Die Zeit kennt alle Antworten - Christina Gasser - E-Book

Die Zeit kennt alle Antworten E-Book

Christina Gasser

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Beschreibung

Ein junger Mann wird bei einem Überfall getötet. War es ein Unfall oder Mord? Sarah lernt auf der Suche nach dem Mann fürs Leben einen aufregenden Typen kennen. Doch ihre Freundin warnt sie vor ihm. Was steckt dahinter? David wuchs ohne Mutter auf und erfuhr keine Liebe von seinem Vater. Seine große Leidenschaft gilt der Musik, wo er Trost findet. Was hält das Schicksal für ihn bereit? Christina Gasser zeigt mit ihren sieben Kurzgeschichten, wie wunderbar und gleichsam unbarmherzig das Leben sein kann, und greift damit Themen wie Einsamkeit, Schicksal, Freundschaft und Sehnsüchte auf.

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EPUB
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Seitenzahl: 100

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0155-1

ISBN e-book: 978-3-7116-0156-8

Lektorat: Mag. Birgit Amon

Umschlagfoto: Christina Gasser

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Das Leben

Glücklich sein verlangt in erster Linie,

Frieden zu schließen mit sich selbst.

(CG)

Sehnsüchte

Draußen war es grau und windig.

Seit Wochen verschleierte der Hochnebel das Sonnenlicht, wie eine schäbige Gardine, sobald ein heller Strahl es wagte, sich durch einen milchigen Spalt hindurchzumogeln.

Der Wetterbericht verhieß keine rasche Wende. Dem nebligen Morgen folgte auch heute ein trüber, feuchter Nachmittag, der in fahle Abendstunden mündete.

Er hatte es aufgegeben, trauerte dem sinkenden Novemberfreitag nicht nach.

Er hatte nichts unternommen, war nicht im Garten gewesen, auf keinem Spaziergang, hatte keinen Besuch empfangen und war besonders darüber froh, dass er keine unnötige und lästige Konversation mit der diskutierfreudigen Verwandtschaft hatte betreiben müssen. Ihm wurde jedes Mal übel, wenn ihm das süßliche Parfüm der Damen und das etwas zu strenge Rasierwasser der Herren in die Nase stach.

Heute gab es kein Schuhgewimmel, kein Händeschütteln, kein Schulterklopfen oder angestrengt amüsiertes Lächeln, keinen Anzug mit Krawatte, keine arrangierten Keksteller und keine gefüllten Kaffeetassen.

Ruhig war es geblieben.

Schon seit Mitte Oktober, und das war ihm recht.

»Hast du von Martin gehört? Er ist jetzt sechsfacher Großvater!«

»Meine Güte, seine Tochter ist ja ziemlich … fruchtbar.«

»Was ist eigentlich mit deiner Tochter, Toni? Noch keinen Mann gefunden?«

»Wie alt ist sie jetzt? Zweiunddreißig, vierunddreißig?«

»Siebenunddreißig. Verlobt, denke ich. Ich habe schon lange nicht mehr mit ihr gesprochen.«

»Das solltest du! Aber verlobt? Ach herrje, wer verlobt sich noch heutzutage?«

»Heiratet man überhaupt noch? Ist das modern?«

»Muss heiraten modern sein?«

»Unser Dominik zeigt null Interesse an Mädchen.«

»Schwul?«

»Nein. Das heißt … ich weiß es nicht genau. Er nennt sich jetzt non-binär«

»Was?«

»Verstehe ich auch nicht. Er will sich halt … nicht festlegen, denke ich.«

»Aha.«

»Was weiß ich … die jungen Leute, das ist nicht mehr unsere Welt, nicht wahr, Toni?«

»Scheint wohl so.«

Smalltalk strengte ihn an. Es war sinnloses Aneinanderreihen von Fragen, bei denen auch die Antworten kaum jemand mit Interesse erwartete.

