Die Zensoren - Robert Darnton - E-Book

Die Zensoren E-Book

Robert Darnton

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Beschreibung

Der Zensor, dein Freund und Überwacher. Ein faszinierendes Stück Kulturgeschichte

Der Zensor als systemtreuer, ignoranter Bürokrat, der einem autoritären, repressiven Staat dient und der Literatur erheblichen Schaden zufügt – dies ist das gängige Bild. Dass es jedoch viel zu kurz greift, beweist Robert Darnton in seiner fesselnden, glänzend recherchierten Darstellung. Der renommierte US-Historiker zeigt, nach welchen Mechanismen die Kontrolle von Literatur funktioniert hat und wer die Menschen waren, die dahinter steckten.

Das vorrevolutionäre Frankreich, Indien zur Zeit der Kolonialherrschaft, das DDR-Regime – um sich dem Phänomen der Zensur zu nähern, blickt Robert Darnton auf unterschiedliche Zeiten und unterschiedliche Orte. Im Mittelpunkt seiner Studie steht die Person des Zensors, seine Arbeit, sein Selbstverständnis, seine Beziehung zu Autoren, Verlegern und Buchhändlern. Dass der Zensor dem Literaturbetrieb nicht notwendigerweise schaden wollte, sondern sich bei aller Staatstreue auch als sein Unterstützer begriff, ist nur eine der überraschenden Erkenntnisse. So entsteht auf Grundlage exklusiven Quellenmaterials ein ungewöhnliches, facettenreiches Stück Kulturgeschichte – von einem der renommiertesten Historiker unserer Zeit.

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Zum Buch

Das vorrevolutionäre Frankreich, Indien zur Zeit der Kolonialherrschaft, das DDR-Regime – um sich dem Phänomen der Zensur zu nähern, blickt Robert Darnton auf unterschiedliche Zeiten und unterschiedliche Orte. Im Mittelpunkt seiner Studie steht die Person des Zensors, seine Arbeit, sein Selbstverständnis, seine Beziehung zu Autoren, Verlegern und Buchhändlern. Dass der Zensor dem Literaturbetrieb nicht notwendigerweise schaden wollte, sondern sich bei aller Staatstreue auch als sein Unterstützer begriff, ist nur eine der überraschenden Erkenntnisse in diesem Buch. Robert Darnton bedient sich exklusiver Quellen: Er hat zum Beispiel mit ehemaligen DDR-Zensoren zahlreiche Interviews geführt. So entsteht ein ungewöhnliches, facettenreiches Stück Kulturgeschichte – von einem der renommiertesten Historiker unserer Zeit.

Zum Autor

Robert Darnton, geboren 1939, ist Professor für Geschichte an der Harvard University. Seine Forschungen widmen sich der Kultur-, Ideen- und Mediengeschichte, insbesondere im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Seine Bücher, etwa über »Mesmerismus« oder »Das große Katzenmassaker«, gehören zu den Klassikern der Geschichtsschreibung und sind vielfach ausgezeichnet worden.

ROBERT DARNTON

DIE ZENSOREN

Wie staatliche Kontrolle die Literatur beeinflusst hat

Vom vorrevolutionären Frankreich bis zur DDR

Aus dem Englischen von Enrico Heinemann

Siedler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die englischsprachige Ausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Censors at Work. How States Shaped Literature« bei W. W. Norton & Company, Inc., New York.

Erste AuflageFebruar 2016Copyright © 2014 by Robert Darnton Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, HamburgRedaktion: Stephan Ditschke (u vier, Hamburg) Grafik: Peter Palm, BerlinSatz: Ditta Ahmadi, BerlinReproduktion: Aigner, BerlinISBN 978-3-641-15678-7V001www.siedler-verlag.de

Inhalt

Einführung

TEIL IDAS FRANKREICH DER BOURBONEN Druckprivileg und Repression

Typografie und Legalität

Der Standpunkt des Zensors

Alltägliche Vorgehensweisen

Problemfälle

Skandal und Aufklärung

Die Buchpolizei

Autorin aus dem Dienstbotenquartier

Ein Vertriebssystem: Kapillaren und Schlagadern

TEIL IIBRITISCH-INDIEN Liberalismus und Imperialismus

Amateur-Ethnografie

Melodram

Überwachung

Aufwiegelung?

Repression

Juristische Hermeneutik

Fahrende Spielleute

Der Grundwiderspruch

TEIL IIIDAS KOMMUNISTISCHE OSTDEUTSCHLAND Planung und Verfolgung

Indigene Informanten

Arbeit in den Archiven

Beziehungen zu Autoren

Verhandlungen zwischen Autor und Lektor

Ein Schauspiel: Die Show ist vorbei

Ein Roman: Veröffentlicht und eingestampft

Wie die Zensur endete

Schlussfolgerungen

Dank

Anmerkungen

Register

Bildnachweis

Einführung

Wo ist im Cyberspace der Norden? Im unkartierten Äther jenseits der Gutenberg-Galaxis gibt uns kein Kompass Orientierung, und das ist nicht einfach ein kartografisches oder technisches, sondern vielmehr ein moralisches und politisches Problem. Erschien der Cyberspace in der Anfangszeit des Internets noch als frei und offen, so hat er sich inzwischen zu einem umkämpften, aufgeteilten und durch schützende Barrieren abgeschotteten Raum weiterentwickelt.1 Wenn freidenkerische Geister sich vorstellten, dass elektronische Kommunikation heute noch völlig ungehindert stattfinden könnte, so wären sie naiv. Wer würde sein E-Mail-Konto ohne Passwort führen, auf einen Filter verzichten, um Kinder vor Pornografie zu schützen, oder sein Land schutzlos Cyberattacken ausliefern? Andererseits stehen Chinas »Große Firewall« und die uneingeschränkte Überwachung der National Security Agency beispielhaft für die Tendenzen des Staates, seine Interessen auf Kosten des Einzelnen durchzusetzen. Hat die moderne Technologie eine neue Gewalt geschaffen, die das Gleichgewicht zwischen der Macht des Staates und den Rechten der Bürger aus der Balance gebracht hat? Vielleicht, aber deswegen dürfen wir nicht annehmen, dass dieses Gleichgewicht in der Vergangenheit unangefochten gewesen wäre. Um die heutige Lage einzuordnen, bietet es sich an, die Geschichte der Versuche zu studieren, Kommunikation zu kontrollieren. Dieses Buch möchte aufzeigen, wie solche Versuche aussahen, wenn auch nicht jederzeit und überall, sondern zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten, dort nämlich, wo sie im Detail untersucht werden können. Es beleuchtet die Geschichte der Zensur von innen heraus; sie verfolgt, was in Hinterzimmern und bei geheimen Missionen geschah, wenn staatliche Akteure Texte unter die Lupe nahmen und ihren Druck verboten oder genehmigten oder andere, schon im Umlauf befindliche, im Namen der Staatsräson aus dem Verkehr zogen.

Die Geschichte der Bücher und der Versuche, den Buchmarkt unter Kontrolle zu halten, lässt keine Schlussfolgerungen zu, die unmittelbar auf die Strategien zur Überwachung der digitalen Kommunikation übertragbar wären. Sie ist vielmehr aus anderen Gründen bedeutsam: Indem sie Einblicke in das Vorgehen von Zensoren vermittelt, zeigt sie auf, wie politische Entscheidungsträger dachten, wo der Staat sein Machtmonopol bedroht sah und wie er solchen Gefahren zu begegnen versuchte. Die Macht des Buchdrucks konnte zu anderen Zeiten so bedrohliche Ausmaße annehmen wie heute ein Cyberkrieg. Wie schätzten die Sachwalter des Staates diese Macht ein und welche Überlegungen steuerten ihr Vorgehen? Kein Historiker kann in die Köpfe Verstorbener blicken, ja nicht einmal in die der Lebenden, die er im Rahmen einer zeitgeschichtlichen Studie persönlich befragen kann. Dennoch lassen sich auf Grundlage einer hinreichend großen Dokumentation bestimmte Muster im Denken und Handeln solcher Akteure ausmachen. Archive geben hier nur selten angemessen Auskunft, weil Zensur im Verborgenen stattfand, Geheimnisse unter Verschluss blieben oder Belege vernichtet wurden. Aber wenn man eine ausreichend große Menge an Material sichtet, ergeben sich doch mannigfaltige Hinweise darauf, von welchen Grundannahmen sich die Staatsbediensteten, die mit der Überwachung von Druckerzeugnissen betraut waren, leiten ließen, und wie sie bei ihrer verdeckten Arbeit vorgingen. Dann beginnen die Archive zu sprechen. Man beobachtet gleichsam Zensoren, die – oft Zeile für Zeile – Texte durchleuchteten, und Polizisten, die verbotenen Büchern nachstellten, um den Grenzen zwischen Legalem und Illegalem Geltung zu verschaffen. Dazu musste der präzise Verlauf dieser Grenzen allerdings erst einmal festgelegt werden, denn sie waren unscharf gezogen und verschoben sich ständig. Wo genau verläuft in der bengalischen Literatur die Grenze zwischen Krishnas Geschäker mit den Milchmädchen und unstatthafter Erotik oder die zwischen sozialistischem Realismus und »spätbürgerlichem« Erzählstil in der DDR-Literatur? Solche konzeptionellen Landkarten sind insofern von Interesse und bedeutsam, als sie die jeweilige konkrete Zensurarbeit bestimmten. Die repressiven Maßnahmen gegen Bücher – alle möglichen Sanktionen, die in die Rubrik »Nachzensur« fallen – zeigen auf, wie der Staat auf der untersten Ebene gegen Literatur vorging, mit Eingriffen, die Fenster in das Leben mutiger oder dubioser Figuren öffnen, die außerhalb des geltenden Rechts agierten.

