Die Zweifel des Homer Spiegelman - Kloepfer Inge - E-Book

Die Zweifel des Homer Spiegelman E-Book

Kloepfer Inge

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Beschreibung

Nach dem Unfalltod seiner Mutter, den er als Achtjähriger miterleben muss, wächst Homer in einer New Yorker Großfamilie auf. Stigmatisiert mit dem Attribut des Unglücklichen wird er immer mehr zum Außenseiter, sein gleichaltriger Cousin Matt, mit dem er seit seiner Kindheit wie mit einem Bruder verbunden ist, zu seinem Gegenspieler. Die Rollen scheinen wie bei Kain und Abel klar verteilt: Matt ist der Sonnyboy, dem mit Leichtigkeit alles gelingt, ein scheinbar blitzsauberer Charakter. Homer dagegen der verschlossene Einzelgänger, der sich selbst im Weg steht, dem man misstraut. Auf ihnen beiden ruhen gleichermaßen die Hoffnungen der jüdischen Familie: Homer und Matt sollen es weiterbringen als ihre Väter. Beide zieht es nach Manhattan, in die Welt des großen Geldes, getrieben von den Erwartungen ihrer Familien, an der Wall Street ein Vermögen zu machen. Und beiden gelingt die ersehnte Karriere. Matt wird ein erfolgreicher Analyst, Homer ist der gefürchtete Staranwalt der New Yorker Hochfinanz, der hart am Wind segelt, härter als die meisten seiner Konkurrenten es sich trauen. Und der darin auch seiner Familie nicht mehr geheuer ist. Als Homer erfährt, dass Matt bald sterben muss, gerät seine Welt ins Wanken und er beginnt an dem Weg, den er einst eingeschlagen hat, zu zweifeln. Auf seiner Identitätssuche kommt er einem dunklen Geheimnis seines Cousins auf die Spur. Und immer mehr rückt seine Halbschwester Sandy ins Zentrum der Geschehens. Sie ist es schließlich, die Homer nach einer dramatischen Lebenswende der Versöhnung mit seinem Schicksal näherbringt.

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Inge Kloepfer

Die Zweifel des Homer Spiegelman

Roman

Osburg Verlag

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden.

Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Erste Auflage 2023

© Osburg Verlag Hamburg 2023

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten,insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg

Korrektorat: Alexander Blumtritt, Fischbachau

Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-95510-324-8

eISBN 978-3-95510-342-2

Inhalt

Teil I: Homer

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Teil II: Homer – Matt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Teil III: Homer – Matt – Sandy

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Dank

»Ich kenne Homer Spiegelman nicht gut. Ich bin ihm nur dreimal begegnet. Aber ich kenne seine Geschichte, vermutlich bin ich die Einzige, der er sie je erzählt hat. Warum? Ich weiß es nicht und habe ihn nie gefragt.

Homer wuchs in New York auf – in Astoria, einem Stadtteil im Norden von Queens direkt am East River gegenüber der Upper Eastside Manhattans. Irgendwann beschloss er, von dort aus die Welt zu erobern. Es ist ihm gelungen – doch zu welchem Preis?«

Teil I

Homer

1

»Breathe, breathe«, sagte die Rabbinerin mit sonorer Stimme, während sie die beiden Worte in die Länge zog, als wären sie selbst Teil der Atmung. Sie hielt kurz inne, dann wiederholte sie: »Atmen Sie, atmen Sie.« Die Worte schienen aus den Tiefen ihres Bauchraums aufzusteigen, um durch ihre Kehle hinaus durch die Synagoge zu schweben. Für eine Frau war ihre Stimmlage eine Terz zu tief.

Dann verstummte sie, ließ ihren Blick lächelnd über die zweihundert Trauergäste schweifen, hob ihre rechte Hand, strich sich über ihre kurzen grauen Haare, sah auf die Blätter, die vor ihr lagen, rückte ihre Brille auf dem schlichten Holzpult zurecht und hob erneut den Kopf. Jetzt lächelte sie nicht mehr. Sie strahlte. Angriffslustig blitzten ihre dunklen Augen in die Runde, schienen den Raum mit seinen Gästen noch einmal zu vermessen, bevor sie mit ihrer Ansprache beginnen würde.

Rechter Hand neben ihr befand sich der Sarg, auf dem eine weiße Rose lag, nichts weiter. Es war still in der Synagoge, so still, dass man selbst ein unterdrücktes Schluchzen hätte vernehmen können. Aber niemand weinte. Die Menschen folgten der Aufforderung der Rabbinerin: Sie atmeten tief, mehrfach hintereinander. Für den Hauch eines Augenblicks schienen sie sich tatsächlich zu entspannen.

»Vor drei Monaten war Matthew bei mir. Wir sprachen über diesen Tag heute, seinen Tag, an dem er in einem Sarg hier vor euch liegen würde und doch eigentlich schon ganz woanders wäre. Er wollte, dass ich auf seiner Beerdigung spreche. Das hatte ich ihm zugesagt, als er wusste, dass sein Tod in wenigen Monaten bevorstand.«

Wieder legte die Rabbinerin eine Pause ein.

»Atmen Sie«, sagte sie dann noch einmal beschwörend. »Atmen Sie tief durch. Tun Sie es auf Geheiß von Matthew, der mir für heute vor allem eines aufgetragen hat: ›Rede nicht so viel über den Tod, finde Worte für das Leben.‹ Das Leben ist Atmen. Gottes Atem erweckt uns zum Leben. Breathe, breathe!«

Homer saß am äußeren rechten Rand in der dritten Reihe. Er atmete. Eigentlich hatte er für derlei Dinge nicht viel übrig. Unwillig musste er sich jedoch eingestehen, wie gut es ihm tat, gemeinsam mit den anderen ein paarmal tief Luft zu holen. In der ersten Reihe etwas weiter links saß Matthews Ehefrau Kate mit den beiden Jungen. Sie hatten den Blick nach oben auf das leicht erhöhte Pult gerichtet, an dem die Rabbinerin stand. Von der Seite konnte Homer Kates Züge gut erkennen. Selten hatte er sie so entspannt gesehen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Auch sie atmete ruhig. Die Jungen hielten etwas ungelenk kleine, weiße Zettel in den Händen. Sie würden ihrem Vater gleich einige Abschiedsworte sagen.

Eine seltsam erwartungsvolle Stimmung lag im Raum, ganz anders, als Homer es sich vorgestellt hatte. Da war wenig von Verzweiflung zu spüren, von Trauer. Nur Matts Eltern war die Erschütterung anzusehen. Und seiner vier Jahre jüngeren Schwester Madeleine, die sich immer wieder mit einem Papiertaschentuch über die Wangen tupfte. Zusammengesunken saßen die Großeltern neben den Enkeln, ihre Blicke starr auf den Boden gerichtet. Madeleine rang um Contenance.

Die Rabbinerin tat das, was sich Matthew und Kate zu seiner Beerdigung offenbar gewünscht hatten. Sie referierte das Leben des 47-jährigen Familienvaters in seinen einzelnen Stationen. Ein gelungenes Leben ungeachtet des frühen Todes, eines, das immer nur bergauf zu gehen schien – bis zur Abbruchkante. Sie lobte seinen Anstand, seine Überlegt- und Überlegenheit, seinen Intellekt, seine Fürsorglichkeit, seine enorme Selbstlosigkeit. Und seine Herzenswärme. Was für eine Tragödie, dass es ausgerechnet diesen Mann erwischen musste! Gab es nicht viel Schlechtere als ihn, auf die die Welt viel besser würde verzichten können? Das sagte sie nicht, aber Homer deutete ihre Worte so, die für ihn diesen fast unerträglichen Subtext trugen. Sollte sein Cousin, den jeder nur Matt und niemals Matthew nannte, diese Worte wirklich so verfügt haben als einen letzten Wunsch vor seinem endgültigen Abgang? Was für eine Gemeinheit, musste sich doch jeder, der diese Rede mit anzuhören hatte, kleingeistig und mickrig vorkommen?

Bevor sich Homer diesen Gedanken weiter hingeben konnte, zog einer der Söhne seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war Leonard. Der Elfjährige war gerade ans Pult getreten, um sich von seinem Vater zu verabschieden. Er konnte kaum über den Holzkante schauen und versuchte, das Mikrofon ein bisschen zu sich herunterzuziehen. Es knackte und knirschte und wollte doch nicht gelingen. Homer wunderte sich, warum ihm niemand beisprang. Entmutigt ließ der Junge davon ab, schaute stattdessen zum Sarg, danach wieder auf seinen Zettel und sprach seinen Vater direkt an – mit lauter, hoher Stimme. Er war gefasst.

»Danke Daddy für alles, was du mir gegeben und gezeigt hast. Ohne deine Hilfe wäre ich sicher ein schlechterer Mensch geworden. Mom sagt, wir werden dich wiedersehen. Das will ich mal glauben.« Er holte einmal tief Luft.

»Dad, ich werde dich sehr vermissen«, sagte er noch und tat einen Schritt zur Seite.

