Die Zukunft wartet überall - Gabriele Höckner - E-Book

Die Zukunft wartet überall E-Book

Gabriele Höckner

0,0

Beschreibung

Der 1928 geborene Protagonist Ernst Leitner folgt dem Ruf aus der Neuen Welt. Arbeitskräfte werden gesucht. So wie ihm die wirtschaftliche Situation der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts in Österreich das Weggehen erleichtern, locken auf der anderen Seite spannende Programme und ein organisiertes Reise-Angebot. Er fasst in Kanada beruflich und privat Fuß und kehrt nach mehr als fünfzehn Jahren zum ersten Mal zurück in sein Heimatdorf, wo ihn die Autorin kennen- und schätzen lernt. Die Geschichten aus dem Leben des Protagonisten Ernst sind verwoben mit den beiden Kanada-Reisen der Autorin. Lebendig, abwechslungsreich und berührend erzählt sie, wie es zum Schritt des Auswanderns kam, wie Türen sich öffneten, wie der Protagonist Hindernisse beseitigte und auf welche Meilensteine er zurück blickt. Es geht um Begegnungen mit Menschen und um die Veränderungen im Lauf der Zeit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 313

Veröffentlichungsjahr: 2017

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


„Du hast als Emigrant etwas aufgegeben und es

gibt dir ein stolzes Gefühl zu zeigen, dass du auch

etwas gewonnen hast und du freust dich, jemand

anderen teilhaben zu lassen.“

(J.N., August 2012)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Anfang

Kapitel 2 – Aufbruch

Kapitel 3 – Neues Leben

Kapitel 4 – Auswandern

Kapitel 5 – Fuß fassen

Kapitel 6 – Edmonton – Beruf und Familie

Kapitel 7 – Der Kreis schließt sich

Kapitel 1 – Anfang

Ende Juni 1977

Die fünfte Klasse Gymnasium ist fast abgeschlossen. Die Würfel sind gefallen. Auf dem Heimweg von der Autobushaltestelle am Rande des „Hintaus“-Weges steht hinter einem Zaun ein Kirschbaum. Leuchtendrot und glänzend lachen die prallen reifen Früchte. Ein Zweig streckt sich mir entgegen. Ich erreiche ihn ohne Mühe, stelle die Schultasche ab, ziehe den Ast zu mir und hole mir die knackigen, wurmfreien Kirschen. Mit einem „Plopp“ beiße ich hinein. Gierig gehe ich daran, den Zweig leer zu essen. Eine, noch eine und weitere hellrote, glänzende, süße Frucht. Fruchtfleisch aufnehmen und mehrere Kerne gleichzeitig in hohem Bogen wegspucken. Ich wiederhole den Vorgang, bis ich mir den Bauch so richtig vollgestopft habe.

„Du fliegst!“, höre ich plötzlich die Stimme meiner kleinen Schwester. Sie kommt mir mit dem Fahrrad entgegen.

„Weiß ich“, brumme ich und denke an die Schule, die ich heuer in Latein negativ abschließe.

„Am 1. Juli um acht Uhr geht der Flieger!“ ruft sie. Hoppla – da geht es um etwas anderes! Langsam dämmert mir, was sie meint. Es wird was mit der Reise nach Kanada. Mit Verwandten zu Verwandten. Vor Aufregung verschlucke ich einen Kern.

„Juhu!“, schreie ich dann, „ich fliege, ich fliege, ich fliege ...“ und reiße meine Arme in die Höhe.

Wir schreiben den 1. Juli 1977 und ich bin fünfzehn Jahre alt. Ich sitze zum ersten Mal in meinem Leben in einem Flugzeug. Start: Wien. Ankunft: Edmonton. Wir fliegen über den Atlantik. Unser Ziel ist mehr als siebentausend Kilometer von zu Hause entfernt. Voller Erwartung sitze ich am Fenster, beobachte die Wolken und denke daran, wie es dazu kam, dass ich hier bin.

Vor knapp einem Jahr ist in Wien die Reichsbrücke eingestürzt, manchmal wird immer noch darüber gesprochen. Auch bei der Geburtstagsfeier anlässlich des siebzigsten Geburtstages meiner Großmutter, zu der sich die Sippe wieder einmal eingefunden hat. Mehr als dreißig Personen. Sogar Onkel Ernst aus Kanada ist gekommen, jener Neffe meiner Großmutter, dem sie einst eine Zeitlang ein Zuhause gegeben hat und so etwas wie Mutterersatz war. Wir treffen uns bei dem Heurigen, der gegenüber dem längst an die nächste Generation übergebenen Hof meiner Großmutter liegt. Meine Taufpatin – eine Großtante, die Resitante – und ihr Mann, der Loisonkel – erzählen, dass sie im Sommer ihren Neffen Ernst in Kanada besuchen werden. Mein sonst ernster und stets strenger Vater ist in jener guten Laune, die nur dann zutage tritt, wenn er in Weinstimmung gekommen ist. Ich sitze ganz nahe meinem kanadischen Onkel und kann nicht genug von seinen Geschichten kriegen. Es ist mir eine Ehre, ihn, den einzigen Weitgereisten in der Großfamilie neben mir zu haben. Wer auswandert, hat mehr Mut, als alle anderen. Wer auswandert, der hat Abenteuer erlebt. Wer auswandert, kennt wahre Freiheit. Mit diesem Bild erwirbt er bei mir einen Platz auf einem inneren Podest.

„Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen“, ist eins der Sprichworte meines Vaters, wenn wir im Zuge unserer wenigen Reisen an die Adria in den Unterkünften mit rinnenden Spülungen und tropfenden Wasserhähnen zu kämpfen haben. Jetzt hänge ich an den Lippen des kanadischen Onkels und kann nicht aufhören seine Geschichten von der großen, weiten Welt zu hören und ihm viele Fragen zu stellen. Das war Anfang Juni.

