Dieses schöne Leben - Mikki Brammer - E-Book
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Dieses schöne Leben E-Book

Mikki Brammer

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Beschreibung

Berührend, klug, hoffnungsvoll: Wie die Umarmung eines geliebten Menschen wärmt und tröstet Mikki Brammers Roman »Dieses schöne Leben«. Eine wunderschöne Liebes- und Selbstfindungsgeschichte und eine lebensbejahenden Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben. Umgeben von Büchern, vielfältigem Wissen und geliebten Ritualen verbringt Clover eine ungewöhnliche, aber liebevolle Kindheit bei ihrem Großvater, einem Professor, in New York. Als er unerwartet stirbt, während sie verreist ist, beschließt Clover, Sterbebegleiterin zu werden. Denn niemand soll allein, ohne Trost, aus dem Leben scheiden müssen. Mit ihrer ruhigen, mitfühlenden Art ist Clover die Beste auf ihrem Gebiet, doch das Leben droht sie zwischen ihrem Beruf und einsamen Abenden mit romantischen Filmen zu verpassen.  Das ändert sich schlagartig, als die quirlige Sylvie nebenan einzieht, die von den Aufgaben einer Sterbebegleiterin fasziniert ist statt wie die meisten anderen Menschen abgeschreckt von dem Kontakt mit Trauer. Dann bekommt Clover mit der resoluten alten Dame Claudia eine neue Klientin, die sie auf die Suche nach ihrer verlorenen großen Liebe schickt – eine Suche, die Clover ihrem eigenen Seelenverwandten näher bringen wird, als sie ahnt … »Um einen schönen Tod zu sterben, musst du ein schönes Leben leben.« – Mit dieser bewegenden Botschaft bietet Mikki Brammers lebensbejahender Roman warmherzig-inspirierende Unterhaltung für alle, die Matt Haighs »Mitternachtsbibliothek« oder Gail Honeymans »Ich, Eleanor Oliphant« geliebt haben.

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Seitenzahl: 483

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Mikki Brammer

Dieses schöne Leben

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Carolin Müller

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

Epilog

Danksagung

Für Carl Lindgren, weil Du mich gelehrt hast, auch dort das Schöne zu suchen, wo scheinbar keines ist. Und für die Frauen von Cloverlea, die mir beigebracht haben, nach der Magie Ausschau zu halten.

1

Das erste Mal, als ich jemanden sterben sah, war ich fünf.

Mr Hyland, mein Lehrer in der Vorschule, war ein fröhlicher, etwas dicklicher Mann, der mich mit seiner glänzenden Glatze und dem perfekt gerundeten Gesicht an den Mond erinnerte. Eines Nachmittags saßen wir Kinder im Schneidersitz vor ihm auf dem kratzigen Teppich und hörten vollkommen gefesselt zu, wie er uns aus Peter Hase vorlas. Ich erinnere mich noch, dass seine fleischigen Oberschenkel über die Ränder des hölzernen Kinderstuhls quollen, auf dem er saß. Seine Wangen waren rosiger als sonst, aber wer konnte es ihm schon verdenken bei dieser großartigen Geschichte von Beatrix Potter?

Kurz vor dem Höhepunkt der Geschichte – wenn Peter Hase auf der Flucht vor dem Bösen Mr McGregor seine Jacke verliert – hielt Mr Hyland plötzlich inne, als wolle er eine Kunstpause einlegen. Wir starrten ihn mit vor gespannter Erwartung klopfenden Herzen an. Doch statt weiterzuerzählen, gab er einen Laut von sich, der an einen Schluckauf erinnerte, und riss die Augen auf.

Dann kippte er wie ein gefällter Küstenmammutbaum zu Boden.

Wir alle saßen reglos da, mit großen Augen, unsicher, ob diese Einlage noch Teil der üblichen dramatischen Erzählweise unseres geliebten Lehrers war. Aber nachdem er sich einige Minuten nicht mehr gerührt, nicht einmal mit seinen geöffneten Augen geblinzelt hatte, brachen alle im Raum in panisches Geschrei aus.

Das heißt, alle außer mir.

Ich rückte so nah an Mr Hyland heran, dass ich seinen letzten Atemstoß hören konnte. Während der Tumult der übrigen Kinder durch den Flur hallte und die Lehrer herbeigeeilt kamen, saß ich neben ihm und hielt still seine Hand, während die letzte Farbe aus seinem Gesicht wich.

Im Nachgang des »Vorfalls« riet mir die Schule zu psychologischer Beratung. Aber meine Eltern, die sehr mit sich selbst beschäftigt waren, bemerkten keine wesentliche Veränderung in meinem Verhalten. Sie kauften mir ein Eis, tätschelten mir den Kopf und befanden schließlich, dass mit mir alles in Ordnung sei – immerhin war ich schon immer etwas seltsam gewesen.

Im großen Ganzen war ich auch in Ordnung. Aber seitdem fragte ich mich immer wieder, welche letzten Worte Mr Hyland wohl lieber von sich gegeben hätte, als von den Eskapaden eines besonders frechen Hasen zu erzählen.

2

Ich hatte mir eigentlich nicht vorgenommen, mitzuzählen, wie viele Menschen ich seit Mr Hylands Tod vor einunddreißig Jahren sterben sah, aber mein Unterbewusstsein führte gewissenhaft Buch. Besonders jetzt, wo ich mich einem ziemlich beeindruckenden Meilenstein näherte, denn heute stieg die Zahl auf siebenundneunzig.

Ich stand in der Canal Street und sah die Rücklichter des Leichenwagens im Verkehr verschwinden. Wie bei einem Läufer, der den Staffelstab soeben übergeben hatte, war meine Aufgabe damit erledigt.

Inmitten der Abgase und der beißenden Mischung aus getrocknetem Fisch und Tamarinde hatte ich noch immer den Geruch des Todes in der Nase. Damit meine ich nicht den Gestank eines verwesenden Leichnams – damit hatte ich noch nie wirklich zu tun gehabt, da ich immer nur bei den Sterbenden saß, die sich an der Schwelle zwischen dieser Welt und der nächsten befanden. Ich spreche von etwas anderem, dem untrüglichen Geruch, der in der Luft hängt, wenn der Tod naht. Er ist schwer zu beschreiben, aber ein wenig erinnert es an den unmerklichen Übergang zwischen Sommer und Herbst, wenn die Luft plötzlich eine andere ist, aber man nicht weiß, warum. Während meiner Jahre als Sterbe-Doula habe ich mich an diesen Geruch gewöhnt. Dadurch wusste ich, wann jemand bereit war zu gehen. Und wenn Angehörige da waren, informierte ich sie, dass nun der Moment gekommen war, sich zu verabschieden. Heute gab es keine Angehörigen. Viele wären überrascht, wie oft das vorkommt. Tatsächlich wäre mindestens die Hälfte der siebenundneunzig Menschen alleine gestorben, wenn ich nicht dort gewesen wäre. Zwar wohnen um die neun Millionen Menschen in New York City, aber es ist eine Stadt der Einsamen. Und meine Aufgabe ist es, ihre letzten Minuten ein bisschen weniger einsam zu machen.

Eine Sozialarbeiterin hatte mich vor einem Monat an Guillermo vermittelt.

»Ich muss Sie warnen«, hatte sie am Telefon gesagt. »Er ist ein verbitterter, böser alter Mann.«

Aber von so etwas ließ ich mich nicht abschrecken – normalerweise bedeutete das einfach, dass dieser Mensch Angst hatte, sich ungeliebt und alleine fühlte. Also nahm ich es nicht persönlich, als Guillermo mich bei meinen ersten Besuchen kaum beachtete. Doch als ich mich zu unserem vierten Termin verspätete, weil ich mich versehentlich aus meiner Wohnung ausgesperrt hatte, blickte er mir mit Tränen in den Augen entgegen, als ich mich endlich auf seine Bettkante setzte.

»Ich dachte, Sie würden nicht kommen«, sagte er mit dem Ausdruck stiller Verzweiflung eines vergessenen Kindes.

»Ich verspreche Ihnen, dass das nicht passieren wird«, beteuerte ich und drückte seine ledrige Hand.

Und ich hielt mein Wort. Sterbende an den letzten Tagen ihres Lebens zu begleiten ist ein Privileg – besonders wenn man das Einzige ist, an das sie sich halten können.

 

Schneeflocken wirbelten ziellos umher, als ich mich auf den Heimweg von Guillermos beengter Einzimmerwohnung in Chinatown machte. Ich hätte den Bus nehmen können, aber es fühlte sich irgendwie respektlos an, gleich wieder zu den Routinen des Alltags zurückzukehren, wenn jemand sich gerade erst von dieser Welt verabschiedet hatte. Ich mochte es, beim Gehen den eisigen Wind an den Wangen zu spüren, genauso wie den Anblick der Wölkchen, die sich bei jedem meiner Atemzüge bildeten und dann wieder verschwanden – kleine Bestätigungen dafür, dass ich noch hier, noch am Leben war.

