9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Es sind Bilder von Glühwürmchen, Schmetterlingen, Bienen und Libellen auf einem alten, wunderschön gearbeiteten Sekretär, die Journalistin Taru und die junge Studentin Remy dazu inspirieren, ihren Traum zu verwirklichen. Da diese zarten Insekten in der heutigen Zeit bedroht sind, wollen die beiden Frauen einen Garten bauen, um all den selten gewordenen Lebewesen ein Zuhause zu geben. Auf der Insel Rügen planen sie einen magischen Ort, der seinen Zauber entfaltet und Kraft spendet. Aber wird es ihnen gelingen, andere Menschen mit ihrer Idee zu berühren? Taru und Remy müssen ihr Herz öffnen, um den Inselgarten zum Leben zu erwecken. Nach den Bestseller-Erfolgen der ›Nordsee‹- und ›Ostsee-Trilogie‹ entführt Bestseller-Autorin Patricia Koelle ihre Leserinnen nun in einen magischen Garten auf der Insel Rügen. ›Die Zeit der Glühwürmchen‹ ist der Auftakt der neuen ›Inselgärten-Reihe‹ von Patricia Koelle. Ein Roman über den Mut, auf sein Herz zu hören und seine Träume zu verwirklichen. Egal wann, egal wo. Dieses Buch ist ein in sich geschlossener Roman, den man eigenständig lesen kann.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 544
Veröffentlichungsjahr: 2020
Patricia Koelle
Ein Inselgarten-Roman
Roman
Ein Inselgarten auf Rügen: magisch und kraftvoll
Geschichten sind es, die die Frauen Taru und Remy sammeln wollen. Erinnerungen und Wünsche, die Menschen berühren und anspornen. Und so gründen die beiden unterschiedlichen Frauen gemeinsam eine Zeitschrift, die die besonderen Momente im Leben festhalten soll. Inspiriert werden sie von einem alten Möbelstück, das Remy auf einem Dachboden in Ahrenshoop entdeckt. Ein Sekretär, wunderschön gearbeitet und mit Intarsien von Insekten ausgestattet: Glühwürmchen, Schmetterlinge, Bienen und Libellen. Da sie in der heutigen Zeit bedroht sind, beschließen Taru und Remy, neben der Zeitschrift auch einen Garten zu erschaffen, um all den selten gewordenen Lebewesen ein Zuhause zu geben. Die Leser ihrer Zeitschrift sollen daran teilhaben, den Garten mit bepflanzen und ihre Geschichten einbringen. Und so entsteht ein Geschichtengarten auf Rügen. Der erste Inselgarten.
Ein Roman über den Mut, auf sein Herz zu hören und seine Träume zu verwirklichen. Egal wann, egal wo. Der Moment ist immer der richtige.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Taru
1 Taru
2 Unerwartete Farben
3 Ein Satz zu viel
4 Berthilde
5 Jara
Remy
6 Die Welle
7 Fundsache
8 Mervin
9 Noah
Taru
10 Gegen Geister
11 Am Haken
12 Was der Mond weckt
Remy
13 Spuren
14 Väter
15 Begegnung
Taru
16 Ilari
17 Abenteuer
Taru
18 Krieg und Frieden
Remy
19 Leander
Taru
20 Die Geister der Nacht
Taru
21 Gläserne Tiefe
Taru
22 Beste Freunde
23 Am Schwarzen See
Remy
24 Entdeckung
25 Die Zeitschrift
Taru
26 Wer sucht, der findet
27 Der Lieferwagen ohne Fenster
Taru
28 Umbrüche
29 Alte und neue Schätze
Remy
30 Im Druck
31 Selma
32 Auf alten Wegen
33 Am Bodden
Remy
34 Der Boden unter den Füßen
35 Überraschungen
Taru
36 »Zum Freuen«
37 Signale
Epilog
Danksagung
Leseprobe: Das Lächeln der Libellen
Juna
1 Zuflucht
2 Wilhelms Auftrag
Patricia Koelle persönlich: Über meinen neuen Roman und mein Schreiben
Groß Nemerow, Mecklenburg-Vorpommern
2014
»Frau Favonius! Würden Sie sich bitte dazu äußern? Sehen Sie sich in der Lage, dieses Thema zu übernehmen? Ich brauche eine Entscheidung!«
Taru schrak auf. Chefredakteur Klimmroths eintönige Stimme hatte sich im Hintergrund verloren, während sie auf Heikos Fuß unter dem Nebentisch gestarrt hatte. Heiko war für das Sportressort zuständig. Vielleicht konnte er darum nie stillsitzen. Er machte sich fleißig Notizen, aber unter dem Tisch fuhr er mit seinem linken Schuh unablässig auf einem Kiesel vor und zurück, der wahrscheinlich aus dem Profil seiner Sohle gefallen war. Der stetig rollende Stein machte ein Geräusch. Und dieses Geräusch war es, das Taru aus der Redaktionssitzung hinauskatapultiert und an einen Strand getragen hatte, den sie schon so lange erfolgreich aus ihren Gedanken verdrängt hatte.
Es klang nur entfernt wie die Stimme der Steine auf Rügen, die in der Brandung von Sellin rollten. Die ewig murmelnde, donnernde, geheimnisvolle Stimme ihrer Kindheit. Aber es hatte gereicht, sie aus der Fassung zu bringen.
Taru streckte hastig ihr langes Bein aus und stieß den Kiesel unter Heikos Fuß fort. Der Stein flog in die gegenüberliegende Ecke, knallte gegen die Wand und blieb hinter dem Papierkorb liegen. Heiko warf ihr einen amüsierten Blick zu und fing stattdessen an, mit seinem Bleistift zu spielen. Herbert Klimmroth schüttelte den Kopf und hob fragend die Brauen. »Nun?«
»Ja, natürlich, ich übernehme das!«, versicherte Taru.
Sie hatte keine Ahnung, worum es ging.
»Gut. Ich schicke Ihnen das Briefing.« Er drückte hörbar auf die Taste seines Laptops. »Vereinbaren Sie sobald wie möglich einen Telefontermin mit dem Herrn. Und sorgen Sie dafür, dass er Bilder in ausreichender Auflösung zur Verfügung stellt.«
Taru öffnete die Datei, die auf ihrem Bildschirm erschien. Sie stellte fest, dass es um einen Wissenschaftler in Israel ging, der Algen zu Ernährungszwecken züchtete. Ein wichtiges Thema. Und natürlich fiel es genau in ihr Ressort.
»Und Frau Favonius – bitte handhaben Sie es nicht wieder so wie bei den Pinguinen!«, warf Klimmroth noch durch den Raum. Seine spitze Bemerkung landete beinahe spürbar bei Taru, wie eine hartnäckige Mücke, die sich nicht verscheuchen ließ.
Sicher. Sie war für die wissenschaftliche Rubrik zuständig, weil sie Biologin war, und nicht, weil sie unterhaltsam schreiben konnte. Fast hätte ich es vergessen, dachte Taru grimmig.
Die Sache mit den Algen hätte sie normalerweise interessiert. Aber irgendetwas war Taru in letzter Zeit verlorengegangen. Früher hatte sie jedes Mal, wenn sie sich an einen neuen Artikel machte, ein freudiges Kribbeln durchlaufen. Eine Art unterdrückter Trommelwirbel, eine Ouvertüre, eine Vorfreude auf ein Abenteuer.
Neuerdings aber spürte sie das Abenteuer nicht mehr, nicht erst seit der hitzigen Debatte über den Pinguinartikel, die natürlich Klimmroth gewonnen hatte. Es war schließlich seine Zeitung. »Herberts Herzblatt« nannten sie hier alle hinter vorgehaltener Hand. Bestimmt wusste er das und war stolz darauf.
Und Herberts Zeitung musste natürlich sein wie Herbert. Streng und sachlich. Was ja nicht falsch war. Taru war sehr für gut recherchierten Journalismus. Nur war sie der Meinung, dass sich Sachlichkeit mit einer Freude an den Tatsachen durchaus vertrug.
»Mache ich dich nervös?«, fragte Heiko mit einem frechen Zwinkern, nachdem die Sitzung beendet war. Sein Bleistift rollte klirrend auf den Boden, als er aufsprang.
»Dein Gezappel auf jeden Fall«, erwiderte Taru belustigt. Heiko war kaum älter als ihre Tochter.
»Ich brauche Bewegung«, meinte er. »Kommst du mit, ein kleines Radrennen machen?«
»Nein. Ich muss mit dem Professor in Israel telefonieren.«
»Schade. Wir hätten es machen können wie deine Pinguine. Ich fand den Artikel übrigens klasse.«
Ich auch, dachte Taru. Aber was nützt das. Ist ja nicht meine Zeitung.
Herberts Herzblatt war kein wissenschaftliches Fachmagazin, sondern eine ganz normale regionale Zeitung. Es gab nur eben eine Wissenschaftsrubrik darin, fast so dick wie der Sportteil. Taru war sich sicher, dass die meisten der Abonnenten gerade diesen renommierten, aber staubtrockenen Teil beiseitelegten, solange Herbert es ihr nicht erlaubte, ein breiteres Publikum anzusprechen. Die begeisterten Leserzuschriften nach Tarus etwas zu heiter geratenem Artikel über den Pinguinroboter gaben ihr recht. Ein Forscherteam hatte diesen Roboter zwischen die echten Pinguine geschickt, um sie zu filmen und zu belauschen. Taru hatte auch die humorvollen Seiten dieses Versuchs geschildert und dem Roboter eine Persönlichkeit verliehen. Schließlich waren die Pinguine fähig gewesen, sich mit dem Kerlchen anzufreunden.
