treppe hoch.

»Evelyn? Evelyn, bist du da?«

Stille. Er seufzte. Immer öfter hatte Evelyn nachts Besuch von diesem Alex. Er war ein ordentlicher junger Mann, studierte Jura und benahm sich anständig. Aber Bill hatte seiner Nichte aus Deutschland von Anfang an gesagt, dass er keine Übernachtungsgäste haben wollte. Nun ja – seit sie ihn vor einigen Wochen mit der Neuigkeit überrascht hatten, dass sie sich verlobt hätten, duldete er den Aufenthalt des jungen Mannes hin und wieder. Bill wollte gerade kehrt machen, als die Tür langsam aufging. Da stand sie, im Nachthemd zwar, und ihr rotblondes Haar ausnahmsweise offen – das linke Ohr schaute frech zwischen den glatten Strähnen heraus; aber Bill sah, dass sie frisch geschminkt war.

»Onkel Bill? Ist etwas passiert?«

Bill räusperte sich. Er hatte bisher fast nie um diese Uhrzeit an ihre Türe geklopft, außer er wollte sich über die Geräuschkulisse beschweren. Doch heute schallten weder Musik noch Stimmen aus ihrem Zimmer.

»Ich habe Licht brennen sehen. Nun … ich hatte ja versprochen, ich würde nach einer Aufgabe für dich Ausschau halten, einer, die für deinen Lebenslauf günstig ist – du erinnerst dich, dass wir darüber sprachen?«

»Aber ja.«

»Wenn du kurz in den Salon kommen möchtest … und deinen Onkel beim Trinken eines 15-jährigen Glenlivet begleiten würdest. Ich habe dir etwas anzubieten. Und glaub mir, Evelyn: Es ist so aufregend, dass ich auch dir einen Whisky werde einschenken müssen.«

Evelyn lehnte die Tür an, um sich etwas überzuziehen. Bill wartete. Ihre zeitlupenartigen Bewegungen mochten junge Männer wie Alex anmutig finden; ihn machten sie nervös.

Evelyn roch an dem Whiskey und leerte ihn fast mit einem Schluck, doch dann besann sie sich. Für sie mochte es keine große Bedeutung haben; aber Onkel Bill legte Wert auf das alkoholisierte Ritual, um einen besonderen Moment zu zelebrieren – und er verhielt sich so, als würde es einer sein. Dabei wusste sie nicht, was er ihr versprochen haben sollte. Sie erinnerte sich bloß, wie sie ihn angebettelt hatte, ihr ein eigenes Projekt im Verlag zu übertragen, anstatt sie immer nur Manuskripte korrigieren zu lassen. Sie würde schließlich schon in diesem Jahr ihr Studium beenden.

Er begann, ihr ausführlich von den Fotografien zu erzählen, die er in der Ausstellung gesehen hatte und von einer alten Frau, die in der Wüste arbeitete. Evelyn hätte zu gerne endlich gewusst, was das alles mit ihr zu tun haben sollte.

»Stell dir vor, vor zwei Jahren habe ich mit ihrer Schwester korrespondiert. Damals schwebte mir schon vor, dass die Geschichte interessant sein könnte für ein Buch. Schau mal, das hier hat sie für die Touristen geschrieben.«

Bill reichte ihr ein kleines Büchlein mit dem Titel »Geheimnis der Wüste« und einer wirren Zeichnung darauf. Evelyn schlug gleich die bibliografischen Informationen nach: Es war vor zwei Jahren, also 1974, in der zweiten Auflage erschienen, allerdings mit nur zweitausend Exemplaren.

»Ihre Schwester hatte mir damals nach einigem Hin und Her eine Absage erteilt. Heute Abend konnte ich Maria Reiche nun persönlich kennenlernen … und sie wirkte aufgeschlossen.«

»Wird sie ein Buch für deinen Verlag schreiben?«

Onkel Bill verzog keine Miene. Er war ein Meister darin, es spannend zu machen. In dieser Branche mochte das eine Berufskrankheit sein.

»Jetzt sag schon … was hast du vor?«

»Übermorgen fährt Frau Reiche zum Monument von Stonehenge. Ich möchte, dass du mitfährst.«

Evelyn schaute Bill fragend an: »Eine Dienstreise?«

Bill lachte auf: »Wenn es dir gelingt, ihre Sympathie zu gewinnen, wird deine … ähem … Dienstreise nach Peru gehen.«

»Nach Peru?!«

»Ich gebe dir drei Monate, um über ihr Leben und ihre Forschungen in der Wüste von Nasca und Palpa zu schreiben.«

»Was? Wirklich? Aber Onkel Bill!«

Evelyn fiel Onkel Bill um den Hals und erschrak dabei. Denn so viel Elan war sie von sich selbst gar nicht gewohnt. Aber ihr Onkel löste sich in seiner Verlegenheit ohnehin gleich aus ihrer Umarmung.

»Schon gut, Evelyn, aber Augenblick mal, das ist noch nicht alles. Lies in ihrem Büchlein nach, was sie zu den Wüstenzeichnungen zu sagen hat! Ihre Theorie ist, dass sie einen großen astronomischen Kalender darstellen. Sicherlich wird sie dir bei Stonehenge auch davon erzählen. Deine Aufgabe wird es sein herauszufinden, wie sie zu dieser Theorie gekommen ist. Und Indizien dafür zu finden, dass sie ihre persönliche Weltsicht über wissenschaftliche Methoden stellt.«

»Aber wir veröffentlichen doch nur wissenschaftliche Bücher, dachte ich?«

»Evelyn, Evelyn, meine liebe Evelyn«, sagte Onkel Bill kopfschüttelnd, als ob sie etwas ganz Wesentliches nicht verstanden hätte. »Ist Erich von Däniken ein Wissenschaftler?«

»Natürlich nicht.«

»Sieht er sich als Wissenschaftler?«

»Naja, seine Bücher bauen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen auf. Ich nehme an, er sieht sich sogar als etwas Besseres als normale Wissenschaftler.«

»Eben. Bevor diese Pseudo-Forscherin ihre Visionen bei einem esoterischen Verlag unterbringt, wollen wir sie haben – und entlarven. Denn sie behauptet, wissenschaftlich zu arbeiten. Aber was sie tut, ist nichts anderes als das, was von Däniken macht. Erkenntnisse, die zum Teil nicht einmal wissenschaftlich bestätigt sind, zu einer Theorie zusammenzuspinnen.«

»Ach so?« Langsam verstand Evelyn. »Onkel Bill! Dieses Buch muss reißerisch geschrieben sein, damit es wirkt. Die wissenschaftlichen Fakten auf der einen Seite und auf der anderen Seite das, was von ihr daraus gemacht wird.«

Verdutzt blickte Onkel Bill sie an und fing an zu lachen: »Opportunistisch wie die Mama«, rief er aus und hielt sich seinen bebenden Bauch.