Für jemanden, der es gewohnt war, den Tod mitzuerleben, fühlte ich mich hinterher immer ziemlich haltlos. Ein Mensch, der gerade noch hier unter uns geweilt hatte, war nun fortgegangen. Wohin, das wusste ich nicht – wenn es um Spirituelles ging, war ich wohl am ehesten Agnostikerin, wodurch ich den Glaubensrichtungen meiner Klienten Raum geben konnte. Aber wo auch immer er nun war, ich hoffte, dass es Guillermo gelungen war, seine Verbitterung hinter sich zu lassen. Soweit ich das beurteilen konnte, hatte er mit Gott nicht gerade auf gutem Fuß gestanden. Zwar hing neben seinem schmalen Bett halb unter der sich lösenden vergilbten Tapete ein kleines Kruzifix, aber Guillermo hatte es nie direkt Trost suchend angesehen. Hin und wieder hatte er einen verstohlenen Blick darauf geworfen, als versuche er, dem prüfenden Blick einer Autoritätsperson zu entgehen. Aber meist hatte er ihm den Rücken zugewandt.

Nach den drei Wochen bei Guillermo kannte ich alle Details seines Zuhauses. Die dicke Schmutzschicht außen an seinem einzigen Fenster, die das Tageslicht dämpfte und die Wohnung, passend zur gedrückten Stimmung, düster erscheinen ließ. Das durchdringende metallene Quietschen seines klapprigen Bettrahmens, jedes Mal, wenn er sein Gewicht verlagerte. Die eiskalte Zugluft, die von überall und nirgendwo zu kommen schien. Der spärliche Inhalt seiner Küchenschränke, bestehend aus lediglich einer Tasse, einer Schüssel und einem Teller, als untrüglicher Beleg für ein Leben in Einsamkeit.

Guillermo und ich wechselten während dieser Wochen insgesamt vielleicht zehn Sätze. Mehr mussten wir nicht sagen. Ich richtete mich da immer nach den sterbenden Menschen, ob sie ihre letzten Tage nun mit Gesprächen füllen oder lieber schweigen wollten. Sie müssen mir ihre Entscheidung auch nicht sprachlich mitteilen; ich spüre es einfach. Meine Aufgabe ist es, ruhig und präsent zu bleiben und ihnen in den letzten kostbaren Momenten ihres Lebens Raum zu geben.

Das Wichtigste dabei ist, dass man den Schmerz eines Menschen niemals ignorieren darf. Nicht nur den physischen Schmerz, der mit dem Versagen des Körpers einhergeht, sondern auch den emotionalen Schmerz im Angesicht der Erkenntnis, dass das Leben endet und man es besser hätte nutzen können. Jemandem die Möglichkeit zu geben, sich in seiner ultimativen Verletzlichkeit gesehen zu fühlen, ist heilsamer, als alle Worte es je sein könnten. Und es ist mir eine Ehre, das zu tun – ihnen in die Augen zu blicken und ihren Schmerz anzuerkennen, ihm ungefiltert Raum zu geben –, auch wenn die Traurigkeit überwältigend ist.

Auch wenn es mir das Herz bricht.

 

Die Wärme in meiner Wohnung war, verglichen mit Guillermos Apartment, beinahe drückend. Ich schlüpfte aus meinem Mantel und hängte ihn zu dem Haufen an Wintersachen am Kleiderständer beim Eingang. Der Ständer wehrte sich, und meine Caban-Jacke aus Wolle landete in einem zerknitterten Haufen am Boden. Ich ließ sie einfach liegen und sagte mir – wie bei dem meisten Kram, der sich immer in meiner Wohnung ansammelte –, dass ich mich später darum kümmern würde.

Fairerweise muss ich sagen, dass der ganze Kram nicht nur von mir war. Ich hatte die Zweizimmerwohnung in beneidenswerter Lage von meinem Großvater nach dessen Tod übernommen. Na ja, eigentlich stand ich schon seit meiner Kindheit mit im Mietvertrag. Es war ein kluger Schachzug von ihm gewesen, um sicherzustellen, dass nicht einmal die New Yorker Immobilienbürokratie mich um meinen rechtmäßigen Anspruch auf sein mietpreisgebundenes Erbe betrügen konnte. Siebzehn Jahre lang hatten wir uns die Wohnung im zweiten Stock eines Sandsteinhauses im West Village geteilt, das im Vergleich zu seinen gepflegten Nachbargebäuden ziemlich vernachlässigt wirkte. Nun war Grandpa schon seit über dreizehn Jahren tot, aber ich brachte es einfach nicht übers Herz, seine Habseligkeiten auszusortieren. Stattdessen hatte ich nach und nach einfach meine eigenen Besitztümer in der kleinen Wohnung zwischen seinen verstaut. Obwohl ich fast täglich dem Tod in die Augen blickte, konnte ich irgendwie nicht akzeptieren, dass er unwiederbringlich aus meinem Leben verschwunden war. Die Trauer spielt einem gerne Streiche – ein vertrauter Hauch von Duftwasser, oder man meint für einen kurzen Moment, die Person in einer Menschenmenge zu erkennen, und schon lösen sich all die Knoten plötzlich wieder auf, die man in sich geknüpft hat, um mit der Trauer zurechtzukommen.

Meine Hände an einer dampfenden Tasse Earl Grey wärmend, stand ich vor meinem Bücherregal, das vollgestopft war mit Grandpas Biologie-Lehrbüchern, muffigen Atlanten und Seefahrer-Romanen. Dazwischengezwängt stachen drei abgegriffene Notizbücher heraus, und zwar nicht so sehr wegen ihres Aussehens, sondern wegen der einzelnen Wörter, die auf dem Buchrücken eines jeden davon standen. Auf dem ersten BEDAUERN, dem zweiten RATSCHLÄGE, dem dritten GESTÄNDNISSE. Abgesehen von meinen Haustieren waren das die Dinge, die ich bei einem Brand retten würde.

Seit ich angefangen hatte, als Sterbe-Doula zu arbeiten, hatte ich es mir angewöhnt, die letzten Worte meiner Klienten zu notieren. Mit den Jahren war mir aufgefallen, dass die Menschen oft das Bedürfnis verspürten, noch etwas zu sagen, wenn sie im Sterben lagen, etwas von Bedeutung – als würde ihnen bewusst, dass dies ihre letzte Gelegenheit darstellte, eine Spur in der Welt zu hinterlassen. Für gewöhnlich passten diese letzten Botschaften in eine der drei folgenden Kategorien: Dinge, von denen sie sich wünschten, sie hätten sie anders gemacht, Dinge, die sie im Laufe ihres Lebens gelernt hatten, oder Geheimnisse, die sie bewahrt hatten und die sie nun bereit waren zu enthüllen. Diese Worte festzuhalten, erschien mir als meine heilige Pflicht, insbesondere wenn ich die einzige Anwesende im Raum war. Und selbst wenn ich das nicht war, waren Familienmitglieder oft zu sehr von ihrer Trauer überwältigt, als dass sie daran gedacht hätten, solche Dinge aufzuschreiben. Ich dagegen konnte meine Gefühle in dieser Situation viel besser unter Kontrolle halten.

Ich setzte meinen Tee ab und stellte mich auf die Zehenspitzen, um das Buch mit der Aufschrift GESTÄNDNISSE aus dem Regal zu holen. Es war schon eine Weile her, dass ich darin etwas notiert hatte. In letzter Zeit schienen alle am Ende ihres Lebens Dinge zu bedauern.

Ich machte es mir auf dem Sofa bequem und blätterte durch das in Leder gebundene Notizbuch, bis ich zu einer leeren Seite kam. In meiner gedrungenen Krakelschrift schrieb ich Guillermos Namen nieder, seine Adresse, das heutige Datum und sein Geständnis. Um ehrlich zu sein, hatte ich gar nicht mehr damit gerechnet – ich hatte bereits gespürt, wie er entschwand, und dachte, er wäre schon nicht mehr bei Bewusstsein. Aber dann öffneten sich seine Augen noch einmal, und er legte mir die Hand auf den Arm. Nicht auf dramatische Weise, sondern ganz sanft, als wäre er bereits fast aus der Tür und wollte mir nur noch schnell etwas sagen.

»Mit elf habe ich versehentlich den Hamster meiner kleinen Schwester umgebracht«, flüsterte er. »Ich habe die Tür zu seinem Käfig offen gelassen, um sie zu ärgern, und dann war er verschwunden. Drei Tage später haben wir ihn zerquetscht hinter den Sofakissen gefunden.«

Sobald die Worte seine Lippen verlassen hatten, war es, als fiele ein Gewicht von ihm ab, und sein Körper entspannte sich sichtlich, als triebe er auf dem Rücken in einem Pool.

Und dann war er fort.

 

Ich musste an diesen Hamster denken, als sich am selben Abend meine eigenen Haustiere auf der Couch um mich versammelten. George, die moppelige Bulldogge, die ich vor sechs Jahren beim Wühlen in unseren Abfalltonnen gefunden hatte, legte mir seine schlabbrige Schnauze auf die Knie. Lola und Lionel, die beiden Tigerkatzengeschwister, die ich als Babys aus einer Kiste vor der Kirche in der Carmine Street gerettet hatte, strichen abwechselnd um meine Knöchel. Ihr seidig weiches Fell tröstete mich zuverlässig.