Jetzt – Anfang Juli – habe ich gerade das Gymnasium nach der fünften Klasse abgebrochen. Ich verstehe nicht, wofür ich mich in Latein vertiefen oder meine Zeit mit dem Lösen von mathematischen Aufgaben verbringen soll. Mir fehlt die Motivation.

„Entweder du tust was, oder du hörst auf!“ sagt der Vater und „Du bist eine Versagerin!“ die Mutter. Ich habe mich für einen Schritt entschieden, der mich schneller in die Unabhängigkeit führt und Sinn für mich macht. Ich habe mich in der Krankenpflegeschule angemeldet und bin aufge-nommen.

Astrologen hätten in meinem Horoskop jetzt – im Sommer 1977 – bestimmt Aspekte gesehen, die mein Leben verändern. Fast zeitgleich mit dem Entschluss zum Schulwechsel ergibt sich diese große Reise. Mit Onkel und Tante reise ich nach Kanada, um den, der 1953 ausgewandert ist, zu besuchen. Die Großmutter, die Mutter und die Verwandten haben immer wieder Geschichten von ihm erzählt. Und wenn Onkel Ernst in Österreich ist, reden alle viel über seine Jugendzeit und dem Ort seiner Kindheit.

Wenn er nicht da ist, erzählt der Loisonkel immer wieder von seinem Neffen in der Ferne. Er ist oft mit seiner Frau bei uns zu Hause auf Besuch. Einmal in der Woche oder alle vierzehn Tage. Er ist derjenige, der am meisten über den Onkel in Kanada zu erzählen weiß. Der Loisonkel neigt dazu, dick aufzutragen. Und er macht mich neugierig auf diesen Onkel in der Ferne. Ihn möchte ich näher kennenlernen. Ihn, der die Ferne zu seiner Heimat gemacht hat, nehme ich mir zum Vorbild.

Dass jemand, der es zu Hause gut hat, seine Heimat nicht verlässt, das trifft auch auf meinen Onkel zu. Er ging weg, weil die Situation in der Heimat schwierig war und weil es jemand gab, der das Auswandern schmackhaft gemacht hat. Im Weggehen lagen für ihn damals Hoffnung und Möglichkeiten und nicht im Bleiben.

Von meiner Großmutter weiß ich, wie es dazu kommt, dass der Onkel eine enge Verbindung zum Hof meiner Großeltern hat.

Herbst 1942

„Ich geh dann – Mutter!“, rief der vierzehnjährige Ernst der Mutter zu, die seit der Geburt vor ein paar Wochen mit dem Säugling in der Kammer lag und sich nicht und nicht erholen wollte. Er nahm seine Jacke vom Haken und hängte sich den Schulranzen um, während er zur Mutter hinein redete:

„Ich habe eingeheizt und Erdäpfeln zugestellt. Die Ziege hab ich auch gemolken. Die Milch steht in der Speisekammer!“ Weil die Mutter nicht reagierte, nicht einmal tief seufzte, wie sie es in den letzten Wochen immer wieder getan hatte, wenn sie von Schmerzen geplagt war, ging Ernst zu ihr in die abgedunkelte Kammer. Das Haus war nicht unterkellert und es gab weder Stallungen, noch Heuschuppen oder Geräteschuppen. Im Häuschen waren eine kleine Stube mit der noch kleineren Küche, der Schlafraum der Eltern und der schmale Eingangsbereich, von dem aus die Türen zu den drei Zimmern ausgingen, untergebracht. Die beiden Schlafräume waren miteinander so groß wie die Stube. Im größeren Raum schliefen die drei Kinder, die Eltern in der Kammer. Ein Badezimmer gab es nicht. Die Familie wusch sich Sommer im kleinen Hof und im Winter holten sie einen Kübel Wasser vom Brunnen und erwärmten es auf dem Ofen in der Küche. Das Wasser leerte die Mutter dann vorsichtig in ein Wasserschaff und prägte ihren Kindern ein, sparsam damit umzugehen. An den kleinen Hof grenzte ein Garten, in dem die Mutter Gemüse und Erdäpfel anbaute, damit sie besser über den Winter kommen sollten. In einem Mini-Stall hielten sie fünf Hühner, einen Hahn und eine Ziege. Vor dem Haus war ein kleiner Vorgarten, in dem die Mutter weiße Rosen und Lavendel zog. Tagtäglich lobten die Leute aus dem Dorf die Blumenpracht. Und auch wenn das kleine Häuschen zwischen den großen, schmucken Bauern-Höfen in der Gasse richtiggehend eingepfercht aussah, so war es durch die Pflanzenkomposition der Mutter doch zumindest in der wärmeren Jahreszeit ein wahres Schmuckstück.

Hier in der fruchtbaren Ebene, in der die Erde leicht zu bearbeiten und die Ernte in guten Jahren reich war, zeigten die Höfe den Wohlstand der darin lebenden Menschen.

Ernst war froh endlich bei den Eltern zu leben. Früher lebten er und sein jüngerer Bruder Franz mäßig willkommen bei unterschiedlichen Verwandten. Immer wieder hatte er sie reden gehört, dass sie ihn schon durchfüttern würden. Solche Worte machten ihm Bauchschmerzen, die er dann tagelang nicht loswurde. Erst die Geburt der Schwester vor sieben Jahren hatte ermöglicht, dass die Familie zusammenziehen konnte. Zu der Zeit hatte dann der Vater endlich eine Arbeitsstelle bekommen, die genug Sicherheit für die ganze Familie bot. Als Heizer. Endlich hatte er eine regelmäßige Beschäftigung. Tag um Tag, Nacht um Nacht manövrierte er schwer mit staubiger Kohle beladene Schaufeln in den großen Kasernenofen. Damit ernährte er die Familie. Und die regelmäßige Arbeit, die mit Beginn des Krieges zum sicheren Arbeitsplatz geworden war, erlaubte es, das kleine Haus zu mieten.

„Der Krieg hat auch seine guten Seiten!“, hatte Ernst seinen Vater öfter sagen gehört. Seit Tagen war er nicht zu Hause gewesen. Wenigstens die Mutter war da. Und sie hatten dieses Haus, in dem sie unter einem Dach leben konnten.