Evelyn wusste nicht, ob er sich darüber freute oder sie auslachte. Irritiert stellte sie ihr Glas ab und begann wieder in dem Büchlein zu blättern: Da war ein Foto einer ins Wüstengeröll eingravierten Spirale.

»Evelyn, du musst wissen, diese Frau ist unter Wissenschaftlern hoch umstritten«, fuhr er fort. »Sie macht mit ihren Methoden das archäologische Erbe kaputt. Sie trampelt in der Wüste herum, als ob es kein Morgen gäbe und zerstört die ursprünglichen Zeichnungen. So ein Buch würde von unserer Leserschaft nur allzu gerne gekauft und weiterempfohlen werden.«

Evelyn blickte wieder auf. »Das könnte wirklich einschlagen. Ja – wir könnten sogar eine Reihe machen, in der wir alle Scharlatane in der Wissenschaft aufdecken!«

Onkel Bill lachte abermals. »Obwohl du nur Sprachen studierst, weißt du dank der Arbeit für den Verlag, wie wichtig harte Fakten sind. Du überführst diese Frau einfach mit dem, was ist. Mit der schnörkellosen Realität.«

Evelyn freute sich. Endlich konnte sie ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen. So lange schon arbeitete sie darauf hin, selbst an etwas recherchieren zu dürfen. Was Alex wohl dazu sagen würde? Und ihre Eltern – die Mama, würde sie stolz auf sie sein?

»Du weißt ja, Onkel Bill: Gib mir ein Manuskript und ich finde den Fehler. Jede Geschichte hat ihre Unstimmigkeit.« Bill nickte schmunzelnd. »Ich sehe, Evelyn, du hast es verstanden. Übermorgen früh um sechs Uhr beginnt deine große Chance als investigative Autorin. Ergreife sie, denn so etwas kommt nie wieder«, sagte er und rieb sich wie zum Kontrast vor Erschöpfung die Augen. »Und lass dich nicht von dieser sonderbaren Frau einnehmen.«

»Bestimmt nicht, Onkel Bill.«

In dieser Nacht konnte Evelyn lange nicht einschlafen. Sie lief in ihrem Zimmer umher, ballte ihre Hände zu Fäusten, hätte vor Aufregung und Stolz am liebsten losgeschrien. Sofort hatte sie Alex angerufen und ihm für heute Nacht abgesagt. Sie musste ihre Gefühle erst einmal für sich sortieren. Außerdem wollte sie Onkel Bill nicht gleich wieder gegen sich aufbringen – wusste sie doch, dass er die »Herrenbesuche« nur widerwillig duldete.

Die kalte Märzluft ließ Evelyn erschaudern, als sie den Weg hinauf zu den Steinkreisen lief. Diese tausend kleinen Tröpfchen, die jetzt in der Luft hingen, hatten den Wiesen ein wenig Grün verliehen. Ein torfiger Geruch stieg von den Böden auf. Es waren nur vereinzelt Menschen unterwegs. Als Evelyn die Umrisse der Steinriesen erblickte, erschien ihr die Landschaft klamm und noch wintermüde. Sie atmete tief ein und blieb in einiger Entfernung zum Steinkreis stehen. Da war sie, die Frau, mit der sie zusammenarbeiten sollte: Die hellgrauen, zweckmäßigen Kleider hingen von ihrem schlaksigen Körper herab, als ob sie viel zu groß für sie wären. Und die Haare – zerzaust, zu allen Seiten abstehend. Ganz zu schweigen von der Brille mit den dicken, runden Gläsern und ihrem faltigen Gesicht. Eine Gestalt, die sie an eine Vogelscheuche erinnerte! Das sollte die berühmte Maria Reiche sein? Onkel Bill musste nicht befürchten, dass sie sich in ihren Bann ziehen ließ. Evelyn zögerte. Sie war schon seit vier Uhr morgens wach, hatte sich Mühe gegeben, professionell und ordentlich zu wirken: Unter ihrem Trenchcoat aus Kunstleder schaute ein hellblauer Blusenkragen hervor und ein weiter Rock hing über ihren kniehohen Stiefeln. Der Wollpullunder half nur wenig gegen die morgendliche Frische. Sie ging einige Schritte auf den Steinkreis zu, holte dann doch noch ihren Endlos-Schal hervor und wand ihn sich mehrfach um den Hals. So – eigentlich sollte sie jetzt auf sie zugehen und sich ihr vorstellen. Onkel Bill hatte ihr das Treffen direkt an den Steinkreisen organisiert, nachdem er erfahren hatte, dass Maria Reiche schon einen Tag früher abgereist war als geplant.

»Die hat ihren eigenen Kopf. Deswegen macht sie ja ihre sogenannten Forschungen so, wie sie es für richtig hält«, hatte Bill zu Evelyn gesagt. »Du wirst wie geplant hinfahren und sie bei Stonehenge abfangen. Ich habe ihr mitteilen lassen, dass du kommst.«

Wie erstarrt stand Evelyn jetzt in sicherer Entfernung und beobachtete, wie die alte Frau sich zwischen den schweren Steinquadern bewegte.

»Los, geh schon!«, rief es einige Meter weiter.

Sie drehte sich erstaunt um. Es war eine Mutter, die ihren Jungen zum Weitergehen drängte. Evelyn schüttelte den Kopf – wie oft war es ihr schon so gegangen? Sie dachte an was Bestimmtes und dann passierte etwas in ihrer Umgebung, das eine unmittelbare Antwort auf ihre Gedanken zu sein schien.

»Das Phänomen der selektiven Wahrnehmung«, flüsterte sie in sich hinein und gab sich einen Ruck. Vermutlich wird Maria Reiche sich sogar freuen, hier auf der Insel ihre Muttersprache zu hören.

»Guten Tag, Frau Reiche?«

Die Frau hatte ihren Blick auf einen weiter entfernten Stein geheftet. Anstatt sich Evelyn zuzuwenden, drückte sie ihr ein abgegriffenes Maßband in die Hand: »Können Sie das mal halten?« Sie ging ein paar Schritte rückwärts und zeigte zu einem schiefen Stein, der gerade von Krähen eingenommen wurde. »Das da oben ist der Peilstein.«

Dann ging sie halb in die Hocke, legte ein Winkelmessgerät auf die Erde. Unterdessen holte Evelyn eilig mit ihrer noch freien Hand ihr Notizbuch aus dem Rucksack.

»Der ist 7 Meter 10 hoch. Ist Ihnen diese Messmethode bekannt?«

Evelyn schüttelte den Kopf. Schmerzlich wurde ihr bewusst, wie wenig sie wusste. Ob sie die Richtige für Onkel Bills Projekt war? Was, wenn sie ihn enttäuschte?

»Welche Geschichte diese Steine wohl erzählen würden, wenn sie flüstern könnten?«, fragte Evelyn hilflos in den Nebel.