Ich versuchte, mir nicht auszumalen, ob der Hamster gelitten hatte. Hamster waren ziemlich zarte Geschöpfe, also hatte es vermutlich nicht viel bedurft. Und der arme Guillermo hatte diese Schuld fünfzig Jahre mit sich herumgeschleppt.

Ich warf einen Blick auf mein Handy, das auf der verblichenen Armlehne des Sofas lag. Normalerweise klingelte es – abgesehen von gelegentlichen Werbeanrufen – nur, wenn mich jemand beauftragen wollte. Ich war noch nie gut darin gewesen, Kontakte zu pflegen. Wenn man als Einzelkind von seinem introvertierten Großvater großgezogen wird, lernt man, mit sich alleine zurechtzukommen. Es war nicht so, dass ich Freundschaften ablehnte; doch wenn man niemanden zu nah an sich ranließ, konnte man auch niemanden verlieren. Und ich hatte schon genug Menschen verloren.

Nichtsdestotrotz fragte ich mich manchmal, wie ich an diesen Punkt gekommen war: sechsunddreißig Jahre alt, und mein ganzes Leben drehte sich darum, Fremde beim Sterben zu begleiten.

Ich schloss die Augen, genoss das Bergamotte-Aroma meines Tees, und zum ersten Mal seit Wochen entspannte sich mein Körper. Es laugte einen ziemlich aus, ständig seine Gefühle zu unterdrücken, aber eben, weil ich das konnte, war ich auch so gut in dem, was ich tat. Meine Aufgabe war es, für meine Klienten stets gelassen und emotional ausgeglichen zu bleiben, auch wenn sie voller Angst waren oder sogar in Panik und nicht wussten, wie sie loslassen sollten.

Als meine Gefühle langsam aufzutauen begannen, lehnte ich mich in die Sofakissen zurück und ließ zu, dass die Traurigkeit sich schwer auf meine Brust legte und eine Sehnsucht mein Herz eng werden ließ.

Es gibt einen Grund dafür, warum ich weiß, dass diese Stadt voller einsamer Menschen ist.

Ich bin eine von ihnen.

3

Normalerweise widmete ich mich nach einem vollendeten Auftrag am nächsten Tag immer den profanen Haushaltspflichten, die ich während meines Einsatzes vernachlässigt hatte. Haushaltstätigkeiten und das Begleichen von Rechnungen fühlten sich irrelevant an, wenn jemand im Sterben lag. Die Schmutzwäsche von drei Wochen quoll über den Rand des Korbes, den ich in den Keller schleppte. Grandpa hatte mir nicht nur den seltenen Schatz einer Wohnung mit Mietpreisbindung hinterlassen, sondern auch mit einem hauseigenen Waschkeller. Mir die für New York übliche Last von Waschsalonbesuchen zu ersparen, war eine der unzähligen kleinen Arten, wie er mein Leben auch in seiner Abwesenheit noch ein kleines Stückchen besser machte.

Als ich die Treppe wieder nach oben ging, blieb ich am Briefkasten stehen, um mich der Flut von Kuverts und Katalogen zu stellen, die mich bei meinen sporadischen Besuchen immer erwarteten. Nur selten wartete darin etwas wirklich Wichtiges auf mich. Auf halbem Weg zu meiner Wohnung rief mir eine krächzende Stimme entgegen: »Hast du mal wieder Urlaub, Kind?«

Der schlurfende Gang, der die Frage begleitete, war mir genauso vertraut wie die Stimme selbst. Leo Drake war rüstige siebenundfünfzig gewesen, als ich als Sechsjährige zusammen mit meinem Großvater hier eingezogen war, und die darauffolgenden Jahrzehnte hatten bei ihm kaum Spuren hinterlassen, abgesehen von der Tatsache, dass sein Haar mittlerweile eher weiß als grau war und sein federnder Schritt ein bisschen langsamer.

Abgesehen davon war er noch immer mein einziger Freund.

»Ja, könnte man so sagen«, antwortete ich und wartete, bis er die letzten Stufen hinabgestiegen war. »Auch wenn ich da einen Strand dem Waschkeller vorziehen würde.«

Leo war ein großer, schlanker Mann mit hohen Wangenknochen, sein Alter ließ ihn nur noch eleganter wirken. Es faszinierte mich, dass die modischen Vorlieben von älteren Leuten oft in einer bestimmten Lebensphase hängen blieben, normalerweise in ihren Dreißigern oder Vierzigern. Oft war es auch eine Frage der Sparsamkeit – warum immer weiter neue Kleider kaufen, wenn man schon haufenweise davon besaß –, aber meistens schien diese Tendenz der Sehnsucht nach ihren gefühlt besten Jahren zu entspringen. Der Zeit, als sie noch mehr von ihrem Leben vor sich als hinter sich hatten.

Leos Stil war immer noch von den akkuraten Schnitten der Sechzigerjahre geprägt: steife, ausladende Kragen, fallende Revers, Einstecktücher, und, wenn es der Anlass erforderte, sein viel geliebter Filzhut. Ich hatte ihn noch nie nachlässig gekleidet gesehen, selbst wenn er nur schnell im Laden an der Ecke Milch holen wollte. Vermutlich war das, seit er an der Madison Avenue gearbeitet hatte, immer so gewesen. Obwohl er zunächst in die Poststelle verbannt worden war, hatte dies sein scharfsinniges Auge nicht davon abgehalten, sich jedes noch so kleine Detail von den Männern aus der Werbebranche abzuschauen, für die er als Schwarzer weitgehend unsichtbar blieb. Und als er schließlich über die finanziellen Mittel verfügte, übernahm und verfeinerte er diesen Stil und machte ihn zu seinem Markenzeichen.

Auch wenn Leo heute bloß seine Post aus dem Briefkasten holte, trug er ein gebügeltes Hemd und eine Bundfaltenhose. Sein Outfit stand in auffälligem Kontrast zu meiner Jogginghose und dem Schlabberpulli. Falls meine Theorie stimmte, war mein modisches Vermächtnis nicht gerade vielversprechend.

Leo lächelte verschmitzt, als er den Schlüssel ins Briefkastenschloss steckte. »Und wann hast du Zeit für unsere Revanche?«

Grandpa hatte mir Mah-Jongg-Spielen beigebracht, sobald ich bei ihm eingezogen war. Es brauchte vier Jahre, bis ich ihn endlich einmal besiegte. Er hatte sich geweigert, mich absichtlich gewinnen zu lassen. Damit würde er mir keinen Gefallen tun, hatte er gemeint. Mit der Zeit prägte ich mir die verschiedenen Mah-Jongg-Blätter ein und beobachtete genau, welche Züge Grandpa machte und welche Spielsteine er verwarf. Ihn verriet nur eines: Wenn er zu verlieren fürchtete, kratzte er sich leicht mit dem rechten Zeigefinger am Hals. Als ich schließlich zum Studieren fortging, wurde Leo sein Spielpartner, und diese Tradition setzten wir dann fort, als ich nach Grandpas Tod wieder hier einzog. Seit gut zehn Jahren verband uns ein erbitterter Mah-Jongg-Wettstreit.

»Wie wär’s mit nächsten Sonntag?«

Beim schnellen Sichten meines Bergs an Post entdeckte ich bloß einen Brief, der wichtig war. Darin befand sich ein Scheck der Angehörigen eines leukämiekranken Mannes, um den ich mich vor einigen Monaten gekümmert hatte. Genauso wie Guillermo hatte er die Welt mit einer eisernen Bitterkeit verlassen, die mich nicht recht losließ. Als ich anfing, als Sterbe-Doula zu arbeiten, hatte ich noch ganz naiv versucht, die Leute dazu zu bewegen, sich auf all die guten Dinge in ihrem Leben zu besinnen, auf alles, für das sie dankbar sein konnten. Aber jemand, der schon seit vielen Jahren voller Wut auf diese Welt war, empfand den Tod nur als weiteren unbarmherzigen Schlag. Schließlich wurde mir klar, dass es nicht meine Aufgabe war, ihnen gegen ihren Willen dabei zu helfen, die Realität zu beschönigen, sie bestand vielmehr darin, ihnen zuzuhören, an ihrer Seite zu sein und sie zu begleiten. Selbst wenn sie bis zum letzten Atemzug unglücklich waren, so waren sie wenigstens nicht allein.

»Ist notiert«, sagte Leo und tippte sich an die imaginäre Hutkrempe. »Außer natürlich, du bekommst ein besseres Angebot.«

Obwohl er ganz genau wusste, dass ich keine weiteren Freunde hatte, konnte sich Leo dezente Anspielungen darauf, dass es anders sein könnte, nicht verkneifen. Ich wusste, dass er es gut meinte, aber es hatte bloß zur Folge, dass ich mich noch unzulänglicher fühlte. Ich hatte selbst nicht damit gerechnet, dass ich auch mit Mitte dreißig nur einen Freund haben würde. Das ist die Sache mit der Einsamkeit: Niemand sucht sie sich selbst aus.

