Digitale Demenz - Manfred Spitzer - E-Book
SONDERANGEBOT

Digitale Demenz E-Book

Manfred Spitzer

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab. Was wir früher einfach mit dem Kopf gemacht haben, wird heute von Computern, Smartphones, Organizern und Navis erledigt. Das birgt immense Gefahren, so der renommierte Gehirnforscher Manfred Spitzer. Die von ihm diskutierten Forschungsergebnisse sind alarmierend: Digitale Medien machen süchtig. Sie schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist. Wenn wir unsere Hirnarbeit auslagern, lässt das Gedächtnis nach. Nervenzellen sterben ab, und nachwachsende Zellen überleben nicht, weil sie nicht gebraucht werden. Bei Kindern und Jugendlichen wird durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert. Die Folgen sind Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialer Abstieg. Spitzer zeigt die besorgniserregende Entwicklung und plädiert vor allem bei Kindern für Konsumbeschränkung, um der digitalen Demenz entgegenzuwirken.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 452

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Manfred Spitzer

Digitale Demenz

Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen

Knaur e-books

Über dieses Buch

Digitale Medien bestimmen unseren Alltag – ohne Computer, Smartphone und Navi geht heute gar nichts. Das birgt immense Gefahren, denn bei intensiver Nutzung baut unser Gehirn ab. Kinder und Jugendliche sind kaum noch lernfähig. Die Folgen: Aufmerksamkeitsstörungen und Realitätsverlust, Stress, Depressionen und zunehmende Gewaltbereitschaft. Der renommierte Gehirnforscher Manfred Spitzer zeigt die besorgniserregende Entwicklung und plädiert bei Kindern für Konsumbeschränkung, um der digitalen Demenz entgegenzuwirken.

Inhaltsübersicht

VorwortEinführungMacht Google uns dumm?Wo ist das Problem?Wer denken lässt, wird kein ExperteEwig gestrig, romantisch, technikfeindlich?Es geht um unsere Kinder1. Taxi in LondonNavigieren – im Kopf und außerhalbLernen im GehirnFazit2. Wo bin ich?DemenzOrientierung im RaumTraining: Neuronen wie MuskelnGedächtnisspurenGeistiger AbstiegNeue Zellen in alten GehirnenFazit3. Schule: Copy and Paste statt Lesen und Schreiben?VerarbeitungstiefeOberflächlich: Digitale Medien verringern die VerarbeitungstiefeEin Laptop für jeden Schüler?Laptops und Smartboards im Klassenzimmer: die WirklichkeitComputer und Internet in der Schule? – Die DatenlageGeschichte der LernverhinderungsmaschinenWissenschaft versus WirtschaftFazit4. Im Gehirn speichern oder auslagern in die Wolke?Wer nichts weiß, denkt an GoogleMan vergisst, was erledigt istMan vergisst im Netz mehr als realFazit5. Soziale Netzwerke: Facebook statt face to faceAnonymitätGroß in Facebook, klein im Gehirn?Gehirngröße und GruppengrößeDas Gehirn wächst mit der GruppeFazit6. Baby-TV und Baby-Einstein-DVDsKinder und Krankheiten des AltersAnfixen zur FresssuchtGeistige NahrungBaby-TVBaby-Chinesisch am Bildschirm?Baby EinsteinBildschirme schaden der BildungBaby-RoboterFazit7. Laptops im Kindergarten?Schnell versus genauWas wächst, wenn das Gehirn wächst?Gehirnentwicklung ersetzt den LehrerLernen durch Be-greifenFingerspiele und MathematikDie Welt be-greifenBleistift oder Tastatur?Fazit8. Digitale Spiele: schlechte NotenComputerspiele und SchulleistungenLernen mit World of Warcraft?Schlechte Noten verschenkenSozialkontakte und Bindung zu Eltern und FreundenGemütlich dumpf auch in der TalkshowFazit9. Digital Natives: Mythos und RealitätDas Leben digitaler EingeborenerDie goldene Zukunft des InternetsGeneration Google: Genie oder grenzbegabt?Oberflächlichkeit statt HermeneutikE-Books statt Lehrbücher?Fazit10. Multitasking: gestörte AufmerksamkeitAlles und gleichzeitig: phänomenale BeschreibungMacht Multitasking schlau?Kontrolle über das eigene DenkenFazit11. Selbstkontrolle versus StressSich im Griff haben: Arbeitsgedächtnis, Inhibition und FlexibilitätWollen lernen ist wie Sprechen lernenGesundheit, Glück und langes LebenStress ist fehlende SelbstkontrolleSelbstkontrolle chronisch abgebenAufmerksamkeit am Computer trainieren?Fazit12. Schlaflosigkeit, Depression, Sucht & körperliche FolgenSchlafDepressionSuchtFazit13. Kopf in den Sand? – Warum geschieht nichts?Parteiübergreifende NichtbeachtungMord ohne MotivWie es diesem Buch ergehen wirdMinisterien, Kirchen, Wissenschaft, Amnesty International?Ballerspiele für Eltern und LehrerFazit14. Was tun?Geistiger Abstieg: Auf die Ausgangshöhe kommt es anMit Gehirnbildung gegen GehirnabbauVom Umgang mit anderen Gefahren lernenInternetführerschein?Medienkompetenz?Gehirnjogging?Lassen Sie sich durch Medienmarktschreier nicht den Verstand raubenSex and CrimeMedizin und BildungFazitDankLiteraturBildnachweis
[home]

Vorwort

»Herr Spitzer, Sie kämpfen gegen Windmühlen – nein, gegen ganze Windfarmen. Machen Sie bitte weiter!«

Eine E-Mail schreibt man weit eher als einen konventionellen Brief per Schneckenpost. Und so bekomme ich sehr viele E-Mails, freundliche und weniger freundliche.