Das ewige, sich hochschaukelnde Argumentieren, das Vergleichen, das Sich-Übertrumpfen, das Apportieren von Interessantem und das höfliche Räuspern, wenn dem Gegenüber etwas unangenehm wurde, das verlegene Biskuit-in-den-Mund-Schieben, damit man nicht antworten musste, und ständig dieser ekelhafte Gestank von dicken Zigarren, der Anblick vergessener Gläser, in denen manchmal ein kleiner Rest Cognac übrig blieb, weil ein Gast nicht zu schätzen wusste, mit welcher Anstrengung, Hingabe und Zeit das Honiggelb zur Vollendung gereift war. Cognac musste man erlesenen Menschen zu erlesener Zeit anbieten und in ebensolcher Vernunft sollte dem Genuss des Honiggelben die ihm gebührende Ehrfurcht folgen.

Die Welt war ihm zu schnell, zu laut, zu rabiat und vor allem zu oberflächlich geworden.

Er sehnte sich nach den alten Zeiten, nach Ordnung, Ruhe und Zuverlässigkeit.

»Was ist aus der Zeit geworden?«

»Vergangenheit.«

»Und was bringt die Zukunft?«

»Sie ist noch nicht da, also lass uns nicht daran denken, Toni.«

Marianne und er heirateten, als sie vierundzwanzig wurde. Er war fünf Wochen zuvor siebenundzwanzig geworden. Tamara war unterwegs, ihre einzige und sehnlichst erwartete Tochter.

Es war keine einfache Zeit gewesen, sie besaßen und hatten nicht viel, außer einander. Doch ihm war das immer genug gewesen und Marianne ließ ihn mit ihrem liebevollen Umsorgen wissen, dass dem tatsächlich so war.

»Wo sind meine grau-blauen Socken, Schatz?«

»Dort, wo sie immer sind. In der weißen Kommode. Erste Schublade, oben rechts.«

»Hab sie gefunden! Sie hatten sich hinter dem dunkelblauen Paar versteckt.«

»Sowas Freches!«

»Ja, nicht wahr? Und weißt du vielleicht auch noch, wo ich meine Lesebrille habe liegen lassen?«

»Gewiss, mein Schatz. Im Badezimmer.«

»Stimmt, natürlich. Wenn ich dich nicht hätte!«

»Dann müsstest du anfangen, auf deine Dinge besser aufzupassen, Toni! Laut Statistik verbringt man sein halbes Leben mit Suchen.«

»Woher weißt du bloß solche Sachen, mein Schatz?«

»Neugierde.«

»Ohne dich bin ich ein Nichts.«

»Das ist nicht wahr, Toni. Ein Mensch ist mehr als nur die Summe seiner Fehler oder Erfolge. Du bist noch immer du, auch wenn ich nicht mehr da bin.«

Marianne starb mit dreiundsiebzig. Seitdem wohnte er allein in einer Dreizimmerwohnung, im Parterre eines Fünffamilienhauses. Und obwohl immer jemand im Haus zu sein schien, war er doch allein.

»Nein, ich bin nichts ohne dich.«

Er rückte den Fernsehsessel zurecht und ließ sich darin nieder. Sein Körper versank im weichen Polster und seine Arme, die wie dürre Äste aus dem kurzärmligen Hemd ragten, baumelten über die Lehnen. Er griff nach der Fernbedienung, die auf dem Sofatischchen lag und drückte den Powerknopf, was ein crescendierendes Gemurmel auslöste. Damit begann der Fernseher zu leben.

Im Cheminée brannten anstatt Holzscheite fünf langhalsige, dicke Kerzen. Ihr Licht besänftigte und beruhigte, auch wenn es keine Wärme spendete. Dank der neuen Zentralheizung war das auch nicht notwendig.

Das aus der Wand hervortretende Cheminée hatte seinen Zweck als Blickfang im Dasein eines traditionsträchtigen Dekorationsstückes gefunden. Er genoss es besonders, dass durch die Zweckentfremdung des Cheminées die lästige Holzhackerei und das Ausbürsten des Aschebehälters hinfällig geworden war. Bequeme Gemütlichkeit blieb sein oberstes Gebot.

Er hatte sich in eine Talkshow eingeklinkt, schnappte Wörter wie Öko-Steuer, zukunftsweisende Tendenzen und pragmatische Sanktionen auf. Davon verstand er nichts und das Thema langweilte ihn rasch. Er stieß einen Seufzer aus, zappte zwei Kanäle weiter und blieb beim Spielfilm ‚Die Katze auf dem heißen Blechdach‘ hängen.