»Danke«, sagte ich und schenkte ihm ein Lächeln. »Aber ich denke nicht, dass da große Gefahr besteht.«

»Tja, das weiß man nie, oder?« Leo nickte in Richtung erster Stock. »Apropos, hast du schon gehört, dass wir einen neuen Nachbarn bekommen? Zieht nächste Woche ein. Hoffentlich gesprächiger als die Vorgänger.«

Verdammt. Ich hatte gehofft, dass die Wohnung im ersten Stock – in der bis vor Kurzem ein finnisches Pärchen gewohnt hatte – noch eine Weile leer stehen würde. Anders als Leo war ich froh gewesen, dass das Nachbarschaftsverhältnis mit den Finnen sich auf höfliches Kopfnicken und den ein oder anderen flüchtigen Gruß beschränkt hatte.

Leo hatte ein besonderes Talent dafür, als einer der Ersten den neuesten Klatsch zu erfahren. Auf dem Weg nach oben informierte er mich noch über alles andere, was er seit unserem letzten Treffen aufgeschnappt hatte. Das Airbnb-Drama im Haus nebenan, die unschöne Scheidung weiter die Straße hinunter, das überteuerte Restaurant, das aus Hygienegründen geschlossen werden musste, nachdem eine Ratte aus der Toilette gesprungen war, als ein Gast sich gerade daraufsetzen wollte. Leo verbrachte einen Großteil seiner Zeit damit, in der Nachbarschaft herumzuspazieren und mit jedem zu plaudern, der sich darauf einließ. Ich habe mich immer gefragt, warum wir beide uns so gut verstanden. Wahrscheinlich ein typischer Fall von »Gegensätze ziehen sich an«.

Die Tür der leeren Wohnung im ersten Stock stand halb offen, als wir die knarrende Treppe hinaufgingen. Durch den Spalt entdeckte ich ein paar Farbeimer auf dem Dielenboden, und daneben lag eine zum Einsatz bereite Farbrolle in ihrer Wanne. Während Leo weiter selbstvergessen vor sich hin plauderte, breitete sich in meiner Magengrube ein ungutes Gefühl aus.

Neue Nachbarn waren in New York ein unvermeidliches Übel, und ich hatte schon so einige ertragen. Aber trotzdem fühlte sich jeder, der unbekannterweise in mein Wohnhaus einzog, für mich wie ein Eindringling an. In meinen persönlichen Bereich. In meine Routine. In meine Einsamkeit. Es bedeutete, dass ich eine neue Persönlichkeit entschlüsseln, neue Begrüßungsrituale finden und mich an neue Eigenarten gewöhnen musste. Ein neuer Nachbar bedeutete immer Unvorhersehbares.

Und ich hasste Überraschungen.

4

Dass meine Eltern tot waren, erfuhr ich am selben Tag, als ich auch lernte, dass Pferde nur durch die Nase atmen können, weil ihr Kehldeckel Mund- und Nasenhöhle voneinander trennt.

Es war zur Mittagszeit an einem Dienstag in der ersten Klasse. Ich saß, an den Stamm der einsamen Eiche im Schulhof gelehnt, zwischen zwei knorrigen Wurzeln, die sich am Boden krümmten wie arthritische Finger. An dieser Stelle saß ich, wenn das Wetter es erlaubte, fast jede Mittagspause und las, während meine Schulkameraden in der Nähe ausgelassen herumtobten. An jenem Tag war ich ganz vertieft in ein Buch über Tiere. Ich war fast mit dem Abschnitt über Pandas fertig, als ich bemerkte, dass unsere Direktorin Ms Lucas schnurstracks über den Schulhof auf mich zumarschiert kam. Die schwingende Bewegung ihrer voluminösen Haare entsprach dem Rhythmus ihres entschlossenen Schrittes, und mit einer wichtigtuerischen Geste hielt sie das Revers ihres Polyesterblazers umklammert. Mein Nacken juckte, wie wenn ein Insekt darüberkrabbelt, aber als ich mir mit der Hand über die Haut fuhr, war dort nichts.

In einer V-Formation folgten dicht hinter Ms Lucas meine Klassenlehrerin und die Beratungslehrerin der Schule. Da das Trio eine wichtige Mission zu haben schien, legte ich ruhig das Buch zur Seite und erwartete sie unter der Eiche.

»Clover, Liebes.« Ms Lucas’ süßlicher Singsang klang verdächtig nach Einschmeichelei. Es war der Ton, den Erwachsene gerne anschlugen, wenn sie einen zur Kooperation bewegen wollten. Sie beugte sich steif zu mir herunter, die Hände in einer umgedrehten Gebetshaltung adrett zwischen die Kniekehlen geklemmt. »Kommst du bitte mal mit uns mit in mein Büro?«

Mein Blick wanderte zu den beiden Frauen, die Ms Lucas flankierten, und mir fiel ihr angespanntes Lächeln auf. Ich fragte mich, ob irgendetwas, das ich heute getan hatte, eine Strafe rechtfertigte. Hatte ich etwa versehentlich irgendeine Regel gebrochen? Ich gab mir eigentlich immer allergrößte Mühe, brav zu sein. Vielleicht hatte ich vergessen, ein Buch zurück in die Bibliothek zu bringen? Da ich mich zahlenmäßig leicht unterlegen fühlte, blieb ich vorerst umgeben von den Baumwurzeln sitzen und war dankbar für ihre schützende Umarmung.

»Ich würde lieber unter dem Baum sitzen bleiben«, sagte ich und freute mich leise über meinen kleinen Akt des Widerstands. »Es ist noch Pause.«

Ms Lucas sah mich finster an. »Nun ja, ich verstehe, dass du gerne noch draußen sein willst, bevor es zu kalt dafür wird, aber da ist etwas, das ich … das wir mit dir besprechen müssen, und ich denke, es ist besser, wenn wir dazu nach drinnen gehen.«

Ich ging gedanklich meine Optionen durch. Es war nicht wahrscheinlich, dass Ms Lucas und ihre blusentragenden Leibwächterinnen mich einfach in Ruhe lassen würden. Also erhob ich mich widerwillig, wischte mir die Zweige von der Jacke und setzte mich gehorsam in Bewegung.

»Braves Mädchen«, sagte Ms Lucas.

 

Im Büro der Direktorin musste ich mich hoch in den hölzernen Drehstuhl hieven. Als ich dann mit weit über dem Linoleumboden baumelnden Beinen dasaß, gruben sich die alten Springfedern unter dem Lederkissen unangenehm in meine dürren Oberschenkel.

Mit finsteren Gesichtern saßen mir die drei gegenüber und wechselten gequälte Blicke, als würden sie schweigend imaginäre Strohhalme ziehen, um zu sehen, wem die unangenehme Aufgabe zufallen würde. Anscheinend hatte die Beratungslehrerin den Kürzeren gezogen. Sie holte tief Luft und setzte an, hielt dann aber noch einmal inne und überdachte ihre Worte.

»Clover«, sagte sie schließlich. »Deine Eltern sind doch gerade auf Reisen.«

»In China«, kam ich ihr zu Hilfe. »Da gibt es Pandas.« Ich presste mein Buch an die Brust wie einen wertvollen Schatz.

»Ja, so ist es – wie schlau du bist.«

»Pandas fressen Bambus. Und sie können über hundert Kilo schwer werden und richtig gut schwimmen«, sagte ich in der Hoffnung, meine Klugheit vor den Erwachsenen weiter zu untermauern, wenn ich schon mal ihre Aufmerksamkeit hatte. »Mommy und Daddy kommen in zwei Tagen nach Hause – ich hab mitgezählt.« Ich hoffte, dass sie mir auch diesmal wieder ein Geschenk mitbringen würden, wie das letzte Mal, als sie in Paris waren.

Die Beratungslehrerin räusperte sich und nestelte an einer extravaganten Brosche an ihrer Bluse herum. »Ja, also, ich weiß, dass deine Eltern am Donnerstag wieder zurück sein wollten, aber es gab … einen Unfall.«

Ich runzelte die Stirn und umklammerte das Buch noch fester. »Einen Unfall?«

Meine Klassenlehrerin beugte sich vor und tätschelte mein Knie. An ihrem Handgelenk baumelte ein Haufen billiger Armreifen. Mir gefielen die bunten Farben. »Du bist gerade bei einer Freundin deiner Mutter untergebracht, stimmt’s Clover?«

Ich nickte argwöhnisch, und meine Ohren fingen an zu brennen. Der Schweiß begann, sich seinen Weg zwischen dem Leder des Stuhls und den Rückseiten meiner Oberschenkel zu bahnen, und das laute Geschrei meiner Schulkameraden drang durchs offene Fenster herein und verstärkte mein Unbehagen.

Das gequälte Lächeln meiner Klassenlehrerin machte mich nervös. »Heute wirst du stattdessen bei deinem Großvater bleiben. Er kommt heute Nachmittag aus New York her und holt dich hier ab. Ist das nicht toll?«

Ich hatte wirklich keine Ahnung, ob das toll war oder nicht. Ich hatte in meinem kurzen Leben mit meinem Großvater mütterlicherseits erst ein paar Nachmittage verbracht, und meine Gefühle gegenüber dem Mann waren ziemlich neutral. Er war ganz nett, auch wenn er nie viel sagte, und er und meine Mutter verhielten sich irgendwie wie Fremde zueinander. Aber zu jedem meiner Geburtstage schickte er mir ein Geschenk – dieses Jahr war es das Tierbuch gewesen, das ich gerade auf dem Schoß hielt. Vielleicht würde er mir etwas Neues mitbringen.