Ab da weicht die Forschung reinstem Jagdvergnügen, wenn sie Polizisten nachstellt – oder, je nach staatlicher Ordnung, entsprechenden Kräften –, die immer wieder in Milieus mit Protagonisten vorstießen, von denen die wenigsten den Sprung in die Geschichtsbücher schafften. Fahrende Spielleute, gewiefte Hausierer, aufwiegelnde Missionare, abenteuerlustige Geschäftemacher, Autoren jeden Schlags, bekannte wie unbekannte, darunter ein betrügerischer Swami und eine Kammerzofe, die auf Verbreitung von Skandalen aus ist, ja sogar eine Polizei, die sich mit den Personen, die sie ins Visier nimmt, am Ende gemein macht – sie alle bevölkern die nachfolgenden Seiten, zusammen mit Zensoren jeden Formats. Allein schon dieser Aspekt der menschlichen Komödie, so meine ich, verdient eine Darstellung. Aber ich hoffe, mehr zu leisten, als nur einzelne Episoden möglichst faktentreu zu schildern, ohne zu übertreiben oder vom gesichteten Material abzuweichen: Mir geht es darum, die Geschichte der Zensur mit einer neuen Herangehensweise zu präsentieren, die sowohl vergleichend als auch ethnografisch ist.

Abgesehen von Meistern wie Marc Bloch predigen Historiker den komparativen Ansatz für die Geschichtsschreibung mehr, als dass sie ihn tatsächlich praktizieren.2 Er ist nicht nur deshalb anspruchsvoll, weil er Feldstudien in unterschiedlichen Sprachräumen erforderlich macht, sondern auch, weil eigentlich alle Vergleiche hinken. Äpfel und Birnen lassen sich leicht auseinanderhalten, aber wie behandelt man Institutionen gleichen Namens, die ähnlich erscheinen, aber unterschiedlich funktionieren? Bestimmte Zensoren mögen nach Spielregeln vorgehen, die für ihre Kollegen in einem anderen System undenkbar wären, weil sie ein völlig anderes Spiel spielen. Auch kann die Schriftstellerei in der einen Gesellschaft eine Bedeutung haben, die in der anderen jenseits der Vorstellungskraft liegt. So übte Literatur im sowjetischen Russland laut Alexander Solschenizyn einen so gewaltigen Einfluss aus, dass sie »die Geschichte beschleunigte«.3 Dagegen ist sie für die meisten Amerikaner weniger wichtig als Profisport. Deren Einstellung hat sich im Laufe der Zeit allerdings stark verändert. Vor 300 Jahren hatte Literatur noch eine große Bedeutung, als die Bibel ihre Lebensart maßgeblich bestimmte (insbesondere die Geneva-Bibel, die in weiten Teilen auf der lebendigen Übersetzung William Tyndales beruht). Es mag anachronistisch anmuten, im Zusammenhang mit Puritanern von »Literatur« zu sprechen, also einen Begriff zu gebrauchen, der sich erst im 18. Jahrhundert eingebürgert hat. Angemessener wäre wohl »Religion« oder »Theologie«, was auch mit Blick auf zahlreiche andere ältere Kulturen wie die indische gilt, deren Literaturgeschichte von religiöser Mythologie nicht klar zu trennen ist. Anstatt auf Begrifflichkeiten abzuheben, hoffe ich die Art, zu sprechen, zu erfassen, also den Grundton eines kulturellen Systems, die stillschweigenden Haltungen und impliziten Werte, die das Verhalten in ihm prägten. Vergleiche, so glaube ich, funktionieren am besten mit Blick auf Systeme. Deswegen versuchte ich nachzuvollziehen, wie Zensur in drei autoritären Systemen wirkte: unter der Monarchie der Bourbonen im Frankreich des 18. Jahrhunderts, unter der britischen Kolonialherrschaft im Indien des 19. Jahrhunderts und unter der kommunistischen Diktatur im Ostdeutschland des 20. Jahrhunderts. Jedes dieser Systeme ist für sich genommen eine Studie wert. Wenn man sie jedoch vergleichend nebeneinanderstellt, kann man die Geschichte der Zensur allgemein neu bewerten.

Den besten Einstieg stellt wohl die Frage dar: Was ist Zensur überhaupt? Als ich meine Studenten bat, Beispiele zu nennen, tauchten (neben den offensichtlichen Fällen von Unterdrückung unter Hitler und Stalin) unter anderem folgende Antworten auf:

– Noten vergeben

– einen Professor »Professor« nennen

– politische Korrektheit

– das Peer-Review-Verfahren bei wissenschaftlichen Publikationen

– jede Form der Begutachtung

– Lektorieren und Publizieren

– Waffen verbieten

– den Fahneneid schwören oder ihn verweigern

– einen Führerschein beantragen oder ihn ausstellen

– Überwachung durch die National Security Agency

– die Bewertung von Filmen durch die amerikanische Motion Picture Association

– die gesetzliche Vorschrift in den USA, an Schulen und Bibliotheken Jugendschutzfilter einzusetzen, um Minderjährige vor schädlichen Einflüssen aus dem Internet zu schützen

– Geschwindigkeitskontrollen durch Kameras

– die Geschwindigkeitsbegrenzung einhalten

– im Namen der nationalen Sicherheit Dokumente unter Verschluss halten

– Geheimhaltung überhaupt

– Algorithmen, die Einträge nach Wichtigkeit ordnen

– »sie« anstatt »er« als Standardpronomen gebrauchen

– Krawatten vorschreiben oder verbieten

– Höflichkeit

– Schweigen

Die Liste ließe sich endlos verlängern, sodass sie legale wie illegale Sanktionen, psychologische oder technische Filter und alle möglichen Verhaltensweisen von staatlichen Behörden, privaten Institutionen, sozialen Gruppen oder auch Einzelnen abdecken würde, die danach trachten, die Tiefen der menschlichen Seele auszuloten. Unabhängig von ihrer Tauglichkeit deuten diese Beispiele darauf hin, dass eine umfassende Definition von Zensur beinahe jeden Lebensbereich betreffen kann. Aber wenn man Zensur überall wittert, läuft man Gefahr, dass man sie schließlich nirgends mehr ausmachen kann: Ihre weiteste, allumfassende Definition schließt jede Unterscheidung aus und macht sich damit selbst überflüssig. Zensur mit jeder Art Zwang gleichzusetzen, heißt, sie zu trivialisieren.

Statt mit einer Definition einzusteigen und nach passenden Beispielen zu suchen, bestand meine Vorgehensweise darin, Zensoren zu ihrer Arbeit zu befragen. Auch wenn sie dafür nicht mehr persönlich zur Verfügung stehen (die seltene Ausnahme der DDR-Zensoren behandle ich in Teil III), so hinterließen sie doch in den Archiven Aussagen, die sich daraufhin auswerten lassen, wie sie einst Texte überprüften und bewerteten. Allerdings genügen dazu nicht ein paar vereinzelte Dokumente. Erst zu Hunderten, die eine Serie bilden, verraten sie, wie Zensoren ihre Alltagsaufgaben erledigten. Wie gingen sie vor? Wie fassten sie ihre Arbeit auf? So lauten die entscheidenden Fragen. Wenn man das richtige Material zusammenträgt, finden sich Muster im Vorgehen der Zensoren und ihres Umfelds – von der sorgfältigen Überprüfung von Manuskripten durch Lektoren bis hin zur Beschlagnahmung von Büchern durch die Polizei. Die Rollen variierten je nach den beteiligten Institutionen, die ihrerseits je nach gesellschaftlicher und politischer Ordnung unterschiedlich in den Zensurprozess eingebunden waren. Es wäre ein Irrtum, zu erwarten, dass jedes gedruckte Werk auf dem immer gleichen Weg das Licht der Öffentlichkeit erblickte und Behörden auf Konflikte stets mit den gleichen repressiven Maßnahmen reagierten. Zensur kennt kein allgemeingültiges Modell.

Dagegen lassen sich generelle Tendenzen ausmachen, wie Zensur in den letzten hundert Jahren erforscht wurde.4 Auch auf die Gefahr hin, die Dinge zu vereinfachen, nenne ich an dieser Stelle zwei: Zum einen wurde die Geschichte der Zensur als Kampf um die freie Meinungsäußerung erzählt, die politische und religiöse Autoritäten zu unterdrücken versuchen; zum anderen als eine Geschichte aller möglicher Zwänge, die den freien Informationsaustausch beschränken. So gegensätzlich beide Sichtweisen sind, so spricht doch vieles für beide.

Die erste hat eine manichäische Qualität: Sie sieht die Kinder des Lichts im Kampf mit denen der Finsternis und spricht alle Verfechter der Demokratie an, die bestimmte Wahrheiten als selbstverständlich erachten.5 Unabhängig von ihrer logischen oder epistemologischen Gültigkeit werden diese Wahrheiten als oberste Prinzipien betrachtet, die nicht nur im Abstrakten, sondern auch in der politischen Praxis gelten. So liefert der 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten die Grundlage für Gesetzgebungen und juristische Entscheidungen, die die Bedeutung und die Grenzen der »Rede- oder Pressefreiheit« festlegen, wie die betreffenden Freiheiten in dem Bandwurmsatz, aus dem der Verfassungszusatz besteht, genannt werden.6 Kenner der Materie mögen über den »Absolutismus des 1. Zusatzartikels«7 spotten, aber diese in den Grundrechten verbriefte Freiheit ist Teil einer politischen Kultur, die sich über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg entwickelt hat und die Loyalität von Millionen Bürgern zu ihrem Staat begründet – man könnte sie als eine Art säkulare Religion begreifen.8 Indem die US-Bürger auf den 1. Zusatzartikel pochen, erhalten sie gewisse Verhältnisse aufrecht. Sie verhalten sich im Einklang mit dem Rechtsstaat und wenden sich, falls sie mit anderen in Konflikt geraten, an Gerichte, die geschriebenes Recht in die aktuelle Praxis umsetzen.