Herbert aber nicht. Für ihn waren die Leserbriefe nur ein Beweis dafür, dass Taru sich zu Unseriosität hatte hinreißen lassen. Er sprach eine unmissverständliche Warnung aus.
Aber er war der Chef, und er zahlte halbwegs gut. Taru zuckte unwillkürlich mit den Schultern, als sie aus dem kühlen Büro hinaus in die Sonne trat. Sie wollte sich nicht mehr ärgern. Nicht jetzt, nicht heute. Nicht in diesem Frühling, in dem sie so frei war wie noch nie in ihrem Leben. Und das Telefonat mit Israel konnte noch etwas warten.
»Tschüs, Taru! Ruf mich an, wenn du dich am Wochenende einsam fühlst!« Heiko zischte mit einem fröhlichen Winken auf seinem Rennrad an ihr vorbei.
Lächelnd fummelte Taru das Schloss aus den Speichen ihres eigenen Rades. Man konnte Heiko nicht böse sein, er war eben so. Fünfundzwanzig. Sie war nicht neidisch. Und einsam auch nicht. Ganz im Gegenteil! Sie freute sich auf ihr ruhiges Wochenende und ihr stilles Haus. Keine ewig vollen Wäschekörbe mehr, keine hochgezogenen Augenbrauen, weil das Sonntagsei nicht weich genug war, kein gezwungener Smalltalk auf einem wichtigen Empfang mit wichtigen Leuten. Kein höflicher Einwand ihres Mannes, ihr Kleid wäre nicht kurz genug, um richtig schick auszusehen. Keine Angst mehr davor, wann sie wieder in eine neue Stadt, ein anderes Land ziehen würden. Keine enttäuschten Blicke von Werner, wenn Taru dafür nicht ausreichend Begeisterung aufbringen konnte.
Sie wollte es nicht mehr.
»Was wünschst du dir eigentlich zum Fünfzigsten?«, hatte er sie kurz nach ihrem neunundvierzigsten Geburtstag gefragt. »Sollten wir den nicht ganz groß feiern? Wir könnten all unsere Kollegen einladen. Oder wir machen eine Kreuzfahrt.«
Taru hatte tief Luft geholt und gedacht: Wann, wenn nicht jetzt? »Willst du wirklich wissen, was ich mir wünsche?«
Er hatte sie verwundert und etwas traurig angesehen. »Natürlich will ich das. Ich wollte immer nur, dass es dir gutgeht.«
»Ich weiß. Ich auch. Ich will auch, dass es dir gutgeht.«
Das war ihnen ja auch prima gelungen. Seit damals, vor über einem Vierteljahrhundert, als Tarus Freundin Palina entgeistert gesagt hatte: »Werner Mensch? Du kannst nicht einen Mann namens Mensch heiraten.«
Taru hatte schallend gelacht. »Warum um Himmels willen nicht?«
»Das klingt so …« Palina suchte nach Worten. Sie stammte aus Russland. Und auch wenn ihr noch manchmal bestimmte Ausdrücke fehlten, so sagte sie doch immer sehr deutlich, was sie dachte. »Zu lustig. Nicht genug wie Mann«, befand sie.
»Ich finde, es klingt freundlich. Lieb. Warm. Zuverlässig. Und lustig ist genau richtig«, erklärte Taru. »Wir passen wunderbar zusammen.« Werner war absolut genug Mann. Einer zum Anlehnen, einer, mit dem man lachen konnte, einer, der voller Pläne war.
Sie waren beide jung gewesen, aber nicht zu jung, und sie hatten sich nicht geirrt. Sie passten gut zusammen. Es fühlte sich richtig an. Werner war Ingenieur und arbeitete im Bereich der Solartechnologie. Er hatte sich auf ökologischen Hausbau spezialisiert und bekam immer mehr Aufträge in diesem noch jungen Feld. Als Taru ihren Abschluss als Biologin gemacht hatte, half er ihr mit seinen Kontakten dabei, als freie Journalistin zu arbeiten. Schreiben konnte sie überall, und das war gut so, denn Werners Projekte führten sie nach Südafrika, nach Holland, nach Norwegen, nach Paris. Nur als die Kinder noch klein waren, blieben sie in Deutschland, aber auch dort nie lange in einer Stadt. Taru hatte manchmal das Gefühl, sie lebten nur aus Kisten. Es war schön, es war interessant, es war eine spannende Zeit voller Leben und Abenteuer. Jedoch waren es ihre eigenen, persönlichen Kisten, die nie ausgepackt wurden, weil nie jemand dazu kam.
Jedes Abenteuer kann nur ein Abenteuer sein, wenn es auch ein Ende hat. Taru fühlte sich irgendwann wie die letzte Spielfigur bei »Mensch ärgere dich nicht«, die es nach unzähligen Runden um das Spielbrett einfach nicht in den sicheren Hafen schafft, egal, wie oft gewürfelt wurde.
Nun endlich war es Zeit für einen Wurf in eine ganz andere Richtung. Sie wusste genau, was sie sich zum fünfzigsten Geburtstag wünschte.
Taru hatte nach Werners Hand gefasst. »Ich wünsche mir, dass wir nicht mehr nur von Trennung reden, immer nur beiläufig und zwischen Hauptgang und Nachtisch«, sagte sie. »Ich wünsche mir, dass wir uns scheiden lassen.«
Er zog seine Hand nicht weg, sondern hob mit der anderen sanft ihr Kinn und sah ihr forschend in die Augen. »Wirklich?«
»Ja. Wirklich. Du könntest ohne Sorgen den Auftrag in Peking annehmen. Ich möchte nicht, dass du meinetwegen hierbleibst. Wir wären beide frei.«
»Meinst du, die Kinder können damit umgehen?«
»Kinder? Sie sind aus dem Haus, Werner. Unsere Tochter hat mich schon gefragt, ob es nicht besser für uns beide wäre, wenn jeder seiner Wege geht. Seit sie in Rostock wohnt, sieht sie uns wahrscheinlich mit anderen Augen.«
Werner nahm ihre andere Hand jetzt auch. »Taru, aber nur, wenn wir es als Freunde hinbekommen! Die Trennung und das Leben danach. Und du bist dir wirklich sicher?«
»Bitte! Wir haben noch nie halbe Sachen gemacht. Richtig oder gar nicht.« Ein sauberer Schnitt war die einzige Lösung. Taru kannte Werner. Er würde nicht lange allein bleiben. Das war seine Sache nicht. Er musste ganz frei sein dürfen, für alles offen. Und sie selbst wollte auch frei sein. »Natürlich als Freunde!«, versicherte sie. »Ich will dich nicht verlieren. Du gehörst zu meinem Leben dazu.«
»Und du zu meinem. Also gut. Du sollst dein Geschenk bekommen.« Er lächelte, und jetzt konnte sie neben der Wehmut auch die Erleichterung in seinen Augen sehen, dieselbe Vorfreude, die auch sie in sich spürte. »Ich mach dir eine Schleife um die Papiere, wenn es so weit ist.«
»Du kannst doch Werner nicht wegschicken«, sagte Palina schockiert. »Werner ist so ein guter Mann.«
»Ich schicke ihn nicht weg, Palina. Ich schenke ihm seine Freiheit und er mir meine. Das ist auch eine Art von Liebesbeweis.«
Palina breitete die Arme aus. »Du wirst wissen, was gut für dich ist.«
Ja, das wusste Taru. Und zum ersten Mal seit Jahren handelte sie auch danach.
Als Erstes beschloss sie, das Haus, in dem sie bislang zur Miete gewohnt hatten, zu kaufen. Sie hatten auf dem Sprung gelebt, wie immer. Das wollte sie nie wieder. Ihr Geld reichte für eine großzügige Anzahlung aus. Die Ratenzahlung danach würde sie schon schaffen.
Wenn sie ab jetzt von der Arbeit kam wie heute, konnte sie nach Hause fahren. Nach Hause! Ein wirkliches Zuhause hatte sie so lange nicht gehabt.
Sie hätte es sowieso niemals fertiggebracht, diesen See zu verlassen, dachte Taru jetzt.
Heiko war mit seinem Fahrrad schon lange verschwunden. Sie dagegen fuhr langsam durch den Wald, ließ Neubrandenburg hinter sich, genoss die würzige Luft, die hohen Bäume, den federnden Boden unter ihrem Rad. Es wartete ja niemand mehr auf sie. Es war jetzt ihre eigene Zeit, die sie verwenden konnte, wie sie wollte. Das konnte sie manchmal noch immer nicht fassen.
Der gesamte Weg führte am See entlang. Auf halber Strecke stellte sie das Rad ab, kletterte das Steilufer ein Stück hinunter und setzte sich auf den Stumpf einer uralten Eiche. Er war so dick, dass Taru sich darauf sogar auf den Rücken legen konnte. Das Holz war sonnenwarm unter ihr, und in den Wipfeln hing das Maigrün dicht und hell wie ein stummer Jubel. Unten hörte sie den See am Ufer. Kleine Wellen flüsterten zwischen den Steinen. Wenn sie die Augen schloss, bildete sie sich manchmal ein, sie könne hören, wie das Eis hier noch ächzte wie vor sechzehntausend Jahren, als das Schmelzwasser eines Gletschers die tiefe Rinne geformt hatte, in der heute der See lag. Über hundert Meter dick war das Eis damals gewesen, wo jetzt Neubrandenburg lag. Taru konnte sich vorstellen, was für Gewalten hier am Werk gewesen sein mussten. Wenn sie die glattgeschliffenen Findlinge am Ufer und im Wald betrachtete, wurden die Kräfte fast greifbar, die diese Steine einst bewegt und gestaltet hatten.