»Herr Spitzer, ich ballere hier gerade mit einer virtuellen Kalaschnikow. Wenn ich eine reale hätte, wären Sie der Erste, den ich umnieten würde. PS: Was Sie über den Zusammenhang zwischen virtueller Gewalt und realer Gewalt sagen, ist vollkommener Unsinn.«

Mehrere Bürgermeister haben mich in Stadthallen anlässlich von Vorträgen folgendermaßen begrüßt:

»Guten Abend, Herr Spitzer, mein Sohn hasst Sie, und ich hätte ihn gerne mitgebracht.« Die Wahrheit ist zuweilen auch für Fünfzehnjährige unbequem!

Auch die folgende: »Etwa 250 000 der Vierzehn- bis Vierundzwanzigjährigen gelten als internetabhängig, 1,4 Millionen als problematische Internetnutzer.« So steht es im Jahresbericht der Suchtbeauftragten der Bundesregierung Mechthild Dyckmans, der am 22. Mai 2012 publiziert wurde. Während der Konsum von Alkohol, Nikotin sowie weichen und harten illegalen Rauschdrogen rückläufig ist, steigen Computer- und Internetsucht dramatisch an. Die Regierung ist ratlos. Das Einzige, was ihr bislang eingefallen ist, sind höhere Strafen für Gastwirte, wenn sie Minderjährige an Glücksspielautomaten lassen.

Keine vier Wochen vor Erscheinen des Berichts der Suchtbeauftragten hatte Kulturstaatsminister Bernd Neumann die Laudatio auf ein Killerspiel gehalten, dessen Produzenten 50 000 Euro Steuergelder als Preis erhielten. Zugleich wird eine Verdreifachung der Spielsucht innerhalb von nur fünf Jahren festgestellt, die vor allem arbeitslose junge Männer betrifft. Ich selbst habe Computerspielsüchtige und Internetabhängige als Patienten an der von mir geleiteten Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm behandelt. Das Leben dieser Patienten wurde durch digitale Medien völlig ruiniert. Vor fünf Jahren verzeichneten Ärzte in Südkorea, einem hochmodernen Industriestaat mit weltweit führender Informationstechnik, bei jungen Erwachsenen immer häufiger Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung. Sie nannten das Krankheitsbild digitale Demenz.

Wenn ich in diesem Buch versuche, diese besorgniserregenden Entwicklungen zusammenfassend darzustellen, muss ich zwangsläufig auf Gedanken zurückgreifen, die ich schon vor Jahren aufgeschrieben und publiziert habe. Denn mit den durch Lernen bedingten Veränderungen des Gehirns und mit dem, was dies für unsere Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten bedeutet, beschäftige ich mich seit über zwanzig Jahren. Wie man an der Aktualität der hier verwendeten Literatur sehen kann, habe ich mich darum bemüht, vor allem neue und neueste Erkenntnisse in die Diskussion einzubinden.

Zuweilen wurde mir in der Vergangenheit bei verschiedenen Gelegenheiten vorgeworfen, ich hätte keine Ahnung, worüber ich schreibe. Nur wer selbst ein passionierter Spieler von Gewaltspielen sei, könne deren Faszination und die Effekte auf seine Psyche beurteilen. Dies ist nach meiner Erfahrung als Psychiater falsch. Der Alkoholiker kann die Auswirkungen von Alkohol auf seinen Körper und Geist deutlich schlechter einschätzen als der ihn behandelnde Psychiater, und nicht anders ist es bei anderen Suchterkrankungen und seelischen Leiden: Abstand und eine relativ unbeteiligte Sicht von außen sind nicht selten die besten Voraussetzungen dafür, einen Sachverhalt auch nur halbwegs objektiv zu beurteilen. Warum sollte dies im Hinblick auf digitale Medien anders sein?

Ich habe mich bemüht, den wissenschaftlichen Anforderungen nach Genauigkeit und Dokumentation der Quellen zu genügen, ohne dabei die Lesbarkeit des Textes zu beeinträchtigen. So habe ich auf die Angabe von Signifikanzen (p-Werte) verzichtet, kann aber versichern, dass ich im Text nur auf Unterschiede eingehe, die statistisch signifikant sind. Wer dies im Einzelfall überprüfen möchte, sei auf die Originalliteratur verwiesen. Weiterhin sind sämtliche englischen Zitate von mir übersetzt, so dass ich mir einige hundert Hinweise »Übersetzung durch den Autor« gespart habe.

Dieses Buch ist meinen Kindern gewidmet. Ihnen eine Welt zu hinterlassen, die wertvoll, erhaltenswert und so lebenswert ist, dass man sich – trotz Erderwärmung, Weltwirtschaftskrise und den vielen bekannten großen Herausforderungen der Gegenwart – gerne dazu entschließt, selbst Kinder zu bekommen, ist mir ein hohes Ziel. Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Welt zu arbeiten: Gemeinschaft, Zukunft, Freiheit, das Sich-Kümmern um die Menschen und ihre tatsächlichen Probleme, das selbstbestimmte Handeln aufgeklärter kritikfähiger Menschen zu fördern und sich für diejenigen einzusetzen, die das noch nicht können – unsere Kinder – oder nicht mehr können – Kranke und Ältere. Das sind meine Werte, die ich als Kind von meinen Eltern vorgelebt, wie eine Impfung aufgenommen und fürs Leben mitbekommen habe.

 

Ulm, an Pfingsten 2012Manfred Spitzer

[home]

EinführungMacht Google uns dumm?

»Macht Google uns dumm?« – so lautet der Titel eines medienkritischen Essays des amerikanischen Publizisten und Internetexperten Nicholas Carr.[1] Wenn man sich mit den digitalen Medien und den von ihnen ausgehenden möglichen Gefahren befasst, dann sollte sich die Aufmerksamkeit allerdings nicht nur auf Google richten – und es kann auch nicht allein um Dummheit gehen. Die moderne Gehirnforschung legt nämlich nahe, dass wir bei der Nutzung der digitalen Medien in einem größeren Rahmen allen Grund zur Sorge haben. Denn unser Gehirn befindet sich in einem fortwährenden Veränderungsprozess, und daraus folgt zwingend, dass der tägliche Umgang mit digitalen Medien eines nicht haben kann: keine Auswirkungen auf uns, die Nutzer.

