Dieser miese schöne Alltag - Manfred Richter - E-Book

Dieser miese schöne Alltag E-Book

Manfred Richter

0,0

Beschreibung

Die Erzählungen und Gedichte von Manfred Richter sind zugleich auch eine Summe von Lebenserfahrungen. Vom Großvater und der Großmutter bis zu den eigenen Kindern, hielt er einen Teil seines schweren und schönen Lebens auf spannende Weise fest. Gemeint ist die Beziehung zwischen Mensch und Mensch und die Beziehung zu den Dingen, die ihn umgeben, die konkrete Welt – auch wenn sie, am Gestern gemessen, der Welt von heute nicht immer entspricht. Aber wer davon liest, wird sich vielleicht selbst in der einen oder anderen Geschichte erkennen oder deren Nähe spüren, halt in diesem miesen schönen Alltag. INHALT: Mein Schusterkönig Wie Großmutter beerdigt wurde Wie ich vom Weihnachtsmann geohrfeigt wurde Frühling, Prosa, Lyrik Lebenslauf schreiben Vorm Schlafengehen Baden in Sanssouci Wind vom Dach Wind, der unsichtbar..., Lyrik Dieser miese schöne Alltag Elbe bei Dessau - Lyrik Ein Stein ist weg In Heines Manier - Lyrik Heimat Das Sakrament Ein Mädchen kommt Die Birke Angeln Vater Nun traure nicht den Jahren nach - Lyrik Karpfenernte in Moritzburg Ich denke, also bin ich - Lyrik Der Anfang von etwas Seit ich dich kenne - Lyrik J'aime - Gedieht In Betrachtung der schlummernden Venus - Lyrik In der Jugendherberge Lange Nacht Was ich dir bin - Lyrik 9 Kindergeschichten Frenzeis Rache Herbst 81 Regen - Lyrik Vogelhaus im Februar Vom Maulwerk - Lyrik Qualität 1981 Maxi Wald - Lyrik Tag mit I. - Lyrik Ungedrucktes Enfant perdu Kienitz - Grenzort Ein Tässchen Essig Such den Mittelweg - Lyrik Alter Wein Rückblick - Lyrik Im Park an der Ilm - Lyrik Weggehen Solidarität In meinem warmen Zimmer - Lyrik Wenn der Wind - Lyrik Der missbrauchte Kaktus Wer war der Richter?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 151

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Manfred Richter

Dieser miese schöne Alltag

ISBN 978-3-95655-074-4 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Mein Schusterkönig

Großvater war Schuhmacher in der Stadt. Er hatte sich in einem Kellerloch eingemietet und die zwei finsteren, engen Räume in Werkstatt und Schlafkammer unterteilt.

Arme Leute wie wir, die ringsum in den grauen Hinterhäusern lebten, waren seine Kunden. Oft habe ich gesehen, wie ein Junge oder ein Mädchen die ausgetretenen Stufen hinunter in Großvaters Werkstatt sprang. Dort setzte man sich auf eine blank gewetzte Holzkiste neben der Tür, zog den Schuh vom Fuß und sagte: „Opa, die Spitze!“

Großvater schielte dann, den Kopf nach vorne neigend, über den Brillenrand, bis seine Augen die Kundschaft erkannten. Dann strich er wortlos mit den breiten hufigen Händen eine begonnene Arbeit vom Schoß, langte von der Wand einen Riemen, spannte ihn über Fuß und Knie so, dass der kranke Schuh fest dazwischen klemmte, und begann die Reparatur.

Jetzt hatte man Zeit, sich in der Werkstatt ein wenig umzusehen. Rechter Hand und dicht an der Decke war ein kleines Fenster, vor dessen schmutziger Scheibe das Tageslicht wie ein grauer Lappen hing. Ich habe es nie im Leben offen gesehen. Unter dem Fenster, fast völlig in Dunkelheit gehüllt, stand ein schmales Regal voller Schuhe. Die andere Wand, von der Großvater den Riemen genommen hatte, war mit Nägeln und Haken bespickt, an denen lange und kurze Riemen, Messer, Senkel, Zettelchen, Bindfaden und allerlei anderer Krimskrams hing, der im Laufe der Zeit eine dicke Staubschicht angesammelt hatte. Dem Kellerfenster gegenüber und neben einem Fetzen Stoff, der das Loch zu Großvaters Schlafkammer bedeckte, döste einsam ein alter Stuhl, auf dem, einen säuerlichen Geruch verbreitend, einige Rollen Leder auf Vorrat lagen.