Heutzutage befand sich in diesem Tal der Tollensesee. Über zehn Kilometer lang, an der tiefsten Stelle über dreißig Meter tief. Und der Mittelpunkt von Tarus Welt. Wenn sie aufwachte, galt ihm ihr erster Blick aus dem Fenster. Wenn sie nachdenken wollte, lief sie an ihm entlang, und wenn sie traurig war, entdeckte sie selbst bei Regen Licht auf seiner Oberfläche.
Als sie das erste Mal auf der Suche nach einer Wohnung diese Gegend erkundet hatte, damals noch im Auftrag von Werner, der ein Projekt in der Nähe annehmen wollte, war es der See gewesen, in den sie sich verliebt hatte. Noch ehe sie das Haus fand.
Taru rutschte vom Baumstamm und kletterte bis ganz nach unten, zog die Schuhe aus und setzte sich auf einen der Findlinge am Ufer. Das Wasser war noch eiskalt. Herrlich! Ein Boot fuhr vorbei. Die Wellen wurden höher, flüsterten lauter zwischen den Kieseln und ließen das Schilf rauschen. Aber sie hatten kaum die Kraft, die Steine zu rollen. Die Steine vom Tollensesee hatten keine Stimme, nicht seit der Gletscher fort war.
Die Gletscher von damals hatten noch einen anderen See geformt, einen kleineren, eine Laune der Natur, weit fort. Auch jener See war vor langer Zeit einmal ein Mittelpunkt von Tarus Leben gewesen. Doch das war ein anderes Leben, und es ärgerte sie, dass ihre Gedanken heute zum ersten Mal seit langem diesen Weg genommen hatten. War es nur wegen Heikos Zappelei gewesen, oder machte sie der Frühling so unruhig?
Sprich nie mehr davon, es könnte uns in Gefahr bringen.
Sie hörte die Worte ihres Vaters immer noch so deutlich, als hätte er sie erst gestern voll unterdrückter Schärfe in ihr Ohr geflüstert, sah den angstvollen Blick ihrer Mutter hinter seiner Schulter.
Diese Warnung hatte längst keine Gültigkeit mehr, aber sie hatte sich so tief in Tarus Gedächtnis gegraben wie die Gletscherrinne in die steinerne Haut der Erde. Und mit ihr die Angst, die sie trotzdem noch immer in ihr weckte. Wenn Taru nicht aufpasste, so wie gerade eben, stieg diese Angst aus dem gnädigen Dunkel der Vergangenheit auf. Genau wie die Blasen aus dem Uferschlamm, dort wo gerade der Schwan herumstocherte. Silberne, runde Blasen, die mit einem leisen Plopp an der Oberfläche platzten, sobald sie das Licht erreichten. Um sie herum breitete sich ein Muster aus, das die Strömung veränderte.
»Ich mag es auch am liebsten, wenn die Seiten leer sind«, sagte eine Stimme. Sie schien geradewegs aus dem Maihimmel zu kommen, zusammen mit dem Lied einer Feldlerche.
Hier gibt es wenigstens noch Lerchen, hatte Taru gerade gedacht. Ein Grund mehr, warum dies hier mein Ort ist.
Sie hatte erst kürzlich einen Artikel darüber schreiben müssen, dass der Bestand an Feldvögeln wie der Lerche in Deutschland um mehr als die Hälfte zurückgegangen war und dass man sich in bestimmten landwirtschaftlichen Gegenden auf ein stummes Frühjahr gefasst machen müsse. Taru hatte daraufhin ein ebenso stummes Entsetzen gespürt. Unvorstellbar!
Hauptsächlich lag es daran, dass die Insekten vernichtet wurden, von denen sich die Vögel ernährten, und die Bodenstrukturen, die sie benötigten. Das konnte doch nicht so weitergehen! Mehr denn je war sich Taru sicher, dass man dieses Thema anders ansprechen musste. Nicht allein mit trockenen Fakten, wie Herbert, obwohl diese schockierend genug waren. Man musste die Menschen bei der Hand nehmen, wenigstens mit Worten, und ihnen zeigen, wie es war, wenn im Frühling der Himmel schwieg.
Aber jetzt gerade schwieg er nicht. »Lass die Seite doch einfach so, dann musst du nicht so angestrengt gucken«, sagte die Kinderstimme von oben.
Zwar schrieb Taru ihre Artikel direkt in den Laptop, aber ihre ersten Notizen trug sie immer auf Papier zusammen. Das erleichterte ihr den Anfang, ermöglichte ihr einen persönlicheren Zugang. Heute hatte sie ihr Notizbuch zum ersten Mal mit hinausgenommen, in die Sonne auf den Rasen, der endlich trocken und warm genug war, um sich auf einer Decke niederzulassen.
Jetzt legte sie das Buch beiseite, lehnte sich auf ihren Ellenbogen zurück, blinzelte gegen die Sonne und versuchte, über sich etwas zu erkennen.
»Hier bin ich!«
Jetzt sah sie ein Winken aus dem alten Birnbaum, der nahe am Zaun auf dem Nachbargrundstück stand und seine Äste weit zu Taru hinüberreckte. Im Herbst hatte sie die Birnen gegessen, an die sie herankam. Das Nachbargrundstück schien ihr bisher verwaist zu sein, der Rasen stand braun und kniehoch, und die Fensterläden in der Ferne blieben stets halb geschlossen.
Nun saß ein Mädchen auf einem der Äste, mit einem aufgelösten blonden Pferdeschwanz und einer Zahnlücke in ihrem Lächeln.
»Hallo, wer bist du denn?«, fragte Taru.
Das Mädchen begann, eine Strickleiter hochzuziehen, die vom Baum herunterhing. Dann warf sie diese von dem Ast herunter, der über den Zaun reichte, und kletterte wieselflink daran herab. Schon stand sie vor Taru, barfuß, das eine Bein ihrer Shorts zerrissen und ihre dünnen Arme jetzt schon sonnenbraun. Sie hielt sich wohl viel draußen auf. Anders als man es den Kindern von heute nachsagte. »Weißt du, warum die leeren Seiten die besten sind?«, fragte die Kleine und sah Taru aus graugrünen Augen auffordernd an, als wäre diese Frage die wichtigste der Welt.
»Für mich bedeuten leere Seiten eher Ärger«, sagte Taru. »Wohnst du jetzt da drüben?«
Das Mädchen kniete sich zu ihr auf die Decke. »Wir sind vor zwei Wochen eingezogen. Meine Eltern arbeiten in Neubrandenburg. Sie sind Ärzte. Sie haben nicht so viel Zeit, weißt du. Die kommen immer erst spät nach Hause. Aber ich kriege in der Schule was zu essen. Ich heiße Philea. Philea Müller.«
Das passte. Philea sah aus wie eine Zeichnung aus Bullerbü, aber ihre Gedanken schienen auf ungewöhnlicheren Wegen zu wandeln. Sie beugte sich vor und tippte mit einem schmutzigen Finger auf Tarus Notizbuch. »Leere Seiten sind die besten, weil man alles draufschreiben kann, was man will.«
»Das solltest du mal meinem Chef erzählen. Der sieht das anders. Ich heiße Taru.«
»Dann hat dein Chef das nicht verstanden. Das ist manchmal so bei Chefs. Meine Mama sagt das auch immer. Aber du kannst es ihm doch erklären.«
»Wie würdest du es ihm denn erklären?«, fragte Taru.
Philea kroch zu Taru hinüber, legte sich neben sie auf den Rücken und zeigte auf die Wolken. »Da ist ein Delphin.«
Taru ließ sich auch wieder hintenüberfallen. An Arbeit war wohl gerade nicht zu denken. »Und daneben eine Schildkröte. Nein, jetzt wird ein Fisch daraus.«
»Und da hinten kommt ein Elefant.«
Sie spielten das alte Spiel eine Weile, und dann kamen keine Wolken mehr.
»Siehst du, und das ist das Beste.« Philea wies mit beiden Zeigefingern triumphierend auf den knallblauen, leergefegten Himmel.
»Was?« Taru begriff nicht, worauf Philea hinauswollte.
»Na, leer! Man weiß nicht, was als Nächstes kommt. Darum kann man sich selbst was ausdenken. Vielleicht ein Schiff. Oder einen Säbelzahntiger. Einfach, was man möchte.«
Taru musste lachen. »Ich weiß nicht, ob ein Säbelzahntiger meinen Chef überzeugt. Aber ich verstehe jetzt, was du meinst.«
Sie setzte sich auf und begann, in den Bildern zu blättern, die sie sich vorhin ausgedruckt hatte. Nachdem sie sich aufgerafft hatte, dem israelischen Wissenschaftler zu schreiben, hatte er ihr diese sofort geschickt. Über die Qualität hätte sich Klimmroth keine Gedanken machen brauchen. Mit Hilfe eines Elektronenmikroskops eingefangen, sahen die einzelligen Algen aus wie Juwelen, rund, grünleuchtend, mit goldgelben Fettpünktchen darin und manchmal zarten Fransen an den Rändern. Dazwischen schwammen Kieselalgen wie Kunstwerke, symmetrische Formen, ähnlich feinem Porzellan.
Philea machte keine Anstalten zu gehen, sondern lehnte sich neugierig darüber. »Was ist das?«
Bevor Taru zu einer Antwort ansetzen konnte, raschelte es über ihnen im Birnbaum. Ein Stückchen Rinde fiel auf das Notizbuch, und dann kletterte jemand die Leiter herunter und landete mit einem Sprung federleicht neben ihnen. Ein Junge, noch kleiner und dünner als Philea, mit einem schwarzen Haarschopf und ebensolchen Augen, die zu groß für sein Gesicht schienen. Schweigend sah er Taru an.