Digitale Medien – Computer, Smartphones, Spielkonsolen und nicht zuletzt das Fernsehen – verändern unser Leben. In den USA verbringen Jugendliche mittlerweile mehr Zeit mit digitalen Medien – gut siebeneinhalb Stunden täglich – als mit Schlafen, wie eine repräsentative Studie mit mehr als zweitausend Kindern und Jugendlichen im Alter von acht bis achtzehn Jahren ergab.

In Deutschland liegt die Mediennutzungszeit von Neuntklässlern bei knapp 7,5 Stunden täglich, wie eine große Befragung von 43 500 Schülern ergab. Das Nutzen von Handys und MP3-Playern ist dabei noch nicht mitberücksichtigt. Die folgende Tabelle liefert eine Übersicht nach Medien und Geschlecht aufgeschlüsselt.

Mediennutzung in den USA in den Jahren 1999, 2004 und 2009 in Stunden und Minuten pro Tag[2]

1999

2004

2009

Fernsehen

3:47

3:51

4:29

Musik

1:48

1:44

2:31

Computer

0:27

1:02

1:29

Videospiele

0:26

0:49

1:13

Bücher, Zeitschriften

0:43

0:43

0:38

Kino

0:18

0:18

0:25

Gesamtzeit Mediennutzung

7:29

8:33

10:45

Anteil des Multitaskings

16%

26%

29%

Zeit

6:19

6:21

7:38

Mediennutzung von Neuntklässlern in Deutschland im Jahr 2009[3]

Jungen

Mädchen

Mittel

TV, Video, DVD

3:33

3:21

3:27

Im Internet chatten

1:43

1:53

1:48

Computerspiele

2:21

0:56

1:39

Gesamt

7:37

6:50

7:14

Auch hierzulande wird mit Medienkonsum mehr Zeit zugebracht als in der Schule (knapp vier Stunden).[4] Eine ganze Reihe von Studien zum Medienkonsum zeigt mittlerweile überdeutlich, dass dies im höchsten Maße Anlass zur Besorgnis geben sollte. Darum habe ich dieses Buch geschrieben. Es wird in den Augen vieler Menschen ein unbequemes Buch sein, ein sehr unbequemes. Als Psychiater und Gehirnforscher kann ich aber nicht anders. Ich habe Kinder und möchte nicht, dass sie mir in zwanzig Jahren vorhalten: »Papa, du wusstest das alles – und warum hast du dann nichts getan?«

Weil ich mich seit Jahrzehnten mit Menschen, dem Gehirn, Lernprozessen und den Medien beschäftige und weil ich Entwicklungen – sicherlich durch die Brille des Vaters und auch durch die des Gehirnforschers – anders sehe als die meisten Menschen, möchte ich die Fakten, Daten und Argumente so klar wie möglich auf den Tisch legen. Ich beziehe mich dabei in der Hauptsache auf wissenschaftliche Studien aus guten, bekannten und für jedermann zugänglichen wissenschaftlichen Fachblättern. »Ach, Sie mit Ihrer Wissenschaft«, höre ich Kritiker schon entgegnen.

Hierzu nur ganz kurz: Wissenschaft ist das Beste, was wir haben! Sie ist die gemeinschaftliche Suche nach wahren, verlässlichen Erkenntnissen über die Welt einschließlich unserer selbst. Wer in die Apotheke geht und eine Kopfschmerztablette kauft, ein Auto oder Flugzeug besteigt, den Herd oder auch nur das Licht einschaltet (von Fernseher oder Computer gar nicht zu reden!), der hat im Grunde jedes Mal schon unterschrieben, wie sehr er sich auf die Erkenntnisse der Wissenschaft verlassen kann und auch tatsächlich verlässt. Wer die Verlässlichkeit der Ergebnisse von Wissenschaft in Bausch und Bogen einfach ablehnt, der weiß entweder nicht, was er sagt, oder sagt bewusst die Unwahrheit.

Wo ist das Problem?

Im Jahre 1913 schrieb Thomas Edison – der Erfinder der Glühbirne, des Plattenspielers und des Kinos – in einer New Yorker Zeitung: »Bücher werden in Schulen bald obsolet sein … Es ist möglich, jeden Zweig des Wissens der Menschheit mit Hilfe von Filmen zu lehren. Unser Schulsystem wird innerhalb von zehn Jahren vollkommen verändert sein.«[5] Als knapp fünfzig Jahre später das Fernsehen aufkam, gab es ähnlich optimistische Stimmen, die meinten, man könne nun endlich Kultur, Werte und Wissen bis in die letzten Winkel der Welt bringen und so den Bildungsstand der Menschheit insgesamt deutlich verbessern. Noch einmal fünfzig Jahre später bringt der Computer die Leute dazu, wieder von völlig neuen Möglichkeiten zu sprechen, die das Lernen in der Schule revolutionieren werden. Dieses Mal ist allerdings alles anders, werden Scharen von Medienpädagogen nicht müde zu betonen. Dabei sind wir schon Zeuge des Aufstiegs und Falls des E-Learning geworden, so wie wir in den siebziger Jahren das Scheitern von Sprachlaboren und Programmiertem Unterricht erlebt haben. Das Lernen allein am Computer funktioniert nicht – darüber sind sich mittlerweile sogar die größten Fürsprecher der Computernutzung einig. Warum ist das so? Und was bedeutet das für diejenigen, die dauernd mit Computer und Internet umgehen?