»Die Geschichte von Sonne und Mond. Es ist ein gewöhnlicher Kalender«, sagte Maria nüchtern. »Genauso wie die Nasca-Linien. Schau – über jenem schiefen Stein geht die Sonne zur Sommersonnenwende auf! Und hier, direkt gegenüber«, fuhr sie fort und drehte sich abrupt zu dem größten aller Steinquader um, »müsste sie zur Wintersonnenwende untergegangen sein. Dieser Stein ist der einzige übrig gebliebene von dem großen Trilithen«, erklärte sie und holte eine Zeichnung heraus. Darauf war zu sehen, wie Stonehenge wohl früher ausgesehen haben musste: Ein Kreis von Steintoren, jedes Steintor bestand aus drei quaderförmigen Steinblöcken – deswegen hießen sie Trilithen. Und in jenem Kreis befand sich wiederum ein hufeisenförmiges Halbrund aus noch größeren Trilithen. Evelyn gab sich Mühe, der Frau zu folgen: »Immer zwei Pfeiler und ein Deckstein – so wurden die Trilithen errichtet. Und je nachdem, durch welchen Zwischenraum die Sonne fiel, konnten die Menschen damals genau die Jahreszeit bestimmen«, sagte Maria Reiche und klopfte mit der Faust auf den klammen Steinriesen. »Siehst du, wie dicht sie sind? Diese Steinblöcke sind aus Sarsen, einem schweren und dichten Gestein. Wie haben die Menschen damals bloß, noch bevor das Rad erfunden war, solche Riesen transportieren können? So ein Steinblock hat sicher an die 50 Tonnen!« Sie strich mit ihrer dürren Hand über das kalte Gestein. »Aber gehen wir weiter. Hier müsste noch irgendwo die Linie sein, die den Sommer mit dem Winter verbindet. Da, die Avenue.« Sie zeigte auf eine in die Grasnarbe geschnittene Einkerbung: ein schmaler, gerader Pfad, der auf Stonehenge zulief. »Womöglich sind die Menschen von damals hier entlanggegangen, um die untergehende Sonne zu zelebrieren. Höchst interessant!«, rief Frau Reiche begeistert aus. »Es ist so wie in Nasca – bloß, dass sie es dort bei den Linien belassen haben, um den Lauf der Sonne zu markieren.«

Evelyn hatte Mühe, diese Faszination nachzufühlen. Maria Reiche wirkte auf sie eher wie eine bemitleidenswerte alte Frau, die ihren wirren Gedankensprüngen folgte, weil sie sonst nicht viel zu tun hatte. Evelyn fragte sich, was sie selbst hier eigentlich machte. Andererseits: Vielleicht würde es ein Einfaches sein, diese Frau als Pseudowissenschaftlerin zu entlarven. Ihr fiel ein, was sie über die letzte wissenschaftliche Auseinandersetzung zu Stonehenge gelesen hatte: Ein Forscher mit dem Namen Gerald Hawkins hatte in den 1950ern versucht, den Steinkreis zu dechiffrieren. Er war der Meinung, dass die frühen Druiden ihn als eine Art steinzeitlichen Computer nutzten, um Mondfinsternisse vorherzusagen und damit das Volk mit ihrem magischen Wissen zu beeindrucken. Die These wurde als Wiederentdeckung uralten Geheimwissens verkauft und kam bei den Hippies dieser Welt gut an. Allerdings wurde seine Beweisführung widerlegt – und zwar auf eine Weise, die ihn vollkommen lächerlich machte. Er hatte schlicht nicht beachtet, dass die Steinquader in den unterschiedlichen Epochen jeweils anders aufgestellt waren.

»Was meinen Sie zu Hawkins’ Steinzeitcomputer-Theorie?«

Maria, die Evelyn bis zu diesem Moment noch keines Blickes gewürdigt hatte, blitzte sie jetzt mit dem eiskalten Blaugrau ihrer Augen an: »Ach, Hawkins«, sagte sie mit einem Seufzer. »Dieser Computerfreak hat auch in Nasca nichts zustande gebracht. Halten Sie sich nicht an seinen veralteten Ergebnissen auf.«

»Hawkins war auch in Nasca?«

»Er hat nur einen Bruchteil der Linien vermessen – nicht der Rede wert. Aber haben Sie schon einmal von dem megalithischen Yard gehört?«

Evelyn schüttelte den Kopf. Sie fröstelte – sie fühlte sich der Aufgabe, die da auf sie zukam, alles andere als gewachsen.

»829,36 Millimeter. Genau diese Länge wurde immer und immer wieder gemessen, in den Hunderten von Steinkreisen, die es auf den britischen Inseln gibt. Es muss ein heiliges Maß gewesen sein!«, sagte Maria und atmete ein, um neu anzusetzen. »Stellen Sie sich vor: Auch in Nasca gab es die eine Maßeinheit, die immer wieder benutzt wurde. Ich nenne sie die Nasca-Elle.«

»829,36 Millimeter«, wiederholte Evelyn langsam nickend. Sie war froh, dass sie sich immerhin Zahlen gut merken konnte. So konnte sie wenigstens den Anschein erwecken, dass sie begriff, was Maria zu ihr sagte.

»Ich werde Ihnen alles genau erklären, wenn Sie mit nach Nasca kommen. Dazu müssen Sie die Linien erst einmal gesehen haben«, konstatierte die alte Dame. Hatte sie Evelyns Verwirrtheit bemerkt? »Diese Maßeinheit wird ein relevanter Teil meines wissenschaftlichen Lebenswerks sein.«

»Und davon soll das Buch ja schließlich handeln, Frau Reiche«, sagte Evelyn, um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen.

»Meine Berechnungen zu beschreiben, wird nicht schwierig sein. Ich habe viele Notizen für Sie als Vorlage. Aber ich erwarte, dass Sie während Ihres Aufenthaltes auch in der Wüste mithelfen«, sagte Maria. »Ich kann niemanden gebrauchen, der einfach nur rumsteht und zuschaut. Trauen Sie sich das zu?«

»Aber natürlich«, beeilte sich Evelyn zu antworten. Sie überlegte – war das nicht alles eine Nummer zu groß für sie? Wer weiß, was da in der Wüste, allein mit dieser Frau, auf sie zukommen würde? Andererseits: Wenn sie ihr einfach nur das Maßband halten und bei Vermessungen assistieren sollte, dann könnte sie ihr mit Leichtigkeit Informationen entlocken, die interessant für das Buch sein könnten. »Das dürfte kein Problem für mich sein, Frau Reiche«, bekräftigte sie.

»Gut. Dann lassen Sie uns nun zurückspazieren. Kennen Sie ein Lied?«

»Ein Lied?«

»Ja. Ich singe gerne beim Gehen. Stehn zwei Stern’ am hohen Hiiimmel, leuchten heller als der Mooond … na los, singen Sie mit! Sie werden sehen, der Weg wird dadurch kürzer.«

Evelyn brachte kein Wort heraus, lächelte nur befremdet. Aber sobald Maria einen Fuß vor den anderen setzte und sich bei jedem Schritt im Rhythmus wiegte, erwischte sich auch Evelyn dabei, wie sie unwillkürlich hinter ihr in denselben Trab verfiel. Am Ende des Weges angekommen, summte sie kaum hörbar mit.