Wenn Philosophen zugunsten der Grundrechte argumentieren, tun sie das auf einer abstrakten Ebene. Sie sind sich dabei aber durchaus bewusst, dass Ideen innerhalb bestimmter Machtverhältnisse und Regeln der Kommunikation Fuß fassen. Als die Vorzensur aus dem englischen Recht verschwand, bejubelte John Locke, der Philosoph, der am engsten mit Theorien zum Naturrecht assoziiert wird, dies keineswegs als einen Triumph der Meinungsfreiheit. Vielmehr begrüßte er die Ablehnung des Parlaments, den betreffenden »Licensing Act« zu verlängern, als einen Sieg über die Verlagsgilde Stationers’ Company, die er verabscheute, weil sie ein Monopol bei der Veröffentlichung von Druckerzeugnissen hatte und für die Verbreitung von Schund verantwortlich sei.9 Gegen sie wetterte auch Milton in Areopagitica, dem bedeutendsten englischsprachigen Manifest für die Pressefreiheit, die allerdings nur begrenzt gelten sollte (»Papismus« und »offener Aberglaube« sollten nicht erlaubt sein).10 Diese und andere Beispiele (etwa das Diderots)11 belegen allerdings keineswegs das Versäumnis der Philosophen, Pressefreiheit als Grundprinzip zu verfechten. Sie zeigen vielmehr, dass sie diese Freiheit als ein Ideal verstanden, das in der realen Welt wirtschaftlicher und politischer Interessen verteidigt werden musste. Freiheit war keine überirdische Norm, sondern ein entscheidendes Prinzip des politischen Diskurses, das sie in den gesellschaftlichen Wandel des 17. und 18. Jahrhunderts einbrachten. Die Welt der Bürgerrechte und gemeinsamen Werte, in der heute viele von uns leben, haben sie mit aufgebaut. Diese moralische Ordnung ist durch das Internet mitnichten obsolet geworden. Und es wäre völlig kontraproduktiv, sich gegen Zensur zu wenden, dabei aber jene Tradition abzulehnen, die erst aus der Antike über Milton und Locke bis hin zum 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten und zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geführt hat.

Dieses Argument mag verdächtig abgehoben klingen. Es hat mehr als nur einen Hauch Whig-Historiografie12 und riecht nach faulem Liberalismus. Ich bekenne mich zu liberalen Sympathien und dazu, dass Areopagitica für mich die bewegendste Streitschrift war, die ich je gelesen habe. Aber ich muss auch einräumen, dass ich mit einer zweiten Herangehensweise an den Gegenstand sympathisiere, die der ersten zuwiderläuft: Worte, ob mündlich oder schriftlich geäußert, üben immer auch Macht aus. Tatsächlich wirkt die Macht der Rede ganz ähnlich wie gewöhnliche Handlungen im Alltag. Hinter sprachlichen Handlungen, wie Sprachphilosophen sie begreifen, steht die Absicht, in der umgebenden Welt Wirkungen hervorzurufen. Und wenn sie in schriftlicher Form daherkommen, müssen sie nicht unbedingt gleich als Literatur gelten. Manche Literaturtheoretiker argumentieren gar, es sei sinnlos, die sogenannte Redefreiheit als eine besondere Kategorie zu verherrlichen und mithilfe der Gesetzgebung Zäune um sie herum zu errichten. Wie Stanley Fish im Titel eines provokanten Essays verkündete: »Es gibt keine Freiheit der Rede, und das ist auch gut so.«13

Weitere Tendenzen in der Zensurforschung, die in dieselbe Richtung zielen, ließen sich im Kontext der sogenannten Postmoderne ausmachen:14 Im Gegensatz zu denen, die Zensur als Verletzung von Rechten sehen, konzipieren viele Theoretiker sie als allgegenwärtiges Beiwerk gesellschaftlicher Realität. Nach ihrer Auffassung ist überall und jederzeit, in der individuellen Psyche wie im kollektiven Denken, Zensur am Werk. Sie wirke so omnipräsent, dass sie kaum von Zwängen allgemeiner Art zu unterscheiden sei, wie sie meine Studenten angeführt haben. Ein Geschichtswerk zur Zensur steht somit vor einem Dilemma: Auch wenn es triftige Gründe gibt, den Gegenstand durch eine enge Definition einzugrenzen, so ist deren Ausweitung über alle Grenzen hinaus ebenfalls möglich. Wir haben es mit zwei gegensätzlichen Sichtweisen zu tun: einer normativen und einer relativistischen. Meiner Ansicht nach lassen sie sich in Einklang bringen, wenn beide akzeptiert und auf einer höheren Ebene analysiert werden – einer anthropologischen, wie ich sie nennen würde. In diesem Sinne präsentiere ich eine »dichte Beschreibung«,15 wie Zensur in drei ganz unterschiedlichen politischen Systemen konkret funktionierte.

Diese Art Geschichtsschreibung erfordert eine eingehende Archivarbeit, die für den Historiker das ist, was Feldforschung für den Anthropologen darstellt. Erste Erfahrungen in ihr sammelte ich vor vielen Jahrzehnten im Archiv der Bastille in Paris und in der umfangreichen Sammlung Anisson-Duperron sowie der Sammlung der Chambre syndicale der Pariser Buchdruckergilde, die beide in der Bibliothèque nationale de France verwahrt werden. Dank einer Serie glücklicher Umstände verbrachte ich 1989/90 ein Jahr am Wissenschaftskolleg zu Berlin, wo ich kurz nach dem Fall der Berliner Mauer DDR-Zensoren kennenlernte. 1993/94 konnte ich die Auskünfte, die sie mir gegeben hatten, in einem weiteren Jahr als Stipendiat des Wissenschaftskollegs vervollständigen. Ich vertiefte das Thema in mehreren Recherchen, die ich in den Unterlagen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) durchführte. Nachdem ich mich mit der Vorgehensweise von Zensoren in zwei völlig verschiedenen politischen Systemen im 18. bzw. im 20. Jahrhundert befasst hatte, beschloss ich, nach Material aus dem 19. Jahrhundert von außerhalb der westlichen Welt zu suchen. Damals war Graham Shaw für die Bibliothek und das Archiv des India Office an der British Library verantwortlich, also jenes Ministeriums, das für die Verwaltung Britisch-Indiens zuständig gewesen war. Er ermöglichte es mir, zwei Sommer damit zuzubringen, das besonders reichhaltige Archiv des Indian Civil Service (ICS), der Beamtenelite in Britisch-Indien, zu durchforsten.

Nach all diesen Expeditionen zu fruchtbringenden Quellen stand ich schließlich vor dem Problem, dieses vielfältige Material zu einem Buch zu verarbeiten. Um die Informationen in ihrer gesamten Fülle zu verwerten, hätte ich drei Bücher schreiben müssen, aber ich wollte meine Forschungsergebnisse komprimiert in einem Band darstellen, um den Lesern die Möglichkeit zu geben, Vergleiche anzustellen und allgemeine Fragen vor unterschiedlichen Hintergründen zu betrachten. Die Betrachtung von drei unterschiedlichen Ländern in drei verschiedenen Jahrhunderten wirft wiederum Fragen zu Begrifflichkeiten und Zusammenhängen auf, bei denen man leicht den Überblick verliert. Dennoch hoffe ich, dass dieses Buch trotz seiner gedrängten Darstellung ein breiteres Lesepublikum anspricht und zum Nachdenken über das Problem anregt, das sich aus der parallelen Entwicklung zweier Kräfte ergibt: der des Staates, der nach immer mehr Daten giert, und der einer Kommunikation, die dank des technischen Fortschritts immer mehr Daten bereitstellt. Die systematische staatliche Zensur von Literatur, die in diesem Buch untersucht wird, ging weit über eine Bearbeitung von Texten mit dem Rotstift hinaus. Sie erstreckte sich auf die Gestaltung von Literatur als eine Kraft, die die gesamte gesellschaftliche Ordnung durchwirkt. Wenn Staaten im Zeitalter des Buchdrucks solche Macht ausübten, was hindert sie dann daran, Macht in der Ära des Internets zu missbrauchen?

TEIL IDAS FRANKREICH DER BOURBONEN Druckprivileg und Repression

Die manichäische Sichtweise von der Zensur bietet sich besonders mit Blick auf das Zeitalter der Aufklärung an, das gerne als Kampf zwischen Licht und Finsternis gesehen wird. Aus diesem grundlegenden Widerstreit leiteten ihre Verfechter weitere Gegensätze ab: Freiheit gegen Unterdrückung und Toleranz gegen Bigotterie. Parallel wirkende Kräfte sahen sie auch in den Bereichen von Gesellschaft und Politik am Werk: hier die von den philosophes mobilisierte öffentliche Meinung, da die Macht von Kirche und Staat. Historische Werke zur Aufklärung vermeiden solche Vereinfachungen natürlich und legen vielmehr Widersprüche und Mehrdeutigkeiten offen, insbesondere wenn sie abstraktes Gedankengut auf Institutionen und Ereignisse beziehen. Beim Thema Zensur stellen historische Deutungen allerdings gewöhnlich die repressiven Aktivitäten von Verwaltungsbeamten dem Bestreben von Autoren entgegen, der Meinungsfreiheit mehr Raum zu verschaffen. Frankreich liefert die dramatischsten Beispiele hierfür: Bücher wurden verbrannt, Autoren in Haft genommen und die bedeutendsten Werke der Literatur verboten, insbesondere die Voltaires und Rousseaus sowie die Encyclopédie, deren Publikationsgeschichte stellvertretend für einen Kampf steht, Wissen aus den Fesseln von Staat und Kirche zu befreien.1

Zugunsten dieser Deutungslinie ist vieles vorzubringen, insbesondere aus der Perspektive des klassischen Liberalismus oder des Kampfs um die Menschenrechte, also von einem modernen Standpunkt aus, der sich selbst aus der Aufklärung herleitet. Aber unabhängig davon, ob diese Deutung als Mittel gelten kann, um Werturteile und historische Objektivität in Einklang zu bringen, fehlt ihr als Fundament die Forschung darüber, wie Zensur konkret funktionierte. Wie gingen Zensoren vor? Wie verstanden sie ihre Aufgabe? Und wie passte ihre Tätigkeit in die damalige gesellschaftliche und politische Ordnung?2