»Warum kann ich nicht bei Miss McLennan bleiben?«

Die alte Junggesellin, die bei uns um die Ecke wohnte, war keine besonders angenehme Gastgeberin, und in ihrem Haus roch es immer nach Roastbeef, egal, was es gerade zu essen gab. Aber abgesehen davon, dass sie für mein leibliches Wohl sorgte und darauf achtete, dass ich zur Schule ging, ließ Miss McLennan mich in Ruhe in meinem Zimmer lesen, während sie auf ihrem Sofa mit Plastikschonbezug saß und häkelte. Und da meine Eltern mich oft wochenlang bei ihr ließen, hatten sie und ich gelernt, friedlich nebeneinanderher zu leben – auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass sie es hauptsächlich für das Bündel Geld machte, das mein Vater ihr immer in die Hand drückte, bevor er ging.

Meine Lehrerinnen tauschten erneut düstere Blicke und verständigten sich wohl in einer Art Geheimsprache, bei der sie nur ihre Augenbrauen benutzten. Am Ende seufzte Ms Lucas schwer.

»Clover, es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber deine Eltern sind tot.« Die beiden anderen Frauen holten scharf Luft, fassungslos über ihre Direktheit, mit der die Direktorin mir eine solch heikle Nachricht überbrachte.

Ich starrte sie ebenso geschockt und mit großen Augen an. Die Frauen beobachteten mich nervös, als versuchten sie, die nächste Bewegung eines wilden Tiers abzuschätzen.

Schließlich gelang es mir zu flüstern: »Tot …? So wie Mr Hyland?«

Ich musste an die Folge der Sesamstraße denken, die man uns nach dem dramatischen Ableben unseres Vorschullehrers gezeigt hatte. Darin setzte sich Bibo mit dem Tod seines Freundes Herrn Huber auseinander.

»Ich fürchte, ja, Clover«, erwiderte Ms Lucas milde, in dem Versuch, ihre abrupte Enthüllung abzufedern.

 

Als ich am späten Nachmittag neben meinem Großvater im Zug saß, der von Connecticut Richtung Manhattan zuckelte, fiel mir ein, dass ich mich gar nicht von meinen Klassenkameraden verabschiedet hatte. Aber da sie sowieso kaum mit mir sprachen, spielte das vermutlich keine Rolle. Vor dem plötzlichen Ableben unseres Vorschullehrers hatte ich mir keine großen Gedanken über die anderen Kinder gemacht, aber durch meine neugierige Reaktion auf seinen Tod – vor allem die Tatsache, dass ich nicht ausgeflippt war wie die anderen – wurde ich zur Außenseiterin. Und nachdem ein Junge dann auch noch angefangen hatte, das Gerücht zu verbreiten, ich wäre »mit den Toten im Bunde«, galt ich endgültig als komischer Vogel. Vermutlich würde ihnen nicht einmal auffallen, dass ich fort war.

Grandpa war in meiner Schule aufgetaucht, als die Glocke das Ende der Mittagspause einläutete. Den kleinen himmelblauen Koffer, den ich zu Miss McLennan mitgenommen hatte, hatte er schon dabei. Nach einem kurzen murmelnden Gespräch mit meinen Lehrerinnen, das ich schwer verstehen konnte, führte mich Grandpa ernst zu einem Taxi, das draußen vor dem Schultor wartete.

Auf der Fahrt zum Bahnhof hatte er mir nur ein paar Details über den Unfall meiner Eltern genannt – etwas von einem alten Boot und einem Tropensturm und einem Fluss namens Jangtsekiang. Ich nickte nur und fragte mich insgeheim, ob meine Eltern wohl auch Pandas in diesem Fluss hatten schwimmen sehen. Doch während hinter dem staubigen Zugfenster die eintönige Vorstadt an mir vorbeizog, sickerte langsam die Wahrheit zu mir durch. Sterben, das wusste ich, hieß, dass man niemals wieder zurückkam. Von da an existierte man nur noch in der Erinnerung anderer Menschen. Ich musste daran denken, wie meine Mutter mich am Morgen ihrer Abreise nach China ungeduldig durch die Haustür hinausgescheucht hatte. Und an den flüchtigen Kuss, den sie mir noch zuwarf, bevor sie ging, begleitet von der Aufforderung, brav zu sein, während sie bereits einen kritisch prüfenden Blick in den Spiegel an der Sonnenblende warf. Vielleicht hatte mein Vater mir noch vom Fahrersitz aus zugewunken, aber da war ich mir nicht sicher. Jedenfalls waren die beiden an jenem Morgen, wie gewöhnlich, mit den Gedanken woanders.

Ich wusste außerdem, dass es wichtig war zu weinen, wenn jemand starb. Nach Mr Hylands Herzinfarkt hatte ich die Bibliothekarin im Flur schluchzen gesehen. Und als Grandpa und ich im Zug saßen, bemerkte ich, dass er sich mehrmals erst mit dem Daumen unter den Augen entlangfuhr und ihn dann an seinem Ärmel abwischte. Also wartete ich gespannt darauf, dass die erste Träne aus meinen Augenwinkeln hervorquellen würde, und ich drückte mir sogar ein paarmal auf die Lider, nur um sicherzugehen, dass ich es nicht verpasste. Aber da waren keine Tränen.

Zwei Stunden später verließen wir die Grand Central Station und traten hinaus in die Abenddämmerung. Draußen spürte ich den kalten Wind an meinen Wangen, und der chaotische Verkehrslärm dröhnte in meinen Ohren. Ich war zum ersten Mal in dieser großen Stadt und nicht sicher, ob es mir gefiel. In der ungewohnten Umgebung suchte ich Halt an Grandpas Mantelsaum, während er den Arm hoch in die Luft reckte und pfiff. Es schien eine Art Zaubertrick zu sein, denn sofort tauchte ein gelbes Taxi vor uns auf. Obwohl ich meinen Großvater kaum kannte, hatte ich irgendwie das Gefühl, bei ihm sicher zu sein. Abgesehen von meinem blauen Köfferchen war er das Einzige, an dem ich mich festhalten konnte.

Die Szenerie, die am Taxifenster vorbeiflog, war Welten entfernt von den sich wiederholenden Vorstädten während der Zugfahrt: hohe Gebäude, pulsierende Lichter, Menschenmassen, die sich auf den Gehsteigen aneinander vorbeidrängten. Ich fragte mich, wie Grandpa all das einfach ignorieren konnte. Doch er starrte bloß mit leerem Blick auf die Lehne vor sich und murmelte etwas davon, dass er noch Milch besorgen müsste.

Als wir vor einem schmalen Sandsteinhaus ankamen, überreichte Grandpa dem Fahrer ein fein säuberlich gefaltetes Geldbündel.

»Sag Danke, Clover«, instruierte er mich, als er bereits die Taxitür aufmachte.

»Danke, Herr Fahrer.«

Der nach Knoblauch riechende Griesgram auf dem Vordersitz stieß zur Antwort ein Brummen aus.

Im Gebäudeinneren zählte ich laut jede Stufe, die wir in den zweiten Stock hinaufstiegen. Bei der vierzehnten kam ein Mann mit Hut die Treppe herunterstolziert.

»Hallo, Patrick«, sagte er zu meinem Großvater, bevor er mich hinter seinem Oberschenkel hervorspähen sah.

Grandpa stellte meinen Koffer ab, um dem Mann die Hand zu schütteln.

»Leo«, sagte er, »das ist meine Enkelin Clover.«

Leo warf Grandpa einen kurzen mitfühlenden Blick zu, dann beugte er sich zu mir herunter und reichte mir die Hand. Als er mir sein breites Lächeln zeigte, blitzte ein einzelner Goldzahn hervor.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Kleine«, sagte er, wobei sich das Licht der Treppenhausbeleuchtung in seinen Augen spiegelte wie Sonnenstrahlen in einer vollen Colaflasche. »Willkommen in diesem Haus.«

Ich schüttelte seine Hand, so fest ich konnte, und bewunderte den warmen Bernsteinton seiner Haut. »Schön, Sie kennenzulernen, Sir.«

Leo trat zur Seite und machte eine ausladende Geste die Treppe hinauf wie ein Platzanweiser im Theater. »Dann will ich euch nicht länger aufhalten«, sagte er und tippte sich an den Hut. »Aber ich freue mich auf ein baldiges Wiedersehen.«

Im zweiten Stock angekommen, sah ich zu, wie Grandpa die vielen Schlüssel an einem Ring, der an seinem Gürtel befestigt war, inspizierte und anschließend eine Reihe von Türschlössern aufsperrte. Während er unsere Mäntel an den Garderobenständer hängte, sah ich mich staunend in seinem Wohnzimmer um. Deckenhohe Regale reihten sich an den Wänden, vollgepackt mit allen möglichen Objekten – Edelsteine, Tierschädel, Stammesmasken und Kreaturen in Gläsern. Es war, als wohnte Grandpa in dem Museum, das wir letzten Monat bei unserem Schulausflug besucht hatten.

Und ich lebte nun auch da.