»Na, wer sagt’s denn?« Maria drehte sich um und schaute Evelyn nun direkt an.

»Das haben wir im Kindergarten immer gesungen«, sagte Evelyn etwas verlegen.

»Aha«, sagte Maria. »Aus welcher Gegend kommen Sie denn?«

Evelyn musste bei dieser Frage immer zögern. Ja – woher kam sie eigentlich? War der Vorort von Dresden, in dem sie geboren wurde, ihre Heimat, dort, wo sie als Kind im Sommer mit der Großmutter die Kerne aus den riesigen Sonnenblumen herauspickte und im Winter unter ihrer dicken Daunenbettdecke verschwand? Oder war es der Ort ihres Heranwachsens, Ludwigshafen, die reiche Industriestadt im Südwesten, die ihr nichts gegeben hatte außer Ödnis, Enge und der Sehnsucht nach Leben? Oder gar ihre erste Bleibe im erwachsenen Leben, das kleine Zimmer bei Onkel Bill im Norden der kühlen britischen Metropole? Was wollte der Fragende jeweils wissen, wenn er die Frage der Herkunft stellte?

»Aus Dresden«, sagte Evelyn schließlich, in Gedanken noch in ihrer Kindergartenzeit.

»Aus Dresden!«, gab Maria sichtlich überrascht zurück. »Das hört man Ihnen gar nicht an. Genauso wenig wie mir.«

»Sie kommen auch daher?«

Zum ersten Mal lächelte Maria. Ihr Gesicht glättete sich und wirkte beinahe verträumt, als sie sagte: »Dresden ist meine Heimatstadt, wissen Sie? Meine Kindheit am nahegelegenen Prießnitzbach, meine Zeit an der Mädchenschule, mein Studium an der TU … ich werde diese Orte und Menschen niemals vergessen.«

Evelyn schaute auf ihre Schuhe. Sie musste blinzeln. Ihre Kindheit im Osten … sie war so friedlich gewesen. Das Häuschen ihrer Eltern mit der improvisierten Küche im Hof, auf dem sie mit ihrem großen Bruder Ball spielte und mit ihrer Mutter Sonnenblumen säte. Ihre englische Großmutter wohnte quer über den Hof zusammen mit ihren beiden Tanten. Ständig waren Menschen zu Besuch.

»Wissen Sie«, riss Frau Reiche sie wieder aus ihren Gedanken, »ich habe Dresden seit 45 Jahren nicht mehr gesehen. Ich freue mich, wenn Sie mir darüber erzählen werden, wenn Sie in Peru sind.«

Die Sympathie der kauzigen Dame hatte sie schon mal sicher. Frau Reiche blickte jetzt durch Evelyn hindurch, zum entfernten Steinkreis. Die junge Frau drehte sich um, um zu sehen, was sie da sah. Eine Weile standen sie schweigend und beobachteten die Krähen, die immer noch von Quader zu Quader flogen, es sich mal hier und mal dort gemütlich machten. Der Nebel hatte etwas nachgelassen. Aber immer noch würde ein Maler nicht viele Farben benötigen, um diese Ruinenromantik auf Leinwand zu bannen. Hell- bis mittelgrau, zwei bis drei Brauntöne, ein Anthrazit für die Krähen und Graugrün für den von Gras bewachsenen Wall, der den Steinkreis in ein weiteres Rund einschloss.

»Diese Tage hier in England waren der Höhepunkt meines Lebens«, sagte Frau Reiche unversehens. »Jetzt könnte ich eigentlich sterben.« Dann blickte sie zu Evelyn und atmete tief ein, als ob sie sich daran erinnern müsste, die Fassung zu behalten. »Aber ich werde nicht sterben – die Linien in Nasca, sie brauchen mich. Ohne mich gäbe es sie längst nicht mehr.« Daraufhin drehte sie Evelyn den Rücken zu, wie wenn das alles wäre, was es zu sagen gab, und ging mit entschlossener Leichtigkeit weiter.

»Eine 1 Meter 80 große Vogelscheuche, die in der Wüste lebt? Bist du sicher, dass dieses Projekt das Richtige für dein erstes Buch ist? Für einen Wissenschaftsverlag?«

Alex und Evelyn schlenderten am Ufer der Themse entlang. Feuchte Kälte kroch in Evelyns Mantelkragen und sie schlug ihn hoch. Sie war sich alles andere als sicher.

»Naja … immerhin geht es um geheimnisvolle Wüstenzeichnungen, für die sich inzwischen Archäologen aus aller Welt interessieren!«

»Du meinst die Landeplätze für die Außerirdischen?«

Evelyn verdrehte die Augen und schaute entrüstet zu ihm: Beim Anblick seiner dunkelblonden Locken, die sich bei solch einem Wetter besonders hübsch um seine Ohren kräuselten, gelang es ihr nicht, besonders genervt zu sein. Schade nur, dass er sie immer wieder abschnitt. Er schnitt sie bloß aus Protest ab, weil es Mode war, sie wachsen zu lassen. Alex war ein toller Kerl – wenn er bloß nicht immer so renitent wäre! Und sie nicht dauernd provozieren würde.

»Nein«, gab sie betont geduldig zurück, »es sind die Linien, von denen man noch gar nicht weiß, warum sie das alte Nasca-Volk in die Wüste eingraviert hat.«

»Von Däniken sagt, dass sie das für die außerirdischen Besucher gemacht haben, die mit ihrem Raumschiff dort gelandet waren. Stell dir vor, die kamen mit hochtechnisierten Schiffen und in Raumanzügen zu einem primitiven Volk – sie müssen sie ja für Götter gehalten haben!«

Der feine Sprühregen war eisig und führte zu einer immensen Befeuchtung der Schleimhäute – Evelyn zog die Nase hoch, lauter, als sie es beabsichtigt hatte. Auch wenn er noch so gut aussah, ihr angehender Finanz-Anwalt, und ihr Herz höher schlug bei dem Gedanken, bald mit ihm auf den legendären Dinnerpartys in den Villen des Westends zu verkehren und im Urlaub die gesamte Welt zu bereisen, war es durchaus anstrengend, wenn er mal wieder alles durch den Kakao zog.

»Naja, du kannst es ja herausfinden«, schloss er schulterzuckend, »brauchst du ein Taschentuch?« Er hatte die Packung mit den Taschentüchern bereits aus der Tasche geholt und eines behutsam herausgezogen, so dass sie nur noch an der Spitze ziehen musste.

Dabei wollte sie den Rotz vielleicht ganz gerne hochziehen, dachte sie trotzig, und ihn nicht in ein Papiertaschentuch herausblasen, wenn es ohnehin so feucht war, dass ihre Nase gleich wieder welchen produzieren würde. Resigniert zog sie sich ein Taschentuch heraus. »Und wie ich das herausfinden werde«, dachte sie beim Schnäuzen, sagte aber nichts.