Typografie und Legalität

Das Titelblatt von Nouveau voyage aux isles de l’Amérique (Paris 1722) kann als stellvertretend für die Bücher des 18. Jahrhunderts gelten. Sein Text zieht sich so lange dahin, dass man mit ihm heute eher den Schutzumschlag des Buchs beschriften würde, und erfüllte auch einen ähnlichen Zweck: Er gab interessierten Lesern eine kurze Zusammenfassung und warb für den Inhalt. Zumindest dem modernen Leser fällt außerdem auf, dass der Name des Autors fehlt, allerdings nicht deshalb, weil dieser seinen Text anonym veröffentlichen wollte, sondern weil er an anderer Stelle in der Titelei auftaucht. Dagegen erscheint unten auf dem Titelblatt an prominenter Stelle mitsamt seiner Adresse derjenige, der für das Buch eigentlich verantwortlich zeichnete und juristisch wie finanziell dafür geradestehen musste: »Zu Paris, Rue Saint-Jacques, Buchhandlung Pierre-François Giffart, nahe der Rue des Mathurins, am Bildnis der Heiligen Theresa.« Der Genannte war Buchhändler (libraire), und er trat wie viele Kollegen auch als Verleger auf (der moderne Begriff »éditeur« war damals noch nicht geläufig). Er kaufte Autoren Manuskripte ab, besorgte deren Druck und vertrieb das fertige Erzeugnis in seinem Geschäft. Buchhändler unterstanden seit 1275 der Universität und mussten deshalb ihr Geschäft im Quartier Latin betreiben. Die meisten drängten sich in der Rue Saint-Jacques, wo ihre schmiedeeisernen, bebilderten Ladenschilder (daher »am Bildnis der Heiligen Theresa«) wie Fahnen in dichter Beflaggung im Wind über der Straße schwangen. Die Confrérie des imprimeurs et libraires, eine dem Evangelisten Johannes gewidmete Bruderschaft, versammelte sich in der Kirche der Mathuriner-Pater in der Rue des Mathurins nahe der Sorbonne, deren theologische Fakultät häufig Urteile darüber sprach, ob veröffentlichte Texte mit der Rechtgläubigkeit in Einklang standen. Mit der genannten Adresse war das Buch somit mitten im Herzen des offiziellen Buchhandels veröffentlicht worden. Und sein nicht nur legaler, sondern herausgehobener Status ging aus der unten auf dem Titelblatt abgedruckten Formel hervor: »Mit Approbation und Druckprivileg des Königs.«

Die typische Titelseite eines zensierten Buchs: Nouveau voyage aux isles de l’Amérique (1722).

Es ist das Phänomen der Zensur, auf das wir hier stoßen, denn Approbationen als offizielle Genehmigungen wurden von königlichen Zensoren erteilt. In diesem Fall wurden ganz vorne im Buch gleich vier abgedruckt, die von den genehmigenden Zensoren verfasst worden waren, darunter die eines Professors an der Sorbonne: »Es bereitete mir Vergnügen beim Lesen und enthält unendlich viele faszinierende Dinge.« Ein anderer, ein Professor für Botanik und Medizin, hob den Nutzen für Reisende, Kaufleute und Studenten der Naturgeschichte hervor und lobte vor allem den Stil. Ein dritter, ein Theologe, attestierte dem Buch lediglich, dass es eine spannende Lektüre sei: Er habe es nicht aus der Hand legen können, wecke es doch im Leser »dieses süße, wenn auch neugierige Interesse, das uns nach mehr verlangen lässt«. Würde man von einem Zensor eine solche Ausdrucksweise erwarten? Oder, mit dem kanadischen Soziologen Erving Goffman gefragt, der seinen Untersuchungsansatz angeblich so zusammenfasste: Was geht hier eigentlich vor?

Folgende Abbildungen:

Approbationen und ein königliches Privileg, abgedruckt hinter dem Vorwort zu Nouveau voyage aux isles de l’Amérique. Im Anschluss an den Text des Privilegs (hier nur der erste Teil) sind in Vermerken die Schritte festgehalten, mit denen dieses zur kommerziellen Nutzung rechtskräftig gemacht wurde:

1. Es wurde ins offizielle Register der Pariser Gilde der Buchhändler und Drucker eingetragen. 2. Der Autor F. J.-B. Labat trat das ihm erteilte Druckprivileg an die beiden Buchhändler Giffart und Cavelier fils ab. (Laut einem weiter vorn abgedruckten Hinweis waren nur Buchhändler oder Drucker zum Vertrieb von Büchern berechtigt.) 3. Giffart und Cavelier fils bescheinigten, dass sie das Privileg in vier Teile aufgeteilt hatten. Jeder behielt einen Teil, zudem traten sie jeweils einen Teil an Caveliers Vater und an Theodore le Gras ab, beide ebenfalls Buchhändler.

Eine erste Antwort liefert der Wortlaut des Privilegs, das hinter den Approbationen in Form eines königlichen Schreibens an die Hofbeamten abgedruckt ist: Der König lässt wissen, dass er dem Verfasser des Buchs, dessen Name an dieser Stelle erstmals auftaucht, das Exklusivrecht erteilt hat, dieses zu vervielfältigen und über Mittelsmänner in der Buchhändlergilde zu vertreiben. Der lange und komplizierte Text enthält zahlreiche Vorgaben zur materiellen Beschaffenheit des Buchs. Es sei »auf gutem Papier und in schönen Lettern entsprechend den Vorschriften des Buchhandels« zu drucken. Letztere legten detailliert einen überprüfbaren Qualitätsstandard fest: Das Papier musste einen bestimmten Anteil an Lumpen enthalten, während die Lettern so kalibriert zu sein hatten, dass ein m exakt die Breite von drei l hatte – Colbertismus in Reinform, eine unter dem Finanzminister Jean-Baptiste Colbert entwickelte Politik staatlicher Eingriffe, die den Handel fördern sollten, unter anderem durch ein vorgeschriebenes Mindestmaß an Qualität und durch den Schutz heimischer Gilden mithilfe von Einfuhrzöllen. Der Text des Druckprivilegs endete wie alle königlichen Edikte: »Car tel est nostre plaisir.« (»Weil es uns so gefällt.«) Rechtlich gesehen, durfte das Buch erscheinen, weil der König Gefallen an ihm fand und ihm seine »Gnade« erwies. Der Ausdruck »grâce« taucht denn auch in sämtlichen bedeutenden Dokumenten um den Buchhandel auf. Tatsächlich untergliederte sich die Direction de la librairie, die für die Aufsicht über den Buchmarkt zuständige königliche Behörde, in zwei Abteilungen: in die Librairie contentieuse, die in Streitigkeiten zu entscheiden hatte, und die Librairie gracieuse, die Druckprivilegien erteilte. Hinter dem Privileg war abschließend in mehreren Absätzen festgehalten, dass dieses in das Register der Buchhändlergilde eingetragen und in vier Anteile aufgeteilt worden war, die jeweils ein Buchhändler erworben hatte.

Aus heutiger Sicht mutet all dies eher merkwürdig an: Zensoren preisen den Stil und die Lesbarkeit des Buchs, anstatt ketzerische Passagen herauszustreichen. Der König spendet dem Band seine Gnade. Und Mitglieder der Buchhändlergilde teilen diese Gnade unter sich auf und erwerben sie als Eigentum. Was ging hier vor sich?

Als eine Möglichkeit, dieses Rätsel zu lösen, bietet es sich an, das Buch des 18. Jahrhunderts mit bestimmten englischen Marmeladengläsern oder Keksdosen zu vergleichen, die auf Ausländer seltsam wirken, weil sie das Siegel »Hoflieferant Ihrer Majestät, der Königin« tragen. Das Buch trug gleichsam ein Gütesiegel, da es mit einer königlichen Druckgenehmigung ausgestattet war, erteilt von Zensoren, die sich für seine insgesamt herausragende Qualität verbürgten. Zensur war nicht einfach ein Verfahren, um ketzerisches Gedankengut auszumerzen. Sie war positiv: eine königliche Empfehlung für das Buch mit der offiziellen Aufforderung, es zu lesen.

Unter dem Ancien Régime herrschte das Prinzip des »Privilegs«. Der Begriff leitet sich etymologisch von den lateinischen Wörtern »lex« (Gesetz) und »privus« (einzeln, gesondert) her, bedeutet also »Ausnahmegesetz« oder »Vorrecht«. Das Privileg bestimmte nicht nur in Frankreich, sondern in den meisten Teilen Europas den Aufbau der Gesellschaft im Allgemeinen. Das Recht hatte für den Einzelnen unterschiedliche Gültigkeit, da jeder davon ausging, dass alle (Männer und noch mehr Frauen) ungleich geboren und Hierarchien von Gott gegeben sowie der Natur inhärent seien. Eine Gleichheit vor dem Gesetz war außer für wenige Philosophen für die meisten Europäer unvorstellbar. Das Recht war eine besondere Gabe, die Einzelnen oder Gruppen aus Tradition oder dank königlicher Gnade zufiel. Und wie wohlgeborene »Männer von Rang« genossen auch erlesene Bücher Privilegien. Tatsächlich funktionierte das Druckprivileg auf drei Ebenen des Verlagsgewerbes. Privilegiert wurden das Buch (außer in England gab es ein Urheberrecht im modernen Sinn noch nicht), der Buchhändler (nur Mitglieder der Gilde durften mit Büchern überhaupt handeln) und die Gilde selbst (die als exklusive Körperschaft gewisse Privilegien, insbesondere die Befreiung von den meisten Steuern, genoss). Kurz, die Monarchie der Bourbonen errichtete ein ausgefeiltes System, um die Macht des gedruckten Wortes in ihrem Sinne zu lenken. Und als Produkt dieses Systems stand das Buch stellvertretend für die Macht des gesamten Regimes.