Der Publizist Nicholas Carr beschreibt die von ihm erlebten Folgen seiner Internetnutzung wie folgt: »Das Netz scheint mir meine Fähigkeit zur Konzentration und Kontemplation zu zerstören. Mein Geist erwartet nun, Informationen in genau der Weise aufzunehmen, wie sie durch das Netz geliefert werden: In Form eines rasch bewegten Stroms kleiner Teilchen […] Meine Freunde sagen dasselbe: Je mehr sie das Netz benutzen, desto mehr müssen sie kämpfen, um sich auf das Schreiben längerer Abschnitte zu konzentrieren.«[6]

Zur Beantwortung der Frage, was das Internet und die neuen digitalen Medien mit uns machen, gibt es weit mehr als nur Erlebnisberichte und empirische Studien aus der Medienwirkungsforschung. Auch die Grundlagenforschung zur Funktion des Gehirns kann hier einiges beitragen. In ähnlicher Weise, wie die Biochemie unseren Blick für Stoffwechselerkrankungen schärft, ermöglicht uns heute das Verständnis der Mechanismen von Lernen, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Entwicklung eine klarere Sicht auf die Gefahren digitaler Medien.

Zu den wichtigsten Erkenntnissen im Bereich der Neurobiologie gehört, dass sich das Gehirn durch seinen Gebrauch permanent ändert. Wahrnehmen, Denken, Erleben, Fühlen und Handeln – all dies hinterlässt so genannte Gedächtnisspuren. Waren diese bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts noch hypothetische Gebilde, so kann man sie heute sichtbar machen. Die Synapsen – jene plastischen, sich verändernden Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, über welche die elektrischen Signale laufen, mit denen das Gehirn arbeitet – können heute fotografiert und sogar gefilmt werden. Man kann zusehen, wie sie sich bei Lernprozessen verändern. Auch die Größe und die Aktivität ganzer Bereiche des Gehirns lassen sich mittels bildgebender Verfahren sichtbar machen, und so lassen sich die neuronalen Auswirkungen von Lernprozessen im großen Stil nachweisen.

Wenn nun aber das Gehirn immer lernt (es kann eines nicht: nicht lernen!), dann hinterlässt auch die mit digitalen Medien verbrachte Zeit ihre Spuren. Hierbei ist auch noch Folgendes zu beachten: Unser Gehirn ist das Produkt der Evolution; es entstand also über einen langen Zeitraum durch Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen, zu denen digitale Medien definitiv nicht gehörten. Und ebenso wie man heute sehr viele Zivilisationskrankheiten als Ausdruck eines Missverhältnisses der früheren Lebensweise (Jagen und Sammeln, also viel Bewegung und ballaststoffreiche Nahrung) und des modernen Lebensstils (wenig Bewegung, ballaststoffarme Nahrung) versteht, lassen sich die negativen Auswirkungen der digitalen Medien auf geistig-seelische Prozesse im evolutions- und neurobiologischen Rahmen besser begreifen. Es können hierbei ganz unterschiedliche Mechanismen und Prozesse beschrieben werden, die kognitive Leistungen wie Aufmerksamkeit, Sprach- oder Intelligenzentwicklung betreffen, sich also letztlich auf die Funktion des menschlichen Geistes beziehen. Wie in der Folge anhand von Beispielen gezeigt werden wird, hat dies erhebliche Auswirkungen auf emotionale und soziale psychische Prozesse, bis hin zu ethisch-moralischen Einstellungen sowie unsere Eigenperspektive, also unsere personale Identität.

»Digitale Demenz – so ein Unfug!«, höre ich meine Kritiker schon laut rufen. Dabei bräuchten sie nur selbst ins weltumspannende digitale Datennetz zu gehen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Googelt man die Stichwörter »digitale Demenz« bzw. »digital dementia«, dann erhält man in etwas weniger als einer Fünftelsekunde etwa 8000 und auf Englisch 38 000 Einträge.

Wer denken lässt, wird kein Experte

Wer jetzt noch zweifelt, der überlege einmal kurz: Die Telefonnummern der Verwandten, Freunde und Bekannten sind im Handy gespeichert. Den Weg zum verabredeten Treffen mit ihnen zeigt das Navigationssystem. Die beruflichen und privaten Termine hat man ebenfalls im Handy oder im PDA (dem Personal Digital Assistant). Wer etwas wissen will, der googelt; seine Fotos, Briefe, Mails, Bücher und Musik hat man in der Wolke. Selbst denken, speichern, überlegen – Fehlanzeige.

Jeden Tag bekomme ich von Schülern und Studenten E-Mails etwa der folgenden Art:

 

Lieber Herr Professor,

ich/wir arbeite/n gerade an einem Referat [einer Hausarbeit/einer Bachelor-/Magisterarbeit/einer Dissertation] zum Thema Gehirn und x [setzen Sie für die Variable x jeden beliebigen Sachverhalt ein]. Können Sie mir/uns bitte die folgenden Fragen beantworten: (1) Wie funktioniert das Gehirn? (2) …

[Und wenn es sich beim Absender um Schüler handelt, findet sich nicht selten der folgende Schlusssatz.] Bitte beachten Sie noch, dass wir morgen abgeben müssen; es wäre also gut, wir hätten Ihre Antworten gleich …

 

Wenn ich überhaupt antworte (das hängt von meiner Tagesform, Zeit und der Nettigkeit des Schreibens ab), dann schicke ich Artikel, die von den Betreffenden selbst gelesen werden müssen. Und das sage ich ihnen auch. Denn wer im Netz einfach jemanden fragt, statt sich selbst mit einem Thema zu beschäftigen, der hat gar nicht begriffen, warum er diese Arbeit überhaupt macht: Die Schüler sollen ja lernen, selbst zu denken! So lässt sich vermeiden, was drei Schülern passiert ist: Sie sollten ein Referat über Georgien halten und lieferten eine sehr schöne PowerPoint-Präsentation ab – über Georgia!