Inmitten dieser armseligen Einrichtung stand Großvaters Thron, anderthalb Fuß hoch, aus rohen Brettern zusammengenagelt. Darauf ein dreibeiniger Hocker und ein Tisch, auf dem viele kleine Schachteln und Dosen mit geheimnisvollem Inhalt neben Lederflecken, Bienenwachs, Pechfäden, Zangen und noch mancherlei, was zur Flickschusterei nötig ist, versammelt waren.

Über allem aber leuchtete golden von der Decke eine leise summende Petroleumlampe. Zwischen ihr und dem Großvater hing an einem Draht, etwas tiefer als die Lampe, eine gläserne Kugel, die Mutter, wenn wir zu Besuch kamen, mit frischem Wasser füllte. Wenn dieser riesengroße Tropfen dann von ihrer Berührung lautlos hin und her schwang, huschte aus ihm das Licht der Petroleumlampe in Kurven durch die Dämmerung, bis er sich beruhigte, und sein heller Schein zitternd in Großvaters Schoß verharrte.

Das Schönste aber in der Werkstatt war der Großvater selbst. Er war klein und hockte ein wenig krumm, wie festgewachsen auf dem Dreibein. Unter seiner Nase hing dick wie eine Wurst ein strohgelber, strubbeliger Bart. Und ganz vorn, auf der breiten Sattelnase, die gar nicht zu den eingefallenen Wangen passen wollte, lag die Nickelbrille. In ihren beiden ovalen Gläsern funkelte die glänzende Kugel als lustiges Zwillingspaar.

So saß der Großvater den ganzen Tag und bewegte seine Hände und die krummen Daumen mit den großen harten Fingernägeln.

Wenn man nun eine Weile schweigsam auf der Holzkiste verbracht hatte, die Augen voll von der Wunderwelt im Keller und ihrem lichtumhüllten Schusterkönig, dann räusperte sich Großvater, dass sein Adamsapfel hüpfte, und er begann eine Geschichte zu erzählen, irgendeine Geschichte, die keiner zu unterbrechen wagte bis auf den Hammer in Großvaters Rechter, der mit trockenen Schlägen eigenwillig Punkte und Kommata setzte.

Wie Großmutter beerdigt wurde

Großmutter fiel das Treppensteigen immer schwerer. Einmal war sie beim Friseur gewesen und hatte mich, den Bengel, mitgenommen. Während sie unter der Haube saß, wurde mir, das war so üblich, das Haar über beide Ohren geschoren. Glatze also und über der Stirn ein knapper Pony. Auf dem Heimweg, die steilen Stufen in unsere Wohnung hinauf, verhielt sie schnaufend und keuchte wütend: „Werde bloß nicht alt, Junge. Eine Last! Wenn wir oben sind, häng' ich mich auf!" Dergleichen Sprüche waren wir gewöhnt. Und sie nahm auch nicht krumm, dass ich eingedenk meines frierenden Hinterkopfes brummte: „Da hätt'ste aber das Geld für'n Friseur sparen können.” Eigentlich war Großmutter eine sehr robuste Frau und auf ihre Art eine ganz besondere. Nun ja, sie sah aus, wie alle Omas, sie war nicht sehr groß, ein wenig dick, hatte gewitzte kleine blaue Augen und war ungeheuer neugierig. Wir hatten sie alle sehr lieb.

Seit sie in die Jahre gekommen war, wurde der „liebe Tod", wie sie immer sagte, neben dem Großvater einer ihrer nächsten Gesellen. Mit beiden stand sie sozusagen auf freundschaftlichem Fuße, die Sache mit dem Aufhängen war also nicht so ernst gemeint.

Eines Nachts jedoch stürzte Großvater in das Schlafzimmer meiner Eltern, knipste das elektrische Licht an und weckte uns alle auf. „Schnell, schnell, zum Donnerwetter!"

Großmutter lag in ihrem breiten hölzernen Ehebett. Sie schlief mit weit aufgerissenen Augen. Und Mama machte ihr die Augen zu. Es roch muffig im Zimmer. Großvater stand in der Tür, hielt vor dem Bauch die lange Unterhose zusammen, mit der er sich am Abend neben die lebendige Großmutter gelegt hatte, und sagte zu Mama: „Mach ihr die Zähne rein!”