Der Standpunkt des Zensors

So stellten sich aus typografischer Sicht die formalen Charakteristika von Frankreichs Ancien Régime dar. Wie sieht das System aus, das hinter der Fassade der Titelseiten und Privilegien operierte, wie die Arbeit der Zensoren? Zum Glück liefert eine Reihe von Handschriften in der Bibliothèque nationale de France einen reichhaltigen Fundus an Auskünften darüber, wie Zensoren ihre Aufgaben in den 1750er- und 1760er-Jahren erfüllten. Hunderte Briefe und Gutachten, die sie Chrétien-Guillaume de Lamoignon de Malesherbes, dem Leiter der Buchhandelsverwaltung (Direction de la librairie) schickten, zeigen auf, wie sie bei der Arbeit vorgingen und insbesondere mit welchen Begründungen sie Anträge auf ein Privileg bewilligten oder ablehnten.3

Da ihre Gutachten als vertrauliche Mitteilungen an Malesherbes konzipiert waren, bewerteten sie die überprüften Bücher mit einer Offenheit, wie sie in den förmlichen Approbationen nicht erscheinen konnte. Bei manchen Manuskripten gaben sie natürlich nur eine Versicherung ab, dass sie keine Angriffe auf Religion, Sitten oder Staat enthielten – die konventionellen Kriterien, von denen sich ein Zensor leiten ließ. Viele Gutachten beinhalteten indes zudem positive Vermerke zum Stil und Inhalt, sei es auch nur in einem oder zwei Sätzen. So lautete eine typische Empfehlung für ein Privileg: »Auf Anordnung von Monseigneur, dem Kanzler, habe ich die Lettres de M. de la Rivière gelesen. Sie [die Briefe] erscheinen mir gut verfasst und voller Verstand und erbaulicher Reflexionen.«4 Texte, die Begeisterung entfachten, ernteten dick aufgetragenes Lob. Ein Zensor gab einen ausgefeilten Bericht über sämtliche Vorzüge, derentwegen ein Band über die britischen Inseln ein Druckprivileg verdiene: tadelloser Aufbau des Stoffs, superbe Geschichte und präzise Geografie; es sei die Art Werk, die des Lesers Neugierde befriedige.5 Ein anderer empfahl ein Buch über Ethik hauptsächlich wegen dessen ästhetischer Qualitäten. Zwar fehle dem Ton eine gewisse Erhabenheit, doch sei es schlicht und solide verfasst, mit amüsanten Anekdoten angereichert und stofflich so präsentiert, dass es das Interesse des Lesers fessele, während es ihn von den Vorzügen der Tugend überzeuge.6 Wenige positive Gutachten erreichen sogar die Länge einer Rezension.7 So ließ sich ein Zensor bei einem Reisebericht zu einer Lobeshymne hinreißen, unterbrach sich selbst und rang sich dann zu einer knappen Empfehlung durch, um nicht »das Gebiet der Herren Journalisten zu betreten«.8 Weit davon entfernt, sich wie Wächter der Ideologie zu gebärden, schrieben die Zensoren als Gelehrte, deren Gutachten geradezu selbst ein literarisches Genre bildeten. Ihre schriftstellerischen Bedenken fallen besonders in ablehnenden Gutachten auf, bei denen man eher erwartet hätte, dass sie sich stärker darauf konzentrieren würden, häretische Äußerungen auszumachen. Ein Zensor geißelte den »lockeren und ausgelassenen Ton« eines Traktats zur Kosmologie.9 Ein anderer hatte gegen eine Biografie des Propheten Mohammed theologisch nichts einzuwenden, empfand sie aber als oberflächlich und unzulänglich recherchiert.10 Ein dritter wollte für ein mathematisches Lehrbuch deshalb keine Empfehlung aussprechen, weil die Probleme nur oberflächlich durchgearbeitet und von einigen Zahlen die Quadrate und dritten Potenzen nicht mit angegeben worden seien.11 Ein vierter lehnte eine juristische Abhandlung ab, weil sie von unpräzisen Begrifflichkeiten, falschen Datierungen von Dokumenten und einem falschen Verständnis von Grundprinzipien gekennzeichnet sei. Und es wimmele von Rechtschreibfehlern.12 Ein Bericht zu den Feldzügen des Preußenkönigs Friedrichs II. vergrämte einen fünften Zensor – nicht wegen respektloser Äußerungen über die französische Außenpolitik, sondern wegen ihrer »Zusammenstellung ohne Geschmack und Urteilsvermögen«.13 Und ein sechster lehnte eine Apologie des wahren Glaubens gegen die Angriffe von Freidenkern hauptsächlich deswegen ab, weil sie hingeschludert worden sei:

Dies ist überhaupt kein Buch. Welche Anliegen der Autor verfolgt, erfährt man erst, wenn man es ganz zu Ende gelesen hat. Er schlägt eine Richtung ein und macht wieder kehrt. Viele Überlegungen sind dürftig und oberflächlich. Um Lebendigkeit bemüht, ist sein Stil überschwänglich. […] Er gerät ganz häufig in Lächerlichkeit und Dummheit, weil er unbedingt Schönes verkünden will.14

Natürlich verurteilten die Zensoren in ihren Gutachten vielfach auch unorthodoxe Gedanken und verstanden sich sicherlich als Verteidiger von Kirche und König. Aber sie gingen zudem davon aus, dass eine Approbation zugleich eine Leseempfehlung beinhaltete und dass ein Druckprivileg für ein Buch auch bedeutete, dass es mit dem Segen der Krone erschien. Nach ihrem Selbstverständnis als Gelehrte oder sogar Literaten waren sie entschlossen, wie einer es fasste, »die Ehre der französischen Literatur«15 zu verteidigen. Sie schlugen häufig einen überheblichen Ton an und übergossen Werke, die das im Grand Siècle etablierte literarische Niveau unterschritten, mit einigem Hohn. Mit dem Sarkasmus eines Nicolas Boileau, des scharfzüngigsten Kritikers im 17. Jahrhundert, lehnte ein Zensor einen Almanach ab, an dem nichts auszusetzen war außer der Sprache: »Sein Stil ist miserabel.«16 Ein anderer verweigerte einem Liebesroman nur deshalb die Genehmigung, weil er »schlecht geschrieben« sei.17 Ein dritter verurteilte einen übersetzten englischen Roman für seine Geistlosigkeit: »Der Stoff ist seicht, und dieser wesentliche Mangel wird durch keine Details wettgemacht. Diese sind weder einfallsreich noch erfreulich. […] Ich entdecke nur fades Moralisieren, gemischt mit gemeinen Abenteuern, schalen Späßen, farblosen Schilderungen und trivialen Gedanken. […] Ich glaube nicht, dass es ein solches Werk verdient, mit der öffentlichen Auszeichnung der Approbation zu erscheinen.«18

Diese Art Zensur warf ein Problem auf: Wenn Manuskripte nicht nur unverfänglich, sondern auch würdig sein mussten, das Siegel der Zustimmung des Königs zu tragen, scheiterte an dieser Hürde dann nicht der Großteil der Literatur? Um diese Schwierigkeit zu umgehen, beschritt der Zensor des erwähnten Romans einen konventionellen Weg:

Aber da [dieses Werk] trotz seiner Mängel und Unzulänglichkeit nichts Gefährliches oder Verwerfliches birgt und eigentlich weder Religion noch Moral oder Staat angreift, so meine ich, dass es eine geringe Gefahr darstellt, seinen Druck zu dulden, und dass man es mit einer stillschweigenden Genehmigung der Öffentlichkeit präsentieren kann, die sich durch ein Geschenk dieser Art wenig geschmeichelt fühlen wird.19

Mit anderen Worten: Das Regime versah sein Rechtssystem mit Schlupflöchern. »Stillschweigende Genehmigung«, »Duldungen«, »einfache Genehmigungen« oder »polizeiliche Genehmigungen« – die für das Buch zuständigen Beamten ersannen eine ganze Reihe von Kategorien, die es ermöglichten, Bücher zu veröffentlichen, ohne sie offiziell zu empfehlen. So, wie das System der Privilegien angelegt war, blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, wenn sie der zeitgenössischen Literatur nicht en gros den Krieg erklären wollten. Wie es Malesherbes in einer Reflexion über seine Jahre als Leiter der Zensurbehörde fasste: »Ein Mann, der nur Bücher gelesen hätte, die ursprünglich mit ausdrücklicher Billigung der Regierung erschienen waren, wie es das Gesetz vorschreibt, wäre um fast ein Jahrhundert hinter seinen Zeitgenossen zurückgeblieben.«20 Malesherbes weitete den Einsatz stillschweigender Genehmigungen stärker als jeder Direktor des Buchhandels vor ihm aus. Diese einvernehmliche Lösung ermöglichte es, ein Buch so lange zu vertreiben – gewöhnlich mit stillschweigender Duldung der Polizei –, als es keinen Skandal auslöste und aus dem Verkehr gezogen werden musste. Im Gegensatz zu Privilegien beinhalteten stillschweigende Genehmigungen kein Exklusivrecht, ein Werk zu veröffentlichen, erforderten aber dennoch die Zustimmung eines Zensors und die Erfassung in einem Register. Ein solches Buch erschien dann ohne jede Spur der Billigung und ohne Namen des Zensors. Dafür tauchte auf der Titelseite häufig eine falsche Adresse auf, die es so aussehen ließ, als wäre es außerhalb Frankreichs erschienen. In besonders problematischen Fällen konnten Zensoren »simples tolérances« (einfache Duldungen) empfehlen, eine inoffizielle Anweisung des Direktors des Buchhandels, darüber hinwegzusehen, wenn ein Buch unter der Hand vertrieben wurde. »Polizeiliche Genehmigungen« wurden vom Generalleutnant der Polizei für knappe und kurzlebige Druckerzeugnisse erteilt, konnten aber ebenfalls widerrufen werden, sobald sie Anstoß erregten.

Dem Zensor, dem ein neues Manuskript vorlag, gab dieses abgestufte System der Legalität in der Regel drei Wahlmöglichkeiten an die Hand: Er konnte über den Direktor des Buchhandels eine Empfehlung für den Kanzler aussprechen, dem Werk ein Privileg zu erteilen, worauf dieses dann mit einer Approbation und dem Namen des Zensors erschien. Wenn er eine stillschweigende Genehmigung empfahl, wurde es wie ein aus dem Ausland importierter Titel ohne offizielle Unterstützung veröffentlicht. Wenn er es ablehnte, ging es illegal oder gar nicht in den Druck.21 Bei seiner Entscheidung musste der Zensor komplizierte und teils widersprüchliche Faktoren gegeneinander abwägen: Inwieweit stand der Text mit den konventionellen Normen von Religion, Politik und Moral im Einklang? Welchen Beitrag leistete sein Inhalt zur Literatur oder einem Wissensgebiet? Wie war es um seine literarische Qualität oder zuweilen auch um seinen Marktwert bestellt? Welchen Einfluss konnte er auf das Zeitgeschehen haben? Und wie wirkte er innerhalb des Geflechts aus persönlichen Beziehungen und Feindschaften in le monde, also in jener Geburts-, Wohlstands- und Kulturelite, die das öffentliche Leben in Frankreich beherrschte?