Der etwas jüngere Bruder und die kleine Schwester waren schon aufgebrochen in die Volksschule im Nachbardorf. Ernst half der Mutter so gut es ging und machte sich so spät wie möglich auf den Weg in die Hauptschule in der Bezirksstadt. In den letzten Wochen hatte er einige Male das Schulegehen ausgelassen. Die Mitzitante, die ein paar Häuser weiter wohnte, schaute manchmal vorbei und sah nach der Mutter. Sie brachte zu essen für die Familie, wickelte das Baby und legte es wieder der Mutter an die Brust. Ihre eigene jüngste Tochter war nur wenige Wochen älter als Ernsts neugeborener Bruder. Die Tante kannte sich aus und für die Hebamme fehlte das Geld. Der Arzt war einmal da gewesen, hatte von einer Bauchfellentzündung geredet und der Mutter eine Spritze gegeben. Es würde schon wieder werden, hatte er gemeint. Seither war er nicht mehr da gewesen. Gestern konnte die Mutter kaum mehr aufstehen, um ihre Notdurft zu verrichten.

Ernst ging also hinein in die Kammer zur Mutter. Der Säugling wimmerte. Die Mutter rührte sich nicht. Ernst stellte den Ranzen ab und beugte sich hinunter zu ihr. Schüttelte sie. Nichts rührte sich.

„Mutter! Mutter! Mutter!!“, nichts regte sich. Nur Ernsts Schütteln bewegte die Wöchnerin. „Mutter - so sag doch was!“ Die Verzweiflung des Buben nahm zu. „Mutter!“, rief Ernst noch einmal. Es klang panisch und er begann zu schluchzen. „Mutter – du kannst doch nicht sterben!“, flehte er sie an. Er kniete vor ihr nieder und legte seinen Kopf auf ihre Brust. Er weinte und das Baby jammerte neben ihm. Er nahm die Hand der Mutter. Irgendwo ein Lebenszeichen spüren! Ernst fand nichts Lebendiges an der kühlen Hand der Mutter und wusste längst, was er nicht wahrhaben wollte. Seine Mutter war tot. Eine Weile blieb er vor ihr knien, sein Kopf lag auf ihrer Brust und er schluchzte in sie hinein. Eine lange Weile. Bis keine Träne mehr fließen wollte. Und er streichelte ihren Körper, ihr Gesicht, als suchte er jene Nähe, die er Zeit ihres Lebens viel zu wenig gespürt hatte. Dann nahm er den mittlerweile schreienden Säugling, wickelte ihn in ein Tuch und rannte mit ihm zum Hof des Rudionkel und der Mitzitante drei Häuser weiter. Er lief nicht einmal bis zur Straße, blieb direkt neben dem Haus am Rand des Dorfanger, der links und rechts der Straße viel Platz bot und auf dem die Obstbäume des Dorfes gepflanzt waren. Er schlüpfte unter den tief hängenden Ästen der Apfelbäume durch und riss eine jener Stützen um, die verhindern sollten, dass die Äste unter der Last der Früchte brachen. Atemlos öffnete er das Tor des Bauernhauses der Tante und trampelte über die hölzerne Falltür zum Keller, die in den Erdäpfelkeller führte. Der Klang seiner Schritte auf der Holztür holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er lief durch die Wirtschaftsküche in die Stube. Es roch nach frisch gebackenem Brot. Der Onkel war im Krieg. Die Tante saß auf der Bank am Tisch, strich mit einer Hand Tücher glatt und legte sie zusammen, hielt am anderen Arm ihr eigenes Kind und stillte es. In der Ecke rang der alte Großvater nach Luft. Wie ein Kutscher saß er nach vorne geneigt und hatte die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt.

„Was machst denn du jetzt da – Bub!“, fragte die Tante verwundert. Ernst starrte ins Leere. „Wieso hast den Kleinen mit?“ Wie angewurzelt stand Ernst jetzt da und es dauerte lange, bis er sprechen konnte.

„Die Mutter rührt sich nicht!“ sagte Ernst endlich und seine Augen waren weit aufgerissen. Dann sagte er nichts. Stand da wie erstarrt. Angewurzelt. War außer Atem. Reagierte nicht. Blickte in die Ferne.

„Was ist los, Ernstl, du bist ganz blass?“ Die Tante hatte aufgehört, die Tücher glatt zu streichen. Sie löste ihren mittlerweile satten Säugling von der Brust und legte ihn in die Wiege. Sie ließ die Brust im Kleid verschwinden und stand auf.

„Ich glaub, sie ist tot!“, sagte Ernst. Für einen Augenblick hatte die Tante ihn aus der Starre gerissen. Dann war für eine gefühlte Ewigkeit oder eine Sekunde jeder im Raum wie gelähmt. Schockiert. Die Tante nahm ihm den Säugling ab, führte Ernst zur Bank und setzte ihn. Das nahm ihr die Sorge, dass er jeden Moment umkippen könnte. Dann bekreuzigte sie sich.

„Jessas Maria!“, sagte die Mitzitante und führte die Rechte reflexartig vor den Mund.

„Die Mutter war ganz kalt“, sagte Ernst.

„Wo ist denn dein Vater?!“, fragte der Alte mit krächzender rauer Stimme aus seiner Ecke. Er hatte sich jetzt aufgerichtet und seine Ellenbogen von den Oberschenkeln genommen. Er räusperte sich geräuschvoll und hustete. Dann nahm er mit einer Hand seinen Hut ab, den er davor tief in die Stirn gezogen hatte und griff sich mit der anderen Hand an die Stirn.

„Der ist arbeiten. Die ganze Woche schon. Was soll ich denn jetzt machen?“ Ernst war verzweifelt.

Die Mitzitante stellte ihm ein Glas Wasser hin.

„Trink einmal!“, sagte sie. „Hast den Kleinen schon gewickelt?“, fragte die Tante und legte das Baby auf die Decke auf dem Stubentisch, auf der sie auch ihre kleine Tochter wickelte.