Schweigend liefen sie nebeneinanderher. Eigentlich sprach alles dagegen. Erstens hatte sie keine Ahnung von der Materie, zweitens konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen, mit der alten Dame zusammenzuarbeiten, und drittens fühlte sie sich für die große weite Welt nicht wirklich gewappnet. Außerdem würde sie ihren Verlobten hierlassen, vor allem ihn – von ihren Eltern in Deutschland lebte sie ja ohnehin abgeschieden.

»Es wäre ja nur für drei Monate …«, überlegte sie halblaut.

»Weißt du was? Drei Monate sind nicht die Welt«, sagte Alex, »probier’s halt aus. Es kann eine Chance sein! Ich werde dich nicht davon abhalten. Außerdem muss ich jetzt auch büffeln für das Staatsexamen. Dann passt das vielleicht ganz gut.«

Evelyn verspürte plötzlich eine große Leere. Sie war verwundert, dass er das so leichthin sagte – andererseits: Er unterstützte sie bedingungslos und das war es doch, was ihr bei einem Mann wichtig war. »Ja, hast Recht«, sagte sie jetzt. »Die drei Monate würden wir schon irgendwie ohneeinander aushalten. Und wenn du eh lernen musst … «

Dann fiel ihr seine Lerngruppe ein, mit der er sich jetzt öfter traf. Viele schicke Juristinnen. Sie selbst stand zwar auch auf Eleganz und hochwertige Kleidung, aber so geschniegelt wie die, das fand sie dann doch überflüssig. Oder war sie eifersüchtig?

»Eifersucht, was ist das überhaupt?« Das hatte eine ihrer Kommilitoninnen sie gefragt. In den Sprachwissenschaften gab es wahrlich eine andere Kleider- und Liebesordnung als bei den Juristen. »Weißt Du, was Eifersucht in Wirklichkeit ist? Eine erbärmliche Mischung aus Wut, Nervosität und Lust – ja, Lust!«, hatte ihr die Mitstudentin mit den selbst zerschnippelten Jeans mitgeteilt, damals, als sie zu einem Picknick im Hyde Park dazugestoßen war und zu den gähnenden Beats von Bob Marley zum ersten Mal den Geruch von Haschisch wahrnahm.

»Ja, aber ist man dann wirklich glücklicher?«, hatte Alex überlegt, als Evelyn ihm damals von diesem Picknick erzählt hatte. »Freie Liebe klingt zwar gut, aber bringt das nicht hauptsächlich Stress mit sich?«

Evelyns Nase triefte jetzt abermals. Sie versuchte sich zu beherrschen und zog sie nicht hoch, um nicht ein weiteres Taschentuch angeboten zu bekommen. Ein Klimawechsel würde ihr bestimmt guttun. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich schon im Flugzeug sitzen. Auch wenn sie sich das überhaupt nicht zutraute, verspürte sie bei der Vorstellung, bald in Südamerika sein zu können, ein seltsames Ziehen im Bauch – oder war es ein Kribbeln? Verstärkte sie dieses Kribbeln, indem sie in sich hineinlauschte, wuchs es an und verwandelte sich in blanke Angst. Doch wenn sie es im Gegenzug zu verscheuchen versuchte, kam eine ausweglose Langeweile in ihr auf, so groß, dass sie sich davor ekelte. Sie musste zugeben: Wenn sie die drohende Sehnsucht nach Alex einmal außer Acht ließ, würde sie sich selbst schon arg anöden, wenn sie diese abenteuerliche Chance nicht ergreifen würde. »Ich frage mich, was wohl meine Eltern zu alledem sagen werden?«

»Die sind bestimmt stolz«, beschwichtigte Alex. »Für sie ist es nur wichtig, dass du dich hocharbeitest. Deshalb hat dich doch deine Mutter zu Bill geschickt.«

Ja genau, dachte Evelyn. Mamas Cousin als das Tor zur Welt der Gebildeten und Reichen. Dass auch Alex für die Mutter dahingehend eine glückliche Partie bedeutete, sagte sie nicht. »Aber ob sie sich das so vorgestellt haben?«, gab sie stattdessen zurück.

2

Das Hebelgesetz für Mädchen und der schleimige Geschmack der Granadilla

Blecherne Trommeln in flottem Rhythmus und ein langgezogen gejaultes »Corazóoon«: Cumbia-Melodien in voller Lautstärke pflügten gerade Evelyns Trommelfell um, als sie sich setzte. Mitgenommen von dem ersten Fernflug ihres Lebens – 20 Stunden hatte er gedauert, in denen sie kaum Schlaf fand – und nach drei weiteren matschigen Stunden im Busbahnhof, spürte sie endlich den harten Sitz unter ihren Sitzhöckern, der sie in die Wüste befördern sollte. Der Fahrer ließ den Motor an, und jetzt wusste sie, warum das Radio so laut lief. Die Maschine war bestimmt dreißig Jahre alt oder noch mehr, offenbar ein ausrangierter US-Schulbus, dessen Motor wie die Kettensäge ihres Vaters beim Bearbeiten eines dicken Baumstammes klang. Durch die teils offenen, teils nicht vorhandenen Fenster zog es, als der Bus an den bunt abblätternden Fassaden Limas vorbei wackelte. Die Luft klebte feucht an ihrer Haut, ihre Leinenbluse lag eng an und kratzte. Sie stieß mit ihren Knien an den Vordersitz, als sie ihre langen Beine diagonal in die dafür vorgesehene Lücke zu quetschen versuchte. Hinter Evelyn stieg eine dunkelhäutige, untersetzte Frau ein in einem mit bunten Tieren bestickten, weiten Rock und einem gehäkelten Pullover in Pink. Über der Schulter trug sie eine in allen Farben gestreifte Umhängetasche. Ihre schwarzen, unglaublich langen Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten. Unter ihrem Arm zappelte ein Huhn. Ihre tiefschwarzen Augen waren unterdessen völlig unbewegt. Gleichmütig hievte sie sich auf den Sitz neben Evelyn. Das Gefährt rumpelte arhythmisch unter ihrem Gesäß. Es roch nach fettigem Essen und menschlichen Ausdünstungen.