Sein jüngerer Bruder David war danach an der Reihe, sieben Jahre alt, etwa so alt wie er selbst damals, dachte Homer, als seine Mutter starb. Auch David dankte seinem Vater für alles, vor allem dafür, dass er sie beide vor endlosen Stunden am Computer bewahrt hatte, indem er mit ihnen lernte, Basketball oder Fußball spielte. Besonders mitgenommen schienen die Jungen nicht. Homer wunderte sich, wandte den Blick nach unten und schüttelte unwillkürlich den Kopf. Mit dem Tod kannte er sich eigentlich aus. Und auch mit der Unberechenbarkeit, mit der er sich im Leben Bahn brach, immer dann, wenn man am wenigsten mit ihm rechnete. Die Gelassenheit der Jungen irritierte ihn. Ob er damals auch so gewirkt hatte?

Als er wieder aufblickte, war die Rabbinerin gerade dabei, die Jungen sachte zur Seite und zu ihren Plätzen in der ersten Reihe zu schieben. Sie hatte jetzt ein barmherziges Lächeln aufgesetzt, in dem sich ihre professionelle Souveränität widerspiegelte, mit denen sie Menschen in schwierigen Lebenslagen begegnete. Aber vielleicht bildete sich Homer das auch nur ein.

»Breathe, breathe«, wiederholte sie ihre Worte. »Lebet!«, setzte sie mit fester Stimme hinzu.

Erneut glitt ihr Blick über die Reihen. Und wieder strahlte sie, als wäre der Tod ein Fest, der letzte Höhepunkt, den das Leben zu bieten hatte.

Ganz unvermittelt wurde Homer übel. Dieses Strahlen ekelte ihn an, die Aufforderung zur Lebensfreude im Angesicht des Todes, die Selbstverständlichkeit, mit der die Rabbinerin Leben und Tod in Einklang brachte. Er merkte, wie der Ärger die Säure in seinen Speichel trieb und sich der Kaugummi zu zersetzen begann, auf den seine Schneidezähne die letzte Stunde unermüdlich gebissen hatten. »Lebet!« – wieder schüttelte er den Kopf. Was für eine Banalität wurde ihnen da zugerufen? Es blieb ihnen allen gar nichts anderes übrig, als weiterzuleben – ohne Matthew Shaffer. Was war das für eine Botschaft, die Matt da heute aus dem Jenseits über die Rabbinerin ausrichten ließ? Was wollte er damit erreichen? Sie alle aufmuntern oder gar in die Pflicht nehmen, dass sich seine Frau und vor allem seine Eltern nicht hängen ließen, sondern zusammenreißen würden, so wie er selbst es sein Leben lang getan hatte? Und was, wenn es anderen nicht so leichtfiel?

Aber es war nicht das, was ihn plötzlich mit ganzer Wucht zu treffen und mit Abscheu zu erfüllen schien. Einen kurzen Moment der Verwirrung gestand sich Homer ein, dass er keine Ahnung hatte, warum ihn so unvermittelt dieses Unbehagen heimsuchte. Vielleicht, weil er sich gleich würde erheben müssen, um mit fünf anderen den Sarg zu schultern, gezwungenermaßen mit einem Lächeln auf den Lippen, obwohl ihm nicht danach war, nur weil sein Cousin verfügt hatte, auf seiner Beerdigung das Leben und nicht den Tod zu feiern. Wie sollte das gehen? Die Rabbinerin hatte ihm in der Anordnung der Sargträger die Position vorne rechts zugewiesen, ausgerechnet. Als Einzigem der sechs, so hatte sie die Einteilung begründet, sei ihm der Friedhof bekannt. Doch da irrte sie.

Homer dachte daran, wie er mit seinem Cousin Matthew auf­gewachsen war und wie sich ihr fast brüderliches Verhältnis über die Jahrzehnte in einen unerbittlichen Konkurrenzkampf verwandelt hatte, ohne dass dies je seine Absicht gewesen wäre. Ihr Einklang, so es ihn einmal gegeben hatte, war ihnen schleichend abhandengekommen und einer unerträglichen Sprachlosigkeit gewichen. An jenem Tag, an dem Homer Matthew zu Grabe trug, überrollten ihn die Erinnerungen an früher, während erneut Übelkeit in ihm aufstieg. Es war der Tag, an dem seine Zweifel begannen.

2

Unbarmherzig ist das Leben und der Tod ist nicht unbedingt sanft. Das lernte Homer Spiegelman bereits im Alter von acht Jahren. Die Bilder vom Tod seiner Mutter hatten sich auf immer in sein Gedächtnis gebrannt. Ich weiß nicht, wie oft er darüber sprach. Als er mir davon erzählte, konnte er sie, wie er sagte, wie einen

Super-8-Film auf den Projektor spannen. Er stand am Fenster seines Kinderzimmers im ersten Stock, schaute hinaus, winkte seiner Mutter zu, die sich noch einmal umdrehte, als sie die Straße überquerte, um zu ihrem Auto zu gelangen. Der Blick zu ihm hinauf war ihr Schicksal. Sie dachte an den Sohn, nicht an vorbeifahrende Wagen. Sie blickte nicht nach links und dann nach rechts, wie sie es ihm seit einigen Jahren mit nervenzehrender Penetranz einbimste, als wäre das Überqueren einer Straße eine Reise über den Styx. Und genau deshalb sollte ihr Sohn, der kleine, ewig renitente Homer, eine eindrückliche Demonstration dessen bekommen, was passiert, wenn man beim Überqueren einer Straße sich einmal nicht vorsieht, sondern in Gedanken ganz woanders ist.

Weil sie nur Augen für ihn hatte, bemerkte sie den heranbrausenden Chrysler nicht, dessen Fahrer – völlig ungewöhnlich in der schmalen Straße – den Fuß unverändert auf dem Gaspedal belassen hatte. Vor den Augen ihres Sohnes lief sie mit rückwärtsgewandtem Kopf vor das Auto, prallte auf die Kühlerhaube, wurde in die Luft geschleudert, bäuchlings gen Himmel, wobei ihre Gliedmaßen seltsam marionettenartig herunterhingen, und fiel keine zwei Sekunden später ihrem eigenen Wagen, ebenfalls ein Chrysler, vor die Fahrertür.

Sie blieb liegen, stand nicht mehr auf, würde so oder so nie mehr aufstehen. Homer starrte aus dem Fenster, regungslos. Er hatte die Augen aufgerissen, als könne er gar nicht glauben, was sich dort unten soeben abgespielt hatte, starrte eine Ewigkeit auf seine regungslose Mutter am Boden, und wunderte sich, dass da so gar kein Blut zu sehen war. Nirgends, dabei hatte sie ihm doch stets eindrücklich geschildert, dass schwere Unfälle an den Blutlachen zu erkennen seien, Blut überall. Aber er sah kein Blut. Irgendwas also konnte da nicht stimmen.

Der Fahrer sprang aus dem Auto und schrie. Schrie immer weiter, was Homer an dem weit geöffneten Mund des älteren Herrn erkennen konnte, der fassungslos hilfesuchend unentwegt den Kopf hin und her wandte. Er wusste offenbar nicht, was er tun sollte, traute sich nicht, die Frau, die ihm da soeben auf die Kühlerhaube geprallt war, auch nur mit der Fingerspitze zu berühren. Hätte er nicht so unglaublich geschrien, wären die Nachbarn vielleicht gar nicht auf die Sache aufmerksam geworden. Jetzt aber öffneten sie die Eingangstüren ihrer Vorstadthäuser in Astoria, einem Stadtviertel von Queens, und schauten auf die Wohnstraße, auf der normalerweise so gut wie nie jemand vorbeikam, schon gar kein wild gewordener älterer Chrysler-Fahrer. Im Handumdrehen hatte sich eine kleine Menschenmenge um seine Mutter herum versammelt und beugte sich über sie. Jetzt sah Homer sie nicht mehr. Es muss dann auch dieser Moment gewesen sein, in dem er das Bewusstsein verlor. Schluss, aus, Filmriss. Später würde er sich nur noch an zwei kurze Sequenzen erinnern können: den grotesk verrenkten Körper seiner Mutter in der Luft über der Kühlerhaube und an diese kurze Episode, wie seine Mutter auf dem Asphalt liegend plötzlich hinter einer Menge vornübergebeugter Häupter verschwand. Den Rest kannte er aus Erzählungen, vor allem von Josie, die er in jungen Jahren ein paarmal danach gefragt hatte, wie alles abgelaufen war. Danach verschmolzen seine eigenen wenigen Bilder mit denen, die Josie und sein Vater ihm über die Zeit beschrieben hatten, in seinem Gedächtnis zu eben jenem Film. Und der blieb.

Die Polizei und drei Krankenwagen kamen nach endlos erscheinenden Minuten. Irgendjemand muss geistesgegenwärtig genug gewesen sein, ins Haus zurückzulaufen, um den Notruf anzuwählen. Viel mehr als den sofortigen Tod konnten der Notarzt und sein Assistent nicht mehr feststellen. Elaine hatte sich das Genick gebrochen – und das offenbar schon im Moment des Aufpralls. Eine Information, die Homer, als er viel später davon erfuhr, über die Jahre ein wenig Trost gespendet hatte. Vielleicht ist es nicht die normalste Art, aus dem Leben zu scheiden, hatte er sich immer einmal wieder gedacht, aber die schmerzloseste. Das waren die Momente, in denen ihn der oberflächlich längst verblasste Kummer über den Verlust nur noch hin und wieder heimsuchte und er von Sentimentalität übermannt wurde. Dann tat er sich selbst leid, dieser kleine unscheinbare Junge, der so ganz plötzlich mutterseelenallein durchs Leben marschieren musste. Dass es da noch einen Vater gab und eine kleine Schwester, kam ihm in Momenten der Rührung vor Selbstmitleid gar nicht in den Sinn.