Was mir sehr zu denken gibt, ist die Tatsache, dass sogar manche Lehrer und Professoren nicht begriffen zu haben scheinen, was Lernen eigentlich bedeutet. Denn Studenten schreiben mir nach meiner Verweigerung eines Interviews oder einer Fragenbeantwortung: »Ich bekomme eine schlechtere Note, wenn ich nicht Experten zum Thema befrage.« Den Lehrkräften würde ich dann gerne antworten (und zuweilen sende ich dem Schüler/Studenten einen entsprechenden Text): So wenig, wie man das Bergsteigen dadurch erlernt, wenn jemand einen auf den Gipfel trägt, wird ein junger Mensch zum Experten (für welches Sachgebiet auch immer), wenn er einen Experten fragt. Sich Wissen aus Quellen selbst anzueignen, es kritisch zu hinterfragen, abzuwägen, die Quellen selbst zu hinterfragen, die Details eines Puzzles zu einer sinnvollen Einheit zusammenzufügen – all das muss man selbst tun, um es irgendwann zu können. Dieses Können wird, wie jedes Expertentum, auch in der Kenntnis mancher Sachverhalte bestehen, aber es wird vor allem auf einer sicheren Kenntnis von Quellen und deren Zuverlässigkeit und vielem mehr beruhen. Kurzum: Ein Sachverhalt will durchdrungen sein.

Es geht hier nicht um »Auswendiglernen«. Niemand wird Bergsteiger, wenn er die Namen von Bergen oder die Wegmarken von Routen auswendig lernt! (Wohlgemerkt: Bergsteiger verfügen über dieses Wissen; aber es ist offensichtlich, dass dies nicht alles ist und dass es darum auch gar nicht geht. Man lernt das nebenbei.) Oft werde ich gefragt, ob es schlecht sei, dass man heute in der Schule weniger Gedichte auswendig lernt. Ich bin mir da nicht sicher, aber ich weiß, dass man dadurch lernen kann, seinen Geist als Speicher zu gebrauchen, und dies ist nicht unwichtig, wenn man etwas lernt. Wer schon weiß, dass er den Sachverhalt, mit dem er sich gerade beschäftigt, gar nicht lernen kann oder will, der lernt ihn auch tatsächlich deutlich schlechter. Wer also nicht darauf aus ist, dass etwas hängenbleibt, bei dem bleibt auch deutlich weniger hängen.

Demenz ist mehr als nur Vergesslichkeit. Und so geht es mir bei der digitalen Demenz auch um mehr als nur darum, dass besonders junge Menschen immer vergesslicher zu werden scheinen, worauf erstmals koreanische Wissenschaftler im Jahre 2007 hingewiesen haben. Es geht vielmehr um geistige Leistungsfähigkeit, Denken, Kritikfähigkeit, um die Übersicht im »Dickicht der Informationsflut«. Wenn die Kassiererin »2 plus 2« mit der Maschine berechnet und nicht merkt, dass das Ergebnis »400« falsch sein muss, wenn die NASA einen Satelliten in den Sand (bzw. ins endlose All) setzt, weil niemandem aufgefallen ist, dass Inches und Meilen nicht dasselbe sind wie Zentimeter und Kilometer, oder wenn Banker sich mal eben um 55 Milliarden Euro verrechnen, dann heißt dies letztlich alles nur, dass keiner mehr mitdenkt. Offenbar hat in diesen Fällen niemand grob im Kopf überschlagen, was größenordnungsmäßig herauskommen müsste, sondern sich stattdessen auf irgendeinen digitalen Assistenten verlassen. Wer hingegen mit Rechenschieber oder Abakus rechnet, der muss die Größenordnung im Geist mitbedenken und kann kein völlig unwahrscheinliches Ergebnis liefern.

Ewig gestrig, romantisch, technikfeindlich?

»Sie sind ja völlig altmodisch! Wollen Sie nicht gleich zurück in die Höhle?«, werden Kritiker mir wieder entgegnen. Nein, das will ich nicht. Im Gegenteil: Wenn wir nicht aufpassen und nicht endlich damit aufhören, die nächste Generation systematisch zu verdummen, dann werden spätestens deren Kinder zwar nicht in der Höhle, aber jedenfalls in ungünstigeren Umständen leben. Denn unser Wohlstand und unsere Gesellschaft hängen wesentlich davon ab, dass viele von uns Experten sind und irgendetwas richtig gut können.

Ich bin auch kein »Medienhasser«, wie immer wieder behauptet wird. Jede Woche am Freitag um 22.45 läuft meine Sendung Geist und Gehirn, und wenn Sie sich diese 15 Minuten Fernsehen wöchentlich gönnen, dann gebe ich Ihnen hiermit schriftlich, dass dies Ihrem Gehirn nicht schadet. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert arbeite ich auch nahezu täglich am Computer. Der ist aus meinem Leben ebenso wenig wegzudenken wie aus dem Leben der meisten Menschen. Warum arbeiten Millionen Menschen am Computer? Weil er Arbeitsabläufe beschleunigt, indem er uns geistige Arbeit abnimmt. Warum fahren Menschen mit dem Auto? Weil dies unsere Fortbewegung beschleunigt, indem es uns die körperlichen Mühen der Fortbewegung abnimmt. Und genauso, wie ich täglich einen Computer benutze, fahre ich täglich Auto.