„Nein – ich bin grad mit dem Stall fertig wordn und wollt grad in die Schule gehen. Und weil die Mutter so still war und der Kleine gewimmert hat, hab ich noch einmal reingeschaut.“

Die Tante wechselte die Windeln des Säuglings und sagte:

„Dem kleinen Patscherl geb ich jetzt auch noch die Brust. Dann gehen wir. - Du passt dann auf die zwei Kleinen auf – Großvater!“, wandte sich die Bäuerin in bestimmendem Ton an den Alten. Der gebrechliche Großvater brummte vor sich hin und sagte:

„Hab mir immer gedacht, dass die nix nutz is. Jetzt stirbts glatt nach der Geburt. Was soll denn werdn aus die vier Kinder?“ Dann drehte er sich zu Ernst, als würde er sich und ihn beruhigen wollen: „Du bist wenigst scho groß – Ernstl.“

Schnell war der Säugling satt und sauber. Dann eilten die Mitzitante und Ernst zu dem Haus, in dem die tote Frau lag. Die Tür stand offen. Die Mitzitante vergewisserte sich über den Tod der Schwägerin und faltete ihr die Hände.

„Hol a Rose von draußt!“, wies sie Ernst an, der sogleich mit einer Rosenknospe aus dem Vorgarten zurück gekommen war.

„Die Mutter hat die Rosen sehr gern ghabt!“, sagte Ernst.

„Ja!“, sagte die Tante und steckte die weiße Blume in die gefalteten Hände. Dann beteten sie gemeinsam ein „Vater unser“ und ein „Gegrüßet seist du – Maria“.

„Wenn dein Vater heimkommt, muss er zum Pfarrer fahrn und zum Bestatter. Ich werd ihm ein Telegramm schicken lassen. Und wenn dein Bruder und deine Schwester von der Schul kommen, dann gibts eine Mahlzeit bei mir und dann denken wir nach, was mit euch wird. Was zum Essen haben wir sicher für euch.“

„Dankeschön – Mitzitant. Du bist gut zu mir!“ sagte Ernst und fing unaufhaltsam zu schluchzen an.

„Ist schon gut!“, tröstete ihn die Tante und strich dem Buben, den sie zu sich an ihre Schulter gezogen hatte und der schon größer war als sie, über den Kopf. „Der Herrgott gibt, der Herrgott nimmt. Und dass du jetzt wen zum Trösten brauchst, sieht ein jeder.“

Die Stube, in der die Familie die Mahlzeiten zu sich nahm und in der sie sich tagsüber aufhielt, war mit schwarzen Vorhängen ausgekleidet, deren Ränder mit goldenen Bordüren gesäumt waren. Es roch nach Weihrauch und Blumen. In der Mitte des Raums stand der offene, etwas schräg gestellte Sarg der Mutter. Neben der Mutter stand ein großer Strauß mit Wiesenblumen in einer Schmalzkanne. Die Mitzitante war hier gewesen und hatte die Blumen gebracht. Ernst sah heute die Mutter zum ersten Mal, seit er sie vor ein paar Tagen tot aufgefunden hatte. Sie sah schön aus und friedlich. Zurechtgemacht für den letzten Weg. Wie Schneewittchen. Nur dass Mutter nicht mehr aufwachen würde. Und dass es die Wirklichkeit war und kein Märchen. Das hatte Ernst mittlerweile begriffen, auch wenn er die meiste Zeit nicht glauben konnte, dass die Mutter nie mehr da sein würde. Sie trug eine weiße Bluse mit Spitzen am Kragen und einen dunkelblauen Rock. In den gefalteten Händen hielt sie eine weiße Rose, ähnlich jener, die er vor ein paar Tagen im Auftrag der Tante für sie gepflückt hatte. Ihr eckiges Gesicht war weiß und die Züge noch kantiger als früher. Das dunkle, kinnlange Haar wellig frisiert, die Augen geschlossen. Die Lippen – fast weiß und leicht geöffnet - als würde die Mutter noch etwas sagen wollen.

„Lern was – Ernstl! Mach was aus deinem Leben!“, das waren die letzten Worte gewesen, die Mutter am Tag vor ihrem Tod zu Ernst gesagt hatte. Er würde sich wünschen, dass sie jetzt etwas zu ihm sagen sollte und wusste gleichzeitig, dass sie nie wieder wie bisher zu ihm sprechen würde.

„Lern was – Ernstl! Mach was aus deinem Leben!“, als hörte er die Worte jetzt aus dem Mund der Verstorbenen. In seine Erstarrung hinein drang ihr Auftrag. Ja – erstarrt, wie gefesselt fühlte er sich seit dem Tod der Mutter. Gefesselt mit den straffen Schnüren der traurigen Tatsache – die Mutter war tot. Und mit nichts konnten sein Körper und seine Seele sich herauswinden aus dem Zusammengeschnürt-Sein.

Der erstarrte Ernst stand vor dem Sarg und nahm traurig Abschied von der geliebten Mutter. Der Kloß im Hals schmerzte. Es war, als würde eine große Kugel seinen Schlund verstopfen. Er konnte fast nicht schlucken. Es war, als hätte er mit jedem Schluckakt einen Fremdkörper zu überwinden. Die schwarze Hose, die die Mitzitante für ihn verlängert hatte, war trotzdem zu kurz und zu eng wie das weiße Hemd. Noch mehr Enge.

Die Tante hatte ihm gesagt, was zu tun war. Das war gut so. Ernst brauchte im Moment die klaren Aufträge von einem anderen Menschen. Sonst würde er wie gelähmt in einer Ecke sitzen und sich nicht bewegen. Die Mitzitante hatte mit den anderen Frauen des Dorfes in der letzten Nacht Totenwache bei der Mutter gehalten und Rosenkränze gebetet und Gegrüßet seist du Maria und Vaterunser.