Nach einer Viertelstunde traf auch der Vater ein, im Handumdrehen Witwer, was man ihm am Telefon gar nicht gesagt hatte, damit er im Schock nicht selbst noch einen Unfall verursachte. Irgendjemand hatte ihn in seiner Autowerkstatt angerufen, die ein paar Blocks entfernt lag. Er war gerade mit einem Kunden von einer Probefahrt in dessen Oldtimer zurückgekommen. Hank blieb kaum etwas anderes übrig, als über der zugedeckten Leiche seiner Frau zusammenzubrechen. Sie war ja noch nicht verpackt, als er kam, in eine dieser grauen, traurigen Kisten verstaut, in die man die Toten zum Abtransport hineinlegt. Homer sah auch nicht, wie sein Vater noch ein letztes Mal das Tuch vom Kopf seiner Frau zog und seine Wange an ihre legte, die noch nicht kalt geworden war. Auch das hatte sein Vater ihm später erzählt. Betreten wichen die Umstehenden zur Seite und wandten ihre Blicke ab. Sie wollten nicht Zeugen des Abschieds werden. Doch irgendwann erbarmte sich ein Nachbar, half Hank auf und begleitete ihn auf die gegenüberliegende Straßenseite zur Haustür.

»Wo ist Homer?«, murmelte er, als ihm der Nachbar, ein guter Freund der Familie, die Haustürschlüssel aus der zitternden rechten Hand nahm, um die Türe aufzusperren.

Hank hastete die schmale Treppe hinauf ins Kinderzimmer. Da lag er, sein einziger Sohn, bewusstlos immer noch, schneeweiß, mit blauen Lippen. Das dunkelgrüne Sweatshirt war nach oben gerutscht, als klemmte der zierliche Kopf ohne Hals zwischen den Schultern. Hank kniete sich nieder und begann zu schluchzen. Glücklicherweise war ihm sein Freund gefolgt, sonst hätte sich der Vater gleich neben seinen Sohn gelegt und mit ihm das Bewusstsein verloren. Glücklicherweise waren auch die beiden anderen Krankenwagen noch zur Stelle – unter den Fahrern hatte sich eine Diskussion darüber entwickelt, wie nun mit der Leiche zu verfahren sei. Der Nachbar riss das Fenster auf. Eine Bahre mit zwei Trägern, rief er, schnell, der Junge. »Wer weiß, wie lange er schon nicht mehr bei Bewusstsein ist.«

Sofort trabten zwei Sanitäter an, im Gleichschritt, die Bahre zwischen sich. Sie hörten auch nicht auf zu traben, als sie den Hauseingang erreichten, sondern erklommen im Laufschritt den ersten Stock. Sie hoben Homer vorsichtig auf die Bahre und trugen ihn die enge Treppe hinunter ins Erdgeschoss, bevor sie ihn unter den mitleidigen Blicken der Nachbarn behutsam in einen der Notarztwagen balancierten und sich mit ihm davonmachten. Hank blieb in der Eingangstüre stehen und blickte dem Wagen nach.

Es war Josie, die sich seiner annahm. Sie hatte in der Eingangstür ihres Reihenhauses gestanden und der surrealen Szene zugesehen. Eigentlich hatte sie nach der Frühschicht einen Mittagsschlaf halten wollen, war aber zu aufgedreht gewesen und hatte stattdessen auf dem Sofa gelegen und ein bisschen ferngesehen. Sie war vor ein paar Jahren in das Reihenhaus neben den Spiegelmans gezogen, als langjährige Freundin von Elaine Spiegelman, die sie seinerzeit in das leerstehende Gebäude gelotst hatte. Elaine hätte den Gedanken nicht ertragen können, fremde und am Ende noch unsympathische Menschen im Nachbarhaus zu wissen, mit denen es dann – Wand an Wand – wegen der Kinder Gezanke und womöglich noch unangenehmere Auseinandersetzungen geben würde. Kinder aber waren es damals noch gar nicht, es gab da nur Homer, ihren einzigen Sohn. Aber das, so hatte es sich vor allem Hank ausgemalt, sollte sich noch ändern.

Elaine hatte zu der Zeit allerdings andere Pläne, stand am Anfang ihrer beruflichen Karriere, war Assistant-Professor an der CUNY-School of Public Health am Brooklyn College und dachte gar nicht an ein zweites Kind, jetzt, da es mit Homer so gut lief.

Josie, die mit vollem Namen Josephine hieß, und Elaine kannten sich schon von frühester Kindheit an. Es war, ein bisschen überspitzt ausgedrückt, eine Art dynastische Beziehung. Ihre Großmütter waren einst engste Freundinnen, die Eltern verstanden sich genauso gut. Für Josie war Elaine einfach immer da gewesen und umgekehrt, irgendwie gehörten sie zusammen, verbunden durch die gemeinsame Geschichte der Familien. Sie kamen gut miteinander aus, genauso wie man mit alten Weggefährten auskommt, denen man im entscheidenden Moment nicht viel erklären muss, weil sie einem seit Jahren vertraut sind. Elaine und Josie absolvierten zunächst gemeinsam am Rory Meyers College of Nursing an der New York University eine Ausbildung als Krankenschwestern.

In dieser Zeit waren sie unzertrennlich, tauchten vielfach gemeinsam auf, sodass man sie für Schwestern hätte halten können, hätten sie sich äußerlich nur nicht so stark unterschieden. Elaine war zierlich und dunkel, mit großen braunen Augen, immer leicht zerzausten Haaren, deren Strähnen ihr selbst dann ins Gesicht fielen, wenn sie sie gerade in einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden hatte. Josie hingegen war kräftiger und strahlend blond, wenn auch nicht ganz natürlich. Anders als Elaine hatte sie mit ihrem Gewicht zu kämpfen, hier und da ein paar Pfunde zu viel, Rundungen, die sie an sich nicht mochte. Vielleicht achtete sie gerade deshalb auf ein gepflegtes Äußeres, trug die kinnlangen Haare akkurat gescheitelt und zu einer Innenrolle geföhnt. Anders als Elaine erschien sie niemals ohne Make-up im Krankenhaus. Am Wochenende ging sie mit lackierten Fingernägeln aus. Sie war auch nicht so rastlos wie ihre Freundin, die sich schon bald nach Abschluss der Ausbildung nach etwas anderem umschaute. Ehrgeizig wie Elaine war, hatte sie Ambitionen, arbeitete nicht lange in ihrem Beruf, sondern entschloss sich, Medizin zu studieren. Sie sollte damit die Erste in ihrer Familie sein. Josie hingegen – auf ihre Art ebenfalls ambitioniert – bildete sich als Krankenschwester fort.

Hank war nicht richtig bei sich. Er bewegte sich unendlich langsam, hob die Hand, als wolle er sie grüßen, fuhr sich mit seinen groben, von der Montage noch dunkel verschmierten Fingern durch sein kurzes braunes Haar, das wirr nach oben stand, und blickte abwesend an Josie vorbei. Sie ging auf ihn zu, griff seinen rechten Arm und schob ihn sachte die Stufen zur Tür des Reihenhauses hoch, die sie hinter ihnen behutsam schloss. Im Wohnzimmer ließ er sich fallen, direkt auf den Boden, wo er liegen blieb – stumm und abwesend. Es war ein Segen, dass Josie in solchen Situationen nicht in Panik geriet. Sie war Krankenschwester, mit Herzattacken und Schlaganfällen häufig genug zugange und deshalb auch bei Hank ziemlich sicher, dass es sich lediglich um einen Kreislaufkollaps handelte, eine Art Synkope, in der die richtigen Handgriffe ihn bald aus seiner Ohnmacht zurückholen würden. Routiniert drehte sie den muskulösen Körper ihres Nachbarn in Richtung Sofa, sodass sie seine Füße höher lagern konnte, kniete sich neben ihn und gab ihm drei kleine Klapse auf die Wange.

Wenig später öffnete er die Augen, reichlich verwundert zunächst, um sie dann umgehend wieder zu schließen und ganz leise zu fragen:

»Was habe ich geträumt?«

»Du hast nicht geträumt. Du bist ohnmächtig geworden. Hank, Elaine ist überfahren worden, Homer ist im Krankenhaus.«

Einzig ihre Professionalität half ihr, nicht umgehend in Tränen auszubrechen. Es musste erst einmal das medizinisch Notwendige getan und gesagt werden. Darin war sie über die Jahre trainiert. Und das war gut so, anders würde man die Dramen, die sich im Cardic Institute täglich abspielten, überhaupt nicht ertragen können.

»Was ist mit Homer?«

»Das klären wir gleich«, sagte sie geschäftsmäßig.