Wie die meisten Autofahrer weiß ich aber auch, dass ich mich zu wenig bewege. Stellen Sie sich nun vor, es käme jemand auf die Idee, ein Gaspedal ohne Auto zu bauen, um es in Schulen zum Training der wegen Bewegungsmangel verkümmernden Wadenmuskulatur der Schüler einzusetzen. »Wir sind eine der größten Autonationen der Welt. Unsere Schüler brauchen mehr Training; also müssen wir ihnen das Autofahren frühzeitig nahebringen. Was könnte besser sein als ein Gaspedal für jeden Schüler, unter dem Tisch rechts vor dem Stuhl. Dann bleiben die Waden fit, und wir gewöhnen sie auch gleich ans Autofahren.« So hätten sich Heerscharen von Verkehrspädagogen vor dreißig Jahren schon äußern können, wäre das Argument nicht für jeden nachvollziehbar lächerlich. Bei digitalen Medien ist das ebenso, und viele Menschen merken auch, dass das Marktgeschrei von der digitalen Revolution im Klassenzimmer nicht stimmt. Es heißt, dass die neuen Medien heute eben zum Alltag gehören und wir die Kinder an sie gewöhnen müssen. Dem muss entgegnet werden: Neue Medien haben wie Alkohol, Nikotin und andere Drogen ein Suchtpotenzial. Computer- und Internetsucht sind hierzulande mittlerweile häufig auftretende Phänomene mit verheerenden Folgen für die Betroffenen. Man könnte also auch behaupten: »Bier und Wein sind Bestandteil unserer Gesellschaft und Kultur. Wir müssen den Kindern schon im Kindergarten den kritischen Umgang damit beibringen. Daher gehören sie dorthin.« Eine ganze Industrie würde sich über solche Empfehlungen sehr freuen, viele Menschen und die Gesellschaft insgesamt würden jedoch großen Schaden davontragen.

»Herr Spitzer, Sie sind technikfeindlich!«, mögen mir einige vorwerfen. Nein das bin ich nicht. Ich bin jedoch sehr dafür, dass wir vorsichtig sind, was neue Technik anbelangt. Anhand eines Beispiels sollten wir aus der Geschichte lernen: Als vor gut hundert Jahren die Röntgenstrahlen erfunden wurden, waren Röntgengeräte bald danach auf Partys der Oberschicht der Renner, und man fotografierte sich gegenseitig die Knochen.[7] Allein in den USA hielten Mitte der zwanziger bis Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mehr als 10 000 Pedoskope Einzug in Schuhgeschäfte, mit denen man seine Fußknochen betrachten konnte.[8] Den Verkauf der Geräte beförderte interessanterweise die Angst der Kunden vor nicht gut passenden Schuhen – vor allem auch bei ihren Kindern: »Ihre Füße haben Sie lebenslänglich«[9], erinnerte man die Kunden durch entsprechende Werbung, und daher sollten die Schuhe genau passen – insbesondere natürlich den Kindern. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Depression in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde zudem argumentiert, dass gut passende Schuhe länger halten – dass man also durch das Gerät Geld spare. Man machte sich zudem die Tatsache zunutze, dass in den Jahren zuvor das Stromnetz in nahezu alle Haushalte Einzug gehalten hatte, wodurch der Siegeszug der Technisierung allen Beteiligten sehr deutlich vor Augen geführt worden war: Niemand konnte dem Argument widerstehen, dass jetzt endlich alles besser werden würde, auch wenn es keinerlei wissenschaftliche Daten gab, welche die Einführung und breite Verwendung der Apparate rechtfertigte. »Das dornige Problem der Wahrheit in der Werbung wurde auf diese Weise fein säuberlich umgangen«, bemerken die kanadischen Medizinhistoriker Jacalyn Duffin and Charles Hayter[10] in einer Übersicht zu diesen Geräten lakonisch.

Durchleuchtungsgerät für die Füße, genannt Pedoskop, wie es hierzulande in Schuhgeschäften noch bis Anfang der siebziger Jahre zu finden war

In Wahrheit war das Ganze ein Trick, um die Menschen in die Schuhgeschäfte zu locken. Vor allem Kinder, die für alles Neue einfach zu begeistern sind, hatten einen Riesenspaß daran, ihre eigenen Fußknochen zu betrachten, weswegen die Maschinen »für Kinder so aufregend waren wie geschenkte Luftballons und Dauerlutscher«.[11] Man stellte die Geräte daher auch entsprechend im Schuhgeschäft auf: »Wir empfehlen Ihnen, die Maschine in der Mitte des Ladens aufzustellen, so dass man von allen Seiten gut an sie herankommt. Natürlich sollten sie in der Nähe der Damen- und Kinderabteilung aufgestellt werden, weil dort mehr Umsatz gemacht wird«[12], hieß es in der Anweisung zur Aufstellung der Geräte. Dass dies auch tatsächlich geschah, zeigt die folgende Abbildung.

Pedoskop in der Kinderabteilung des Schuhhauses Bally in Basel im Jahr 1953. Zwischen dem in den Fünfzigern unvermeidlichen Nierentisch und dem Kinderkarussell steht hinten das Pedoskop als die Attraktion für die neugierigen Kleinen.

Erst als man nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki im Jahre 1945 die massiven Strahlenschäden bei den Überlebenden zur Kenntnis nahm, wurde den Menschen weltweit die Gefahr durch elektromagnetische Strahlen bewusst. Im Jahr 1950 publizierte Messungen[13] an Pedoskopen ergaben eine aus heutiger Sicht unverantwortlich hohe Strahlenbelastung mit – gerade bei Kindern – kaum abschätzbaren gesundheitlichen Folgen. Dennoch dauerte es noch mehr als zwanzig Jahre, bis auch die letzten Geräte aus den Läden verschwanden. Über das Ausmaß an Krankheit und Tod durch ihren weltweiten Einsatz über vier Jahrzehnte hinweg können heute nur noch Vermutungen angestellt werden. Aber eines sollte klar sein: Werbung zur Verkaufsförderung, gemischt mit Angst und zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten bei eher armen Schichten der Bevölkerung vor dem Hintergrund der gerade erfolgten flächendeckenden Einführung eines neuen Netzanschlusses, waren schon damals die treibenden Kräfte für die Verbreitung neuer Maschinen, deren Funktion durch eine einfache Messlatte ebenso gut erfüllt wurde und deren Gefährlichkeit für die Volksgesundheit erst Jahrzehnte später erkannt wurde.