Nach einem recht schweigsamen Abendessen aus Baked-Beans-Toast führte Grandpa mich zu einem kleinen Zimmer ganz hinten in der Wohnung. In einer der Zimmerecken stand ein riesiger Holzschreibtisch voller Papier- und Bücherstapel, die hoch wie Schornsteine aufragten. In der anderen Ecke befand sich ein Einzelbett mit einem Nachttisch, auf dem eine grüne Banker-Lampe und eine Vase mit einer einzelnen Pfingstrose standen.

»Das ist jetzt dein Zimmer«, sagte Grandpa und zeigte dann auf die Bücherstapel. »Darum kümmern wir uns dann morgen.«

Er zog den Stuhl aus Bugholz unter dem Tisch heraus und stellte meinen Koffer darauf ab. Das himmelblaue Vinyl wirkte in dem gedämpften Farbschema des Zimmers, das nahezu ausschließlich aus Mahagoni, Leder und Tweed bestand, wie ein Fremdkörper.

»Das war heute … ziemlich viel. Falls du mich brauchst, ich bin im Wohnzimmer.« Er tätschelte mir ungelenk den Kopf und steckte die Hände dann schnell wieder in die Hosentasche. »Gute Nacht, Clover.«

»Gute Nacht, Grandpa.«

Ich stand mitten im Zimmer und versuchte, meine neue Realität zu begreifen. Musste ich jetzt, da ich in der Stadt wohnte, meine Zähne auch jeden Abend putzen? Miss McLennan war, was Zähneputzen betrifft, eine echte Pedantin gewesen. Vieles würde von jetzt an vielleicht ganz anders sein. Wer würde mich zur Schule bringen? Konnte man in meiner neuen Schule auch Bücher aus der Bibliothek ausleihen? Stand auf dem Schulhof ebenfalls eine Eiche?

Ich beschloss zum Test, das Zähneputzen einmal zu »vergessen«. Als ich unter die Bettdecke schlüpfte, roch ich das ungewohnte Waschmittel gewürzt mit einem Hauch Mottenkugeln. Die Bettdecke war so fest unter die Matratze gesteckt, dass ich mich darunter kaum zur Seite drehen konnte. Ich stellte mir vor, dass es sich wohl wie eine feste Umarmung anfühlte, aber da ich das nicht so oft erlebt hatte, war ich mir nicht ganz sicher.

Ich griff zum Nachttisch und zog vorsichtig an der Kante des verfärbten Deckchens, um an meinen Tieralmanach zu gelangen, ohne dabei die Vase umzustoßen. Dann ließ ich mich in das Kopfkissen mit klumpiger Füllung sinken, stützte die Kante des schweren Buches auf meiner Brust ab und blätterte bis zu dem Abschnitt mit der Aufschrift »P«.

Da ich bereits alles über Pandas wusste, fing ich an, das Kapitel über Pferde zu lesen.

5

Abgesehen davon, dass ich am Tag nach Guillermos Tod Leo an den Briefkästen begegnet war, schaffte ich es, die nächsten fünf Tage mit keiner Menschenseele in Kontakt zu kommen. Aber längere Phasen der Einsamkeit waren immer eine zweischneidige Sache. Zuerst trösteten sie mich, weil sie mich vor dem Chaos und den Anforderungen des Menschseins schützten. Doch von einem Moment auf den anderen wurde aus Regeneration betäubende Isolation.

Als ich am sechsten Tag meiner Abschottung auf dem Sofa saß und mich nicht mehr erinnern konnte, wann ich mir zuletzt die Haare gewaschen hatte, spürte ich erste Anzeichen dieser Verschiebung. Es war wie das verräterische Halskratzen, das eine Mandelentzündung ankündigte. Das Auftreten der Symptome begann wie immer mit meinen Mediengewohnheiten. Natürlich ist nichts Falsches daran, sich in einen schnulzigen Liebesfilm oder eine Serie zu flüchten – dazu sind sie ja geradezu da. Aber selbst ich wusste, dass es einen Unterschied machte, ob man sie lediglich zu Entspannungszwecken ansah oder ob man damit etwas zu kompensieren versuchte, das einem selbst im Leben fehlte. Das sichere Zeichen, dass ich diese Grenze überschritten hatte, bestand darin, dass ich anfing, mir zwanghaft immer wieder dieselben romantischen Szenen anzuschauen, in dem Versuch, mehr aus der Geschichte herauszuholen, als darin steckte, als würde nach der hundertsten Wiederholung wie durch Zauberhand doch noch eine neue Ebene darin zum Vorschein kommen. Heute hatte ich mir mindestens zwanzigmal die romantischsten Szenen aus Zauberhafte Schwestern angesehen. Doch statt der wohligen Oxytocin-Ausschüttung, die ich normalerweise beim Filmeschauen erlebte, überkam mich eine Sehnsucht, als ob Sandra Bullocks emotionale Höhen und Tiefen meine ureigenen wären.

Wenn man als Einzelkind aufwächst, lebt man fast genauso oft in seiner Fantasiewelt wie in der Realität. Niemand konnte einen enttäuschen – oder verlassen –, solange man selbst die Kontrolle über die Geschichte hatte. Wenn also das wiederholte Schauen einer Liebesgeschichte meinen Schmerz nicht mehr stillte, setzte ich die Geschichte oft als Fantasie in meinem Kopf fort und stellte mir das Leben der Figuren lange nach dem letzten Kuss und dem Abspann vor.

Aber das war dann auch der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich das Haus wieder verlassen und mit der echten Welt in Verbindung treten musste.

Als ich gerade widerstrebend meinen Mantel anzog, ging in der Wohnung gegenüber flackernd das Licht an. Da die Dämmerung noch mit dem Tageslicht schäkerte und sich der Sonnenuntergang im Fenster spiegelte, war es schwieriger als sonst, ins Innere zu spähen. Aber dennoch konnte ich die beiden Gestalten ausmachen, die gerade aus ihren Mänteln schlüpften und es sich zusammen auf der Couch bequem machten. In den vier Jahren, die Julia und Reuben nun gegenüber wohnten, hatten sie nicht ein einziges Mal ihre Rollläden heruntergelassen. Vermutlich hatten sie nicht mal welche. Es schien weniger ein Symptom ihrer Zeigefreude zu sein als ein Zeichen dafür, dass sie sich in ihrer vertrauten Blase vollkommen sicher fühlten und sich deshalb auch keinerlei Gedanken darüber zu machen schienen, dass sie irgendjemand von außen beobachten könnte. Während ich ihre innige Umarmung beobachtete, fragte ich mich, wie es wohl sein musste, sich so mit einem anderen Menschen verbunden zu fühlen, dass die Welt draußen gar keine Rolle spielte. Doch dann verschob sich der Winkel des einfallenden Sonnenlichtes und blendete mich so stark, dass mir der Blick in ihr Wohnzimmer verwehrt wurde. Seufzend ließ ich meine eigene Jalousie herunter und zwang mich, das Haus zu verlassen.

 

Ich hatte es noch nie verstanden, warum New York als Schmelztiegel bezeichnet wurde. Das New York, das ich kannte, ähnelte eher einer stückigen Gemüsesuppe, in der die Menschen oft ohne direkten Kontakt miteinander herumwaberten. Manchmal schlüpfte ich wochentags, zusammen mit anderen einsamen Besuchern, in eine Vorführung des Indie-Kinos an der Sixth Avenue. Dort fühlte ich mich am ehesten unter Gleichgesinnten. Wahllos in den Sitzreihen verteilt wie die Perlen eines Rechenschiebers konnten wir zusammen allein sein. Und wenn der Projektor dann klackernd zum Stehen kam und das Licht im Saal aufleuchtete, ging jeder wieder seines einsamen Weges.

Aber an diesem Abend wusste ich, dass ein Film mit nur einem Hauch von Romantik selbst in Gesellschaft von anderen Menschen mein zwanghaftes Verhalten nur befeuern würde. Um also meiner Einsamkeit zu entfliehen, stieg ich in den Zug nach Midtown, um zu der einzigen Art von gesellschaftlichem Treffen zu gelangen, zu dem ich mich hin und wieder aufraffen konnte: ein Death Café.

Ein solches Death Café hatte ich zum ersten Mal auf meiner Rucksackreise mit Anfang zwanzig in der Schweiz besucht. Dort hatte ich an einem Laternenmast einen zerfledderten Flyer entdeckt, der die Passanten in ein »café mortel« einlud. Wer wäre nicht versucht, das einmal auszuprobieren. Diese zwanglosen Zusammenkünfte fanden in der Regel in Restaurants statt und waren von einem Schweizer Soziologen namens Bernard Crettaz mit der Absicht begründet worden, Gespräche über den Tod zu enttabuisieren. Vollkommen Fremde kamen dort zusammen und konnten sich bei Essen und Wein über Sterblichkeit austauschen, um danach wieder getrennte Wege zu gehen. Genial. Mittlerweile hatte ein Brite namens Jon Underwood das Konzept zu einem weltweiten informellen Netzwerk von sogenannten Death Cafés ausgebaut, die in den letzten Jahren auch in New York Fuß gefasst hatten. Normalerweise besuchte ich alle paar Wochen eines davon, weil mir die Balance aus menschlicher Interaktion ohne Gefühlsverwicklung sehr entsprach.