Hank hatte sich ihr angepasst, er wirkte erschöpft und abgeklärt, was sie in dem Moment wunderte. Er war inzwischen vollkommen bei Sinnen, lag allerdings immer noch auf dem Boden. Doch ließ seine Art, sie anzuschauen und nach dem Notwendigen zu fragen, keinen Zweifel daran, dass ihm sehr wohl bewusst war, was sich vor einer halben Stunde zugetragen hatte. Nun war Hank kein Mann, der seine Gefühle unentwegt zum Ausdruck bringen musste, wenn er in diesem seltsamen Moment überhaupt schon welche hegte. Jeder würde sagen, er befinde sich im Schock. Aber das schien Josie überhaupt nicht so. Hank war ein Mann, der sehr schnell begriff, was auf ihn zukam.

Josie ging zum Telefon und wählte die Nummer des Schwesternzimmers der Notaufnahme ihres Krankenhauses. Es war das nächstgelegene, weshalb sie fest davon ausging, dass der Notarzt Homer dorthin gefahren hatte. Außerdem hatte sie, wie sie meinte, einen der Notarztfahrer erkannt. Sie sprach leise und bestimmt, allerdings sehr schnell. Dann drehte sie sich zu Hank um.

»Homer ist im Maimonides in der Notaufnahme. Eine Schwesternhelferin ist bei ihm. Er ist aufgewacht und stabil. Meinst du, ich kann dich hier alleine lassen und nach ihm sehen?«

»Ich komme mit«, sagte Hank, der sich inzwischen rücklings auf die Ellbogen gestützt hatte und dabei war, sich langsam zu erheben.

»Nun gut. Aber ich fahre den Wagen.«

Sie wusste, dass das keine gute Idee war. Aber wie konnte sie darauf bestehen, dass Hank jetzt alleine zu Hause warten sollte, wo er doch bei seinem Sohn sein musste. Sie verkniff sich jeden weiteren Überzeugungsversuch, sondern half ihm auf. Wenige Minuten später saßen sie im Auto, Hank bleich, aber gefasst.

»Was wirst du ihm sagen?«, fragte sie ihn, während sie einen Blick zur Rechten warf.

»Ach, Josie, die Wahrheit. Ich weiß nicht genau, was er alles mitbekommen hat. Was soll ich ihm sonst sagen: seine Mom ist tot. Das ist alles.«

Plötzlich schossen Josie die Tränen in die Augen. Es war weniger der Verlust ihrer Freundin als vielmehr die Vorstellung, dass der zierliche Nachbarsjunge mit gerade einmal acht Jahren Halbwaise geworden war, womit er fortan würde leben müssen. Es brach ihr das Herz. Mit einem Mal kam ihr der Gedanke, wie verwundbar das Leben war, so zerbrechlich. Und wie leicht verletzbar einen die eigene Familie machte durch die Menschen, die man liebte und die sich, freilich ohne es zu wollen, einfach so verabschieden konnten, um eine unbegreifliche Lücke zu hinterlassen.

Hank musste sie angeschaut haben. Denn plötzlich spürte sie seine Hand auf ihrem Oberarm. Sie schaute ihn an. Auch ihm stand das Wasser in den Augen. Er schüttelte den Kopf, als würde er den Anfall verscheuchen wollen wie eine lästige Fliege, die auf seiner Schläfe gelandet war. Sie wusste, jetzt würde er gefasst sein wollen, stark für seinen Sohn, der keinen verzweifelten Vater sehen sollte. Sie wischte sich mit dem linken Unterarm die Feuchtigkeit aus dem Gesicht. Wenig später hielten sie auf dem Mitarbeiterparkplatz der Klinik. Die Nachmittagssonne strahlte. Ein starker Wind ging, der Himmel war tiefblau.

3

Homer saß auf einer Bank im Gang. Ein junges Mädchen, die Schwesternhelferin, hatte den Arm um ihn gelegt. Beide schwiegen. Seine Beine, die noch zu kurz waren, um den Boden zu berühren, baumelten unter seinem dünnen Körper. Er hatte den Blick in Richtung Ausgang gewandt, die dunklen Augen weit geöffnet. Offenbar hatte man ihm gesagt, dass sein Vater ihn gleich abholen käme.

Hank zögerte. Josie sah, wie er schluckte. Dann ging er langsam auf seinen Sohn zu, hob ihn von der Bank und nahm ihn auf den Arm. Er seufzte. Josie verschwand in einem der Behandlungsräume und brach in Tränen aus.

Als ihn sein Vater im Krankenhaus auf dem Arm nahm, wusste Homer, dass die Bilder von seiner Mutter, die ihm im Kopf herumschwirrten, Wirklichkeit waren. So jedenfalls rekonstruierte er diesen Moment aus der Erinnerung.

Dafür gab es, sagte er, zwei Indikatoren: Erstens hatte sein Dad ihn, seit er in die erste Klasse gekommen war, nicht mehr auf den Arm genommen, was schon zwei Jahre her war. Homer liebte es, getragen zu werden, reckte noch über Monate nach seiner Einschulung immer wieder seine Arme in die Luft als deutliche, aber stumme Aufforderung, ihn in die Höhe zu heben. Dazu trieb ihn nicht etwa das unstillbare Bedürfnis nach körperlicher Nähe. Es war vielmehr der Wechsel der Perspektive, von der aus er seine Umwelt in den Blick nehmen konnte. Nicht mehr von unten nach oben, sondern von oben nach unten. Er sah sehr viel mehr. Aber damit hatte es ein jähes Ende. Das sei jetzt vorbei, hatte ihm sein Vater bei seiner Einschulung gesagt. Homer sei ein großer Junge, der unbedingt allein zur Schule gehen wollte. Da würde man auch nicht mehr herumgetragen. Dabei war er zu der Zeit noch recht zierlich, ein Feder­gewicht, ein blasser, kleiner Kerl mit großen, dunklen Augen. Homer vergaß immerzu das Essen, wenn man ihn nicht daran erinnerte.

Doch noch etwas ließ ihn erahnen, dass die Bilder, die er im Kopf hatte, nicht bloß einem schweren Traum entsprangen: Sein Vater drückte ihn in dem Moment, in dem er ihn in der Klinik zu sich emporhob, über die Gebühr an sich, so fest, dass Homer meinte, keine Luft mehr zu bekommen. Homer spürte die drahtigen Haare des dunklen, am Vortag im Barbershop frisch getrimmten Vollbarts seines Vaters auf seiner Stirn. Zum ersten Mal in seinem Leben war ihm das unangenehm. Dann erlebte er, wie ein Schauer durch den Körper seines Vaters fuhr, von unten nach oben, und ihn regelrecht mitriss.

»Mom?«, hauchte er seinem Vater ins Ohr. »Wo ist Mom?«

»Homer – sie hatte einen Unfall.«

»Ich weiß«, Homer nickte heftig. »Aber wo ist sie jetzt?«

Hank nahm Homers Kinn in seine Hand, schob seinen Kopf ein wenig von sich, schaute ihm in die Augen und sagte die Worte, die Homer in seinem Leben nicht mehr vergessen würde.

»Sie ist tot, Homer. Sie hat den Unfall vor unserem Haus nicht überlebt. Sie kommt nicht mehr. It’s only you and me now.«

Er verstand und verstand nicht. Die Bilder, die er gesehen hatte, bevor er ohnmächtig im Zimmer zusammensank, waren Wirklichkeit. Kein Traum, keine düstere Zukunftsvision, keine Ausgeburt überbordender Fantasie eines Achtjährigen, der beginnt, sich über den Tod und seine Endgültigkeit Gedanken zu machen. Die Worte seines Vaters ließen ihn seltsam unberührt, ein Zustand, den man gemeinhin mit dem Schock der Nachricht erklärt. Aber das war es nicht. In Homers Erinnerung setzte ihm der Zustand seines Vaters zu, seine fassungslose Ernsthaftigkeit, mit der er jene Sätze sprach, die in seiner Kindheit alles veränderten: den Alltag, seine Wahrnehmung der Umwelt, das Verhältnis zu seinem Vater und vielleicht sogar zu sich selbst. »It’s only you and me now.« Nur du und ich.

4

Als ich Homer Spiegelman in München kennenlernte, befand er sich auf seiner ersten Europareise. Sein Studium hatte er an der renommierten New York Law School beendet und sollte sich nach dem Willen seines Vaters direkt danach auf sein Bar-Examen vorbereiten, eine juristische Fachprüfung, die man bestehen muss, um in den Vereinigten Staaten als Anwalt zu arbeiten. Doch hatte er beschlossen, erst einmal auf Reisen zu gehen. Er war ein Freund von Freunden von New Yorker Bekannten, der nun allein durch den alten Kontinent tourte, mit ein paar Adressen ausgestattet, die man vor solchen Reisen sammelte, als es das Internet noch nicht gab, und die er, so ihm der Sinn danach stünde, würde anlaufen können. Darunter eben auch meine. Ich studierte seinerzeit an der Ludwig-Maximilians-Universität und wohnte – wie so viele Studenten – in Schwabing.

Homer hatte mich zwei Tage vor seiner Ankunft in München angerufen, aus einer Telefonzelle in Amsterdam, Grüße von Freunden ausgerichtet, die er selbst gar nicht kannte, dies alles am Telefon umständlich erklärt, während im Hintergrund das metallische Klirren der holländischen Gulden zu hören war, die er unentwegt in den Apparat steckte. Schon aus Sorge, dass ihm das Kleingeld ausgehen würde, fiel ich ihm ins Wort und schlug ihm vor, am übernächsten Tag früh abends bei mir vorbeizukommen. Ich würde ihm einen Biergarten zeigen und vielleicht noch die eine oder andere Bar. Homer bedankte sich wortreich. Mitten im Satz brach die Verbindung ab.