Die Ähnlichkeiten mit der Vermarktung von Computern im Bildungsbereich sind verblüffend: Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen braucht man einen Computer zum Lernen genauso dringend wie ein Fahrrad zum Schwimmen oder ein Röntgengerät, um Schuhe anzuprobieren. Weil jedoch gerade sozial schwache Familien permanent erzählt bekommen, wie wichtig ein Computer für das Lernen sei, kaufen vor allem diese von ihren ohnehin geringen Ersparnissen ein Gerät – letztlich aus Sorge um die Zukunft der Kinder – und bewirken damit genau das Gegenteil dessen, was sie für ihre Kinder wollen: bessere Bildungschancen. Denn Computer fördern nicht die Bildung der jungen Menschen, sondern verhindern sie eher oder haben bestenfalls gar keinen Effekt, wie in den folgenden Kapiteln detailliert gezeigt wird. Die Industrie operiert also geschickt mit der Angst der Eltern aus sozial schwachen Schichten, um ihnen auch noch das letzte Geld aus den Taschen zu ziehen.

Es geht um unsere Kinder

Um es noch einmal mit aller Deutlichkeit zu sagen: Das Gemeine am Marktgeschrei für Computer in den Schulen ist, dass das, was die Eltern tun – sie kaufen ihrem Fünftklässler einen Computer –, genau das bewirkt, was sie nicht wollen und wovor sie sich ängstigen. Dies hat beispielsweise die Auswertung von Daten der PISA-Studie zum Einfluss der Verfügbarkeit von Computern auf die Leistungen in der Schule durch Thomas Fuchs und Ludger Wößmann gezeigt: Ein Computer zu Hause führt zu schlechteren Schulleistungen.[14] Dies zeigt sich beim Rechnen wie beim Lesen. Die Autoren kommentieren ihre Ergebnisse wie folgt: »Das bloße Vorhandensein von Computern zu Hause führt zunächst einmal dazu, dass die Kinder Computerspiele spielen. Dies hält sie vom Lernen ab und wirkt sich negativ auf den Schulerfolg aus. […] Im Hinblick auf den Gebrauch von Computern in der Schule zeigte sich einerseits, dass diejenigen Schülerinnen und Schüler, die nie einen Computer gebrauchen, geringfügig schlechtere Leistungen aufweisen als diejenigen, die den Computer einige Male pro Jahr bis einige Male pro Monat benutzen. […] Auf der anderen Seite sind die Leistungen im Lesen und Rechnen von denjenigen, die den Computer mehrmals wöchentlich einsetzen, deutlich schlechter. Und das Gleiche zeigt sich auch für den Internetgebrauch in der Schule.«[15] Vom heute üblichen täglich mehrstündigen Gebrauch ist hier gar nicht die Rede!

Beim Vergleich der Vermarktungsstrategien digitaler Medien mit denen für Röntgengeräte in Schuhgeschäften ist zudem interessant, dass man den ganz großen Markt für Computer und Bildung bei den Kindern sieht. Sie seien, wie es heißt, immer so neugierig und würden so gern mit dem Computer arbeiten. Ja, Kinder stürzen sich auf alles, was neu ist. Das liegt nicht daran, dass sie der Computer ganz besonders interessiert, und schon gar nicht daran, dass er ihnen besonders guttut (das interessiert Kinder gar nicht!), sondern ist einfach darauf zurückzuführen, dass der Computer mit all seinen Möglichkeiten und Angeboten neu ist. Zudem liefert er bunte Bildchen, spielt Musik ab und ermöglicht in Sekundenschnelle den Zugang zu vielen Inhalten aus dem weltumspannenden Datennetz – vor allem zu solchen Inhalten, die für Kinder und Jugendliche verboten sind. Das wissen Kinder und Jugendliche, und deswegen wollen sie vor dem Computer sitzen.

Die Computernutzung im frühen Kindergartenalter kann zu Aufmerksamkeitsstörungen[16] und im späteren Kindergartenalter zu Lesestörungen führen[17]. Im Schulalter wird vermehrt soziale Isolation beobachtet, wie amerikanische[18] und mittlerweile auch deutsche[19] Studien zeigen.

Dem wird seit einigen Jahren entgegengehalten, dass die per Computer, Handy oder Tablet-PC mittlerweile zugänglichen sozialen Medien diesen Trend umgekehrt haben; die jungen Menschen seien heute im Netz überwiegend im sozialen Bereich unterwegs.[20] Hierzu ist jedoch anzumerken, dass gerade die digitalen sozialen Netzwerke keineswegs zu mehr und besseren Kontakten, sondern zu sozialer Isolation und oberflächlichen Kontakten führen. Nur für wenige Mädchen sind Online-Freunde mit positiven Gefühlen verknüpft. Diese erleben sie vielmehr vor allem mit persönlichen Freunden. In den folgenden Kapiteln werde ich deshalb ausführlich darstellen, wie und in welchem Maß digitale soziale Netzwerke unsere Kinder und Jugendlichen einsam und unglücklich machen.