Jetzt hatten der Vater, Ernst und sein Bruder Franz vor dem Sarg gebetet. Automatisches Beten, das verriet, dass sie alle trotz der Erstarrung noch lebten. Dann nahm der Vater das Aspergill, tauchte es in den Weihwasser-Kessel und besprengte die Tote. Zeichnete ein Kreuzzeichen über dem Leichnam.

„Der Friede sei mit dir“, sagte er. Die beiden Buben taten es dem Vater gleich. Ernst blieb stehen in seinem bösen Traum, aus dem er nicht aufwachen konnte. Wie angewurzelt. Jemand zog ihn auf die Seite. Dann stellten sie sich rechts vom Sarg auf.

Ernst stand links von seinem Vater, sein Bruder Franz stand rechts. Die Schwester war noch zu klein für ein Begräbnis und war wie das Baby zu einer Pflegefamilie gebracht worden. Bei dieser Familie sollten die zwei jetzt auch wohnen. Die beiden großen Buben sollten bei der Mitzitante und beim Großvater hier im Ort bleiben. Warum sie nicht mit dem Vater im Haus bleiben konnten, würde Ernst gern wissen. Der magere Mann hustete ständig. War auch der Vater krank?

Die Leute aus dem Dorf waren gekommen, um Abschied zu nehmen. Auch die Mitzitante. Sie betete lang vor der Toten, bekreuzigte sie mit Weihwasser und auch sich selbst mit dem Daumen. Dann ging sie zu Ernsts Vater, wünschte ihm Beileid und flüsterte ihm so laut ins Ohr, dass auch Ernst es verstehen konnte:

„Ich hab a Erdäpfelgulasch gekocht. Einen kleinen Leichenschmaus. Könnts nachher zu uns kommen.“ Die Mitzitante sagte immer beruhigende Sachen, die einem die Tränen in die Augen trieben, fand Ernst. Er atmete tief ein und konnte den darauffolgenden Seufzer nicht unterdrücken. Mit ihrer Fürsorge taute Ernsts Starrsein ein bisschen auf. Die innere Fessel lockerte sich etwas. Und die letzten Worte der Mutter „Lern was – Ernstl! Mach was aus deinem Leben!“, drangen zum ersten Mal über die Haut hinein in seinen Leib und gelangten zum Herzen, in die Knochen und in jede Zelle seines Körpers. In den letzten Tagen waren sie in Ernsts Kopf geschwirrt und er hatte nicht gewusst, was er damit anfangen sollte.

Die Stube war ausgefüllt mit der Trauergemeinde. Und oben auf jedem „Gegrüßet seist du Maria“ leuchtete wie eine Krone Mutters Auftrag an Ernst: „Lern was! Mach was aus deinem Leben!“

Dann holte der Pfarrer die Trauernden ab, der Sarg wurde geschlossen und auf einem Pferdefuhrwerk verladen und die Gemeinde begleitete an diesem sonnigen Herbsttag die Mutter zum Grab auf dem Friedhof im Nachbardorf. Ernst hatte noch eine weiße Rose aus dem Vorgarten abgebrochen und warf sie statt der Erde zu ihr wie ein Versprechen.

„Ja Mutter!“ sagte er ohne im Augenblick zu wissen, wie es gehen könnte und was er dafür tun sollte. Ein Auftrag der Mutter an ihren Sohn über den Tod hinaus. Durch Liebe gebunden.

Ernst konnte sich nicht mehr erinnern, wie das Begräbnis abgelaufen war. Der Gang auf den Friedhof und die Beerdigung waren gelöscht aus seinem Gedächtnis. Als würde es nur sein Körper gewesen sein, der der Mutter die letzte Ehre erwiesen hatte und er wäre zurückgeblieben in seiner inneren Erstarrung in der zum Aufbahrungsraum umgestalteten Stube. Um die Mutter zu suchen, um ihr in seinem innersten einen Platz zuzuweisen, um sie ja nie zu vergessen. An das im Sarg aufgebahrte Bild seiner Mutter würde er sich ewig erinnern. Sie würde in seinen Träumen erscheinen, auch wenn er es noch lange nicht wahrhaben konnte, dass sie nicht mehr am Leben war. Manchmal würde sie zu ihm sprechen und ihn daran erinnern, dass er etwas aus seinem Leben machen solle. Es sollte auch lange dauern, bis er aus seiner inneren Erstarrung auftauen konnte. Es geschah zeitweise und teilweise. Und ganz der Ernst, der er vor dem Tod der Mutter gewesen war, würde er wohl nie mehr werden. Aber einer, der sich die Worte der Mutter „Lern was Ernstl, mach was aus deinem Leben“ zu Herzen genommen hatte.

Das letzte Hauptschuljahr schloss er als Klassenbester ab. Er hatte sogar einen Redebewerb gewonnen und einer seiner englischen Aufsätze war prämiert worden. Auch von den Bezirksmeisterschaften in Leichtathletik hatte er einen Pokal nach Hause gebracht. Für seine Leistungen im Schlagballwerfen und im Weitsprung.

Sein Zuhause war jetzt der Hof des Rudionkel und der Mitzitante. Darüber war Ernst dankbar und er half gerne, wenn die Tante oder der Großvater ihn für das Ausmisten im Stall oder für die Krauternte oder fürs Erdäpfelklauben brauchten. Die Schwester und den ganz kleinen Bruder, die bei anderen Verwandten in einem anderen Dorf untergebracht waren, hatte er seit dem Tod der Mutter nicht mehr gesehen.

Mit der Zeit wuchs Gras über Ernsts Traurigsein und bedeckte die traurigen Stellen seiner Seele wie der Winter die Landschaft mit Schnee. Und mit dem Vorüberziehen des heurigen Winters tauten die milderen Frühlingstemperaturen die letzten erstarrten Teile in Ernsts Seele auf. Zum Schulschluss Ende Juni musste er überlegen, wie es weitergehen sollte.