»Hallo«, sagte sie vorsichtig und fragte sich, was der Birnbaum noch für Überraschungen bereithielt.
»Das ist Rahim, aber alle nennen ihn Memo«, erklärte Philea. »Er wohnt in unserem Haus, im Sou… Souterrain. Mit seinem Papa. Er ist erst acht. Ich bin ja schon zehn. Memo kommt aus Syrien, aber sie sind schon ein paar Jahre hier. Seine Mama und seine Brüder sind im Krieg gestorben. Sein Vater arbeitet in der Apotheke. Das ist der beste Freund von meinem Papa, weißt du?«
Nun, jetzt wusste sie es. Taru bemühte sich, Phileas Strom von Informationen zu folgen. Erst hatte sie gar keine Nachbarn gehabt, und nun das.
Memo kniete sich neben Philea und betrachtete die Algenbilder.
»Sind das die Rädchen aus dem Uhrwerk?«, wollte er wissen und sah Taru aus diesen unglaublich großen, unergründlichen Augen an, als besäße sie die Antworten auf alle Fragen dieser Welt.
»Was für ein Uhrwerk meinst du?«
»Das, was macht, dass die Erde sich dreht.«
Taru schluckte und beschloss, Physik und Astronomie auszulassen und sich auf das zu beschränken, was sie konnte. Biologie. »Das sind ganz kleine Pflanzen, die nur aus einer Zelle bestehen. Da gibt es gerade Menschen, die sie züchten, weil man damit zum Beispiel Kinder gesund machen kann, die sonst verhungern würden.«
»Das ist gut«, sagte Philea. »Sollst du dadrüber schreiben? Dann gefällt dir das hier sicher auch.« Sie kramte in ihrer Hosentasche und förderte etwas sehr Buntes zutage, das sie Taru auf der Handfläche hinhielt. »Das ist ein Meeresschmetterling. Hab ich selbst gemacht! Aus Fimo. Es ist ein Modell, so wie im Museum. Die gibt es genauso in echt. Meeresschmetterlinge sind meine Lieblingstiere.«
Das sah diesem Kind ähnlich. Keine Pferde. Keine Katzen. Nicht mal Einhörner. Stattdessen eine Form von Schnecken, die man zu Recht Schmetterlinge des Meeres nannte, so farbig und vielfältig waren sie. Einige flogen sogar mit ähnlichen Bewegungen durch das Wasser wie ein Schmetterling.
Das bunte Wesen war fein gearbeitet. Nicht nur die Größe, auch alle Details stimmten, soweit sich Taru an die Bilder aus einem alten Lehrbuch erinnern konnte. Es wirkte wie einem Fieberwahn entsprungen, und doch gab es diese Laune der Natur tatsächlich. Das Geschöpf trug vorn zwei knallorangene Hörner, scheinbar ebensolche Lippen und am Schwanzende Kleckse derselben unwahrscheinlichen Farbe. Der langgestreckte Körper dazwischen zeigte auf einem samtschwarzen Untergrund wilde neongrüne Streifen und Punkte. Zu allem Überfluss trug es etwa in Höhe des Hinterteils zwei orangegrüne Puschel wie ein Cheerleader.
Für Taru waren diese Geschöpfe und seine Verwandten während ihres Studiums ein Beweis dafür gewesen, dass die Evolution Humor besaß, oder sich zumindest nicht allein mit praktischer Durchsetzungsfähigkeit begnügte. Mit diesem Gedanken durfte sie Klimmroth aber nicht kommen. »Das ist eine Neonsternschnecke«, sagte sie. »Woher kennst du die?«
»Nembrotha kubaryana«, erklärte Philea fachmännisch. »Man muss sich die lateinischen Namen merken, weil es ganz viele Sorten gibt, und die meisten haben gar keinen deutschen Namen. Ich kenne sie aus Filmen, und ich habe ein Buch. Ich war auch mit Mama im Aquarium, aber da gibt es gar keine. Deshalb mache ich mir die selbst.«
»Das ist dir gut gelungen.«
»Wenn man sie halten könnte, würde ich ein Aquarium wollen«, sagte Philea. »Aber Papa hat gesagt, die Meeresschmetterlinge sind wie Glück. Das kann man auch nicht festhalten, und man weiß nicht, wovon es sich ernähren muss, damit es leben kann.«
Über diesen Satz würde Taru noch nachdenken müssen. »Dein Papa ist ein schlauer Papa«, sagte sie.
»Morgen zeige ich dir eine andere Sorte«, sagte Philea. »Ich hab viele. Aber jetzt muss ich noch Hausaufgaben machen.«
»Ich helf dir«, sagte Memo, sprang auf und begann, die Leiter wieder hochzuklettern. Er kam nur eine Sprosse weit. Oben im Baum löste sich etwas. Memo landete auf dem Hosenboden und die Leiter in einem Haufen daneben.
Taru eilte erschrocken zu ihm. »Hast du dir weh getan?«
»Nein. Aber die Leiter ist kaputt!« Er klang weinerlich.
Taru half ihm aufzustehen und klopfte seine Hose ab. »Wirklich alles gut?«
Er nickte. Philea untersuchte die Enden der Seile. »Gerissen«, sagte sie.
Taru prüfte die Seile. Ein Wunder, dass die überhaupt noch gehalten hatten. Sie waren fast verrottet. »Wer hat denn diese Leiter aufgehängt?«, fragte sie.
»Die war da schon. Die hab ich gestern erst entdeckt«, sagte Philea. »Ich hab es noch gar keinem erzählt.«
»Aha. Ich lasse euch zum Tor raus. Dann werfen wir die gleich in den Müll«, entschied Taru.
»Aber das Tor ist langweilig.« Memo rührte sich nicht. Seine Lippen zitterten, und eine Träne rollte an seiner Nase entlang. Taru musste an ihre eigenen Kinder denken. Es war so lange her, aber sie wusste noch genau, wie tief eine solche Enttäuschung sitzen konnte. Und der kleine Memo hatte etwas Freude dringend nötig nach dem, was Philea angedeutet hatte.
Resigniert sammelte sie ihre Papiere ein. »Also gut. Mein Mann hatte panische Angst vor einem Brand im Haus, deswegen habe ich oben im Flur noch eine Strickleiter. Die ist nagelneu. Ihr könnt sie haben.«
»Hat dein Mann jetzt keine Angst mehr?«, wollte Philea wissen.
»Er wohnt jetzt in China.«
»Ach so. Wie bei Anja. Da sind die Eltern auch geschieden.«
Philea nahm Tarus Hand, während sie zusammen die Treppe hinaufstiegen. Oben zogen sie die Leiter aus der Truhe am Fenster. Darin war jetzt endlich Platz für etwas anderes, dachte Taru.
Memo sauste in das gegenüberliegende Büro. Er riss einen Klebezettel von Tarus Notizblock ab, schnappte sich einen Stift, malte etwas darauf und pappte den Zettel triumphierend an die Truhe.
»Spielhaus«, stand da in schiefen Buchstaben.
»Deswegen nennen ihn alle Memo«, erklärte Philea. »Weil er immer diese gelben Memos an Sachen klebt und draufschreibt, wozu man sie verwenden könnte.«
»Aha.«
»Und was machst du, wenn es doch mal brennt und du keine Leiter mehr hast?«, fragte Philea.
»Ich habe inzwischen Rauchmelder. Außerdem kann ich immer noch an der Regenrinne herunterklettern.« Zu spät fiel Taru ein, dass es wahrscheinlich unklug gewesen war, dem Mädchen diese Idee in den Kopf zu setzen.
Von einer Standleiter aus befestigte sie die Stricke sicher am Baum. Dabei kamen ihr Zweifel. Was tat sie hier eigentlich?
Immerhin, die Äste waren stabil, der Baum nicht allzu hoch. Als Taru wieder herunterstieg, hockte sie sich vor Philea hin und sah ihr ernst in die Augen. »Du versprichst mir jetzt was! Ich bringe euch zum Tor. Die Leiter benutzt ihr erst, wenn du sie deinen Eltern gezeigt und sie gefragt hast, ob das in Ordnung ist.«
Philea dachte einen Augenblick nach, dann nickte sie. »Versprochen. Darf ich dann morgen wiederkommen?«
»Ja, aber nur, wenn du deine Eltern bittest, mir kurz Bescheid zu geben, ob ihnen das recht ist.«
»Mach ich. Komm, Memo!«
Doch Philea kehrte noch mal um und drückte Taru ihren Meeresschmetterling in die Hand. »Für dich.«
»Aber dann fehlt er doch in deiner Sammlung.«
»Ich kann einen neuen machen.«
Taru entlockte ihrer knurrigen Maschine einen Kaffee und setzte sich an den Schreibtisch, um die Konzentration wiederzufinden. Die israelische Forschung verdiente es. Die Algen waren unglaublich nahrhaft. Sie halfen nicht nur mangelernährten Kindern. Die wichtigen Fettsäuren, die man verschiedenen Lebensmitteln zusetzte, konnten nun daraus gewonnen werden statt aus Fischabfällen. Wichtig war, dass man die Algen in geschlossenen Bioreaktoren züchtete, damit sie keine Umweltgifte speichern konnten …
Taru schrieb, setzte wieder ab. Phileas ungewöhnliches Geschenk machte sie unruhig. Was war das nur? Erst Heiko mit seinem rollenden Stein, jetzt dieses Nachbarsmädchen mit ihrer Meeresschnecke. Ausgerechnet! Hatten sie sich alle verschworen, Tarus ungeliebte Erinnerungen zu wecken? Entschlossen stand sie auf und sperrte das knallbunte Ding in einen Schrank, wo sie es nicht mehr sah.