Am nächsten Tag durfte ich nicht in die Schule. Anfangs war das ziemlich langweilig. Mit Großvater war nichts anzufangen. Er saß auf dem Küchenstuhl und starrte vor sich hin. Mutti hatte verweinte Augen. Auch die Nachbarinnen weinten, sogar Frau Suschke, die sich immer mit Großmutter gestritten hatte. Nach dem Frühstück klingelte der Arzt und am Nachmittag brachte man den Sarg. Die Männer vom Beerdigungsinstitut konnten ihn aber nicht die Treppe hoch tragen, weil die Kurven zu eng waren. Da hat der eine von ihnen die Großmutter auf den Arm genommen und man hat sie im Erdgeschoss in den Sarg gelegt. Ich durfte jedoch nicht zugucken, weil ich oben auf den starrenden Großvater aufpassen sollte.

Danach habe ich die Großmutter allerdings noch einmal gesehen. Und da gab es dieses Gelächter. Sogar Mama hat gekichert. Obwohl sie hinterher sagte, das sei die bloße Nervosität gewesen. Die Sache begann damit, dass wir ein wenig zu früh auf dem Friedhof waren. Großvater, Mama, Papa, Onkel Oskar und ich. Die Kirchengemeinde, der Pfarrer und die Nachbarinnen kamen erst später.

Es war kalt, obwohl die Sonne schien. Wir standen vor der kleinen Kapelle und froren. Onkel Oskar sagte: „Wir gehen rein!“ Aber drinnen war es noch kälter.

Großmutters Sarg stand in der Mitte und ringsum und auch auf dem Sarg lagen viele Kränze und künstliche Blumen. Es sah ziemlich schön aus. Und wir haben eine Weile nichts gesagt. Plötzlich stupste Großvater seinen Sohn, nämlich Onkel Oskar an: „Mach sie auf!"

Ich wusste gleich, was gemeint war. Aber Onkel Oskar fragte begriffsstutzig: „Wie bitte?"

Großvater drängelte: „Ich will sie noch einmal sehen. Nu' mach schon, eh die anderen kommen."

Mutti hat zuerst leise protestiert. Aber Onkel Oskar begann, die Kränze vom Sarg zu nehmen. Papa hat mit zugepackt und ich habe auch geholfen, weil mir davon ein bisschen wärmer wurde.

Während Papa und Onkel Oskar an den großen Flügelschrauben des Sargdeckels drehten, blickte Mama auf die Uhr und sagte leise: „Beeilt euch!"

Mir wurde, ehrlich gesagt, ein wenig bange, als die beiden Erwachsenen den Sargdeckel vorsichtig anhoben und neben den Kränzen und Blumen gegen die Wand lehnten. Hochkant und nicht sehr geschickt, wie sich gleich darauf herausstellen sollte.

Opa trat bis dicht an den Sarg und verstellte mir die Sicht auf die tote Großmutter. Mama legte ihren Arm um meine Schulter und hielt mich fest. Ich habe dennoch geguckt. Aber Großmutter war das nicht. Da lag eine sehr kleine alte Frau, allerdings war ihr Haar onduliert wie das von Oma. Es war so still, dass ich vor den Fenstern die Tauben gurren hörte.

Auf einmal aber gab es einen gewaltigen Plauz. Es war, als hätte jemand mitten in die Stille hineingeschossen. Wir schreckten furchtbar zusammen. Nur die Frau im Sarg nicht.

Da war der Sargdeckel umgefallen. Das hat ein Geräusch gemacht, wie wenn ich aus Spaß meine Holzpantinen gegeneinander knalle.

Mama wollte gleich mit Onkel Oskar und Papa schimpfen, weil sie den Deckel so blöd hingestellt hatten. Aber weil wir auf dem Friedhof waren, hat sie geschwiegen und nur das Gesicht verzogen. Großvater blieb ganz ruhig. Er schnaubte in sein Taschentuch, als hätte er mit der Nase geweint und sagte: „Na, bringt das in Ordnung!“

Papa und Onkel Oskar wollten den Sargdeckel wieder aufschrauben. Aber da gab es ein Problem. Das obere Brett war in der Mitte über die ganze Länge gerissen. Da war jetzt ein breiter Spalt und man hätte in den Sarg hineingucken können. Bloß, wozu? Onkel Oskar und Papa drückten von beiden Seiten an dem Sargdeckel herum, damit die Schrauben wieder in die Löcher passten. Auf einmal hat sich Onkel Oskar über den Sarg gebeugt und mit den Schultern gezuckt. Es sah aus, als würde er heulen. Aber er hat gelacht.