Wunderbarer Film. So viel Leidenschaft!

Er nestelte sich tiefer in den Sessel und blickte fiebrig auf den Bildschirm.

Den Streifen hatte er schon zig Mal gesehen, tauchte aber gerne ein weiteres Mal in die Geschichte ein, ließ sich gerne aufs Neue hineinsaugen.

Er liebte amerikanische Filme aus den Vierziger- und Fünfzigerjahren, vor allem ‚Vom Winde verweht‘. Das wusste aber niemand, schon gar nicht die tratschfreudige Verwandtschaft und nicht einmal seine Tochter. Dieser Film, das war etwas, das nur ihm gehörte.

Er liebte die Stärke der Protagonisten und die Attitüden der Hollywooddamen, für die er in Verehrung brannte. Er besaß Videokassetten, die sich bereits zu Hunderten in der Stubenwohnwand stapelten. Er hatte die Filme akquiriert, sorgfältig alphabetisch geordnet, wusste um jedes Produktionsjahr, um Regisseure, Haupt- und Nebendarsteller. Alle waren sie in seinem Gedächtnis, die Geschichten, Gesichter, Namen, Zahlen und Sätze. Bezaubert, obsessiv und ferngesteuert sprach er den Text seiner Filmhelden synchron mit und trug ein unsichtbares Lächeln, wenn er in Humphrey Bogarts Casablanca-Rolle schlüpfte und verliebt in Ilsas Augen blickte.

Die auf Zelluloid gebannten Bilder warfen Sehnsüchte auf, die ihn nährten, beglückten und gleichsam betrübten. Er sah sich seine Filme zu jeder Tages- und Nachtzeit an. Das einzig Reelle, das wahre Leben, es musste in diesen Filmen stecken! Daran gab es keinen Zweifel. Die Geschichten waren echt, weil sie wahr waren, ein authentisches Abbild einer Zeit, die er so sehr vermisste.

Manchmal war es grausam, manchmal waren die Filme tragisch, traurig, manchmal poetisch, erquickend. Alle Lebensfacetten zeigten sich darin wieder.

Wie im richtigen Leben, nur übersichtlicher.

Schon seit geraumer Zeit fand er seine einzige Freude darin, sich dem Fernsehen zu widmen. Er hatte sich damit abgefunden, dass er etwas zugenommen hatte, weniger ansehnlich, weniger beweglich, alt geworden war und sich seine Wünsche nicht erfüllt hatten. Er hatte akzeptiert, dass er die Frau seines Lebens verloren hatte, dass er während seiner Berufstätigkeit niemals eine Lohnerhöhung erhalten hatte, dass das Geld zwar immer gereicht hatte, aber für Ferien nie etwas übriggeblieben war. Er hatte gelernt, sich mit Träumen zu begnügen, und stillte seine Sehnsüchte durch jene seiner Filmhelden. Nur in deren Wirklichkeiten, deren Emotionen und Gedankenwelten fühlte er sich noch wohl und lebendig. Das wahre Leben, sein Leben, es lag verschleiert, verborgen unter einem Erinnerungsstapel in seinem Hirn und war unwichtig geworden. Die Filmwelt, das war jetzt seine Welt.

Wie trügerisch und heimtückisch seine Sucht war, sich in einer Fantasie zu verlieren, hatte er nicht erkannt. Er hatte nicht bemerkt, wie die bittersüße Einsamkeit nach und nach in seine Knochen und in sein Innerstes gekrochen war, hatte nicht durchschaut, dass er selbst Teil einer Utopie geworden war – unnahbar, unfassbar, schwebend.

Er ähnelte in seiner Lethargie bereits jenen wächsernen Figuren, die man in Schaufenstern misstrauisch beäugt, unschlüssig darüber, ob sie tatsächlich Leben in sich tragen oder nicht, weil die eingefrorenen Züge unwirklich und gar ein bisschen unheimlich anmuten.

In seiner Brust pochte nur noch wenig Lebensenergie. Seine Glieder waren kraftlos geworden, seine Seele ermattet. Er hatte sich abgeschottet, sich damit unwissentlich und unbeabsichtigt dafür entschieden, die Zeit und das Kommende zu ignorieren.