Zwei Tage später klingelte tatsächlich ein auf den ersten Blick wenig auffälliger junger Mann an meiner Tür. Homer maß kaum mehr als 1,80 Meter, hatte etwas zu lange dunkle Haare, deren Strähnen ihm immer wieder ins Gesicht fielen und seine Augen verdeckten, kaum dass er sie sich mit seiner Rechten nach hinten gestrichen hatte.

Vom ersten Moment an einnehmend aber war seine Mimik – seine dunklen Pupillen unter markanten Augenbrauen, so sie gerade nicht halb hinter Haaren verschwunden waren. Häufig zog er sie erwartungsvoll nach oben, wenn er von seinem Gegenüber eine Antwort verlangte oder einen Kommentar zu dem, was er gerade von sich gegeben hatte. Und dann war da sein Lächeln, sehr breit und sehr amerikanisch. Es glich ein wenig dem Sylvester Stallones, dachte ich in jenem Sommer sofort. Nicht ganz so aufdringlich, eher zurückhaltend. Dieser Eindruck mochte aber auch mit seiner Stimme zu tun haben, die ein wenig zu sehr in der Mittellage verhaftet schien, unerwartet hoch für so einen dunklen Typ. Und sanft dazu mit einem sehr ausgeprägten Ostküsten-Einschlag. Gleichwohl schwang eine gehörige Portion Selbstbewusstsein mit.

Homer war damals 24 Jahre alt.

Wenn ich heute darüber nachdenke, was uns an dem Sommerabend, als ich Homer das erste Mal traf, dazu gebracht hat, über derart traurige Dinge im Leben zu reden wie den Tod seiner Mutter, dann waren es Homers Fragen, die unserem Gespräch nach dem üblichen Smalltalk zu Beginn ganz plötzlich eine andere Wendung gaben.

»Gibt es einen Satz in deinem Leben, den du nie vergessen wirst?«, hatte er damals plötzlich von mir wissen wollen.

Verunsichert musste ich ihn angeschaut haben, wusste ich doch nicht genau, was er meinte. Er setzte nach.

»Etwas, das dir jemand einmal gesagt hat und das immer da sein wird.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich zweifelnd und gab die Frage umgehend an ihn zurück.

Als Antwort gab Homer jene Sätze von sich, die sein Vater ihm im Krankenhaus mit erstickter Stimme gesagt hatte. »Nur noch du und ich.« Unser bis dahin eher launiges Gespräch an jenem Abend war mit diesem Satz plötzlich ernst geworden. Und dann begann er, von seiner Kindheit zu erzählen.

»Es ist nicht verwunderlich, dass du solche Sätze nicht parat hast«, flüsterte er zwischendurch und lächelte kurz, ein wenig mitleidig, wie ich fand. »Du hast so etwas eben nicht erlebt.«

Homer wollte erzählen, er wollte über sich reden. Er, der mir zu Beginn des Abends noch einen kleinen Vortrag darüber gehalten hatte, wie wichtig es sei, nach vorne zu schauen und nicht alles aus der Vergangenheit heraus zu betrachten und zu deuten, tat genau das Gegenteil. Er erzählte von früher.

5

Sein Vater hatte in den ersten Tagen wenig Zeit für ihn. Daran konnte sich Homer noch erinnern. Hank pendelte zwischen der Werkstatt und dem Bestattungsunternehmen. Seine Mutter sollte auf dem Mount Hebron Cemetery beerdigt werden, einem großen jüdischen Friedhof im Osten Brooklyns mit hohen Bäumen. Eigentlich ein Park, auf dem bereits mehr als einhunderttausend Menschen ihre letzte Ruhe gefunden hatten.

Homer bekam von den Vorbereitungen allerdings kaum etwas mit. Er war, bis sein Vater alles geregelt hatte, zu Josie ins Nachbarhaus gezogen und verbrachte die Tage in einer Art seelischem Ausnahmezustand. Zwei Tage nach dem Unfall ging er wieder zur Schule. An die Reaktion seiner Mitschüler konnte er sich nicht erinnern. Nur an die einer Lehrerin. Die hatte am Schultor auf ihn gewartet, nahm ihn von seinem Vater entgegen und führte ihn an der Hand zu seinem Klassenraum, was ihn beschämte. An der Hand der Lehrerin – als wolle sie ihm gleich ein Stigma verpassen als Schwächling oder Heulsuse oder Sonderling.

»Wenn du über etwas reden willst, dann komm zu mir«, sagte sie ihm eindringlich.

Er nahm das reaktionslos zur Kenntnis und kam nie wieder darauf zurück. Worüber sollte er mit ihr reden wollen? Der Tod seiner Mutter war in seinem Leben im Ausnahmezustand noch gar nicht angekommen. Bei Josie ging es ihm soweit gut.

Das Einzige, was ihm schwer zu schaffen machte, war sein Vater. Ein Hauch von grauer Farbe hatte seine Haut überzogen, seine Augen schienen in ihren Höhlen zu versinken. Immer wenn er gegen Abend zu Josie kam, um nach Homer zu sehen, hatte Homer den Eindruck, seine Augen wären gerötet. Ob er viel weinte? Er wagte nicht zu fragen. Die Sorge um seinen Vater belastete Homer mehr als die Abwesenheit seiner Mutter. Er hatte Angst. Wenn er seinen Vater sah, bemächtigte sich seiner ein Gefühl aufsteigender Übelkeit. Und wenn er ihn nicht sah, weil er zur Schule ging, dann dachte er an ihn. War er in seiner Werkstatt? Oder irgendwo anders. Er hoffte inständig, dass Dad in die Werkstatt gehen würde, so wie immer. Er betete heimlich dafür, manchmal sogar während des Unterrichts. Und er wünschte sich ihn sehnlich zurück, so seltsam abwesend war er in diesen Tagen. Es muss, sagte mir Homer später einmal, in dieser Zeit gewesen sein, dass ihn zum ersten Mal unbeschreibliche Schuldgefühle überkamen. War er nicht für den Tod seiner Mutter verantwortlich und damit für das Leiden, das seinen Vater jetzt so sehr im Griff hatte? Er hatte schließlich am Fenster gestanden.

Derweil gab Josie ihr Bestes. Sie hatte sich die Tage bis zur Beerdigung beurlauben lassen, holte den achtjährigen Homer von der Schule ab, kochte ihm zu Mittag und half bei den Hausaufgaben. Sie sprachen wenig zusammen. Nach den Hausaufgaben setzten sie sich gemeinsam vor den Fernseher, der dann bis in den Abend hinein unablässig lief. Während Josie die Wäsche zusammenlegte, verfolgte Homer das Kinderprogramm, vorzugsweise die Commander Tom Show, er mochte die fröhliche Marschmusik und vor allem Matty the Mod, den Alligator.

Drei Tage später wurde seine Mutter zu Grabe getragen. Er erinnerte sich nur noch an den Moment, als die Totengräber den Sarg in die Erde versenkten. Eine überschaubare Trauergemeinde hatte sich an der Grube versammelt, die bereits freigelegt war. Die meisten waren Familienmitglieder. Sie standen unter dunklen Schirmen, waren eng aneinandergerückt, weil es zu regnen begonnen hatte. Viele weinten.

Homer beobachtete, wie Elaines Sarg in die Grube in der Wiese hinabgelassen wurde und an den Seilen für kurze Zeit schwankte. Er hörte noch, wie die Trauernden für einen Moment den Atem anhielten. Dann aber verschwammen die Totengräber vor seinen Augen, bis sie ganz verschwanden. Aus dem millimetergenau getrimmten Rasen, in den die jüdischen Grabsteine eingelassen waren, und der sich hinter der Grube ausbreitete, sprießten plötzlich Halme. Sie schoben sich langsam nach oben, reckten sich in die Höhe, wogten im Wind. Vereinzelt sah er Butterblumen und Margeriten, die Lieblingsblumen seiner Mutter, und Löwenzahn. Manche der Blüten waren gereift, hatten sich in Pusteblumen verwandelt, deren Samen an ihren fast durchsichtigen, winzigen Flugschirmen durch die Luft segelten. Homer starrte in die Ferne. Er stand in einem endlosen Garten, in seinem Garten zu Hause, er war nur viel, viel größer. Der kleine Geräteschuppen, der die Grenze zum Nachbargarten markierte, war verschwunden. Nur die alte Schaukel war noch da, die sein Vater an einem der Äste angebracht hatte. Das Sitzbrett trudelte hin und her. Homer konnte zwar die Seile ausmachen, die es hielten, aber nicht ihre Befestigung. Er wunderte sich. Sie waren im Himmel verankert oder gar nicht. Was für einen wunderbaren Garten wir haben, dachte er sich. Er sah seine Mutter auf der Schaukel. Ihr heller Rock flatterte. Ihr Gesicht war nicht gut zu erkennen. Homer sah nur die überdimensionierte Sonnenbrille, die ihm mit ihr entgegenkam. Sie lachte. Von den Gebeten des Rabbis und den murmelnden Gesängen der Trauergemeinde bekam er nichts mit. Er selbst schwebte mit ausgestreckten Armen zu ihr hin, flog über die Wiese wie die Biene aus einem Insektenfilm, den der Lehrer in der Schule im Biologieunterricht einmal kurz vor den Sommerferien gezeigt hatte. Der Wind trieb ihm die Tränen in die Augen. Er fühlte, wie er seine Haare nach hinten drückte und ließ sich über die Gräser treiben, immer weiter, bis ans Ende des Horizonts, als sich plötzlich – er war in voller Fahrt – die schweren Türme des Friedhofseingangs vor ihm aufbauten und ihn jäh zu einer scharfen Kurve zwangen.