Wie Papa ihn strafend angucken wollte, hat auch er plötzlich losgeprustet. Großvater strich sich über den Schnauzbart. Ich glaube, hinter der Hand hat er auch ein Lachen versteckt. Und dann hat er auf den fingerbreiten Riss gezeigt und gesagt. „Neugierig war sie ja immer!“ Mamas Arm auf meiner Schulter zuckte. Und wie ich hoch schaute, sah ich, dass sie versuchte, nicht zu kichern. Wir haben dann schnell alle Kränze auf den Sarg gepackt, damit man nichts merkt.

Als die Trauergemeinde mit dem Pfarrer in die Kapelle trat, war sie sehr erstaunt, dass wir ein bisschen außer Atem waren und fröhlich guckten.

Später, als alle gemütlich bei Herrn Hottendorf im Restaurant saßen, meinte Frau Suschke, es sei eine sehr schöne Beerdigung gewesen. Mama nickte und sagte: „Wir haben sie uns noch einmal angeschaut. Sie hat ganz friedlich dagelegen.’' Und Großvater brummt mürrisch: „Wie denn sonst?"

Wie ich vom Weihnachtsmann geohrfeigt wurde

Unser Weihnachtsbaum stand auch diesmal auf Mutters versenkbarer Nähmaschine, und das langweiligste Fest der Welt begann mit dem üblichen Streit.

Mutter wollte den Baum mit echten Kerzen schmücken, mein moderner Vater aber schleppte den Karton mit elektrischen an. Es war ein harmloser Streit, den Mutter jedes Mal gewann. Einen Kompromiss freilich musste sie eingehen - neben den Baum gehörte ein Rieseneimer Wasser. Schließlich spielten auf dem Teppich drei reichlich wilde Gören. Gerd, mein Bruder, war Ostern in die Schule gekommen, Schwester Inge war vier Jahre alt und ich, der Älteste, hatte zu Michaelis das zweite Mal Zensuren nach Hause gebracht.

Glücklicherweise, das nebenher, lag zwischen Michaelis und dem Fest so viel Zeit, dass sich die vertrackten Zensuren nicht auf die Geschenke auswirkten. Die Sache mit den Geschenken war ohnedies verzwickt und eigentlich ein zweiter Streitpunkt: Mutter war fürs Praktische - Hausschuhe, dicke wollene Strümpfe, das dazugehörige Leibchen oder einen ellenlangen Schal. Vater hingegen war von der romantischen Art. Er hielt mehr auf Bücher, auf Buntstifte und kreative Stabilbaukästen.

Eigentlich war das Weihnachtsfest bis zur endlichen Bescherung immer eine ziemlich hektische Angelegenheit.

Mutter und Tante Emmi fuhrwerkten in der Küche, Vater und Onkel Oskar tranken in der bullig warmen Wohnstube Weinbrand. Onkel Oskar wollte unbedingt meine Zensuren sehen, und ich hatte die liebe Not, ihn davon abzulenken. Meine Geschwister quengelten, weil sie die Zeit nicht abwarten konnten. Endlich, gegen fünf Uhr am Nachmittag, zog sich Vater mit Onkel Oskar ins Schlafzimmer zurück.

Wegen meiner jüngeren Geschwister klebte sich Vater mit Onkel Oskars Hilfe alle Jahre einen gewaltigen Wattebart ins Gesicht, zog seinen alten Bademantel über und spielte hingebungsvoll und mit Brummstimme den Weihnachtsmann.

Neben meinem Pappteller mit Nüssen und von Mutter gebackenen Plätzchen lag in diesem Jahr ein weißer Matrosenanzug mit einem riesigen blauen Kragen. Ich musste mich freuen und wusste doch im gleichen Augenblick, dass ich das Monstrum nie und nimmer freiwillig anziehen würde. Das wurde allerdings auch nicht nötig, da mir der Zufall auf unerwartete Weise zu Hilfe kam.

Ob Vater, in Vorbereitung auf dieses denkwürdige Weihnachtsfest, an Goethes Kindheit und an dessen spätere Ambition für den "Faust" gedacht hatte, weiß ich nicht zu sagen. Ich traue es ihm aber zu. Jedenfalls hatte er uns Kindern ein fantastisches Kaspertheater gebaut. Die Vorderseite mit der Guckkastenbühne passte genau in die Türfüllung und war so groß, dass wir Kinder uns dahinter verstecken konnten.