Dazu zwei Beispiele. Zunächst eine Erfolgsgeschichte: Der Chevalier de Mouhy, ein Romanschreiberling, der sich gelegentlich als Polizeispitzel verdingte, verfügte über wenig Talent und noch weniger Vermögen, hatte sich als Kapital aber »Protektionen« aufgebaut, womit im 18. Jahrhundert die Beziehungen gemeint waren, die in le monde das Spiel beherrschten. 1751 schusterte Mouhy belletristische Essays unter dem Titel Tablettes dramatiques zusammen und spielte einen ersten Trumpf aus: Er wurde dem Chevalier de Pons, einem Berater des Duc de Chartres, vorgestellt, und erhielt von ihm eine Genehmigung, dem Herzog während einer Audienz im Schloss Saint-Cloud sein Manuskript zu verehren. Der Herzog warf einen Blick hinein und bemerkte, dass er es gerne veröffentlicht sähe. Mouhy kehrte in seine Mansarde zurück, kritzelte eine überschwängliche Widmung für den Herzog zusammen, verhandelte mit de Pons über eine schmeichlerische Zeile und überredete ihn, den Herzog zu bewegen, diese Widmung anzunehmen. Als Nächstes arbeitete Mouhy daran, sein Manuskript durch die Zensur zu bringen, ein eher schwieriges Unterfangen, da es respektlose Bemerkungen über Gelehrte und die Académie française enthielt. Sein zweiter Trumpf sollte ihm den Weg ebnen: die Protektion des Maréchal de France Charles-Louis-Auguste Fouquet de Belle-Isle, eines der einflussreichsten Männer Frankreichs. Der Marschall erklärte M. de la Reignière – Malesherbes’ Schwiegervater – in einem Schreiben, er habe Mouhy seine Protektion gewährt und wäre entzückt, wenn er es ihm gleichtäte. Mouhy schickte de la Reignière ebenfalls einen Brief, in dem er auf die Widmung, die zweifache Protektion und die Wichtigkeit einer raschen Bearbeitung des Antrags auf ein Druckprivileg abhob: Aus wirtschaftlichen Gründen müsse er das Buch so schnell wie möglich auf den Markt bringen. De la Reignière entsprach Mouhys Bitte mit einem Schreiben an Malesherbes, der ihm seinerseits entgegenkam, indem er einen wohlwollenden Zensor ernannte: Dieser François-Augustin de Paradis de Moncrif war Stückeschreiber, Dichter und ein Mitglied der Académie française und verfügte dank seiner einnehmenden Art und seines Esprits in le monde über gute Beziehungen. Was von ihm erwartet wurde, wusste er durchaus: Malesherbes hatte ihm einen Marschbefehl mit dem Hinweis geschickt, dass de Belle-Isle, der Maréchal de France, an dieser Angelegenheit regen Anteil nehme.

So weit, so gut. Doch dann erhielt Moncrif eine besonders schlampige Abschrift, hingeschmiert in fast unleserlicher Klaue. Mit viel Zeit und Mühe kämpfte er sich durch das Manuskript und zeichnete, dem üblichen Prozedere entsprechend, die einzelnen gebilligten Seiten ab. Mit der Bitte um Beeilung überredete ihn Mouhy, einen ersten Stoß mit genehmigten Seiten auszuliefern, damit das Buch bei der nächsten Audienz bei Malesherbes im Bureau de la librairie für eine Approbation registriert werden könne. Auf die Art könne der Drucker am approbierten Teil schon die Arbeit aufnehmen, während Moncrif noch den Rest zensiere. Nichts könne schiefgehen: Er werde die Druckfahnen ja später mit den abgezeichneten Seiten des Manuskripts vergleichen können. Auch hatte ihm Mouhy einen Blankoscheck erteilt, alles Anrüchige zu streichen, obwohl er im Text dergleichen gewiss nicht finden werde. Statt Fahnen erhielt Moncrif allerdings nur ein Exemplar des frisch gedruckten Buchs mitsamt der Abschrift, die die Drucker verwendet hatten. Letztere enthielt zahlreiche Passagen, die in dem von Moncrif gebilligten Manuskript fehlten, darunter Bemerkungen auf Seite 76, an denen sich seine Kollegen in der Académie française zwangsläufig stoßen mussten. Moncrif eilte zu den Buchhandlungen, an die bereits erste Exemplare ausgeliefert worden waren, riss aus diesen die anstößige Seite heraus und verlangte von Mouhy, sie durch einen Widerruf zu ersetzen, ehe das Gros der Auflage auf den Markt kam. Auf die Art rettete der Zensor am Ende seinen Ruf, während der Autor dank seiner Fähigkeit, sich dreist durch die Bürokratie zu mogeln und Strippen zu ziehen, die gewünschte Fassung seines Buchs herausbrachte – abzüglich einer Seite.22

Weniger glücklich endete der zweite Fall. Guillaume Poncet de la Grave, ein Advokat und zweitklassiger Literat, war deutlich begüterter als der Chevalier de Mouhy, konnte aber weitaus weniger erfolgreich Protektoren mobilisieren, auch wenn er am Ende selbst Zensor wurde. 1753 vollendete er sein Projet des embellissements de la ville et des faubourgs de Paris, ein in Buchlänge dargelegtes Vorhaben zur Verschönerung der französischen Hauptstadt, bei dem öffentliche Plätze umgestaltet werden sollten. Ebenfalls mit dem Zensor Moncrif beglückt, der sich auf Werke über die bildenden Künste spezialisierte, versuchte auch Poncet, sein Buch unter der Flagge eines einflussreichen Gönners zu lancieren: Er bat den Marquis de Marigny, Madame de Pompadours Bruder, der als Beamter maßgeblich für die königlichen Bauprojekte zuständig war, ihm sein Werk widmen zu dürfen. Vergebens: Marigny schickte den Entwurf der Widmung mit einer unverblümten Absage zurück. Zu einer Erklärung gedrängt, antwortete er: »Die Widmung eines Werkes akzeptieren, hätte eine öffentliche Approbation erteilen geheißen.« Auch dachte er gar nicht daran, Poncet seinen Fall Mme. de Pompadour vortragen zu lassen: »Da meine Schwester kaum über freie Zeit verfügt, sehe ich keinen Moment, um Euch bei ihr einzuführen.«23 Das Fehlen der Widmung stand einer Approbation im Wege, da sich der Zensor keine Feinde in Versailles schaffen wollte.24 Bei einer Begegnung im Tuilerienpalast diskutierten Poncet und Moncrif lange über die ausweglose Lage. Laut Poncet empfand Moncrif das Manuskript eines Drucks als absolut würdig. Er habe eingeräumt, dass es seine »Pflicht als Zensor« sei, die Schrift zu approbieren, doch werde ihn nichts dazu bringen, Marigny zu verärgern.25 Der Marquis hatte von Architekturprojekten eigene Vorstellungen und wollte den Anschein vermeiden, andere Pläne zu favorisieren, insbesondere dann, wenn für ihre Umsetzung die Steuern erhöht werden müssten. Wie stets war Versailles knapp bei Kasse. Aber warum sollten derlei Erwägungen der Veröffentlichung eines Buchs im Wege stehen, das ein loyaler Untertan verfasst hatte und weder Kirche noch König oder andere Institutionen, sondern lediglich den Geschmack eines gut positionierten Marquis beleidigte?

Ratlos wandte sich Poncet über Moncrifs Kopf hinweg direkt an Malesherbes. »Es ist ärgerlich für einen Verfasser, so muss ich Euch gestehen, wenn er in Frankreich so vielen Wechselfällen ausgesetzt ist«, schrieb er. »Ich wusste nie, wie man den Schmeichler spielt. Das ist mein Unglück.« Aber dann verfiel er doch in einen schmeichlerischen Ton: »Wenn ich Euren Gerechtigkeitssinn nicht kennen würde, Monsieur, könnte ich zu meinen Gunsten meine Familienbande zu den Messieurs d’Auriac und Castargnier ins Feld führen. Obwohl ich sie nicht sehe, so wissen sie vollkommen, wer ich bin, und kennen bestens meinen Namen. […] Das Blut in wohlgeborenen Seelen trügt niemals.«26 Malesherbes bat Moncrif um seine Darstellung der Vorgänge. Der Zensor bestätigte, er wolle sich bei einflussreichen Leuten nicht kompromittieren und ersuche darum, von dem Fall entbunden zu werden. Überdies beschwerte er sich in einem empörten Brief an Poncet darüber, dass er ihn bei Malesherbes in ein ungünstiges Licht gesetzt hatte. Diesem blieb nichts anderes übrig, als demütig um einen anderen Zensor und eine stillschweigende Genehmigung zu bitten. Als sein Buch ein Jahr später ohne Privileg und Approbation erschien, nahmen die Dingen den absehbaren Lauf: Es erregte bei niemandem Anstoß, wurde aber auch von keinem zur Kenntnis genommen.

Beide Episoden verraten mehr darüber, wie Zensur im Alltag tatsächlich funktionierte, als die weithin bekannten Berichte über die Unterdrückung der Werke der Aufklärung. Tatsächlich arbeiteten Autoren und Zensoren in einer Grauzone zusammen, in der gesetzlich Erlaubtes und nicht Erlaubtes unscharf voneinander geschieden waren. Dass sie beide gleiche Auffassungen und Werte vertraten, überrascht kaum, da sie gewöhnlich demselben Milieu entstammten.27 Die meisten Zensoren arbeiteten selbst als Schriftsteller, von denen sich manche – so Fontenelle, Condillac, Crébillon fils und Suard – sogar der Aufklärung angeschlossen hatten. Wie die encyclopédistes gehörten sie der akademischen Welt, der Geistlichkeit, den freien Berufen oder der königlichen Verwaltung an.28 Anstatt von der Zensur zu leben, verfolgten sie Laufbahnen als Professoren, Ärzte, Anwälte oder Inhaber verschiedener Verwaltungsposten. Zensur war eine Nebenbeschäftigung, die sie mehrheitlich ehrenamtlich betrieben. 1764 erhielten von 128 Zensoren nur 33 eine bescheidene Vergütung von 400 Livres und einer eine von 600 Livres pro Jahr, während die übrigen ihre Aufgabe unentgeltlich erfüllten.29 Wenn sie lange loyal gedient hatten, konnten sie auf eine Pension hoffen. Für solche Ruhestandsgehälter hatte der Staat 1764 15000 Livres zurückgelegt. Als Lohn für ihre Mühen winkten den meisten Zensoren allerdings Prestige und die Aussicht auf Protektion. Wer im Almanach royal als »Zensor des Königs« eingetragen war, besetzte unter dessen Dienern einen herausgehobenen Platz, der als Sprungbrett auf lukrativere Posten dienen konnte. Ein Zensor teilte Malesherbes mit, er habe seine Position in der Erwartung akzeptiert, dass sein Gönner seine Laufbahn befördern werde. Da dieser aber verstorben sei, habe er keinerlei Interesse mehr, Manuskripte unter die Lupe zu nehmen.30 Nach der Anzahl der »Zensoren des Königs« zu urteilen, nahm deren Ansehen im Verlauf des Jahrhunderts kaum ab: Nach zehn im Jahr 1660 stieg diese auf sechzig Zensoren im Jahr 1700, siebzig im Jahr 1750, 120 im Jahr 1760 und bis auf fast 180 im Jahr 1789 kontinuierlich an.31 Dieser Zuwachs entsprach der starken Ausweitung der Buchproduktion im 18. Jahrhundert, gemessen an den jährlichen Anträgen auf eine offizielle Druckgenehmigung: von rund 300 im Jahr 1700 über 500 1750 auf über 1000 im Jahr 1780.32 Schriftsteller, Verleger und Zensoren waren gleichermaßen in einem expandierenden Gewerbe tätig, von dem die zuletzt genannten freilich am wenigsten profitierten.