Draußen wütete der Regen, klatschte ab und zu gegen die Scheiben, als wolle er ihn ins Hier und Jetzt zurückholen, als wolle er sagen: Komm, steh auf, schau hinaus, das Leben tobt hier draußen!

Doch die zugezogenen, weißen Gardinen tauchten die Stube in ein Dämmerlicht. Nur das Kerzenflackern und Flimmern, das aus dem Fernsehapparat in den Raum strahlte, durchbrach die Düsternis. So endete jeder Abend.

Für ihn spielte es keine Rolle, wie spät es war oder welcher Wochentag, welcher Monat geschrieben wurde. Das Wohnzimmer war Mittelpunkt seines Lebens. Es war zu einem Raum geworden, in dem sich alles abspielte: Hier nahm er seine Mahlzeiten ein, hier dachte er nach, hier ruhte er sich aus, hier lachte er, trauerte, hier schlief er ein und hier wachte er morgens wieder auf.

Seine Augen wichen keinen Moment vom Bildschirm. Sein Blick klebte an dem Apparat, der die ganze Welt in sich barg und Wahrheiten ausspie, die sich in all dem Schönen, allem Guten und Reinen vereinten, das er zu kennen und erkennen glaubte. Kaum einen Laut gab er von sich, nur das kurze, heisere Husten war ab und an zu vernehmen, nachdem sich sein Brustkorb beim Anflug eines Lachens rasch hob und senkte.

Der Film war längst zu Ende und im TV lief Werbung.

Er hatte es nicht bemerkt. Sein Blick haftete wie hypnotisiert am Bildschirm. Er sah Lichter und Farben, sah Landschaften, die sich erhoben, wölbten, erstreckten und teilten, in Wälder überflossen, in Straßen mündeten, in Dörfer und Städten endeten, mit Menschen belebt wurden, die sich unterhielten, sich begegneten, umarmten, küssten, stritten und sich wieder verließen.

Seine filmische Obsession hatte ein Eigenleben begonnen, setzte sich in seiner Fantasie fort und er nahm unbewusst Anteil daran. In diesem Augenblick war er inmitten dieser Landschaften, Wiesen, Wälder, Straßen, Dörfer und Städte, schwebte über Seen, Meere, Hügel und Berge, traf wunderbare und arglistige Menschen, die er begleitete, beobachtete und deren Schicksale in seinen Händen lagen. Er vermochte das Geschehen zu lenken und zu leiten, war Schöpfer, Beteiligter und Zuschauer zugleich.

Versunken und eingehüllt in eine bunte Welt aus Bildern, Gerüchen und Gefühlen, verharrte er in seinem Sessel, in regungsloser Haltung, und träumte vor sich hin. Dieses Hinübergleiten in seine Welt war ihm mehr als Befriedigung: Es war etwas Heiliges und das Eintauchen unausweichlich. Er liebte es. Man hatte alle Macht, war Gott und Teufel.

Und dann, in einem Moment des Erwachens, fühlte er den plötzlichen Schmerz.

Er kam schnell, heimtückisch, ohne Erbarmen.

Es machte ihm Angst, machte ihm Herzrasen, und dann krampfte es in seiner Brust.

Der Schmerz weitete sich aus, wie ein Feuer. Und das Schmerzfeuer loderte, flackerte, brannte, biss zu und ließ ihn atemlos zurück, mit weit aufgerissenen Augen.

Als ihn seine Tochter nach einigen Wochen endlich fand, weil er auf ihre Anrufe nicht reagiert hatte, wirkte es wie eine Szene aus einem traurigen, tragischen Film.

So erzählte man sich.

Das hätte ihm gefallen, hätte er geahnt, dass er einst selbst Mittelpunkt eines Dramas werden würde, worüber andere noch lange sprechen würden. Es hätte ihn amüsiert, dass es in der Zeitung stehen und dass man im Lokalfernsehen darüber berichten würde: von dem alten Mann, der während eines trüben Novemberwochenendes zu Hause still verstorben war, einzig begleitet von seinem Lieblingsfilm, den man im Videorekorder gefunden hatte:

Vom Winde verweht.

Die Liebe

Wer liebt, der lebt.

Nicht umgekehrt.

(CG)

Gezuckerte Zitrone