Soweit sollte es freilich vorerst nicht kommen. Unser Weihnachtsmann hatte am Nachmittag mit Onkel Oskar dem Weinbrand reichlich zugesprochen. Jetzt quetschte er sich hinter die Bühne, und wenige Augenblicke später tauchten am Vorhang Kasper und ein feuerroter Teufel auf. Mutter und Tante Emmi saßen auf dem Sofa und wir Kinder mit Onkel Oskar auf dem Teppich.

Nun hatte ich, wie gesagt, einen modernen Vater. Der Kasper auf seiner Hand vermöbelte den Teufel nicht in der Manier seines Hohnsteiner Ebenbildes mit einer Pritsche, er drohte vielmehr mit einer gewaltigen Holzpistole - und schoss! Das heißt, er wollte schießen. Es gab aber keinen Knall, sondern eine gewaltige Stichflamme. Der Vorhang fing sogleich Feuer, und unser unsichtbarer Weihnachtsmann schrie "Scheiße! Scheiße!" Wir alle waren im ersten Schreck aufgesprungen, meine praktische Mutter griff sich den Wassereimer und schwappte seinen Inhalt ohne zu zögern in die sogleich erlöschenden Flammen.

Danach war es einen Moment totenstill. Die Kerzen am Baum brannten lautlos und warm vor sich hin. Endlich tauchte statt des Kaspers hinter den Resten des Vorhangs das Gesicht des Weihnachtsmannes - nein, das rabenschwarze Gesicht meines Vaters auf. An seinem Kinn hingen die verkohlten Reste des Wattebartes, die Augenbrauen waren weg und, wie wir später entdeckten, auch ein Teil seines natürlichen Kopfhaars. Außerdem triefte er von Mutters Wasserschwall und sah überhaupt saukomisch aus. Jedenfalls muss ich das so empfunden habe. Denn ich habe gelacht. Und als gar noch meine vierjährige Schwester mit großen und entgeisterten Augen stammelte: "Mama, der sieht aus wie Papa!", fiel ich geradezu in einen Lachkrampf, wälzte mich zwischen den Beinen von Onkel Oskar und meinen Geschwistern auf dem Teppich und beruhigte mich erst wieder und zwar schlagartig, als Vater mir mit dem finstersten Gesicht der Welt eine kräftige Ohrfeige verpasste.

Wer kennt nicht den Sturz aus Fröhlichkeit in tiefen Schmerz. Eigentlich hätte ich heulen müssen. Aber dazu kam es nicht. Vater wischte sich nämlich die Bartreste und sein arg strapaziertes Weihnachtsmanngesicht mit dem erstbesten ab, das er in die Hände bekam. Es war die Bluse meines weißen Matrosenanzuges. Da musste ich, trotz brennender Wange, aufs Neue losprusten und rettete mich schnell in die Küche. Von dort hörte ich Mutter zetern, Vater schimpfen, Onkel Oskars fröhliche Stimme und meine Geschwister heulen, als wären sie und nicht ich geohrfeigt worden. Nur Tante Emmi schwieg.

Schließlich gab es ein großes Gerenne und Räumen und Aufwischen und ein paar böse Blicke von Mutter. Aber dann wurde es still in der Stube, und ich wagte mich wieder hinein. Die Familie saß traut am Tisch, Mutter fummelte an Vaters Haar herum und Onkel Oskar an Tante Emmi.

Vielleicht wäre das Fest aber doch noch in trüber Stimmung ausgegangen, wenn Gerd nicht, mein Bruder, in die Stille hinein gefragt hätte: "Papa, bist du auch der Klapperstorch?"

Da mussten auch die Erwachsenen lachen und diesmal durfte ich ungestraft mithalten.

Später, bei noch einem und noch einem Weinbrand, hat Vater die Sache Onkel Oskar in aller Ruhe erklärt: Roter Phosphor und Kaliumchlorat geben eine explosive Mischung, die herrlich knallt, wenn man darauf schlägt. Voraussetzung ist allerdings, wie überall im Leben, das richtige Verhältnis zueinander. Das aber hatte Vater, angeschickert und aufgeregt, hinter der Bühne verfehlt. Dann knallt das Zeug nicht, es brennt lichterloh.

Der weiße Matrosenanzug übrigens war für alle Zeit unbrauchbar geworden. Und vielleicht war es dieses Weihnachtsfest, dass ich mir im Jahr darauf innigst so einen Chemiebaukasten mit Reagenzgläsern, Lackmuspapier und allerlei geheimnisvollen Ingredienzien, vor allem aber mit Rotem Phosphor und Kaliumchlorat wünschte.