In Gedanken hatte er die Beerdigung längst verlassen. Doch als sein Vater, der neben ihm stand, seine Hand schwer auf seine Schulter sinken ließ, schreckte er auf. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte heftig den Kopf. Es half nichts. Die Wiese war verschwunden. Er war gar nicht im Garten. Es gab keine Schaukel. Und seine Mutter war nicht mehr zu sehen. Er war auf einem Friedhof und wunderte sich umgehend. Warum hatte man seine Mutter nicht im Garten beerdigen können? Wäre das nicht das Beste gewesen, das Natürlichste? Er schaute seinen Vater an, der in aufrechter Haltung den Rabbi anblickte und ihm aufmerksam zuhörte. Da wusste er – wenn er und Dad nach Hause kämen, würde er ihn genau das fragen: Warum seine Mutter nicht bei ihnen sein konnte im Garten. Und wenn er einverstanden wäre, dann würden sie kommen, mit Schaufeln und Spaten und einem von Dads größeren Wagen. Und sie würden seine Mom wieder ausbuddeln und nach Hause holen, wo sie hingehörte. Man konnte sie doch nicht so allein unter all diesen fremden Toten lassen. Sie musste unbedingt wieder in seine Nähe. Als die Beerdigung zu Ende war, nahmen ihn sein Vater und Josie links und rechts an die Hand, als hätte er vor, im nächsten Augenblick zu verschwinden. Aber daran dachte er gar nicht. Er dachte an seine Mutter und wie man sie dort bald wieder würde wegschaffen können. Er war stocksauer.

6

»Weißt du«, sagte Homer, »wie es ist, wenn deine Mutter plötzlich nicht mehr da ist?«

Ich schüttelte den Kopf. Homer lächelte schief, kniff die Augen zusammen und senkte die Stirn. Wieder sprach er mit gedämpfter Stimme, als würde er im nächsten Moment ein Geheimnis preisgeben.

»Alle haben gesagt, sie wüssten, wie es sich anfühlen müsse. Wie ein riesiges schwarzes Loch, eine enorme Leere, die einen wieder und wieder überkommt und aufsaugt«, fuhr er fort, »und dass man Momente der Einsamkeit erlebt, die einen physisch schmerzen.«

Er schüttelte den Kopf und machte eine abwertende Handbewegung.

»Aber so ist das nicht. Es ist ganz anders …« Er stockte einen Moment. »Es ist, als würde mit einem Mal die ganze Farbe aus deinem Leben verschwinden, das Bunte, das Strahlen, die Kontraste. Alles wird grau, einfach nur fürchterlich grau.«

Seine Stimme wurde rauer. Eine Welle tiefer Traurigkeit schien ihn zu überkommen. Oder war es das Mitleid mit dem kleinen Jungen von damals, von dem er gerade erzählt hatte? Ich schaute vorsichtshalber auf mein Bierglas mit dem Rest, der sich darin wie eine Pfütze hielt.

»Grau ist die Farbe der Einsamkeit.«

Als ich aufsah, stand das Wasser in seinen dunklen Augen.

»Dieses Gefühl überkommt mich nur noch selten«, sagte er und atmete tief ein und wieder aus. »Ich weiß nicht, warum es jetzt gerade zugeschlagen hat.«

Allein war Homer damals in den Monaten nach dem Tod seiner Mutter nicht. Lehrer und Klassenkameraden kümmerten sich um ihn – manchmal mehr, als ihm lieb war. Mütter seiner Schulfreunde riefen abends bei ihm zu Hause an, um für ihre Kinder etwas für den nächsten Tag zu verabreden. Trösten, sagten sie, könnten sie ihn nicht, aber wenigstens ablenken. Das versicherten sie.

»Homer, du kannst morgen mit Bill nach Hause gehen«, rief sein Vater dann die Treppe hinauf, in der Hoffnung, Homer würde ihn in seinem Kinderzimmer hören.

Aber Homer hörte ihn nicht. Wenn Hank schließlich nach oben stieg und in seinem Türrahmen erschien, um ihm den Vorschlag zu überbringen, schüttelte Homer nur stumm den Kopf, wandte sich ab und wieder seinen Hausaufgaben oder seinen Büchern zu. Schulterzuckend verließ Hank sein Zimmer und sagte ab.

Er begann, ihn täglich von der Schule abzuholen. Wenn er einmal gar nicht konnte, übernahm es Josie. Sie beantragte in ihrem Krankenhaus einen Urlaubstag. Doch kam das nicht häufig vor. Hank nahm ihn mit in die Werkstatt. Als Elaine noch lebte, hatte er das nur am Wochenende getan. Homer liebte die Werkstatt. Was für den Vater die schiere Notwendigkeit war, weil es niemanden gab, der auf Homer nachmittags aufpassen würde, war für ihn ein ungeheures Privileg. Normalerweise saß er an einer der Werkbänke, an denen sein Vater oder einer seiner Mitarbeiter Ersatzteile für die Oldtimer bearbeitete, und erledigte seine Hausaufgaben. Wenn er fertig war, durfte er mit Hand anlegen. Es lenkte ihn ab. Schwierig wurde es nur, wenn er bemerkte, dass seinem Vater, wenn er unter einem der teuren, glänzenden Wagen lag, die Tränen aus den Augenwinkeln auf dem Boden tropften. Dann überkam es auch ihn, mehr aus Mitgefühl für seinen armen, einsamen Dad als aus Trauer über den noch immer so unwirklichen Verlust der Mutter. Das waren die Momente, in denen er das Gefühl hatte, dass seine Mutter eigentlich im nächsten Moment durch das Werkstattor treten musste, um sie beide zu trösten. Unwillkürlich schaute er dorthin. Aber das Trösten war jetzt seine Aufgabe. Er kroch unter den Wagen, presste sich an seinen Vater auf das Montagerollbrett und schaute ihm zu, wie er klopfte und schraubte und die Lampe justierte, damit er überhaupt etwas sehen konnte. Es waren diese Momente, die die Bande zwischen ihm und seinem Vater ganz allmählich enger werden ließen.

Sie gingen einen Bund ein, den – so dachte Homer damals – nichts zerstören konnte. »It’s only you and me now!« Seine Mutter war verschwunden. Ja, natürlich trauerte er auf seine Weise, er vermisste sie. Mitunter grässlich. Abends, wenn sein Vater ihn in seinem Zimmer zurückließ, weinte er manchmal. Was ihn aber am meisten bedrückte, war das Gefühl, mit seiner Trauer ein Außenseiter zu sein. Seine Klassenkameraden waren stets gut gelaunt. Er war es meistens auch. Aber mindestens einmal am Tag kam dieser Moment, wenn sich zwischen ihn und die anderen plötzlich eine Glaswand schob. Dahinter sah er seine Freunde, wie sie lachten und spielten, sich ärgerten, mitunter stritten. Er wollte dazustoßen, aber die Glaswand war die Grenze, er kam nicht dorthin. Er war ganz zum Zuschauer geworden, zu einem, der nicht mehr dazugehörte, den etwas ganz unwiederbringlich von den anderen zu trennen schien.

Meistens verzog sich dieses Gefühl nach einer Weile wieder. Es war eben die Trauer, die ihn von den anderen trennte. Er sagte niemandem etwas davon, schon gar nicht Josie, die ihn oft fragte. Überhaupt: Sie fragte viel zu viel, war unglaublich besorgt, so sehr, dass er sie irgendwann anschrie, sie solle ihn mit ihren Fragen endlich in Ruhe lassen.

Eines Abends hörte er, wie sie an der Haustür klingelte, um seinem Vater und ihm noch etwas zu essen zu bringen. Homer beobachtete die Szene vom Treppenabsatz im oberen Stockwerk. Sie sahen ihn nicht. Er vernahm, wie sie in voller Sorge auf seinen Vater einredete. Homer wirke manchmal so abwesend. Er wolle nicht über seine Trauer sprechen, aber das müsse man doch. Sie empfahl Hank, sich mehr darum zu kümmern, einmal in der Woche vielleicht in eine Trauergruppe zu gehen, damit der Kleine – Homer hörte das und war entrüstet – nicht den Eindruck bekam, er sei der Einzige, dem so ein Schicksal widerfahren sei. Hank schüttelte den Kopf. Er war stets hart im Nehmen gewesen.

»Josie, das kriegen wir schon hin. Ich bin ja auch noch da. Die Werkstatt lenkt ihn ab, er liebt das.«

»Dann geh wenigstens einmal mit ihm zum Psychologen«, sie ließ nicht locker. »Er hat alles mit angesehen. Für ihn muss das ein Schock gewesen sein. Irgendjemand muss ihm helfen, das zu verarbeiten.«

»Jeder verarbeitet die Dinge auf seine Weise«, gab sein Vater zurück.