Obwohl es in ihren Ohren dröhnte und ihr Kopf schmerzte und all das wie durch einen Schleier zu ihr durchdrang, als ob es nur ein besonders intensiver Traum wäre, so hatte sie zugleich den Eindruck, dass ihre Sinne mit einem Spitzer angespitzt worden waren. Doch gerade waren sie so überstimuliert, dass sie wie eine weiche Bleistiftmine innerhalb kurzer Zeit abstumpfen mussten. Ein weicher Stift, der mit leichtem Strich gerade die vorbei huschenden Dächer Limas nachzeichnete. Evelyn selbst war dieser Stift, der entlang der großstädtischen Alleen flog und mit ihren weichen Augen alles nachmalte, was sie sah. Vögel landeten auf einem der Dächer, ein Strommast mit mehreren herabhängenden Kabeln zog vorbei, die Gebäude wurden kleiner, die Dächer flacher, ab und zu ein Stand mit Früchten, und dann sah sie nichts mehr, malte nur noch innerlich weiter. Dort erschienen plötzlich grüne Wiesen und satte Felder, über die sie flog, sie schwebte nicht darüber, nein, sie schwamm mit den Armen wedelnd durch die Lüfte und es war anstrengend für sie, sich in der Luft zu halten. Bis sie zu diesem Haus kam mitten im Nichts. Sie schwamm vor die Tür des Hauses und wollte sie, immer noch in der Luft hängend, öffnen. Neugierig drückte sie die Klinke herunter … Mit einem schreckhaften Ruck wachte Evelyn auf. War sie in diesem Trubel eingeschlafen? Und sie hatte wieder diesen seltsamen Traum gehabt, den sie in letzter Zeit so oft träumte. Endlich wollte sie wissen, was sich hinter dieser Türe befand.

Aus dem Fenster des Busses sah man bis zum Horizont hellbraunen Sand. Sie schaute auf die Uhr. Konnte es sein, dass sie erst anderthalb Stunden auf der Panamericana-Autobahn unterwegs waren? Das würde heißen, dass direkt hinter Lima schon die Wüste begann! In der Tat: Die nächsten Stunden sah sie nichts anderes als Sand, Dünen, Sand, Horizont und wieder Sand. Sie schlug das dünne Buch von Dänikens auf, das Alex ihr mitgegeben hatte, obwohl sie es gar nicht haben wollte:

»Nicht weit vom Meer, im peruanischen Vorgebirge der Anden, liegt die alte Stadt Nasca. Zu beiden Seiten des Palpatales verläuft ein 60 Kilometer langer und zwei Kilometer breiter Streifen ebenen Landes; dieser Landstreifen ist mit kleinen Steinbrocken übersät, die rostigen Eisenstücken ähneln …«

Einen halben Tag später wurde die Erde tatsächlich etwas rötlicher und der Sand gröber, es begannen immer mehr von diesen Steinbrocken in der Ebene zu erscheinen, und immer höhere Hügel wuchsen aus dem kargen Boden. Die Straße wand sich jetzt um Klippen aus orangerotem Gestein. Der Bus ruckelte wie von einer Bronchitis befallen hustend um diese rostig-schroffen Felsen. Sie näherten sich dem steinigen Teil der Atacama-Wüste, jenem Ort, wo die geheimnisvollen Zeichnungen in die Erde graviert waren. Sie spürte wieder den Luftzug auf ihrer schweißnassen Haut, die Wärme ihrer indigenen Sitznachbarin, das Geplapper von einem Spanisch, das sie im Studium nie gelernt hatte, und fühlte sich plötzlich frei, hier, am anderen Ende der Welt – sie hätte genauso gut auf dem Mars gelandet sein können.

Wie die Linien wohl aussahen? Natürlich hatte sie Fotos gesehen, aber sie hatte Schwierigkeiten, sich die Dimensionen auszumalen. Ob die geraden Linien und die trapezförmigen Flächen wirklich ein Flugplatz für außerirdische Raumschiffe gewesen sein könnten, wie von Däniken es behauptete? Waren die damaligen Menschen nur mit himmlischer Hilfe in der Lage, solche riesenhaften Scharrbilder zu erstellen? Oder waren sie viel weiter, als es die heutige Welt glaubte?

Der Taxifahrer fuhr die Calle Juan Matta auf und ab. Nichts hier sah nach einem Hostal, einem dieser einfachen Gästehäuser, aus. Evelyn blickte verzweifelt auf das Tierfell, das auf dem Armaturenbrett lag. Vom Rückspiegel hing ein Rosenkranz herab und schaukelte aufdringlich. Der Wagen drohte auseinanderzufallen. Mit der größten Gemütsruhe legte der Fahrer seinen Handballen auf die Hupe. Ein anderes Auto machte Platz.

»Es müsste hier sein«, sagte Evelyn und schaute nochmal auf ihren Zettel.

Der Fahrer stieg aus, um eine Anwohnerin zu fragen. Dann winkte er Evelyn heraus und nahm ihren Koffer aus dem Auto. Hier war es also: ein marodes Gebäude mit kleinem überdachtem Restaurant, in dem kein Mensch war. Gegenüber befand sich ein abgerissenes Haus, in dessen Trümmern mehrere ausgemergelte Straßenhunde herumirrten auf der Suche nach Fressen. Sie wurde von einer Frau in einen langen Flur mit vielen Türen im ersten Stock geführt. Das Hostal wirkte gespenstisch leer. Das Zimmer mit der willkürlichen Nummer 402 war dunkel und stickig. Die Frau zog die Vorhänge auf und öffnete das Fenster. Evelyn sah dabei zu, wie der aufgewirbelte Staub sich neu verteilte. An der Wand hing ein Bild eines speienden Katzendämons mit einem Menschenkopf in seiner rechten Klaue. Sobald sie allein war, knipste sie gedankenverloren die Leselampe an. Ist es nicht so, dass man die Ausstattung immer überprüfen sollte? Die Lampe brannte nicht.

Kurz darauf holte Frau Reiche sie mit ihrem Jeep ab, und sie fuhren hinaus aus dem kleinen Wüstenstädtchen mit dem Namen Nasca.

»Wir fahren jetzt in die Pampa«, verkündete die alte Frau.

Evelyn musste kichern: War sie jetzt wirklich in die Pampa geschickt worden, dahin, wo der Pfeffer wächst, so wie sie es als Kind immer angedroht bekommen hatte, wenn sie ›unartig‹ gewesen war? Verstohlen blickte sie zu der Frau: Sie hatte sie schlimmer in Erinnerung. Ihr Gesicht war zwar immer noch stark zerknittert und die Wangenknochen stachen dürr hervor; die Kleidung hing nach wie vor achtlos von ihr herab. Aber hier – vor dem Hintergrund dieser kargen Ebene, in der sich die Erde ab und an zu felsigen Hügeln hochfaltete – hier passten sich ihre braungebrannten Falten und fast weißen Haare über knorrigen Schultern in die Landschaft ein. Der Abschnitt der Panamericana-Autobahn, der zu Maria Reiches Hütte führte, war leer. Links und rechts davon lagen Steine im Sand wie Geröll auf einer Baustelle.

»Hier auf der linken Seite sind die Hände – manche glauben, es sei ein Frosch – und dort kommt die Eidechse«, erklärte Frau Reiche.