Der Vater kam fast nicht ins Dorf. Bald nach dem Tod der Mutter hatte er eine neue Frau gefunden, die vom ihm schwanger war und wenn dieser Sommer vorüber wäre, gebären würde. Ernst hatte auch keine Lust mehr, den Vater zu sehen. Wie er sich so schnell über den Tod der Mutter trösten konnte, ging ihm nicht in den Kopf! Und einen guten Rat würde er vom Vater ohnehin nicht erhalten. Vor kurzem hatte er gehört, dass sein Vater sehr krank war. Ernst wollte es gar nicht wissen. Er war wütend auf ihn.

Bei der Mitzitante konnten Ernst und sein Bruder Franz zwar schlafen und essen, aber weiterhelfen, was einen Beruf betrifft, konnte auch sie nicht. Sie hatte genug damit zu tun, den Hof zu bewirtschaften, den Rudionkel zu ersetzen, der immer noch im Krieg war und ihre drei kleinen Töchter zu versorgen. Der alte Großvater war mürrisch und duldete keine Fragen. Außer Bauer-Sein kam für ihn ohnehin nichts in Frage. Und auch wenn Ernst die Arbeit auf dem Hof gefiel, so fehlten ihm zum Landwirt der Grund und der Boden genauso wie der Hof.

Die Fürsorgerin, die letzte Woche nach ihm und seinem Bruder Franz gesehen hatte, meinte, dass er sich bloß schnell umsehen sollte um eine Lehrstelle. Wenn er nichts finden würde, dann müsse er in das berüchtigte Erziehungsheim in Korneuburg und davor könne er sich jetzt schon fürchten.

Er musste also schleunigst eine Lehrstelle finden. Ernst erinnerte sich an eine Schulstunde, in der verschiedene Berufe vorgestellt worden waren. Da waren Leute aus unterschiedlichen Betrieben gekommen, die ihre Firmen und die Berufe, die man bei ihnen lernen konnte, beworben hatten. Darunter war auch jemand von einer Firma aus einer Stadt in der Nähe. Dort wurden Maschinen und Werkzeuge gebaut. Ernst erinnerte sich, dass es dort auch eine Unterkunft gab und man als Lehrling hier wohnen konnte. Der Mann hatte Fotografien hergezeigt, die ihm im Gedächtnis geblieben waren. Die einen zeigten junge Menschen beim Zeichnen von Plänen und beim Hantieren an riesigen Gefäßen an heißen Feuerstellen, die anderen junge Menschen beim Sport. Schon damals hatte er sich dafür interessiert. Ernst fand heraus, dass er die Stadt mit dem Bus erreichen konnte und beschloss, hinzufahren und sein Glück zu versuchen. Er zog sich seine saubere Hose an und das helle Hemd, das ihm die Mitzitante aus dem Kasten des Rudionkels gegeben hatte. Er füllte es zwar einigermaßen aus, aber man sah doch, dass es zu groß für Ernst war und dass normalerweise ein gestandener Erwachsener darin steckte.

„Dass du was gleichschaust“, hatte die Tante gesagt. „Und vergiss nicht, dir die Schuhe zu putzen!“

Mit geputzten Schuhen und einem frischen Haarschnitt, den ihm die Mitzitante verpasst hatte, um seine Locken zu zähmen, die trotz des frischen Kurzhaarschnitts auf dem Oberkopf nicht zu bändigen waren, fuhr Ernst in diese Stadt, in der die Hoffnung machende Metallbaufirma stationiert war. Der Portier, der ihn zuerst nicht hinein lassen wollte, gab dem hartnäckigen Ernst schließlich nach und erklärte ihm den Weg zum Chef. Er traf einen stattlichen älteren Herren an, als er dabei war, die Tür zu seinem Büro abzuschließen.

„Grüß Gott! Sind Sie der Chef?“, fragte Ernst und seine Stimme überschlug sich von tief auf hoch. Sie klang auch nicht sicher und klar, sondern sehr nervös und krächzend. Er ärgerte sich, dass seine Stimme ihn ausgerechnet in einem so wichtigen Moment im Stich ließ .

„Der bin ich! Ich wollte gerade in den Betrieb schauen, aber …. Das kann ich auch später machen. Was kann ich denn für dich tun?“, fragte der freundliche Mann und sperrte die Tür wieder auf. Sie traten in einen vornehm wirkenden Raum ein und der Mann legte seinen Schlüssel auf den riesigen aufgeräumten Schreibtisch neben der nobel wirkenden Lampe. Er bot Ernst einen Platz an und setzte sich selber gegenüber in einen riesigen, mit dunkelgrünem Leder überzogenen Stuhl. So zuvorkommend war Ernst noch nie behandelt worden.

„Ich brauche eine Lehrstelle. Sonst komme ich ins Erziehungsheim in Korneuburg. Das ist dringend!“, sagte Ernst aufgeregt und seine Stimme überschlug sich wieder. Er beobachtete, wie sein Gegenüber die linke Augenbraue hochzog.

„Bist du denn schwer erziehbar?“, fragte der Chef der Firma, lehnte sich in seinem großen Lederstuhl zurück und verschränkte die Arme.

„Nein – sicher nicht! Da könnens die Tante fragen. Bei der wohne ich, seit die Mutter gestorben ist. Ich helfe auch immer, wenn sie mich braucht. Und die Fürsorgerin hat gesagt, dass alle ins Heim kommen, die keine richtige Familie und keine richtige Arbeit haben. Damit sie erzogen werden. Das Helfen auf dem Hof zählt nicht, hat sie gesagt.“

„Soso“, sagte der Herr. „Und was hast du dir vorgestellt?“

„Ich hab gelesen, dass man da verschiedene Berufe lernen kann. Technischer Zeichner, Maschinenschlosser. Was ein Dreher und ein Sandformer ist, weiß ich nicht. Technischer Zeichner tät mir schon gefallen!“, sagte Ernst und der ältere Herr schmunzelte:

„Naja – einen technischer Zeichner brauchen wir derzeit nicht. Aber einen Sandformerlehrling könnten wir brauchen. Was weißt du denn über unsere Firma?