Wieso erklärten sich so viele Gelehrte und Literaten, darunter viele prinzipientreue Männer, dazu bereit, eine solche Aufgabe zu übernehmen? Die »Arbeitsbeschreibung«, wie sie heute heißen würde, wirkte keineswegs einladend: Der Staat bezahlte sie nicht nur schlecht oder gar nicht, er stellte ihnen auch weder ein Büro noch einen Schreibtisch und nicht einmal einen Rotstift zur Verfügung. Dabei war Zensur ein mühseliges Geschäft mit dem ständigen Risiko, wichtige Leute vor den Kopf zu stoßen oder sogar Schmach auf sich zu ziehen. Die Frage so zu stellen, hieße allerdings einem Anachronismus aufzusitzen: Abgesehen von seltenen Protesten wie dem berüchtigten Zornesausbruch der Hauptgestalt in Le Mariage de Figaro,33 wurde Empörung über Zensoren zumeist erst nach 1789 laut, als sich die Überzeugung durchgesetzt hatte, dass dem Einzelnen ein Recht auf freie Meinungsäußerung zustand. Wie lässt sich Zensur als ein System verstehen, das in einer nach anderen Grundsätzen organisierten Welt Respekt einflößte?

Alltägliche Vorgehensweisen

Als möglichen Ausgangspunkt kann man die Beziehung zwischen Zensur und dem wachsenden Einfluss des Staates betrachten, einer Entwicklung, die in Frankreich seit der Zeit Richelieus rasant Auftrieb erhalten hatte. Zur Zeit Malesherbes’ durchlief die alte absolutistische Monarchie einen Wandel durch ein neues Phänomen, das laut Max Weber die moderne Gesellschaft allgemein prägte: die Bürokratisierung. Der Begriff »Bürokratie« tauchte erstmals in den 1750er-Jahren auf, als der Staat immer mehr auf Schreibarbeit, gedruckte Formulare, rationelle Verwaltungsabläufe und Hierarchien Bediensteter setzte, die von unten nach oben von den Schreibern und Kopisten über premiers commis bis hinauf zu den chefs de bureau organisiert waren.34 Zahlreiche Ämter blieben bis zum Ende des Ancien Régime allerdings käuflich. Dass der Staat bei deren Finanzierung und rechtlicher Stellung willkürlich und irrational vorging, sollte einen großen Teil zu seinem Zusammenbruch 1789 beitragen.35 Im Staatsapparat hatte die Direction de la librairie – eine Abteilung der Chancellerie, die in etwa mit einem heutigen Justizministerium vergleichbar ist – mit einer modernen Verwaltungseinheit wenig gemein. Sie verfügte nicht einmal über Büros. Malesherbes erledigte seine Geschäfte in seinem Stadthaus in der Rue Neuve des Petits Champs nahe der Rue de la Feuillade, in einem eleganten Pariser Viertel unweit der Place Vendôme. Fragen zur Zensur und einer breiten Vielfalt an anderen Angelegenheiten, die den Buchhandel betrafen, bearbeitete er in seinem »bureau«, einem Raum für »Audienzen«, in denen er wie ein Grandseigneur – also standesgemäß – Bitt- und Antragsteller empfing. Malesherbes gehörte der bedeutenden amtsadligen Dynastie der Lamoignon an: Er selbst besaß das Amt des Premier président an der Cour des Aides, die Steuersachen verhandelte, während sein Vater als Chancelier de France das höchste Amt im Königreich innehatte.36 Die Zensoren, die unter ihm arbeiteten, verfügten über keine eigenen Amtsstuben. Sie überprüften neben ihrem eigentlichen Haupterwerb die Manuskripte in ihren Privatwohnungen oder den jeweiligen Unterkünften. Es wäre deshalb irreführend, sie mit den Neologismen des 18. Jahrhunderts als »bureaucrate«, »buraliste« oder »paperasseur« (Papierkramer) zu bezeichnen.37

Dennoch hinterließen sie papierene Spuren, die auf formalisierte Abläufe und ein Selbstverständnis hindeuten, die als Ausdruck bürokratischer Arbeitsweisen gelten können – freilich durchsetzt von archaischen Elementen, die typisch für ein Gewerbe waren, das von einer Gilde – der Communauté des libraires et des imprimeurs de Paris – beherrscht wurde. Die Buchhändler, die ihr zwangsläufig angehörten, waren häufige Besucher in Malesherbes’ Audienz, einer Veranstaltung mit großem Andrang, die jeden Donnerstag stattfand, um Manuskripte mit Anträgen auf ein Privileg einzureichen.38 Malesherbes wies die einzelnen Manuskripte den Zensoren zu, wobei er ein billet de censure, auch bekannt als renvoi, ausstellte. Dieses Formular war an den jeweiligen Zensor gerichtet und enthielt einen Standardsatz:

Monsieur […],

möge bitte die Mühe auf sich nehmen, dieses Manuskript mit größtmöglicher Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu examinieren, um sein Urteil über es unverzüglich M. LE CHANCELIER zu übermitteln.

Malesherbes’ Sekretär vermerkte auf dem Formular den Namen des Zensors, den Titel des Manuskripts, das Datum und oben links auf der Seite die Nummer des Antrags. Letztere wurde mit den übrigen Angaben in ein Register mit dem Titel Livre de la librairie (Buch des Buchhandels) eingetragen. Wenn das Manuskript mit dem begleitenden billet de censure beim Zensor eingegangen war, ging dieser den Text durch, zeichnete (außer bei Ablehnung) jede gelesene Seite ab und notierte sämtliche für notwendig befundenen Änderungen. In klaren Fällen, in denen er ein Manuskript billigte, schrieb er sein »Urteil«, wie es hieß, unten auf das billet de censure und schickte es an Malesherbes zurück. Ein typisches positives Urteil lautete etwa:

Ich fand nichts außer Anständigem und [inhaltlich] Vernünftigem in diesem kleinen Werk zur Malerei in Herculaneum, dessen Druck, sofern beantragt, mit einem förmlichen Privileg anstatt mit einer stillschweigenden Genehmigung gestattet werden kann.39

Ein gedrucktes billet de censure vom 28. Februar 1751, unterzeichnet von Malesherbes mit einer Anweisung an den Zensor de Boze, das Manuskript mit dem Titel Lettre sur les peintures d’Herculanum zu begutachten. Zum Datum des 2. März 1751 setzte de Boze seine Beurteilung darunter: Er attestierte dem Manuskript, dass es einer stillschweigenden Genehmigung oder eines Privilegs würdig sei. Laut dem Vermerk ganz oben wurde es mit einer stillschweigenden Genehmigung bedacht. Die Nummer oben links diente der Registrierung im Feuille des jugements.

In komplizierteren Fällen schickte der Zensor Malesherbes sein Urteil in Briefform zu. Manche teilten ihre Meinung mündlich mit und diskutierten den Fall mit ihm ausführlich auf einem sogenannten bureau de jeudi (Donnerstagssitzung), einer Arbeitsbesprechung mit Zensoren, die ebenfalls in Malesherbes’ Stadthaus stattfand.

So oder so war das Urteil Teil eines nichtöffentlichen Meinungsaustauschs zwischen Malesherbes und einem Zensor, zuweilen verfasst in einem informellen Tonfall und in beträchtlicher Länge. Dagegen gab die Approbation einem Antrag auf ein Privileg offiziell statt und erschien mit diesem abgedruckt im fertigen Buch. Die Zensoren formulierten Approbationen in der Regel sorgfältiger und knapper aus und schickten diese gewöhnlich mit ihrem Urteil an Malesherbes’ Residenz, wo dessen Mitarbeiter (vielleicht nur ein Sekretär und ein Schreiber oder Kopist) den nächsten Schritt des Verfahrens beaufsichtigten.40 Sie fertigten von der Approbation eine Abschrift für die eigenen Unterlagen und eine weitere, das sogenannte feuille (Blatt), für den Siegelbewahrer an, der ihr abschließend volle Rechtskraft verlieh: Dieser drückte sein »großes Siegel« (grand sceau) darauf, stellte ein Druckprivileg wie das eingangs zitierte aus und schickte die gesiegelte Approbation (feuille scellée) mit dem Privileg an das Büro des Direktors zurück, wo sie der Buchhändler oder, nach 1777, der Verfasser in einer der Donnerstagsaudienzen in Empfang nehmen konnte. (Der Erlass des Königlichen Rates zum Buchhandel vom 30. August 1777 ermöglichte es Autoren ausdrücklich, Privilegien – wie früher schon gelegentlich geschehen – auf eigenen Namen zu führen und ihre gedruckten Bücher selbst zu vertreiben.) Der Buchhändler musste die ziemlich saftige Gebühr von 36 Livres und zwölf Sous entrichten, was ungefähr dem Monatslohn eines ungelernten Arbeiters entsprach. Anschließend brachte er das feuille scellée mit dem Privileg zur Registrierung ins Verwaltungsbüro (Chambre syndicale) der Pariser Buchhändler- und Druckergilde. Sobald ein Schreiber den vollen Wortlaut des Privilegs in das Register übertragen hatte, verfügte der Buchhändler für eine bestimmte Zeit, in der Regel für mindestens zehn Jahre, über das exklusive Recht, den Text vervielfältigen zu lassen. Den Druck des Manuskripts konnte er bei einem Druckermeister der Gilde in Auftrag geben oder ihn selbst übernehmen, sofern er neben seiner offiziellen Zulassung als Buchhändlermeister auch die des Druckermeisters besaß. (Die Anzahl der Meister des Druckgewerbes war in Paris im Prinzip auf vierzig begrenzt). Sobald die Druckfahnen erstellt worden waren, trat der Zensor im Produktionsablauf ein letztes Mal in Erscheinung: Er musste die abgezeichneten Seiten des Manuskripts einzeln mit denen der Druckfahne vergleichen und diese bei Übereinstimmung ebenfalls abzeichnen.