Außerdem war der Tod ein Thema, mit dem ich mich wirklich auskannte.

Im Zug herrschte ein Durcheinander aus Armen, die sich an Stangen festhielten, Gesichtern, die Rucksäcken auswichen, und Blicken, die einander auswichen. Die meisten Menschen hassten ja die Preisgabe ihrer persönlichen Distanzzone, das Gefühl von aneinandergepressten Körpern. Ich hingegen fand es irgendwie prickelnd. Denn außer wenn ich mich um meine Klienten kümmerte – ihnen die Hand hielt, die Stirn abtupfte oder ihnen den Rücken rieb –, kam ich anderen Menschen kaum so nahe. Das war schon immer so gewesen – ich wusste nicht mal, ob ich kitzlig war. Abgesehen von einem gelegentlichen Tätscheln am Kopf oder einem Klopfen auf die Schulter hatte Grandpa mir seine Zuneigung eher auf praktische Weise gezeigt, indem er mir wesentliche Lebenskompetenzen vermittelte. Daher war für mich jede Gelegenheit zu Körperkontakt, auch wenn sie nur flüchtiger Natur war, etwas Besonderes.

An der Station 34th Street kam der Zug ächzend zum Stehen, und das Meer aus Pendlern teilte sich kurz. Als ich meine Hand an der Deckenstange entlanggleiten ließ, schob sich ein schlanker Mann in einem marineblauen Anzug und einem grauen Tweedmantel mit einer Ausgabe der New York Times in der Hand dicht neben mich. Die Türen schlossen sich wieder, und die Menge der Pendler verdichtete sich erneut, als hätte jemand ein unsichtbares Seil um sie zusammengezogen. Dieser Impuls schob den Mann noch näher an mich heran, sodass mein Gesicht nur noch Zentimeter von dem sorgfältigen Knoten seiner gestreiften Seidenkrawatte entfernt war. Ich konnte die Wärme spüren, die seine warme Brust ausstrahlte, und atmete die betörende Mischung aus Sandelholz, teurer Seife und vielleicht einem Hauch von Whiskey ein. Ich stellte mir vor, dass er die Arme um mich legte und seine Hand in meinem Haar vergrub, während ich meine Wange an sein Revers schmiegte. Bei dem Gedanken schlug mein Herz schneller.

»NÄCHSTER HALT FORTY-SECOND STREET/BRYANT PARK«, verkündete die Stimme vom Band abrupt über den Lautsprecher. Jäh aus meinem Tagtraum gerissen, schob ich mich widerwillig zur sich öffnenden Tür. Der Mann in dem marineblauen Anzug blickte nicht von seiner Zeitung auf. Aber als ich die von Kaugummi übersäten Stufen hinaufstapfte, glaubte ich, einen Hauch von Sandelholz an meinem Mantel zu riechen.

6

Das Death Café an diesem Abend fand im Inneren der New York Public Library statt. Normalerweise vermied ich es, zu oft zu demselben Death Café zu gehen. Auch wenn jedes Treffen Neulinge anzog, gab es zwangsläufig regelmäßige Besucher, die sich gerne an jedes bekannte Gesicht klammerten. Die Vielzahl an Death-Café-Treffen in der Stadt ermöglichte es einem jedoch glücklicherweise, relativ anonym zu bleiben.

Als ich dort ankam, war es noch ganz leer, abgesehen von einem Kreis aus schwarzen Plastikstühlen, die darauf warteten, besetzt zu werden. Den Druck, der dadurch entstand, die Erste im Raum zu sein, hatte ich noch nie gemocht. Es bedeutete, dass man die Begrüßung jeder hinzukommenden Person erwidern und drohendem Small Talk aus dem Weg gehen musste, bis das Treffen begann. Also drückte ich mich bei den nahe gelegenen Bücherregalen herum und tat so, als würde ich mich für die fein säuberlich geordneten Bände über Luftfahrttechnik interessieren.

Als ich schließlich im Stuhlkreis Platz nahm, waren bereits alle anderen Plätze bis auf einen weiteren besetzt. Es war leicht, die Neulinge zu erkennen; ihre nervösen Blicke und zappligen Hände verrieten, dass sie sich weit außerhalb ihrer Komfortzone befanden. Als der Zeiger der Wanduhr die neue Stunde einleitete, wurde es unruhig im Raum. Die Gesprächsleiterin, eine fröhliche Italienerin, legte sich schwungvoll einen Papierstapel auf den Schoß, zum Zeichen, dass es Zeit wurde anzufangen. Ich hatte sie vorher noch nie bei einem Treffen gesehen – diese römische Nase wäre mir aufgefallen.

»Herzlich willkommen, alle zusammen!«, sagte sie vergnügt. »Mein Name ist Allegra.« Sie hielt inne, als ein Mann in den Dreißigern, das Handy am Ohr, zögernd den Kopf hereinsteckte.

»Hallo, der Herr! Sind Sie auch für das Death Café hier?« Es war normal, dass bei diesen Treffen mindestens eine Person ein bisschen zum Eintreten überredet werden musste.

Er hielt die Hand vor sein Handy und lachte nervös. »Ja, ich denke schon … ich meine, ja, das bin ich«, stammelte er. »Tut mir leid, ich bin etwas zu spät.« Er lächelte zerknirscht in die Runde.

»Super, Sie haben Glück, dass wir Ihnen einen Platz frei gehalten haben«, zirpte Allegra. Ich beneidete sie um ihre Lockerheit, ihr sicheres Auftreten, das von dem Wissen herrührte, dass man geliebt wird. »Kommen Sie nur herein! Wir wollten gerade anfangen.«

Der Mann eilte zu dem freien Stuhl, blieb dann jedoch mitten im Stuhlkreis stehen, als erinnerte er sich plötzlich, dass er noch jemanden am anderen Ende der Leitung hatte. »Ich muss auflegen, hab zu tun«, flüsterte er in sein Handy. »Achtet einfach drauf, dass es vertraulich bleibt.« Dann steckte er das Handy in seine Tasche und ließ sich auf den freien Platz fallen, ohne seinen Mantel auszuziehen, obwohl es in dem fensterlosen Raum ziemlich stickig war. »’tschuldigung«, murmelte er noch einmal in die Runde. »Die Arbeit.« Seine offensichtliche Nervosität schien sich auf die anderen zu übertragen.

»Da wir nun alle Platz genommen haben, möchte ich zunächst einmal sagen, wie froh ich bin, dass wir heute zu diesem Death-Café-Treffen zusammengekommen sind«, sagte Allegra, und ich fragte mich, wie sie es bloß hinbekam, dass ihr honigfarbenes schulterlanges Haar gleichzeitig gepflegt und lässig zerzaust aussah. »Ich weiß, dass es für einige das erste Mal ist, also möchte ich erst einmal kurz erklären, was wir hier machen.« Sie hielt inne und blickte gelassen in die Runde, unbeirrt von den bangen Blicken der Leute, von denen einige wirkten, als würden sie jeden Moment flüchten wollen. »Dies ist ein Ort für offene Gespräche. Wir folgen keiner festen Tagesordnung, also ermutige ich euch alle, Themen anzusprechen und Fragen zu stellen, die euch so in den Sinn kommen und die etwas mit dem Tod zu tun haben. Es gibt viele Death Cafés in der ganzen Stadt, und einige von euch werden vielleicht schon einmal eines davon besucht haben. Der einzige Unterschied hier besteht darin, dass wir kein Essen und keine Getränke anbieten können, weil wir uns in einer Bibliothek befinden.«

Einer von vielen Gründen, warum dieses Death Café nicht oben auf meiner Liste stand, denn so musste ich mir später zu Hause noch etwas zum Abendessen zusammensuchen, anstatt mir hier den Bauch mit Häppchen vollzuschlagen. Hoffentlich gab es noch irgendwas in meinem Gefrierfach, das ich mir aufwärmen könnte.

»Also dann«, sagte Allegra und klatschte in die Hände, »stellen wir uns der Reihe nach vor – ich würde vorschlagen, wir duzen uns alle hier in dieser Runde.«

Die Teilnehmer waren bunt gemischt wie immer.

Ein Mann in den Zwanzigern mit einem smaragdgrünen Rollkragenpulli, der schon immer vom Tod fasziniert war, aber niemanden hatte, mit dem er sich darüber austauschen konnte.

Eine ältere Dame mit dicker roter Brille, bei der Alzheimer im Frühstadium diagnostiziert worden war und die sich mit der Tatsache auseinandersetzte, dass ihre kognitiven Fähigkeiten ihr langsam entglitten.

Eine Dramaturgiestudentin, die atheistisch erzogen worden war und das Gefühl hatte, dass sie aufgrund des Mangels an Spiritualität in ihrem Leben nicht in der Lage war, mit der Endgültigkeit des Todes umzugehen.

Ein holländischer Tourist, der den Flyer zufällig in der Bibliothek gesehen und gedacht hatte, dies sei eine gute Möglichkeit, »New York zu erleben« und gleichzeitig sein Englisch zu verbessern. Ich musste an mein erstes Death-Café-Treffen in der Schweiz denken und verspürte einen Anflug von Kameradschaft für ihn.