Hände? Frosch? Evelyn sah nicht mehr als ein paar helle Einkerbungen in der Erde. An Kilometer 420 der Panamericana stiegen sie aus: Hier stand ein kleines Wächterhäuschen, hinter dem sich eine Hazienda mit Baumwoll- und Apfelsinenhainen befand. Rundherum war in großen Abständen eine Handvoll Lehmhütten wie mit dem Salzstreuer über die Landschaft verteilt. Die Wüstenlandschaft dehnte sich bis zum Horizont.

In dem Wächterhäuschen gab es neben dem Wohnraum des Wächters und seiner Familie einen fensterlosen Nebenraum. In dieser Rumpelkammer hatte Frau Reiche sich eingerichtet. Auf gestampftem Lehmboden stand ein Pritschenbett, außerdem befand sich darin eine Kommode mit einer provisorischen Kochvorrichtung: ein unregelmäßig geformter Tontopf auf einem ausgehöhlten Schemel, daneben eine Gasflasche. Darüber hinaus zählte Evelyn ein kleines Tischchen mit Schreibmaschine, einen Zeichentisch sowie einen größeren Tisch mit einer Obstschale darauf. Zudem gab es zwei Stühle in dem beengten Raum, deren Sitzflächen und Lehnen aus denselben geflochtenen Eukalyptusbinsen waren wie das Dach. Durch die kleinen Lücken im Reet brach ein wenig Sonnenlicht herein und zeichnete ein unregelmäßiges Muster in den Dreck. Evelyn sah eine Maus über den Boden huschen. Was ihr aber am meisten ins Auge stach, waren die überdimensionalen Papierschnipsel, die an gespannten Schnüren überall an den Wänden hingen: dreieckige und runde Schnipsel sowie Winkel verschiedener Größe, lange Papierbögen, teils mit Linien, Punkten und Figuren bemalt, teils blank. Sie hingen übereinander, aneinander, nebeneinander, untereinander. Eine Ordnung konnte Evelyn nicht erkennen.

»Die habe ich wegen der Mäuse aufgehängt. Sie haben an meinen Karten von der Pampa herumgeknabbert«, sagte Frau Reiche, die offensichtlich Evelyns Blick gefolgt war. »Dass sie ab und zu etwas von meinem Obst essen, habe ich noch akzeptiert. Aber das mit den Karten konnte ich nicht länger hinnehmen.«

»Leben Sie hier?« fragte Evelyn und riss dabei unbeabsichtigt die Augen auf.

»Seit über zwanzig Jahren.«

»Seit mehr als zwanzig Jahren schon? Aber gibt es hier überhaupt elektrisches Licht?« Evelyn suchte mit ihren Augen die Wände nach einem Lichtschalter oder einer Steckdose ab und überlegte, wie diese alte Dame hier wohl arbeiten konnte.

»Weder elektrisches Licht noch fließend Wasser«, sagte Frau Reiche. »Was es gibt, ist jede Menge Sonne und einen spärlichen Flusslauf in der Nähe – den Rio Grande. Und …« Sie zeigte unter den Stuhl, wo etwas stand, das Evelyn nicht erkennen konnte »… ich bin stolze Besitzerin einer Öllampe.«

Evelyns Blick blieb an dem Stuhl haften: Er wirkte abstoßend auf sie, denn er war, wie alle anderen Möbelstücke, von einer klebrigen Staubschicht überzogen. Die heiße Luft stand jetzt zur Nachmittagszeit unbeweglich im Raum.

»Ich lebe hier gut«, fuhr Frau Reiche fort. »Zum Essen brauche ich nicht viel, ich koche mir allenfalls mal ein paar Bohnen. Das Wichtigste ist, dass es von hier nur wenige Schritte bis zur Pampa sind. Manchmal übernachte ich auch draußen in der Wüste.«

Evelyn wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Gerade noch hatte sie die Bedingungen in dem Hostal als auf das Wesentliche reduziert empfunden und dachte, sie sei ganz schön wagemutig, sich auf so etwas einzulassen. Jetzt erschien ihr das lachhaft. Das war wahrlich kein Ort, um in Selbstmitleid zu baden. Sie schämte sich ein wenig dafür. Unterdessen befüllte Frau Reiche die Obstschale mit Früchten. Evelyn kannte keine der Sorten.

»Setz dich«, sagte die Alte und tat selbiges.

Evelyn hatte bereits befürchtet, dass Frau Reiche ihr einen Platz auf einem dieser Stühle anbieten würde. Sie schaute nicht nochmal hin, bevor sie sich überwand und sich behutsam an den Rand der geflochtenen Sitzfläche platzierte.

Ein orangerotes Ei mit dunklen, stacheligen Punkten war das erste, was die zerknitterte Frau ihr anbot: »Die Kaktusfrucht, hier auch Tuna genannt. Es gibt sie geschält oder ungeschält zu kaufen. Du musst ein wenig aufpassen, manchmal sind noch Stacheln dran.« Dann schnitt sie die Frucht längs in Hälften und begann, eine Hälfte auszulöffeln.

Evelyn tat es ihr nach und nahm einen vollen Löffel rötlichen Fruchtfleisches mit den vielen Samen in den Mund. Erst jetzt bemerkte sie, dass es im Grunde einfach nur Kerne waren, um die herum ein wenig Frucht gewachsen war.

Ihr Mund war also immer noch voller harter Kerne, die sie sich weder traute hinunterzuschlucken noch auszuspucken, als Frau Reiche schon die nächste Frucht aufschnitt: »Ein Membrillo – verwandt mit der deutschen Quitte und sehr gut für den Magen. Es ist besser, damit sparsam zu sein.«

Das verstand Evelyn sofort, sobald sie hineinbiss – die Kerne hatte sie dann unter aufkeimendem Heimweh, fast schon mit Tränen in den Augen, hinuntergeschluckt. Der Membrillo sah aus wie eine Mischung aus ziemlich großem Apfel und Birne. Seltsam – sie erkannte den Geschmack, aber eher so, wie man erkennt, dass etwas nach Spülmittel schmeckt, obwohl man vorher noch nie Spülmittel getrunken hat. Diese gelbe Frucht schmeckte wie vergorener Apfel mit einer Prise gammliger Birne! Sie wollte den feinen Unterschied noch einmal analysieren und biss zum zweiten Mal hinein: ja genau, vergoren und säuerlich. Gut für den Magen also? Evelyn war sich nicht sicher, ob sie mit dieser Geschmacksprobe fortfahren wollte. Ob es hier nur solches Obst gab?

»Dies ist eine Granadilla«, fuhr Maria Reiche fort.

Evelyn überkam in diesem Moment eine entsetzliche Welle von Müdigkeit. »Wissen Sie, Frau Reiche, ich … ich konnte im Flugzeug nicht so gut schlafen«, hob sie an. Sie wollte eigentlich gar nicht hier sein, sie wollte ins Bett. Wenigstens im Schlaf hätte sie sich jetzt kurz geborgen fühlen können.