Nur nützte das nichts. Die wilden Farben und die heiteren Puscheln, die ganze Lebensfreude des seltsamen Wesens verharrten nachdrücklich vor ihrem inneren Auge.
Auf einmal kam sie sich selbst furchtbar langweilig vor.
Wahrscheinlich hatte ihre Unzufriedenheit gar nichts mit der Vergangenheit zu tun.
Vielleicht war es einfach zu still im Haus gewesen. Die unbekümmerte Lebendigkeit der Kinder hatte ihr gutgetan. Philea gab ihren Träumen eine handfeste Gestalt aus Fimo, machte sie sichtbar und fühlbar, so real, wie es ihr möglich war. Und sie selbst?
Taru hatte einen Neuanfang gewollt. Sie hatte sich nach etwas gesehnt, das so bunt und verrückt war wie Philea Müllers Lieblingstier.
Aber im Grunde hatte sich nichts geändert, seit Werner ausgezogen war. Nichts. Sie hatte nichts geändert.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Der neue Tag war nur ein Versprechen, das in der ersten ahnbaren Helligkeit lag. Taru lehnte sich im Nachthemd aus dem Fenster und atmete tief ein und aus. In der Nacht hatte es geregnet. Nun duftete es nach altem Wald und jungem Grün, nach feuchter Erde und den Stiefmütterchen unten im Beet. Hinter den Pferdeweiden und den Bäumen am Ufer lag im Tal der See unter einer weichen Nebelschicht, die im ersten Licht ganz langsam heller wurde. Wie ein geheimnisvoller Segen trieb der Wasserdampf über die Oberfläche, löste sich kaum merklich auf, während Seevögel zu rufen begannen.
Werner war ein Getriebener, immer von der Angst beseelt, an einem anderen Ort etwas zu versäumen. Nun war Taru jeden Morgen unendlich froh darüber, dass sie ihm nicht mehr folgen musste, dass sie aus dem Fenster blicken und dasselbe wie am Vortag sehen durfte. Dass sie endlich Wurzeln schlagen konnte wie die alten Eichen am Ufer, von welchen einige seit fünfhundert Jahren dort standen.
Taru dachte an die alten Slawen, die hier einst ihren Göttern gehuldigt hatten. Ganz in der Nähe lag angeblich deren Heiligtum Rethra, das man jedoch nie gefunden hatte. Nur eine doppelgesichtige Holzfigur, die darauf hinwies, hatte man ausgegraben.
So viele Stimmen, die hier über die Jahrhunderte durch die Landschaft gehallt waren! Rufe von Boot zu Boot, von Hof zu Hof, die Schreie kämpfender Soldaten, die Verhandlungen der Bauern und Händler. Der See, über dessen Oberfläche alles lauter klang und wo Geräusche meilenweit zu hören waren, hatte alles miterlebt. Und jetzt galt eine neue Zeit, eine andere. Sie selbst hätte nun die Gelegenheit, ihre eigene Stimme über das Wasser zu schicken und ein Teil der Geschichte zu werden, doch ihr fiel nichts ein, was sie rufen wollte. Stattdessen wieherte unten auf der Nachbarweide ein Pferd. Taru war froh über den neuen Tag und dass sie ihn leben durfte. Dass ihre Zeit jetzt war.
Sie schloss das Fenster und zog sich an. Klimmroth zuliebe wählte sie eine seriöse Bluse mit Blazer. Vielleicht verlieh das ihrem Artikel den nötigen Ernst, den er sich wünschte.
Taru wollte gerade auf ihr Rad steigen, als jemand nach ihr rief. »Frau Favonius? Sind Sie das? Kann ich Sie kurz sprechen?« Die Frau war klein, rundlich und atemlos und lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, ich bin in Eile. Müller! Ihre neue Nachbarin.« Ihr Händedruck war überraschend kräftig.
»Guten Morgen. Ich muss mich entschuldigen«, sagte Taru. »Ich hätte Philea die Strickleiter nicht geben sollen, ohne Sie zu fragen. Es war eine spontane Eingebung.«
»Oh, das ist in Ordnung. Mein Mann hat das geprüft. Vielen Dank dafür! Sie haben den Kindern eine große Freude gemacht. Wir haben nicht so viel Zeit, wie wir gerne hätten, wissen Sie. Ich hoffe, Philea raubt ihnen nicht die Ihre, aber es wäre natürlich schön, wenn sie nebenan eine Ansprechpartnerin hätte.«
»Für mich ist das kein Problem, ich wollte nur sichergehen, dass es Ihnen recht ist.«
»Sehr recht sogar. Ich danke Ihnen. Gute Artikel übrigens, die Sie da schreiben. Ich lese die Zeitung regelmäßig. Ich muss mich ja wenigstens auf diese Weise über mein neues Umfeld informieren, da ich für soziale Aktivitäten momentan keine Zeit habe. Jetzt muss ich aber los!« Frau Müller entschwand in einer Wolke Parfüm und stieg in ihren Mercedes.
»Morgen, Taru! Na? Heute nach Feierabend das Radrennen? Wer zuerst am Freibadcafé ist?«, begrüßte Heiko sie, der gerade pfeifend in die Redaktion spazierte, als sie am Fahrradständer ankam.
»Du gibst wohl nie auf? Wer weiß. Aber ohne schwimmen!«
»Ich sagte: Café. Zum Schwimmen ist mir das auch zu kalt.«
Taru verbrachte den Vormittag damit, ihren Artikel zu überarbeiten, ein paar Quellen zu ergänzen, Heikos Beitrag gegenzulesen und hereinkommende Pressemeldungen zu durchforsten. Dann schickte sie ihr Werk an Klimmroth. Sie hatte sich große Mühe gegeben, den Artikel sachlich zu halten. Von ihrer Freude am Thema war dabei einiges verlorengegangen, aber aktuell und interessant blieb es trotzdem, fand sie.
Nach der Mittagspause war ihr Meeting.
Taru blickte auf ihre Notizen. Sie hatte Vorschläge für die nächsten Artikel. Es gab so viele spannende Meldungen. Da war die Sache mit der Weltraummission Rosetta, die zum allerersten Mal eine Sonde auf einem Kometen landen lassen wollte. Das musste man sich mal vorstellen …
»Frau Favonius! Das ist nicht Ihr Ernst, oder?« Klimmroths Ton war schneidend. Taru bemerkte erst jetzt, wie eng ihr Blazer unter den Armen saß. Was war denn nun wieder los? Sie war sich keiner Schuld bewusst.
»Ich dachte schon, Sie hätten mich verstanden«, sagte Klimmroth kühl. »Und nun dies! Das Schlusswort! Unsere Auflage sinkt. Uns gehen Leser verloren. Und Sie leisten sich zum wiederholten Male so etwas!«
Ach so. Das Schlusswort. Sogar das war ihm zu viel? Memos Frage, ob es sich bei den runden Algen um die Räder handelte, die die Erde drehten, hatte Taru nicht losgelassen. Sie fand das Gleichnis zu schön, um es nicht zu verwenden. Es passte so gut dazu, dass die Algen eines Tages einen großen Teil dazu beitragen konnten, weltweit das Ernährungsproblem zu lösen. »Ein Kind fragte mich, ob …«, hatte sie zitiert und dabei vergessen, dass Klimmroth allergisch auf alles reagierte, das auch nur im Entferntesten an Kinder erinnerte. Sogar die Erwähnung eines Wortes wie »Hustenbonbon« war für ihn nicht tragbar. »Pastillen heißt das«, hatte er Heiko angewiesen, der von der Betreuung im örtlichen Jugendclub berichtet hatte.
»Dann streichen wir den letzten Absatz eben«, sagte Taru müde.
»Das ist das mindeste. Ich bestehe darauf. Und Sie …« Klimmroth wandte sich Heiko zu.
Taru dachte an Philea und das Leuchten in ihren Augen, als sie von den Meeresschmetterlingen erzählte. An das wache Interesse in Memos Blick, als er wegen der Räder gefragt hatte. Ihr wurde klar, was sie mehr und mehr an ihrer Arbeit hier störte. Klimmroth vergaß in seiner Kindlichkeitsphobie etwas Entscheidendes. Er dachte nicht daran, dass jeder Ingenieur, der Raketen konstruierte, einmal ein Junge gewesen war, der sich von Science-Fiction-Romanen hatte inspirieren lassen und Flugkörper aus Papprollen und Schießbaumwolle baute. Dass in jeder Tiefseeforscherin ein Mädchen steckte, das voller Neugier und kindlicher Freude in Fluttümpeln geplanscht und die Unterseiten von Krebsen betrachtet hatte. Dass es im Grunde noch immer die kindliche Begeisterung und Neugier waren, die diese seriösen, akribischen Wissenschaftler antrieb und dazu brachte, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, bis ihre Versuchsreihe stimmte.
Klimmroth verstand nicht, dass es ohne kindliche Begeisterung, wie gereift sie auch sein mochte, keine Leidenschaft gab. Und schon gar nicht verstand er, dass genau diese Neugier und spielerische Freude es waren, die man im Leser ansprechen musste, weil auch der auf der Suche nach einem Abenteuer war. Jedenfalls wenn man wie Klimmroth auf mehr zielte als nur auf ein kleines Fachpublikum.