Frühling

Auf dem Teich, wie zerbrechliches Glas, noch eine dünne Eisdecke. Vor dem Fenster reges Leben - Flügelschläge, zänkisches Zwitschern, Aufregung am Futterhäuschen. Vom Nachbargarten zieht dicker Rauch herüber, hängt in den kahlen Ästen.

Ich warte noch mit dem Verbrennen. In der Frühe hat aus unserem Laubhaufen ein Igel seine schwarze Nase geschoben, hat sich aber gleich wieder verkrochen.

Am Horizont blauen die Fichten im Dunst. Der Tag verspricht, schön zu werden. Das junge Jahr reckt sich und lächelt mir zu.

Sieh, es dämmert Licht am Rand – der Himmel macht die Augen auf, das steht die Sonne überm Land, vertreibt die weißen Nebel sacht, der helle Tag zieht warm herauf und hat den Frühling mitgebracht.

Wind bläst welkes Vorjahrslaub wie Krähenvögel vor sich her. Die tiefen Wolken wischen Staub und mal'n ein buntes Blumenkleid. Ihr Duft weckt wie von ungefähr Erinnern an Vergänglichkeit.

Lebenslauf schreiben

Er saß vor der schmalen Schreibtischplatte und kämpfte mit seinem Lebenslauf. Die Aufforderung der Immatrikulationskommission, endlich alle Unterlagen einzureichen, steckte nun schon seit Wochen zwischen den Büchern.

Je länger er grübelte, desto komplizierter wurde die Sache, einfach lächerlich. Er entdeckte, dass er eigentlich gar nichts zu sagen hatte - Schulzeit, Facharbeiter und Abitur, Armeezeit, fünf, sechs Daten also, für die zehn Sätze gereicht hätten.

Thomas lehnte sich zurück, lag dösend im Stuhl und starrte die Bücherrücken an. Die Titel konnte er kaum entziffern, da hätte seine Brille stärker sein müssen, aber er wusste auch so gut Bescheid. Vor ihm standen Stendhal, Scholochow, Strittmatter, Simonow, Schnabel, Shakespeare - seine Ersatzabenteuer, das Leben aus der Retorte.

Er spielte mit seinen Filzstiften, mürrisch, gelangweilt, zog glatte ausschwingende Striche, die sich wie von selbst zu Figuren schlossen, ein grüner Elefant, ein blaues Känguru, er malte dem Elefanten Blumen auf den Bauch, setzte dem Känguru einen Igel in den Beutel ...

Was ist ein Lebenslauf?

Gut, die Immatrikulationskommission will Auskunft haben. Wer bist du? Von wannen kommst du? (Das passt, dieses ehrwürdig klingende Umstandswort passt hin!) Wes Standes sind Mutter und Vater? Gut proletarisch allewege, hoffen wir! Mitnichten, meine Herrn, Mutter war Hausfrau, dann Ärztin. Und Vater - proletarisch eine Zeit lang, eine gute Zeit sogar, Hilfsarbeiter in der Lithografie- und Steindruckerei „Fürstenau & Co", hat Zigarettenschachteln gedruckt, Millionen Zigarettenschachteln, später Etiketten für Ersatzzeug und noch später Ersatzetiketten für Ersatzzeug, Briefumschläge für die Feldpost, nummerierte Zeilen für die Post der Zuchthäusler und KZ-Häftlinge ... Vater bei den Partisanen, darüber spricht er nicht gern, meine Herren von der Kommission, er prahlt nicht damit, selten, dass er seine Fotos herzeigt oder seine Auszeichnungen. Einmal, Thomas ging noch in den Kindergarten, hatte der Vater ihm die Orden in eine Blechschachtel gepackt. Die Vorschulpädagogen hatten sich das gar seltsame Thema „Papa und Mama sind meine Vorbilder“ ausgedacht. Eine der Medaillen hatte er getauscht, hatte für das blanke Ding von einem gewissen Karli, einem Fleischersohn, eine ganze Woche die Frühstückstullen bekommen und sie redlich mit den Katzen geteilt, die im benachbarten Ruinengrundstück streunten. Vater hatte gelacht, als die Sache herauskam, er hatte zu Mutter gesagt: Der Junge hat einen Hang zum Altruismus.

Das Wort gefiel Thomas, natürlich verstand er damals nicht den Sinn. Erst Jahre danach, als er im Brockhaus die Erklärung fand, beeinflusste es eine gewisse Zeit seine Entwicklung, da kokettierte er mit dem „Gegenteil von Egoismus“.