Als Nächster war der Nachzügler an der Reihe, sein rechtes Bein hüpfte auf und ab wie ein Presslufthammer. Ich war mir nicht sicher, ob mein linkes Bein ihn aus Mitgefühl spiegelte oder bloß zuckte, weil ich selbst so nervös war.

»Äh, hi, ich bin Sebastian.« Er winkte verlegen und schob dann seine Goldrandbrille zurecht. »Ich schätze, ich bin hier, weil in meiner Familie nie wirklich über den Tod gesprochen wurde, na ja, das Thema ist mir ziemlich fremd. Aber tatsächlich habe ich große Angst davor. Ich dachte, wenn ich hierherkomme und mehr darüber erfahre, dann überwinde ich sie vielleicht.«

Ein paar andere aus der Runde nickten verständnisvoll. Sebastian wandte den Blick zu der Frau neben ihm, in der Hoffnung, so schnell wie möglich wieder aus dem Rampenlicht treten zu können.

Während sie sich vorstellte und erklärte, sie sei hier, weil sie vermutete, dass es in ihrer Wohnung spuke, wappnete ich mich und probte schon einmal in Gedanken meine Worte. Mir vorab einzuprägen, was ich sagen würde, verringerte die Gefahr einer Panne. Ich gab bei einem Death-Café-Treffen nie meinen echten Beruf preis, denn das hätte bloß übermäßige Neugier hervorgerufen und wohlmeinende, aber aufdringliche Fragen zur Folge. Die meisten Menschen hatten noch nie davon gehört, dass es Sterbe-Doulas gab, geschweige denn schon mal persönlich eine getroffen. Stattdessen nahm ich eine viel leichter erfassbare Identität an. Als alle Augen schließlich auf mir ruhten, holte ich tief Luft und rang mir ein Lächeln ab.

»Ich bin Clover«, sagte ich und bemühte mich, nicht knallrot anzulaufen. »Und meine Großmutter ist vor Kurzem gestorben.«

Im Stuhlkreis wurden Beileidsbekundungen gemurmelt, und mir war meine Schwindelei schrecklich unangenehm. Aber wie immer stellte es eine zufriedenstellende Erklärung für meine Anwesenheit dar, und die Aufmerksamkeit der Gruppe wandte sich der Frau zu meiner Linken zu.

Allegra eröffnete die Gesprächsrunde mit einem Artikel über einen Bestattungsanzug, der mit Pilzen versetzt war und den Körper auf diese Weise in Kompost verwandelte. Es folgte eine leidenschaftliche Debatte über Beerdigungen und Einäscherungen, bei der auch die Vorzüge einer Seebestattung oder einer Spende an die Wissenschaft erörtert wurden.

»Mir gefällt die Vorstellung, wieder mit der Erde eins zu werden«, sagte die atheistische Dramaturgiestudentin. »Die Erde nährt uns im Leben, und dann nähren wir sie, wenn wir gestorben sind.«

Der holländische Tourist nickte energisch. »Ja, und auch viel umweltfreundlicher als Einäscherung – all diese Emissionen.«

»Also, angenommen ich möchte eine Seebestattung, darf meine Familie mich dann einfach mit ihrem Fischerboot rausfahren und im Atlantik verstreuen?« Die Frau neben mir schien eine sehr pragmatische Ader zu haben.

»Nee«, erwiderte der Rollkragentyp. »Ich hab mich da für meinen Großonkel schlaugemacht, der das gerne wollte. Da braucht man alle möglichen Genehmigungen und so. Aber oben in New England gibt es eine Firma, die das anbietet – die fahren einen dann mit einer gecharterten Jacht aufs Meer raus, als Tagesausflug, sogar mit Picknick, bevor der Verstorbene dann auf See beigesetzt wird.«

Dieses Hin und Her war jedes Mal unterhaltsam, denn die meisten New Yorker hielten mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Ich zog es da vor, nur in Gedanken zu antworten, damit ich nicht der Überprüfung der anderen standhalten musste. Außerdem interessierte ich mich sowieso hauptsächlich dafür, was andere Leute über den Tod, als abstraktes Konzept, dachten.

Meine Klienten waren schon mitten im Prozess des Sterbens und hatten dadurch oft eine gewisse Klarheit über die Dinge. Das Wissen um ihren bevorstehenden Tod schien sie von Denkverboten zu befreien – als ob sie ein letztes Teil in ihr Lebenspuzzle einfügen müssten und genau wüssten, wo es hingehört. Nicht mehr über seine Zukunft spekulieren zu müssen, konnte in gewisser Weise befreiend sein. Aber für die meisten Menschen war der Tod eine Unbekannte – ein unausweichliches, nebulöses Ereignis, das bloß Minuten, aber auch Jahrzehnte entfernt sein konnte. Und meiner Erfahrung nach hatten diejenigen, die zu Lebzeiten lieber nicht darüber nachdenken wollten, wenn es ans Sterben ging, am meisten zu bereuen.

Bei solchen Death-Café-Treffen spielte ich gerne mit mir selbst ein Spiel. Ich versuchte zu erraten, wie die Anwesenden jeweils ihre letzten Augenblicke verarbeiten würden. Einige, wie Allegra, würden dem Tod mit Würde begegnen. Doch bei anderen, wie dem Nachzügler Sebastian, würde er wahrscheinlich Panik und Bestürzung auslösen.

Ich hoffte nur, diese Menschen hätten dann jemanden wie mich, der ihnen dabei half, in Frieden zu gehen.

7

Sprühregen begrüßte mich, als ich auf die große Treppe vor der Bibliothek hinaustrat. Nach der stickigen Luft drinnen genoss ich es, die feuchte Abendluft in meine Lunge einzusaugen, und der Atem, den ich ausstieß, bildete eine Dampfwolke vor meinem Gesicht.

»Clover!«, rief eine aufgeregte Stimme hinter mir.

Aus zwei Gründen war ich überrascht darüber. Erstens hatte ich noch nie jemanden getroffen, der so hieß wie ich, also war die Wahrscheinlichkeit, dass es (a) so jemanden gab und (b) auch noch in meinem Umfeld, eher gering. Zweitens waren die meisten der Menschen, mit denen ich in den letzten zehn Jahren näher zu tun hatte, nicht mehr am Leben, also war es ebenso unwahrscheinlich, dass irgendjemand ausdrücklich mich damit meinte.

Doch als ich mich umsah, um festzustellen, wer da gerufen hatte, fiel mir ein, dass ich meinen Namen ja erst vor einer Stunde einem ganzen Raum voll Menschen offenbart hatte – und da kam Sebastian lockeren Schrittes auf mich zugetrabt. Reflexartig klopfte ich meine Manteltaschen ab, um festzustellen, ob ich aus Versehen etwas in der Bibliothek hatte liegen lassen. Nein, ich hatte alles.

»Clover, hi!« Sebastians Grinsen zeigte, dass er meinen entsetzten Gesichtsausdruck nicht bemerkte. Ich überlegte fieberhaft, wie ich der Situation entfliehen konnte. In New York City war es besser, sich geschickt aus ungewollten Interaktionen herauszuhalten. Man ließ sich nie in die Karten schauen, das heißt, man verriet weder die Richtung, in die man gehen, noch die U-Bahn-Linie, die man nehmen wollte, bevor es die andere Person getan hatte. Denn dann konnte man sich für die exakt entgegengesetzte entscheiden und so einem kurzen höflichen Austausch aus dem Weg gehen, ohne abweisend zu wirken.

Ich hätte einfach weitergehen und so tun können, als würde ich Sebastian gar nicht bemerken, aber meine guten Manieren setzten sich durch.

Ich lächelte schwach. »Oh, hey, alles klar …« Ich tat so, als hätte ich seinen Namen vergessen, denn das würde ihn bloß in der Vorstellung bestärken, ich wollte mich mit ihm unterhalten.

»Sebastian.« Er streckte mir die Hand entgegen, sodass ich keine andere Wahl hatte, als sie zu schütteln.

»Ach ja, Sebastian, stimmt.« Sonst sagte ich nichts und hoffte inständig, dass dies die Sache beschleunigen und ihn zwingen würde, direkt auf den Punkt zu kommen. Das Schweigen, das folgte, war uns beiden unangenehm.

Er trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und wrang den dunkelgrauen Schal, den er in den Händen hielt. Er sah nach Kaschmir aus. »Hey, das mit deiner Großmutter tut mir leid. Meine Grandma ist leider auch nicht gerade in bester Verfassung.«

Nicht gerade eine gelungene Form der Beileidsbekundung. Aber ungeachtet dessen, was ich beim Death-Café-Treffen behauptet hatte, sind meine beiden Großmütter bereits vor meiner Geburt verstorben, also war ich nicht gerade in der Position, ihn zu kritisieren.

»Oh, danke, ja, sie war ein wundervoller Mensch«, log ich. Grandpa hatte nie viel von seiner verstorbenen Frau erzählt, was ich immer für seine Form der Trauerbewältigung gehalten hatte (obwohl er einmal eine Erdbeerallergie erwähnte). War es frevelhaft, in Bezug auf jemanden zu lügen, den ich nie kennengelernt hatte, auch wenn es ein gutes Licht auf sie warf?