Während Klimmroth jetzt über den scheinbar ungerührten Heiko herzog, erwärmte sich Taru für ihr Thema. Darüber würde sie gern einmal schreiben! Warum wohl warfen Erwachsene stundenlang Bälle für ihre Hunde? Warum veranstalteten sie Karnevalsfeiern und verkleideten sich? Warum liebten sie es, sich mit einem Buch auf dem Sofa in imaginären Welten zu verlieren? Warum gingen sie tanzen oder Tretboot fahren, lümmelten in Whirlpools, kauften Ausmalbücher oder belegten Zeichenkurse? Weil kindliche Freude das war, was die Menschen antrieb. Was die ernsthafte Arbeit erst ermöglichte und den Mut schuf, Tag für Tag aufzustehen. Weil vielleicht genau das die Räder waren, die die Welt drehten.
Draußen war die Sonne weitergewandert. Ein Lichtfinger bewegte sich zusammen mit hellgrünen Reflexen aus dem Birkenlaub vor dem Fenster langsam über den grauen Bürotisch, der sich zwischen den Journalisten und Klimmroth dehnte. Und für einen Augenblick sah Taru dort die Neonsternschnecke kriechen. Neongrün und knallorange, grandios und absurd, eine Gestalt gewordene Feier des Lebens und seiner Möglichkeiten.
Schade, dass Klimmroth sie nicht auch sehen konnte.
Taru schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Das trockene, entschiedene Quietschen des Stuhls auf dem Linoleum war befreiend. »Herr Klimmroth, ich möchte unsere Zusammenarbeit beenden.«
Selbst Heiko hörte auf, mit dem Bleistift zu spielen, als sich eine verblüffte Stille ausbreitete.
»Du bist noch hier?«, fragte Heiko erstaunt, als er später aus der Tür trat und Taru entdeckte, die auf einem Baumstamm neben dem Fahrradständer saß und in ihr Notizbuch schrieb.
»Ich hatte dir doch ein Rennen versprochen.«
»Okay. Dann los. Aber nach dieser Bombe, die du da eben losgelassen hast, zahlst du den Eisbecher!«
Normalerweise hätte sie gegen ihn nie eine Chance gehabt. Aber Taru trat in die Pedale, um Klimmroth und das kühle Büro für immer hinter sich zu lassen. Ein frischer Rückenwind blies, und sie flog nur so dahin. Ärger und Anspannung verwandelten sich in ungebremste Euphorie und ein zunehmendes Gefühl grenzenloser Freiheit, das die zweifelnde Stimme der Vernunft, die in ihr aufbegehren wollte, für den Moment gnadenlos überrollte. Völlig außer Atem und mit zitternden Knien erreichte sie das Café eine Radlänge vor Heiko.
»Das ist unfair! Endorphine sind auch Doping«, erklärte er, lächelte aber dabei.
Sie entschieden sich für Eiskaffee. Es war gerade warm genug dafür. »Mutig von dir, die Kündigung«, sagte Heiko schließlich und leckte genießerisch die Sahne vom Löffel. »Ich werde dich vermissen. Aber ich verstehe es. Wenn ich irgendwann auch mal den Mut aufbringe, mache ich es dir nach. Bin gespannt, wer sich jetzt um deine Rubrik kümmert. Es war unüberlegt von Klimmroth, dass er dein Angebot einer Übergangsfrist nicht angenommen hat.«
»Ich denke, ich habe seine Nerven mehr strapaziert, als mir bewusst war«, sagte Taru nachdenklich.
»Und was wirst du jetzt tun?« Heiko lehnte sich behaglich zurück und sah über den See hinaus. In das kalte Wasser wagte sich noch längst niemand, aber die ersten Sonnenanbeter lagen auf Handtüchern im Sand, und zwei Figuren in Neoprenanzügen trugen Surfboards ins Wasser.
»Keine Ahnung. Darüber denke ich erst ab morgen nach. Auf jeden Fall so schreiben, wie ich es für richtig halte.«
»Dieser neue Trend des Stehpaddelns verblüfft mich. Ich würde es niemals schaffen, die Balance zu halten. Du?« Heiko zeigte auf die beiden, die nun scheinbar mühelos aufrecht auf ihren kippeligen Brettern standen und auf den weiten See hinauspaddelten. Dort waren sie bald nur noch Silhouetten, wie gewichtslose Scherenschnitte vor einem Meer aus funkelndem Licht.
»Ich erst recht nicht. Aber ich wünschte, ich käme so leicht über die Steine hinweg, die ich mir gerade in den Weg gelegt habe.« Vielleicht kam der flaue Magen nur vom Eiskaffee. Eher aber lag es an der aufkommenden Frage, wie sie in Zukunft ihre Rechnungen bezahlen sollte. Sie besaß Rücklagen, aber wie lange würden die reichen?
Sie musste sich schnellstens etwas einfallen lassen.
Abends wanderte Taru durch den Garten. Sie ging gern am Ende des Tages noch mal um das Grundstück. Von den Kindern hatte sie heute nichts gesehen. Sie mussten aber im Garten gewesen sein, denn an dem Holztisch auf der Terrasse fand Taru einen gelben Klebezettel vor.
»Floß« entzifferte sie.
Jetzt war sie auf der anderen Seite angekommen. Das kleine Haus jenseits des Zaunes sah bewohnt aus, doch Taru hatte dort noch nie jemanden gesehen.
Heute Abend gab es keinen Nebel. Hell funkelten die Sterne über dem See. Am anderen Ufer gingen einzelne Lichter in den Fenstern an. Eine Nachtigall flötete im Flieder. Es klang noch ein wenig ungeübt, rau vom Winter. Taru blieb unter dem Busch stehen und genoss den Duft. Frühling. Aufbruch. Hoffnung.
Eigentlich.
Aber was hatte sie nur angestellt? Sie wollte ihr Zuhause nicht gleich wieder verlieren. Die Arbeit für Klimmroth hatte ihr nicht gutgetan, ja. Aber hätte sie nicht erst mal andere Lösungen finden können, bevor sie alles hinwarf?
Wenn Memo einen Zettel an ihr Leben kleben würde, was mochte wohl darauf stehen?
»Ich bin so dumm«, sagte sie laut zu der Nachtigall.
»Gibt es dafür Beweise?«, fragte eine Stimme von der anderen Seite des Zaunes.
Taru fuhr zusammen. Für einen Augenblick herrschte Schweigen, dann musste sie lachen.
»Entschuldigen Sie! Ich wollte Sie nicht erschrecken.« Jemand knipste eine Taschenlampe an und hielt sie so, dass sie Taru nicht blendete, man aber etwas erkennen konnte. Taru sah eine Frau etwa auf ihrer Augenhöhe und mit einem freundlichen, etwas melancholischen Lächeln. »Aber mit solchen Behauptungen sollte man vorsichtig sein, sonst fängt man an, sie zu glauben.« Die Frau zwängte sich zwischen zwei Sträuchern einen Schritt näher an den Zaun heran. »Wir alle haben ein Recht darauf, uns gelegentlich dumm zu benehmen. Man muss es aber nicht gleich zum Dauerzustand erklären. Mein Name ist übrigens Jara Heine.«
»Taru Favonius. In der Gegend scheint sich ja auf einmal viel zu bewegen. Auf der anderen Seite habe ich auch neue Nachbarn bekommen.«
»Eigentlich wohne ich schon länger hier, aber ich war eine ganze Weile abwesend. Nun bleibe ich. Ich wollte mich sowieso bei Ihnen vorstellen. Mögen Sie auf ein Glas Wein herüberkommen?«
Taru zögerte. Sie war müde, und sie musste sich Gedanken machen, was nun werden sollte.
»Ablenkung hilft oft beim Nachdenken«, sagte Jara.
Irgendetwas im Tonfall der Fremden ließ Taru nachgeben. Die Frau klang einsam. Außerdem war es verlockend, alle Sorgen für den Abend beiseitezuschieben.
In Jaras Wohnzimmer sah sie sich um. »Hier ist ja alles völlig modernisiert.«
»Ja. Der Besitzer hat alles neu machen lassen, bevor ich das Haus gemietet habe. Ich habe auch die Auflage, im Garten nichts zu ändern. Der ist von einem Landschaftsgärtner angelegt. Aber mir kommt das entgegen.«
»Was hat Sie denn hierher verschlagen?«
»Mein Finger auf der Landkarte, mit geschlossenen Augen. Ich wollte aus der Stadt weg. Frankfurt. Der Lärm wurde mir zu viel. Ich kann von zu Hause aus arbeiten und wollte einen Neuanfang.« Sie schenkte zwei Gläser ein, aus einer Flasche mit handgeschriebenem Etikett, und zuckte mit den Schultern. »Na ja, es hing auch damit zusammen, dass mich mein Partner verlassen hat. Prost. Wollen wir nicht Du sagen? Wir werden uns wohl zwangsläufig öfter begegnen.«
Taru kostete vorsichtig. Es schmeckte nach süßem Spätsommer und goldenem Frühherbst, nach lauen Nächten und Tau auf Wiesen. »Bei diesem sündhaft köstlichen Getränk kann man sich gar nicht siezen. Was ist das?«
»Schlehenwein. Macht meine Großmutter selbst. Sie pflückt die Beeren immer noch am Wegrand, an der See, obwohl sie dreiundneunzig ist. Sagt, das hält sie fit.«
»Der Wein oder das Sammeln?«
»Beides. Und wie bist du hierhergekommen? Wohnst du schon lange hier? Erzählst du mir etwas von der Gegend?«
»Es lag an einer Hexe«, sagte Taru mit einem verschmitzten Lächeln. Auf einmal fühlte sie sich entspannt. Es tat gut, mal einfach nur zu plaudern.