„Ich hab gelesen, dass hier Drehbänke hergestellt werden und Werkzeuge.“

„Stimmt. Weißt du auch, dass wir ein gutes Lehrlingsprogramm durchführen? Unsere Lehrlinge müssen hier im Lehrlingsheim schlafen, weil wir auch außerhalb der Arbeitszeit ein verpflichtendes Programm haben. Jeden Morgen und jeden Abend gibt es Sport oder andere Veranstaltungen.“ Der Mann hatte sich mittlerweile vorn über den Schreibtisch gebeugt und lehnte auf seinem aufgestützten Arm, während er sprach. „Die meisten unserer Berufe sind schwere Berufe. Deswegen steht für uns die körperliche Ertüchtigung ganz oben!“ Dann stand er auf und zeigte Ernst Bilder an der Wand, die Lehrlinge zeigten, die Sportwettbewerbe gewonnen hatten. „Kannst du dir vorstellen, dich darauf einzulassen? Und - geht das, dass du hier wohnst?“

„Ja sicher! Dann lieg ich wenigstens nicht mehr der Tante auf der Tasche. Hauptsache, ich hab eine Arbeit. Was, das ist gar nicht so wichtig. Ich verspreche Ihnen, ich werde meine Sache gut machen!“ Ernst freute sich und war überrascht, wie leicht sich die Dinge für ihn fügten. Er spürte, wie Hoffnung in ihm keimte. Er merkte, wie sein Herz stärker klopfte und wer ihn beobachtete, konnte sehen, wie seine Augen blitzten und seine Gesichtsfarbe sich veränderte und lebendiger wirkte.

„Ach ja – und drei Mahlzeiten pro Tag gibt es auch! Jeder bekommt Lebensmittelkarten, die sich nach der Schwere des Berufs richten. Der Beruf des Sandformers ist der schwerste. Deswegen gibt’s die meisten Lebensmittelkarten.“ Er zwinkerte Ernst zu. „Dann wird es schon passen mit uns zwei – Burschi. Fahr nach Hause, pack deinen Koffer und schau, dass du am nächsten Montag um 8.00 Uhr da bist.“

Am Montagmorgen trat Ernst seine neue Lehrstelle als Sandformer an. Nachdem sich das riesige, schmiedeeiserne Tor für ihn geöffnet hatte, wies der Portier in eine Richtung, der Ernst folgte. Schnell fand er die Lehrlings-Baracken.

Eine ältere, streng wirkende, hagere Frau erwartete ihn. Sie trug einen dunklen Rock, der mehr als die halbe Wade bedeckte und eine weiße, hochgeschlossene Bluse. Ihre brünetten Haare, die von weißen Strähnen durchzogen waren, waren zu einem Knoten im Nacken zusammengefasst. Ihr schmaler Mund saß gerade und ernst im Gesicht. Ein Lächeln schien ihr nur schwer über die Lippen zu kommen. Dennoch wirkte sie nicht unfreundlich.

„Ich bin Hermine Wild“, sagte sie und streckte Ernst ihre magere Hand etwas steif zum Gruß entgegen. „Ich bin für die Lehrlingsbaracken zuständig. Und für die Lehrlinge auch.“ Sie ging mit Ernst in eine der hölzernen Baracken hinein. Jeder Schritt hallte und knarrte. Im wohl größten Raum des Gebäudes standen ein großer Tisch mit sechs Stühlen und sechs Betten. Eines schien unberührt.

„Das ist dein Bett und der Schrank da gehört auch dir. Den kannst abschließen. Der Schlüssel steckt“, sagte sie. „Die Waschbaracke ist nebenan.“

Ernst bedankte sich und sah sich um. Der Raum war kahl, die Betten der anderen notdürftig gemacht. Unter den Betten standen oder lagen jeweils ein Paar Lederschuhe, die einander glichen. Über der Eingangstür hing ein Kreuz, links daneben eine Uhr und rechts daneben ein Schutzengelbild. Dieses Bild kannte er. So eines hing auch zu Hause. Zwei Kinder gingen über eine Brücke, unter der ein Wasserfall tobte. Die Brücke hatte ein Loch und sah aus, als könnte sie jeden Augenblick brechen. Das größere Mädchen legte seinen Arm um den kleineren Buben. Würde die Brücke halten? Hinter den Kindern wachte ein Schutzengel. Er würde dafür sorgen, dass die Kinder gut hinüberkämen. Unendlich oft hatte Ernst das Bild zu Hause betrachtet. Er wusste: die Brücke hält! Mit diesem Bild fand er den Verbindungspunkt zu seiner Heimat. In der Mitte des Raumes hing eine Glühbirne und an den Betten steckten primitive Leselampen.

Ernst hörte Burschenstimmen, die lauter wurden. Bald polterten laute Schritte in den Raum herein. Verschwitzte Buben in weißen Leibchen und schwarzen Hosen außer Atem. Sie keuchten. Zwei sahen älter aus als er, fand Ernst, zwei wirkten wie Schulkinder.

„Na servus, dass der uns so quälen muss!“, sagte der eine abgehackt.

„Alles für die körperliche Ertüchtigung!“, erwiderte die strenge Frau schnell und emotionslos.

„Ja eh!“, keuchte der eine wieder, „ich find, dass der Professor zeitweise übertreibt!“

„Das wird jeden Tag besser, wirst sehen!“, tröstete ihn die Frau Wild. „Und das ist der Ernst. Er wird jetzt bei euch wohnen. Seid freundlich zu ihm und zeigt ihm alles. Ihr kennt euch ja schon aus!“ Und zu Ernst gewandt und ihn mit einbeziehend: „Ihr geht jetzt einmal frühstücken. In einer halben Stunde geht es los. Schau, dass du dich ein bissl anfreundest mit den Burschen und dann kommt ihr miteinander hinüber zur Fabrikshalle. Da auf dem Bett liegt dein Arbeitsgewand. Zieh dich gleich um.“

Ernst bedankte sich und räumte sein Waschzeug, die Hose und die zwei Hemden in den Schrank, der viel zu groß für seine wenigen Habseligkeiten schien. Dann zog er den blauen Overall an und strickte die zu langen Ärmel und Hosenbeine auf.