»Ich verstehe«, sagte Maria Reiche. »Es ist Ihr erster Tag in der Wüste. Nicht jeder hält das aus. Sie können sich dort hinlegen.«

Evelyn starrte auf das Pritschenbett. Das durfte doch nicht sein – ihr erster Tag in der Wüste und sie sollte schon kneifen? »Vielleicht ist das gar nicht nötig …«, sagte sie zaghaft.

»Wie Sie möchten«, gab Frau Reiche zurück und um ihre Mundwinkel vertieften sich Falten von kalter Ungeduld, »ich habe jedenfalls noch jede Menge Arbeit vor mir.« Sie legte das Fruchtmesser auf den Tisch, stand auf und ging entschlossen zu ihren hängenden Papierbögen, die sich in verschiedenen Graden der Vergilbtheit von der Wand abhoben.

»Nein, warten Sie bitte«, sagte Evelyn. »Ich würde gerne noch von den anderen Früchten probieren.« Sie musste doch ihre Chance ergreifen und jede Minute dieser ungewöhnlichen Dienstreise nutzen. »Und ich möchte gerne von Ihnen wissen, wie Sie eigentlich in Deutschland gelebt haben. Ob Sie wohl diese Bedingungen gewohnt waren …?« Evelyn versuchte, ihre Erschöpfung zu ignorieren und holte gewissenhaft Tonbandgerät, Notizblock und Stift aus dem Rucksack.

Mit einem Mal lachte Frau Reiche auf und ging wieder zurück zu ihrem Platz. »In Deutschland hatte ich das genaue Gegenteil«, sagte sie. Kopfschüttelnd sägte sie mit dem kleinen Messer die harte Schale der granadilla auf: eine orangefarbene Zwiebelform, in der sich – oh nein, nicht schon wieder! – dunkle Kerne befanden, von grauem Schleim umgeben. »Ich wuchs in lächerlich luxuriösem Überfluss auf.«

»Papa, Papa, wann gehen wir wieder Pilze sammeln?« Maria und Renate stürmten herein, als sie mitbekamen, dass der Vater nach Hause gekommen war.

»Mädchen, zuerst die Schuhe ausziehen! Es ist nass draußen und der Boden wird schmutzig.« Dr. Reiche-Große, Amtsgerichtsrat am Oberlandesgericht Dresden, zeigte streng auf die Füße der beiden.

Schnell zog Maria die Gummistiefel aus, ihre kleine Schwester tat es ihr nach. Maria verstand nicht, warum Erwachsene es so wichtig finden, dass der Boden immer blank ist.

»Aber Erde ist doch auch Boden«, antwortete sie dem Vater tapfer. »Und wieso darf es dann draußen schmutzig sein?«

»Kind, bereite deiner Mutter keinen Ärger. Wo ist denn euer Bruder?«

»Franz liegt mit hohem Fieber im Bett«, rief Mutter Elisabeth aus dem Speisesaal. »So ist es recht, Anni. Schaust du bitte nochmal nach ihm?« Elisabeth hatte sich dem Hausmädchen zugewendet, das gerade den Tisch gedeckt hatte. In der frischpolierten Silberkanne, in der sich die Bratensoße befand, erblickte Elisabeth ihr fahles Gesicht. Sie hätte sich heute lieber mit ihrer neuen Lektüre beschäftigt.

»Armer Franz«, sagte die kleine Renate nachdenklich und setzte sich auf ihren Platz.

Auf dem Tisch dampften die Kartoffeln, es duftete nach Dill und dem satten Aroma eines Schweinenackensteaks.

»Wo ist jetzt Maria hin?«, fragte die Mutter in plötzlicher Aufregung. War sie etwa schon wieder verschwunden? In letzter Zeit floh sie häufig vor dem Essen.

»Vielleicht ist sie abgehauen, weil es so viel Fleisch gibt. Maria mag doch gar kein Fleisch«, überlegte ihre Schwester.

Elisabeth ignorierte die Gedanken der Kleinen und wandte sich an ihren Mann: »Schaust du bitte mal, ob sie wieder auf deinen Bücherschrank geklettert ist?« Das letzte Mal hatte der Vater Maria erwischt, wie sie in einem seiner Bücher lesend ganz oben auf dem Bücherschrank saß. »Sie hat ja immer schon in ihrer eigenen Welt gelebt. Aber seit sie lesen kann, muss ich sie noch öfter ins Diesseits zurückholen«, sagte Elisabeth, als ob ihr Mann auf Stand gebracht werden müsste. Dabei ging es nun schon einige Jahre so, dass Maria alles an Lesbarem verschlang, was sie in die Hände bekam. »Im Grunde ist es ja gut, dass sie alles aufsaugt wie ein Schwamm«, murmelte sie in sich hinein, »sie wird sicher einmal studieren.«

»In meinem Arbeitszimmer ist sie nicht«, rief ihr Mann. »Ich sehe mal im Garten nach.«

In der hintersten Ecke hinterm Haus, in ihrer aus Ästen und Steinen selbstgebauten Höhle in den Beerensträuchern kauerte das Mädchen barfuß in der Hocke. Sie hielt ein Lineal in der Hand. Vor ihr stand ein alter Tontopf.

»Schau mal Papa«, sagte sie, als sie ihn entdeckt hatte, »da sind nur noch 8 Zentimeter Wasser. Das heißt, 4 Zentimeter sind verdunstet.« Dann nahm sie sich vom Strauch eine Himbeere und steckte sie selbstzufrieden in den Mund.

Mit dem Geschmack der Granadilla konnte Evelyn sich anfreunden. Sie musste sich zwar ein wenig überwinden, denn die ganzen Samen klebten in einem untrennbaren Brocken aus dickflüssigem Schleim aneinander. Dieser aber war frisch und süß und die Kerne darin ganz weich, so dass sie sie diesmal problemlos zerkauen konnte. Auch wenn ihr Nacken noch von den missglückten Schlafversuchen auf unbequemen Sitzen steif war und ihr Kopf pochte, konnte sie jetzt Marias Erzählstrang folgen und machte sich ihre ersten Notizen.

Wenn sie den lehmigen Weg entlanglief, den rechten Arm zur Seite ausgestreckt, um die raue Rinde der Bäume zu streifen, stellte sie sich manchmal vor, wie es wäre, nichts zu sehen. Dann kniff sie die Augen zu und horchte in die Stille hinein. Ständig sangen Vögel in den Bäumen und machten es ihr allzu leicht sich zu orientieren. Das Mädchen wünschte sich, dass es für einen Moment still würde. Angestrengt lauschte sie der Stille hinter dem Gesang. Dann blieb sie stehen. Ein Baum stand weiter weg vom Wegesrand, so dass sie nun beide Arme ausstrecken konnte in den leeren Raum. In ihrer Phantasie stand sie jetzt in einer großen Weite, ohne Häuser und Bäume, nur den festen Sandboden unter ihren Füßen. Kein Geräusch. Sie rieb sich die Augen so lange, bis bunt flackernde Lichter im Dunkeln hinter ihren geschlossenen Lidern zu sehen waren: ein lebhaftes Wabern,