»Eine Hexe? Erzähl.« Jara beugte sich gespannt vor und schenkte ihr Wein nach. Taru sah ihr eigenes Spiegelbild seltsam klar im Fenster. Jara hatte die Gardinen nicht zugezogen, aber auf der Scheibe klebte eine merkwürdige Folie. Taru wollte nicht fragen, was das zu bedeuten hatte, und spürte stattdessen dem herbsüßen Geschmack des Weines nach. So hatte damals die Luft gerochen. Von einer so tiefen Farbe wie dieser waren die allgegenwärtigen Beeren gewesen, als sie das erste Mal diese Landschaft gesehen hatte.
»Suchst du uns eine Wohnung, irgendwo bei Neubrandenburg? Ich kann nicht, ich muss zwei Wochen nach Rom. Neubrandenburg liegt sozusagen mitten im Nichts, aber es ist ja nur für ein paar Jahre. Mir ist alles recht, du machst das schon«, hatte Werner sie gebeten.
Die Kinder waren damals auch schon kaum noch zu Hause. Taru suchte auf der Karte. Neubrandenburg?
Und dann stellte sie fest, dass das gar nicht weit von da war, wo ihre Freundin Palina seit einiger Zeit mit ihrem Mann wohnte. Die beiden arbeiteten in einer Wohnanlage für Senioren. Als Taru die Karte größer zoomte, bemerkte sie noch etwas, das sie mit einer kleinen Aufregung erfüllte. Nonnenbach. In den See bei Neubrandenburg floss der Nonnenbach! Das war dort, wo Berthilde Korbmacher gelebt hatte. Und nicht weit davon, ganz in Palinas Nähe, lag die Burg Penzlin.
Tarus Vater hatte früher Ahnenforschung betrieben. Einfach war das nicht. Die erste diesbezüglich angeforderte Post aus dem Westen kam unvollständig oder gar nicht bei ihm an, weil sie bei der Stasi Interesse oder Argwohn weckte. Darum gab Helmut Favonius in dieser Richtung auf. Doch über jene Vorfahren, die innerhalb des Gebiets der DDR gelebt hatten, trug er einiges zusammen. Vor allem über Berthilde Korbmacher, die eine wichtige Rolle in jenen familiären Überlieferungen spielte, die über Generationen hinweg am Kaffeetisch erzählt wurden. Tarus Mutter war als Kind noch mit Berthilde gedroht worden. »Wenn du nicht, ohne zu maulen, ins Bett gehst, kommt Berthilde und verzaubert dich in einen Maulwurf!«
Tarus Vater hielt nichts von dieser Art Pädagogik, aber er wollte wissen, was es mit dieser Frau auf sich hatte, dass das Gerede über sie so lange lebendig geblieben war. Anhand von Kirchenbüchern und einer überraschend genauen alten Stadtchronik fand er heraus, dass sie 1629 in Demmin geboren worden war, dann auf einen Hof am Nonnenbach eingeheiratet und eine Tochter bekommen hatte. Ihr Mann starb am Fieber, und Berthilde brachte ihre Tochter und sich selbst durch, indem sie den Hof so gut wie möglich bewirtschaftete und nebenbei Flachs spann. Bis sie der Bauer des Nachbarshofs wegen Hexerei anzeigte.
Berthilde hatte das Pech, zu einer Zeit zu leben, als Hexenprozesse üblich waren. In dem unsäglichen Werk eines Theologen namens Kramer, dem sogenannten Hexenhammer, war akribisch festgelegt, wie man Hexen zu foltern und zu bestrafen hatte. Kramer hatte die Frauen als Wurzel allen Übels ausgemacht. Nur wenn sie nach dreimaligem Foltern nicht gestanden hatten, waren sie als unschuldig zu entlassen. Aber auch diese Regel wurde nicht immer befolgt.
Die Gründe, warum jemand als Hexe angezeigt wurde, waren vielfältig. Oft war es schlichte Eifersucht oder Habgier. Tarus Vater spekulierte, dass der Nachbarbauer scharf auf den Hof gewesen war oder ein Auge auf Berthilde geworfen hatte, die ihn abwies. Der Bauer jedenfalls behauptete vor Gericht, Berthilde habe sich bei einem Besuch eines Blutstropfens seiner Schwiegertochter bemächtigt, ein eisernes Schloss damit befleckt und es in den Brunnen seines Sohnes geworfen. Dies galt als ein starker Zauber, der zur Unfruchtbarkeit des betreffenden Paares geführt habe.
Berthilde wurde auf der Burg Penzlin in den Kerker gesperrt und dreimal gefoltert. Das überstanden die wenigsten. Berthilde aber gab keinen Mucks von sich. Der Chronist aus der Gegend um den Nonnenbach war wohl fasziniert gewesen von der Frau, die das überstanden hatte. Er machte Berthildes Enkelin Greta ausfindig und ließ sich von ihr berichten, was sie über ihre Großmutter noch wusste. Demnach hatte Berthilde Glück gehabt und war tatsächlich freigelassen worden, nachdem man nichts aus ihr herausbekam. Doch wurde sie unter Androhung des Todes des Landes verwiesen und durfte ihre Heimat nie wieder betreten.
Greta berichtete, dass ihre bis dahin äußerst praktisch veranlagte und bodenständige Großmutter nunmehr von Trotz getrieben wurde. »Wenn man mir zutraut, eine Hexe zu sein, so werde ich eben zu einer, damit nicht alles vergebens war«, hatte sie verkündet und sich den Rest ihres Lebens gründlich mit weißer Magie beschäftigt. Angeblich heilte sie bald manche kranke Kuh oder sorgte dafür, dass jemand endlich Kinder bekam. Greta wusste auch, was ihre Großmutter über die Zeit im Kerker gesagt hatte: Das Schlimmste, so hatte sie erzählt, waren nicht die Kälte und die Dunkelheit, nicht der Hunger und die Schmerzen und die Todesangst. Das Schlimmste für Berthilde waren die Nischen, in denen die Frauen mit Eisenringen gefesselt wurden. Es hieß, eine Hexe zöge ihre Kräfte daraus, dass sie den Boden mit den Füßen berühre. Darum gab es die erhöhten Nischen mit den Fesseln, die jeden Kontakt zum Boden verhinderten. »Auch wenn ich keine Hexe war«, erzählte Berthilde ihren Nachkommen, »so wurde mir dort bewusst, dass meine Kraft wirklich aus dem Boden rührte, aus dem Feld, auf dem ich meinen Weizen säte und meinem Tagewerk nachging, aus der Erde, die meine Heimat war.« Greta war der Meinung, dass Berthilde genau darum später im Exil an Heimweh gestorben war.
Der Hexenkerker auf der Burg Penzlin, der nach den Regeln des Hexenhammers gebaut worden war, blieb als beinahe einziger erhalten und war später zu einem Museum gemacht worden. Tarus Vater hatte mit dem Hexenmuseum in Penzlin korrespondiert, aber er war nie dazu gekommen, es zu besuchen.
Nun war es Taru, die vor der Burg stand und versuchte, sich vorzustellen, wie sich Berthilde gefühlt haben mochte, als man sie hierherbrachte. Draußen war das schwierig. Die ziegelrote Burg lag heimelig in der Sonne, und aus dem Kräutergarten duftete es nach Thymian.
Doch unten im Kerker, nachdem Taru die steile, schmale Steintreppe vorsichtig hinabgestiegen war, klammerte sie sich an die Eintrittskarte in ihrer feuchten Hand, als könnte sie sich daran festhalten. Das Ticket bedeutete, dass sie sich in der Gegenwart befand und gleich wieder heraussteigen konnte, zurück an die Sonne. Dass sie nicht, wie Berthilde vor weit über dreihundert Jahren, in dieser klammen, kalten Luft und der Grabesstille in der schmalen Nische aushalten musste, in der noch die engen Eisenringe hingen.
Später im Obergeschoss, wo wohltuendes Licht durch bunte Fenster fiel, gab es eine Wand, auf der alle Prozesse verzeichnet waren. Es waren unendlich viele Namen. Nach langem Suchen wurde Taru fündig.
Berthilde Korbmacher, vom Nonnenbach, 1662, willkürliche Strafe.
Behutsam und mit einem Schauder fuhr Taru mit dem Finger darüber. Die Frauen in den Zeilen darüber und darunter hatten weniger Glück oder Durchhaltevermögen gehabt. Todesurteil, stand da.
»Sag mal, ist das dein Ernst? Heißt dieses Dorf wirklich so, oder ist das ein Gag für Touristen?«, fragte Taru, als sie bei Palina ankam.
Sie wies auf das gelbe Schild vorn an der Straße, das man von Palinas Balkon aus gerade noch erkennen konnte.
Palina lächelte. »Nein, heißt schon immer so. Ist doch guter Name. Was soll man Besseres machen an eine wunderschöne Ort wie diesem?«
SIEHDICHUM, stand auf dem Schild.
Palina hatte schon die Zeitungen durchforstet und ein paar Anzeigen herausgesucht, in denen nahe Neubrandenburg Wohnungen angeboten wurden. Am nächsten Morgen lieh sie Taru ihr Fahrrad. Sie hatte keine Lust, bei diesem schönen Wetter Auto zu fahren. Sie wollte die Landschaft entdecken, an der Berthilde so gehangen hatte.