Bei diesem System wurde so viel Papier umgewälzt, dass sich leicht Fehler einschlichen und Raum für Betrügereien entstand, wie ihn auch Mouhy nutzte, als er einige garstige Bemerkungen über seine Feinde in der Académie française am Zensor vorbei in die nicht abgezeichneten Fahnen einschmuggelte. Dennoch stand hinter dem standardisierten Verfahren das Bemühen, eine rationale Ordnung in die komplexe Aufgabe zu bringen, Texte auf ihrem Weg vom Manuskript bis zum Druck zu überprüfen. Gedruckte Formulare ausfüllen, Dokumente nummerieren, Akten führen, Abschriften anfertigen, Papiere registrieren, besiegeln und abzeichnen – deutet all das schon auf eine umfassende Bürokratisierung hin? Nicht im strengen, Weber’schen Wortsinn. Die Direction de la librairie kann am ehesten als Bürokratie ohne Bürokraten gelten. Sie stellte eine Zwischenstufe in dem von Weber beschriebenen Prozess dar und verkörpert auf typische Weise das Bemühen des Ancien Régime, seine Geschäfte effizienter zu bewältigen, ohne das System der Privilegien und Protektionen aufzugeben, auf dem der barocke Staat unter Führung des Königshofs beruhte.

Eine Seite aus dem Feuille des jugements mit Nummern der billets de censure, auf denen die Beurteilung vorgenommen wurde, Buchtiteln, Namen von Zensoren und Entscheidungen zur Art der erteilten Druckgenehmigung (Privileg oder stillschweigende bzw. einfache Genehmigung) sowie der Gültigkeitsdauer.

Die Zensoren mussten die Probleme und Widersprüche dieser vormodernen barocken Bürokratie möglichst gut bewältigen, wenn sie zugewiesene Manuskripte zur Begutachtung annahmen. Malesherbes verteilte die Arbeit in der Regel nach den Fachgebieten der Zensoren, die im Almanach royal als Rubriken gemeinsam mit dem Namen genannt wurden: Theologie; Jurisprudenz; Naturgeschichte, Medizin und Chemie; Chirurgie; Mathematik; Schöne Literatur, Geschichte und verwandte Gebiete, die nur mit »etc.« ausgewiesen waren; Geografie, Schifffahrt und Reisen; Architektur. Das Arbeitspensum der Zensoren variierte gewaltig. Manche überprüften nur ein bis zwei Manuskripte pro Jahr, während andere offenbar laufend mit Arbeit eingedeckt wurden, für die sie sich Zeit von ihrer normalen Tätigkeit abknapsen mussten. Dieser Druck forderte von Arbeitstieren wie dem Abbé Buret, einem geistlichen Zensor, ihren Tribut. Letzterer fühlte sich im Juli 1762 schließlich überfordert. Nachdem er sich soeben durch ein Buch zur Philosophie und eines zur Theologie gekämpft hatte, sollte er sich nur 13 Tage vor einer Reise einen übersetzten Augustinus von Hippo und einen Band zur Kirchenverwaltung vornehmen. Er bat inständig um eine Gnadenfrist, um seine Familie auf dem Land besuchen und sich um Geschäfte seiner Pfründe kümmern zu können.41 Der Abbé de La Ville beklagte, er habe so viele historische Traktate in schlechter Qualität gelesen, dass er schon gar nicht mehr sagen könne, ob er bereits eine frühere Version durchgesehen habe, wenn er ein neues Manuskript erhielt. Den Werken, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten, könne er nur noch »rasche und oberflächliche Aufmerksamkeit« widmen.42 Noch größere Mühen bereiteten theologische Werke, wenn man dem Abbé Foucher glaubt. Nachdem er in einer Abhandlung über die Seele Streichungen und Korrekturen vorgenommen hatte, tat er einen lauten Stoßseufzer: »Lang leben Geschichtsbücher und Anthologien.«43

Die meisten Zensoren nahmen ihre Aufgaben offenbar sehr ernst und arbeiteten außerordentlich gewissenhaft. Als einer von ihnen ein Traktat zu Handel und Wechselkursen überprüfte, korrigierte er die Rechtschreibung und überarbeitete einen Großteil der Berechnungen.44 Andere erstellten Listen mit sachlichen Mängeln, behoben Grammatikfehler, wiesen auf stilistische Schwächen hin und widmeten sich mit besonderer Sorgfalt solchen Formulierungen, die Anstoß erregen könnten. Als Verfechter des Ideals der Mäßigung und der Schicklichkeit (bienséance) wandten sie sich häufig gegen grobschlächtige Ausdrucksweisen und kritzelten in entsprechenden Fällen Verbesserungsvorschläge aufs Blatt.45 Ein Zensor forderte vom eingereichten Manuskript eine vollständige Abschrift mit großem Zeilenabstand an, um Korrekturen einfügen zu können.46 Die Gründlichkeit einer solchen Zensur erinnert an die Sorgfalt, mit der Verlagslektoren heutzutage Manuskripte bearbeiten.

Da Zensur mit so viel Sorgfalt, harter Arbeit und Verantwortung verbunden war, entwickelte sich zwischen den Verfassern und ihren Zensoren häufig eine enge Beziehung, die bis an die Grenze zur Koproduktion reichte. Den jeweiligen Zensor bestimmte der Direktor des Buchhandels, der die Schriftsteller dazu häufig konsultierte und denjenigen entgegenkam, die ihm besondere Anfragen schickten. Malesherbes kannte sämtliche bedeutenden Autoren seiner Zeit und half in einigen Fällen auch persönlich, ihre Manuskripte an Sackgassen und Hindernissen vorbeizulotsen, die einem Privileg oder einer stillschweigenden Genehmigung im Weg standen. Dabei erwarteten die angesehensten Autoren eine Sonderbehandlung: Sein Renommee zu nutzen und Beziehungen spielen zu lassen, gehörte zu den Gepflogenheiten in le monde. So verlangte Voltaire stets besonderes Entgegenkommen, nicht nur von Malesherbes, sondern auch von Ministern, dem Generalleutnant der Polizei, einflussreichen Salonlöwen und jedem, der seinen Werken, den legalen jedenfalls, freie Bahn verschaffen konnte. Seine illegalen Abhandlungen veröffentlichte er außerhalb des geltenden Rechts anonym oder, noch besser, unter dem Namen seiner Feinde.47 Im Verlauf seiner schwierigen Beziehung mit Rousseau hatte Malesherbes praktisch die Federführung bei der Veröffentlichung von dessen wichtigsten Werken, insbesondere Julie ou la Nouvelle Héloïse und Émile. Manchen weniger berühmten, aber mit ebenso guten Beziehungen ausgestatteten Autoren gelang es, ihre Manuskripte von Leuten approbieren zu lassen, die gar nicht als Zensoren gelistet waren: Auch für solche Sonderfälle konnte Malesherbes ein entsprechendes billet de censure ausstellen. Als er die juristische Abhandlung des einflussreichen Anwalts Aubert beschleunigt bearbeiten sollte, schickte er diesem eines in Blankoform zu, damit er den Namen des Zensors selbst eintragen konnte.48 Bei solchen Manövern zensierten Freunde und Kollegen ihre Werke mitunter auch gegenseitig. Fontenelle genehmigte die Œeuvres diverses Moncrifs, der als Zensor und Mitglied der Académie française ein Kollege war.49 Der Zensor Secousse approbierte sogar eine Rechtsanthologie, die er selbst herausgegeben hatte.50 In den Genuss solcher Sonderbehandlungen kamen auch obskure Autoren, wenn sie Malesherbes mit ihren Bitten überzeugen konnten. So bat ihn ein Priester, ein Manuskript mit dem Titel Plan général d’institution publique pour la jeunesse du ressort du parlement de Bourgogne seinem Freund, dem Zensor Michault, zuzuteilen. Die Gefahr von Günstlingswirtschaft, so hob er hervor, bestehe nicht, da Michault »ein ehrlicher, aufrichtiger und dem Ruhm der Literatur allzu sehr zugetaner Mann ist, um ein des Druckes unwürdiges Werk durchgehen zu lassen. Ich habe vollkommenes Vertrauen in seine Weisheit und werde unter seiner Zensur alles mit der Folgsamkeit und dem Respekt korrigieren, die ich ihm zu schulden glaube.« Malesherbes gab seiner Bitte statt.51

Theoretisch sollten die Autoren nicht erfahren, wer ihre Zensoren waren, und so wurde es auch in der Praxis üblicherweise gehandhabt. Zudem bestanden die betreffenden Zensoren zuweilen auf Anonymität als Bedingung dafür, dass sie einen Auftrag annahmen. So sah sich Moncrif wegen seiner zahlreichen Beziehungen zur literarischen und gesellschaftlichen Elite außerstande, Manuskripte zu zensieren, wenn er den jeweiligen Verfassern bekannt werden sollte.52 Gelegentliche Indiskretionen lösten bei den Zensoren, auch bei Moncrif, Entsetzen aus.53 Als ein besonders empfindlicher Zensor erfuhr, dass ein negatives Gutachten von ihm möglicherweise dem Autor vorgelegt würde, beharrte er darauf, dass seine Unterschriften unten auf den Seiten unkenntlich gemacht würden.54