Recht hat er, dachte Homer. Er wunderte sich über die Aufdringlichkeit der Nachbarin, die zwar eine große Hilfe, ihm allerdings nicht ganz geheuer war. Sie hatte sich in ihr beider Leben hineingedrängt. Dad pflegte das mit dem Spruch »Krankenschwestern können gar nicht anders« zu kommentieren. Homer gab sich damit zufrieden. Er merkte, dass seinem Vater das gar nicht unangenehm war. Natürlich brauchte er Hilfe, wenn er mit einem seiner Werkstattkunden einen Termin vereinbaren musste, um einen Wagen zu besichtigen, den man ihm nicht bringen konnte. Dann konnte er auf Josie zurückgreifen. Und wenn Josie da war – manchmal kam sie abends noch auf ein Glas Wein zu ihnen – schien er ein bisschen aus seiner bedrückten Stimmung herauszukommen. Das wiederum nahm Homer für sie ein.

Die Schuldgefühle, die Homer zum ersten Mal in der Schule überkommen hatten, wurden stärker. Er hatte schwer mit ihnen zu kämpfen. Manchmal waren sie fürchterlich. Abends stand er am Fenster, schaute auf die Straße und dann weiter zu den anderen Häusern hinüber und geriet ins Grübeln. Hätte er nicht am Fenster gestanden, hätte seine Mutter nur kurz aufgeblickt, dann aber wieder auf die Straße geachtet. Sie hätte den herbeirasenden Chrysler kommen sehen, wäre in letzter Sekunde noch zur Seite gesprungen. Sie wäre nicht erfasst worden und heute noch da. Dass alles anders gekommen war, schrieb er sich selbst zu. Er hätte ja nicht dort stehen und ihr nachschauen müssen. Warum war er eigentlich ans Fenster getreten? Warum genau in diesem Moment?

Oft quälten ihn solche Zweifel. War er ein Unglücksbringer? Die Trauer seines Vaters war damit auch seine Schuld. Vielleicht wäre es besser, er wäre überhaupt nie geboren worden. Dann würde sein Vater jetzt nicht so traurig sein müssen, weil niemand da gewesen wäre, der seine Mutter davon abgehalten hätte, mit etwas mehr Aufmerksamkeit über die Straße zu gehen.

Diese Gedanken teilte er mit niemandem. Nicht mit seinem Vater, auch nicht mit der Nachbarin, obwohl er manchmal das Gefühl hatte, dass sie etwas ahnte. Seine Schuldgefühle waren sein Geheimnis. Die besprach er mit seiner Mutter, die für ihn immer noch da war. Er wusste nicht genau wo, nur viel zu weit weg. Dann dachte er an den Friedhof, wo sie begraben lag, und dass er seinen Vater andauernd gefragt hatte, wann sie sie holen würden. Man brauche eine Genehmigung dafür, antwortete sein Vater gewöhnlich. Die müsse man erst einholen.

»Und? Hast du die Genehmigung?«, fragte ihn Homer unablässig. Wenn seinem Vater das alles zu viel wurde, antwortete er unwirsch:

»Lass Mom doch jetzt erst einmal in Ruhe.«

Homer ließ nicht locker, schlug sogar vor, dass man die Überführung doch nachts erledigen könne. Niemand würde sie beide dabei entdecken, wie sie den Sarg freilegten. Dann brauche man auch nicht auf eine Genehmigung zu warten. Er wollte seine Mutter eben unbedingt in seiner Nähe haben. In ihrem Garten. So könne er auch besser mit ihr reden. Aber es hörte ihm bald niemand mehr zu. Irgendwann gab er auf.

7

Mit den Monaten kehrte Normalität in das Leben von Homer und seinem Vater ein. Die Trauer war immer noch da. Aber es gab auch für Homer Momente, in denen sie ihn nicht belastete. Sie kam und ging und kam. Vorzugsweise morgens, wenn ihn seine tägliche Routine nach den Nächten unruhigen Schlafs noch nicht wieder in den Alltag getragen hatte. Das Badezimmer war kein guter Ort. Wenn er sich vor dem Spiegel die Zähne putzte, weinte er. Danach, tagsüber, war es besser: Schule, Hausaufgaben, in der Werkstatt ein bisschen herumschrauben, das Abendessen – immer häufiger mit Dad und Josie gemeinsam. Ihre Fragen nach seinem Seelenzustand wurden weniger. Sie lachten gemeinsam, schauten Fernsehen. Manchmal brachte sie ihn in sein Zimmer, wenn es Schlafenszeit war und sein Vater erschöpft auf dem Sofa saß von den Anstrengungen, die sein Werkstattberuf mit sich brachte. Am meisten aber genoss Homer die Wochenenden mit seinen Cousins und Cousinen, Tanten und Onkeln, die im Haus der Großmutter allwöchentlich in verschiedenen Konstellationen zusammenkamen. Das Haus seiner Großmutter war das Zentrum der Familie. Wenn er am Wochenende dort war, meinte Homer, den Hauch seiner Mutter einzuatmen, die in diesem alten Backsteinhaus in den Brooklyn Heights großgeworden und für ihn immer noch da war. Wenn er mit seinem Vater vorfuhr, aus dem Auto sprang und auf die Haustüre zulief, warf er heimlich einen Blick durch die schwarz lackierten Stäbe des Geländers, das links neben der mit einem Rundbogen versehenen Haustür die Stufen zum Souterrain abgrenzte. Seine Mutter hatte sich dort früher manchmal versteckt, als er noch ganz klein war, um ihm dann, wenn ihr Antlitz von unten langsam zwischen den Stäben auftauchte, ein Strahlen auf sein Gesicht zu zaubern. Als er bereits zur Schule ging, hatte sie ihn einmal erwischt, wie er den Stamm einer der Platanen in der Straße von der sich lösenden Rinde befreite, und ihm erklärt, warum er das künftig bleiben lassen sollte. Von ihrer alten Haut müssten sich die Bäume aus eigener Kraft lösen, sagte sie dann, wie die Schlangen, Schmetterlinge und sogar die Menschen. Manchmal ließ sie ihn mit geschlossenen Augen im Umkreis von zwanzig Metern den richtigen Treppenaufgang suchen, was ihm angesichts der Reihe von nahezu identischen Häusern, die die Straße säumten, solange misslang, bis er sich mit ausgestreckter Hand zu den Treppengeländern tastete, um die Blätter der Kletterpflanze zu erspüren, die sich dort entlangrankte. Sie war das Besondere am Haus seiner Großmutter.

Wenn Lea mit ihrer Familie da war, mit ihrem Mann Earnest, Matt und Madeleine, was fast immer der Fall war, dann erschien ihm seine kleine Welt nahezu in Ordnung. Lea war ein Jahr jünger als seine Mutter, sah ihr zwar nicht allzu ähnlich, war sie doch deutlich größer, überragte ihre Schwester um einen halben Kopf. Aber die Art, wie sie sich gab, ihre kleinen Gesten, wie sie sich hin und wieder ihre dunklen Haare hinter das Ohr schob, und ihr Tonfall erinnerten ihn sehr an Elaine. Während ihm sein Zuhause leer und ziemlich grau erschien, spielte im Haus seiner Großmutter das Leben.

Dort drehte sich alles um Tana, die neben Elaine und Lea auch noch die Zwillinge Aaron und Zacharias geboren hatte. Ihre Familie hatte vor dem Ersten Weltkrieg Odessa verlassen und war nach Amerika ausgewandert. Das war in den Zwanzigerjahren, als sich mit dem Aufbau der Sowjetunion das Zentrum des jüdischen Bildungsbürgertums, das Odessa einmal gewesen war, aufzulösen begann. Auch Tanas Eltern beobachteten die zunehmende Intoleranz der Russen gegenüber der jüdischen Bevölkerung mit großer Sorge. Nach Ende des russischen Bürgerkriegs und noch bevor Odessa nach der Revolution Teil der Sowjetunion wurde, beschlossen sie, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und in den Vereinigten Staaten ihr Glück zu suchen. Nie wieder sollten sie an das Schwarze Meer zurückkehren.

»Man könnte es das Glück einer frühen Eingebung nennen«, sagte Homer damals. »Oder den siebten Sinn.«

Tana, die auch von ihren Enkeln immer nur mit ihrem Vornamen angesprochen werden wollte, weil sie die üblichen Begriffe, mit denen Großmütter gemeinhin gerufen wurden, als Herabwürdigung empfand, hatte mit 25 Jahren den jungen Versicherungskaufmann Herb Fink geheiratet und vier Kinder bekommen. Elaine, Homers Mutter, kam, keine Minute zu früh, genau neun Monate nach der Hochzeit zur Welt, ein Jahr später die Schwester Lea. Und wiederum drei Jahre später die Zwillinge Aaron und Zacharias.