Taru radelte sanfte Steigungen hinauf und ließ sich auf der anderen Seite herunterrollen. Verkehr gab es kaum. Weite Sonnenblumenfelder breiteten sich rechts und links aus, die gelben Köpfe ins Licht gewandt. Vogelschwärme segelten über abgeerntete Felder, und Wolkenschatten wanderten wie dunkle Herden über die goldenen Stoppeln. Unten in der Ferne glitzerte der See, um den der Weg führte. Dann begann Wald. Eine Holzbrücke führte über den Nonnenbach, der torfbraun über die Steine hüpfte. Rundum war Dickicht. Etwas später stieg Taru ab, lehnte das Rad an einen Baum und folgte zu Fuß einem schmalen Pfad, der sie unwiderstehlich lockte. Die Adressen in ihrer Tasche waren vergessen. Wie still es hier war, bis auf das Plätschern unzähliger Rinnsale, die zwischen den Bäumen Richtung See flossen! Dies war ein Lehrpfad, zugewuchert, erkennbar nur an den verwitterten Holzschildern, die die Namen der Bäume und Büsche verrieten. Stieleichen. Zitterpappeln, die man an der glatten Rinde erkannte. Birken, die Baumpilze trugen wie lauschende Ohren. Bergahorn, Linde, Rosskastanie, Weide, Hartriegel. Wildbirne, Haselnuss. Ein Reh stob unvermutet über den Weg, verhielt eine Sekunde und sah sie an, der Schreck in weit aufgerissenen dunklen Augen ein Spiegel ihres eigenen.
Dann trat Taru auf eine Lichtung. Auch hier alte Bäume zwischen Gras, aber es waren wieder Apfelbäume. Auch die Straße vorhin war von Apfelbäumen gesäumt gewesen. Noch niemals hatte Taru so viele Äpfel gesehen wie in dieser Gegend. Rot und grün und gelb ergossen sie sich aus den Bäumen, deren Äste sich schwer über die Wege bogen, lagen in Bergen darunter, dufteten überreif nach Apfelmost. Der Geruch war allgegenwärtig wie eine Essenz aus Sommer und Herbst, die man atmen konnte und die beinahe satt machte. Taru setzte sich auf einen Stein, aß einen Apfel und noch einen, beobachtete ein paar Zitronenfalter, die über violetten Disteln tanzten, und bewunderte den wilden Hopfen, der sich in dichten Girlanden über den Sträuchern am Rand der Lichtung drapiert hatte. Die hellgrünen Samen schwankten wie zarte Glocken in einer warmen Brise.
»Das ist mitten im Nichts«, hatte Werner gesagt. Für Taru aber war dies das genaue Gegenteil von Nichts. Die ganze Landschaft bestand aus Fülle. Eine Fülle von Raum, Frieden, Licht, Duft und Farben. Es waren nicht nur die Äpfel. Auch reife Beeren hingen überall, wo ihr Blick hinfiel. Holunder, Schneebeeren, Vogelbeeren und jede Menge knallroter Hagebutten.
Taru hätte für immer hier sitzen können, bis sie Wurzeln schlug wie einer der Bäume. Sie verstand jetzt, was Berthilde damit gemeint hatte, dass die Kraft aus dem Boden kam. Es war, als würde all dieses grüne, dichte, duftende, zu Licht und Himmel strebende Leben aus der Erde direkt in sie hineinströmen.
»Mää-äähh!«, tönte es auf einmal laut, gefolgt von weiteren Rufen. Taru zuckte zusammen. Sie stand auf und sah sich um, folgte dem Geräusch um einige Büsche herum und fand sich vor einer Weide am Fuße eines Abhangs wieder. Drei braune Wesen standen dort an einem Holzzaun und betrachteten sie neugierig. Sie hörten sich an wie Schafe, sahen aber eher aus wie Ziegen. Schokoladenbraun mit hellen Stellen und schwarzer Zeichnung im Gesicht und an den Beinen. Eines davon trug würdevoll zwei massive gewundene Hörner.
»Hallo, wer seid ihr denn?« Taru näherte sich dem Zaun. Die Tiere standen im Schatten eines Apfelbaums, doch alle Äpfel, die innerhalb des Weidezaunes heruntergefallen waren, hatten die drei schon aufgefressen. Taru bückte sich nach den Äpfeln, die außer Reichweite lagen, und warf sie ihnen zu. Eifrig stürzte sich erst der Bock darauf, dann, vorsichtiger, seine zierlicheren Gefährtinnen. Die Sonne glänzte auf dem braunen Fell. »Wo gehört ihr denn hin?« Taru blickte den Abhang hoch. Ganz oben stand ein Haus. Es stand da nicht allein, aber es hatte viel Platz um sich, und darunter breitete sich ein verwilderter Garten aus, der in Terrassen angelegt war.
Die Schafe hatten die Äpfel inzwischen aufgefressen. Die Weibchen reckten die Hälse auffordernd über den Zaun. »Määääh!«
Der Bock aber machte ein paar Sprünge den Hang hinauf und rieb sich an einem Pfosten.
Und da sah Taru es. An den Pfosten war ein Schild genagelt.
»Zu vermieten«.
»Was ist aus den Schafen geworden, als du das Haus gemietet hast?«, fragte Jara.
»Ich musste sie mitübernehmen. Es waren tatsächlich keine Ziegen, es waren Schafe. Kamerunschafe. Von denen hatte ich vorher noch nie gehört. Sie sind robust, pflegeleicht und dienen als Rasenmäher. Das ist sehr günstig bei der Hanglage. Außerdem mag ich sie. Oh, nur noch einen kleinen Schluck, bitte.« Jara hatte fragend die Flasche gehoben. »Willst du nicht langsam deine Ruhe haben? Es ist spät geworden«, stellte Taru fest.
»Ach nein. Bleib noch ein wenig!« Jara lächelte. »Jemand wie ich kommt nicht häufig unter Menschen.«
»Warum? Was meinst du mit ›jemand wie ich‹?«
Jara blickte zu Boden. »Ich habe XP. Xeroderma pigmentosum. Deswegen war ich so lange nicht hier. Gleich, nachdem ich eingezogen war, musste ich länger ins Krankenhaus, und dann folgte ein langer Kuraufenthalt. Wenn du davon schon gehört hast, dann wahrscheinlich unter dem Namen Mondscheinkrankheit.«
»Oh!« Taru war entsetzt. »Ja, ich habe sogar einmal einen Artikel darüber geschrieben. Ein Gendefekt. Du verträgst kein Sonnenlicht. Keine UV-Strahlung. Darum also die Folien an den Fenstern!«
»Genau. Ich kann nur bei Nacht hinaus oder in ganz besonderer Schutzkleidung. Ich versuche, tagsüber zu schlafen. Darum freue ich mich, wenn ich nachts Besuch bekomme. Und darum macht es nichts, dass ich im Garten nichts ändern soll. Ich kann ihn sowieso kaum nutzen.«
»Das tut mir so leid, Jara! Und da lässt du zu, dass ich dir von der Gegend vorschwärme – von dem Licht und den Farben. Bitte entschuldige!« Taru versuchte sich vorzustellen, wie das sein musste, wenn man den Morgen nicht mit Freude begrüßen konnte. Nicht über den See blicken und die Nebel aufleuchten sehen, sich nicht zum Fenster hinauslehnen und die Morgensonne auf der Haut spüren, nicht barfuß im taufunkelnden Gras laufen … Es musste ein wenig sein wie im Verlies unter der Burg Penzlin. Und es gab keine Heilung.
»Nein, es hat mir gutgetan, dir zuzuhören. Ich will doch wenigstens wissen, wo ich bin! Im Grunde hatte ich Glück, weißt du. Man hat es sehr früh diagnostiziert. So sind mir schlimme Schäden bisher erspart geblieben, und meine Lebenserwartung sieht vorerst recht gut aus. Zum Glück kann ich von zu Hause aus arbeiten. Ich bin Lektorin und versetze mich einfach in die sonnigen Welten der Autoren. Und du? Was war denn der Grund für das Geschimpfe auf dich selbst vorhin?«, fragte Jara.
»Ach nichts. Im Gegensatz zu deinem kommt mir mein Problem auf einmal sehr klein vor.«
»Willst du es mir nicht trotzdem verraten?«
Also berichtete Taru von Klimmroth, der Zeitung und ihrer Kündigung. »Klimmroth ist ein hervorragender Journalist. Er macht eine gute Zeitung. Nur passen seine Vorstellung und meine einfach nicht zusammen.«
»Dann würde sich das auch nicht mehr ändern. Es war richtig zu gehen«, sagte Jara entschieden. »Vielleicht etwas vorschnell, weil du noch nichts Neues hast. Aber grundsätzlich richtig.«
»Und jetzt?«
»Jetzt suchst du dir eine andere Zeitung. Oder du machst etwas im Internet. Bloggen zum Beispiel.«
»Das dauert zu lange, ehe man damit Geld verdient. Wenn überhaupt.«
»Trotzdem. Vielleicht ist eine Festanstellung nicht das Richtige für dich. Du könntest als freie Autorin arbeiten, für verschiedene Zeitungen. Ich finde, du solltest es machen wie Berthilde.«
»Was meinst du? Ins Exil gehen?«
Jara lachte. Ihre Augen funkelten verschmitzt. »Nein. Aber überleg doch mal. Sie machte aus ihrer angeblichen Sünde, nämlich dass sie eine Hexe sei, eine Stärke und wurde tatsächlich zu einer Hexe. Oder vielmehr zu einer Heilkundigen. Das, was dein Chef an dir nicht mag, nämlich dass du unterhaltsam über Fakten schreiben kannst, kann zu deiner Stärke werden. Damit kannst du Erfolg haben, wenn du dich genau darauf konzentrierst, anstatt es zu unterdrücken, weil man das von dir erwartet. Steh zu dem, was du für richtig hältst! Du hast doch gerade selbst gesagt, dass man damit deiner Meinung nach mehr Leser erreicht. Mach das einfach!«