„Ich bin der Kurt“, sagte einer der beiden, die älter wirkten. „Komm mit. Wir gehen in den Speisesaal. Satt wirst du hier sicher. Und wir als Sandformer sind als Schwerarbeiter eingestuft.“

„Und ist die Arbeit wirklich Schwerarbeit?“, fragte Ernst.

„Da kannst Gift drauf nehmen!“, sagte der Bursche. „Aber das ist eine gute Firma und die sind gut zu uns. Und das Sportprogramm ist echt spitze. Da schwitzt du dir alles Unnötige raus. Und die Muskeln wachsen auch!“, sagte er und zeigte Ernst seinen dicken Bizeps.

Als Sandformerlehrling lernte Ernst Sandformen herzustellen, in die dann flüssiges Metall gegossen wurde. Die Sandformen machten sie mit Modellen, die davor ein Modelltischler hergestellt hatte. Das Modell wurde dann in Spezialsand gebettet. Der wiederum wurde verdichtet. In die geschlossene Form wurde das flüssige Metall hineingegossen, das danach abkühlen musste und erstarrte. Der Meister, ein freundlicher Mann Ende fünfzig, erklärte Ernst jeden Schritt im Detail, zeigte ihm jeden Handgriff langsam, sodass Ernst ihn sich einprägen und selber lernen konnte. Bevor er einen Durchgang alleine durchführen durfte, vergewisserte sich der Meister dreimal bei jedem Schritt. Dann durfte Ernst selbstständig arbeiten.

Ernst formte Maschinen und Motorenteile. Manchmal goss er Ziergegenstände, deren Bedeutung jetzt in der Kriegszeit eher gering war. Ernst hatte mitbekommen, dass so manches von ihm geformte Teil für den Kriegsbedarf gebraucht wurde.

Der Krieg war inzwischen weiter fortgeschritten. Bombenalarme zwangen die in der Fabrik arbeitenden Menschen in den Bunker zu flüchten. Es bestand die Gefahr, dass das Werk bombardiert werden könnte.

Der Sport wurde von einem pensionierten Gymnasial-Lehrer angeleitet. Jeden Tag um sechs Uhr am Morgen läutete eine Glocke. Raus aus den Federn und rein in die Sportsachen! Ernst hatte Spaß an der sportlichen Ertüchtigung und daran, dass er seinen Muskeln richtiggehend beim Wachsen zusehen konnte. Am Morgen liefen sie durch die Donauauen und der Donau entlang zurück zum Betrieb. Am Abend spielten sie Fußball. Anfangs schmerzten ihn die Muskeln, weil sie den intensiven Sport nicht gewohnt waren. Bald war das Training ein angenehmer Ausgleich zum Tagesgeschäft. Ernst gewann einen Lehrlingssport-Wettbewerb und einen Gebietsfacharbeiter-Wettbewerb, für den er eine Belohnung in Form eines dreifachen Gehalts erhielt.

Bald nachdem Ernst bei der Metallbaufirma begonnen hatte, erhielt er die Nachricht über den Tod seines Vaters. Er starb an den Folgen der Dämpfe, die er als Heizer eingeatmet hatte.

Ernst war als Sohn armer Menschen mit mäßigem Selbstbewusstsein aufgewachsen. Arme Leute standen damals auf dem Abstellgleis. Dann kamen die Nazis. In jedem Dorf gab es Angehörige der nationalsozialistischen Partei. Sie warben dafür, dass man zu ihnen kommen solle und haben so manches versprochen. Bereits im Hauptschul-Alter hatte Ernst einige Veranstaltungen im Dorf besucht. Die Hitlerjugend bot Freizeitaktivitäten und Wettbewerbe. Es gab Lager, bei denen die Jugendlichen nützliche Dinge fürs Leben lernten: ein Zelt aufbauen, ein Lagerfeuer vorbereiten und entzünden und sich in der Wildnis ernähren. Wenn sie dann am Abend um das Feuer saßen, Brot und Erdäpfel im Feuer grillten und Lieder sangen, spürte Ernst ein Gefühl des Zusammengehörens, wie er es vorher weder außerhalb noch innerhalb der Familie erlebt hatte. Bei den NAZIS wurde er behandelt wie ein Soldat und sein Selbstwert wurde gestärkt.

Während der Lehrzeit hatte sich gezeigt, dass Ernst körperlich fit, geistig rege und ehrgeizig war. Ihm wurde angeboten, eine Jugendgruppe zu leiten. Als angehender Jugendführer erhielt Ernst Eins zu Eins-Trainings in einem schönen Hotel in der Umgebung, das sich sonst nur Reiche leisten konnten. Ernst hätte ein Haus wie dieses nie zu betreten gewagt. Er konnte nicht glauben, dass er sich in solch herrlicher Umgebung aufhalten durfte und fühlte sich wie ein König. Während dieser Ausbildung wurde Ernst immer wieder suggeriert, wie viel Hoffnung für die Zukunft er sich machen konnte, wenn die Nazis an der Macht blieben. Und auch wenn er eingezogen würde in den Krieg – ein Marschbefehl wäre eine Fahrkarte. Eine Fahrkarte irgendwohin, wo er als junger Mensch mit seinen Begabungen und den ständig trainierten Fertigkeiten seinen Platz finden würde.

So war Ernst während der Lehrzeit eine Zeitlang jedes Wochenende Jungzugsführer in seinem Heimatdorf. Er holte die Dorfjugend zusammen und träumte mit ihnen von einer guten Zukunft. Hier oder irgendwo. Im hierarchischen System der Nazis fühlte Ernst sich jetzt – im Jahr 1944 – sicher und gefördert.

Der Zweite Weltkrieg ist gerade durch die schweren Niederlagen der deutschen Wehrmacht an der Ostfront geprägt. Der Luftkrieg