Tana Fink, geborene Pinsker, lebte ihr Leben mit einem gewissen Fatalismus und einer gehörigen Portion Ironie. Das Leben hatte es ihr nicht immer leicht gemacht. Schon das Schicksal, sich unsterblich in einen nicht-jüdischen Versicherungskaufmann zu verlieben, war für sie und mehr noch für die Familie eine Herausforderung. »Willst du mir das Herz brechen?«, schrie Tanas Vater sie an, als sie ihm eröffnete, dass sie – plötzlich ganz dringend – eben jenen Versicherungskaufmann Herb Fink ehelichen wollte, ein Mitglied der presbyterianischen Gemeinde. Aber Tana Pinsker ließ sich nicht beirren. Sie hielt zu ihrem Herb und blieb auch dabei, als ihre Eltern begannen, sie unter Druck zu setzen.

In der Familie ging es seinerzeit hoch her. Verzweifelt versuchten die Eltern, Tana umzustimmen, sie davon zu überzeugen, dass eine interreligiöse Ehe zum Scheitern verurteilt war, weil man aus vollkommen unterschiedlichen Welten kam. Es wurde geredet, geschrien, geweint, gebettelt. Am Ende drohten sie damit, den Kontakt zu Tana abzubrechen. Wenn sie mit Herb zusammenzöge, brauche sie sich bei der Familie nicht mehr blicken zu lassen. Doch Tana blieb standhaft. Sie warb für ihren Auserwählten, sie flehte ihre Eltern an, den Charakter und nicht nur die religiöse Zugehörigkeit zu bedenken. Am Ende gab sie den Druck zurück.

»Wenn ihr mich ausschließt, dann schaffe ich mir eben meine eigene Familie.«

Sie ließ sich nicht einschüchtern, hielt zu ihrem Herb und dem festen Glauben daran, dass eine Liebesheirat ihr gutes Recht sei, wehrte sich weiter mit Händen und Füßen, verließ schließlich ihre Familie und zog zu ihrem Liebsten.

Tana und Herb heirateten schnell und so formlos, wie es damals eben möglich war. Dabei hatten sie eine Verabredung getroffen, die Tana den Abschiedsschmerz von ihren Eltern etwas erleichtern sollte. Sie würden ihre Kinder, wenn sie welche zustande brächten, im jüdischen Glauben erziehen. Herb war nicht besonders religiös – es machte ihm nichts aus. Dafür aber musste Tana ihm versprechen, dass sie ihrerseits ein toleranteres Verhalten als ihre Eltern an den Tag legen würde, wenn ihre Kinder irgendwann einmal einen Partner anderer Religionszugehörigkeit ehelichen wollten, was sie am Ende alle nicht taten.

Vier Kinder, elf Enkel – Tana hatte alles darangesetzt, sich mit Herb eine eigene Großfamilie zu schaffen. Wenn an den Wochenenden in den Brooklyn Heights alle zusammen waren, was meistens nur zu Jom Kippur oder Chanukka gelang, dann waren sie einschließlich Tana zwanzig Familienmitglieder. Für Homer war das eine ganze Menge.

Tana war mit einer Größe von 1,75 Metern ungewöhnlich hoch­gewachsen, sehr schlank, mit hohen Wangenknochen und den Zügen einer Greta Garbo, für die sie sehr schwärmte. Obwohl sie schon als achtjähriges Kind ihre Heimat hatte verlassen müssen, war ihr das Osteuropäische geblieben, eine zumindest für Homer fast geheimnisvolle Exotik, die sie zu pflegen wusste. Stets rollte sie das R, was überhaupt nicht nottat, hatte sie sich sprachlich doch längst assimiliert. Das R aber behielt sie bei, oder legte es sich später wieder zu. Homer wusste das nicht so genau. Dann und wann streute sie jiddische Sätze ein oder ein paar russische Ausdrücke, die sie von damals noch behalten hatte. Wer sie dieserhalb fragte, woher sie käme, dem erzählte sie stolz, sie sei mit ihren Eltern aus Odessa »geflohen«, die sagenumwobene Hafenstadt am Schwarzen Meer, die hinter dem Eisernen Vorhang versunken und von Amerika aus gesehen unerreichbar war.

Für Homer war Odessa so fremd und magisch, wie ihm hin und wieder auch seine Großmutter erschien. Manchmal umgab sie etwas Unnahbares, fast Entrücktes, das er auf ihre Herkunft zurückführte. Deshalb liebte er die Geschichten aus ihrer Heimat, war geradezu versessen darauf, vor allem die Episode ihrer Auswanderung wieder und wieder erzählt zu bekommen, die Tanas Eltern ihrer kleinen Tochter zunächst als Urlaubsreise verkauften.

»Wir verließen unsere Wohnung mit ungewöhnlich vielen Koffern«, begann Tana dann. »Kaum hatte mein Vater die Haustüre abgeschlossen, fiel mir auf, dass meine Mutter weinte. Ich wunderte mich, nie war sie weinend in den Urlaub gefahren.«

Tana wollte sie trösten und ihr das kleine Stofftier in die Hand drücken, das sie stets bei sich trug. Es handelte sich um einen Hasen, den ihre Mutter ihr als Baby in die Wiege gelegt hatte. Erst da bemerkte sie, dass sie die selbstgenähte Miniatur vor lauter Taschen und Koffern vergessen hatte.

»Der Schreck fuhr mir in die Glieder«, erinnerte sich Tana. »Ich fing ebenfalls an zu weinen und wollte zurück. Stell dir vor, undenkbar war es für mich, ohne diese scheußliche Kreatur auf Reisen zu gehen.«

Jedes Mal, wenn sie an diesem Punkt ihrer Geschichte angekommen war, schüttelte sie ungläubig den Kopf, lachte ihr kehliges Lachen, das zu ihren Erzählungen stets dazugehörte, legte eine Kunstpause ein und wartete, bis Homer um die Fortsetzung zu betteln begann.

»Aber ich habe es dir doch schon so oft erzählt«, sagte Tana dann, vorgeblich enerviert.

Auch das gehörte zum Ritual. Homer aber ließ nicht locker und quengelte weiter.

»Siehst du, genauso habe ich das damals gemacht. Gezetert habe ich, bis sich Vater erbarmte und zurücklief, während meine Mutter und ich uns mit noch mehr Gepäck zum Hafen schleppten. Droschken waren einfach nicht zu bezahlen. Und während wir auf dem Dampfer nach Istanbul an der Reling standen und auf Vater und meinen Hasen warteten, sahen wir, wie die Besatzung sich bereits daran machte, die Brücken hochzuziehen. Das Schiff war kurz davor, abzulegen.«

Erneut brach Tanas Mutter in Tränen aus, zeterte, drängte sich durch die Passagiere in Richtung Ausgang, stürzte die Treppe hinunter, stand schließlich vor einem der Matrosen an der Brücke und begann, verzweifelt auf ihn einzureden. Doch der zuckte nur mit den Schultern. Der Hase war nicht sein Problem.

»In dem Moment erschien plötzlich mein Vater mit dem verdammten Hasen in der Hand. Keuchend stand er am Kai. Er rief den Matrosen zu, seine Familie befinde sich auf dem Schiff. Doch die reagierten nicht. Schließlich streckte er den Hasen hoch in die Luft, schaute einen der Matrosen an und rief mit fester Stimme: ›Ich bin zu spät, das ist meine Schuld. Dann lassen Sie mich eben hier. Da oben steht meine kleine Tochter. Wenigstens ihr Häschen muss mit. Es ist viel wichtiger als ihr Vater.‹«

Wie von Zauberhand senkte sich mit einem Mal der Steg und Tanas Vater wurde an Bord gelassen.

»Sein Strahlen habe ich bis heute nicht vergessen«, sagte Tana abschließend.

Zweifelsohne verfügte Tana über ein großes Charisma und einen unverwüstlichen Sinn für schrägen Humor. Sie besaß die Gabe, Witze zu erzählen, mit Vorliebe jüdische, worüber in der Familie vor allem ihre Enkel herzlich lachten. Und dabei ein bisschen zweifelten, ob diesen mitunter schwarzgalligen Anekdoten, die Tana mit todernster Miene zum Besten gab, nicht doch ein Körnchen Wahrheit innewohnte. Immer einmal wieder fragte Homer sie, als er älter war: »Sind Menschen wirklich so seltsam?« Sie wiegte den Kopf. War das ein Ja oder ein Nein? Er konnte es nicht sagen, bettelte um eine Antwort, doch sie schwieg, überließ ihn seiner Fantasie und ihre Worte der ihr eigenen Wirkung.

In der Familie gab es niemanden, der wichtiger war als sie, oder der sich nicht nach ihr richtete, der ihr eine Bitte ausschlug, den sie nicht überzeugen konnte oder der sie nicht verehrte. Vielleicht war das der Grund, weshalb Homer die Nachmittage an den Wochenenden so liebte. Im Haus seiner Großmutter empfand er keine Leere. Auch schimmerten dort plötzlich die Farben – wenn auch ganz selten, in besonderen Momenten sogar so kräftig, wie die Blumen, die Tana unentwegt pflanzte. Wenn sie verblüht waren, kaufte sie neue für den handtuchgroßen Garten hinter dem Haus. Sie hatte keine Geduld, darauf zu hoffen, dass sie im kommenden Jahr wieder austrieben.

»Auf einem so kleinen Fleckchen Erde«, sagte sie stets, »bleibt fürs Warten keine Zeit.«

Dann lachte sie. Vorzugsweise bearbeitete sie ihren Garten am Samstagvormittag, weil nachmittags die Familie einfiel.