Man fragt sich natürlich, warum nichts geschieht, wenn das alles so ist. Warum wehrt sich niemand gegen die tägliche Verdummung? Als Psychiater halte ich nichts von Verschwörungstheorien, die einer bösen Macht die Absicht zuschreiben, durch die Verbreitung der digitalen Medien eine schleichende Demenz der Bevölkerung herbeiführen zu wollen, weil sie dann leichter zu beherrschen sei. Nein, ich glaube, die Sache ist viel einfacher. Es gibt viele Leute, die mit den digitalen Produkten sehr viel Geld verdienen und denen das Schicksal von Menschen, insbesondere von Kindern, egal ist. Man kann zum Vergleich durchaus die Waffenproduzenten und -händler anführen, deren Geschäft bekanntermaßen der Tod anderer Menschen ist. Auch die Tabakbranche – die nachweislich tödliche Produkte herstellt und verkauft –, manche Lebensmittelhersteller – die vor allem unsere Kinder mit ihren Produkten krank machen – oder die Werbebranche – die unter anderem der Tabak- und Lebensmittelbranche zu ihren tödlichen Absätzen verhilft – sind hier zu nennen. Und eben auch die Großkonzerne, die den Markt der digitalen Medien beherrschen. Intel, Apple, Google, Facebook und andere sehr große Firmen wollen Geld verdienen und leisten Lobbyarbeit. Sie streuen geschickt falsche Informationen, wie die Raucherlobby in den siebziger Jahren (Rauchen sei nicht gefährlich, die Wissenschaft sei sich uneins etc.). Sie verdrehen die Fakten, vernebeln und verdunkeln. Und solange sich niemand aufregt, geschieht eben nichts.

»Aber Herr Spitzer, jetzt übertreiben Sie wirklich maßlos!«, höre ich Medienpädagogen (die von den Medien ja leben und sich aus genau diesem Grund nicht kritisch äußern), Vertreter der freiwilligen Selbstkontrolle und der Medien selbst schon sagen. Das ist zu erwarten. Traurig und aus meiner Sicht viel gefährlicher ist, dass sogar Kirchenvertreter, Politiker, das Gesundheitsministerium, das Bildungs- und Forschungsministerium, die Bundeszentrale für politische Bildung und die Enquete-Kommission »Internet und digitale Gesellschaft« des Bundestags in das Hohelied auf die digitalen Medien völlig kritiklos einstimmen. Sie nehmen die Erkenntnisse der Wissenschaft nicht nur nicht zur Kenntnis, sondern verbreiten bewusst falsche Aussagen und machen sich so letztlich selbst zu Lobbyisten, wie ich anhand entsprechender Quellen nachweisen werde.

Was ist also zu tun? Zunächst wäre ein Anfang gemacht, wenn mehr Menschen das Problem überhaupt zur Kenntnis nehmen würden. Darüber hinaus werde ich hier konkrete Vorschläge unterbreiten, was jeder für sich und was man als Teil der Gesellschaft für alle tun könnte, um der digitalen Demenz Einhalt zu gebieten. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.

[home]

1. Taxi in London

Sind Sie schon einmal in den USA mit dem Taxi gefahren? Dann hatten Sie vielleicht auch schon Erlebnisse wie ich vor einigen Jahren in San Francisco. Nach meiner Ankunft am San Francisco International Airport wollte ich zunächst Freunde besuchen, die nördlich von Berkeley wohnen. Ich nahm mir ein Taxi, denn nach knapp zwölf Stunden Flug wollte ich mich einfach nicht mehr auf das Gedrängel in U-Bahnen und Bussen einlassen. In den folgenden zwei Stunden musste ich jedoch erfahren, dass der Taxifahrer weder Englisch konnte noch die Stadt kannte; zu allem Überfluss war er auch gerade erst dabei, das Autofahren zu lernen. Ein zweiter Taxifahrer auf dem Beifahrersitz, der ebenfalls weder Ortskenntnisse besaß noch Englisch sprach, brachte es ihm gerade bei. In London kann Ihnen das nicht passieren. Dort können die Taxifahrer nicht nur Englisch und Auto fahren – nein, sie kennen sich auch sehr gut in der Stadt aus. Aber dazu später …

Navigieren – im Kopf und außerhalb

Anfang der neunziger Jahre wurde hierzulande immer deutlicher, dass viele Unfälle im Straßenverkehr durch Verkehrsteilnehmer verursacht wurden, die sich nicht zurechtfanden: Sie fuhren zu langsam, hielten den Verkehrsfluss auf, bremsten unerwartet plötzlich und provozierten so Auffahrunfälle. Ganz offensichtlich hatte der Unterricht in Erdkunde versagt, denn viele Menschen konnten keine Karten mehr lesen; sie fuhren in fremden Städten sehr unsicher und wurden daher für sich und andere zu einer Gefahr. Deswegen diskutierten Vertreter des Verkehrsministeriums, der Kultusministerien und der Autoindustrie mögliche Lösungswege. Technische Verbesserungen des globalen Satellitennavigationssystems GPS durch das amerikanische Verteidigungsministerium im Jahr 2000 machten dann endgültig den Weg frei für die flächendeckende Einführung von digitalen Navigationssystemen in sämtlichen neuen Automobilen. Genau wie Sicherheitsgurt und Airbag war ein Navi ab dem Jahr 2001 Pflicht. Die Logik war ganz einfach: Wenn jeder erst einmal einen Bildschirm mit Kartenmaterial im Auto hat, dann werden die Menschen wieder lernen, sich zu orientieren, denn sie haben einen optimalen digitalen Lehrmeister zur Verfügung: das Navi im Auto. Es sollte nicht mehr vorkommen, dass sich jemand nicht zurechtfindet.

Nun, Sie haben es natürlich bemerkt, dass die Geschichte nicht ganz stimmt: Zwar gab es tatsächlich immer mehr Auffahrunfälle in Städten durch suchende Autofahrer, und auch die Freigabe genauer Positionssignale der GPS-Satelliten durch das Pentagon im Jahr 2000 ist tatsächlich erfolgt. Eine Pflicht von digitalen Navigationssystemen in Autos gab es hingegen nie; sie wurden dennoch eingeführt – freiwillig –, und viele Menschen verfügen heute über ein solches Gerät im Auto. Völlig falsch ist jedoch die Annahme, dass die Menschen damit gelernt hätten, besser zu navigieren. Im Gegenteil! Wer ein Satellitennavigationssystem in seinem Auto hat, der lässt navigieren und navigiert nicht mehr selbst. Seine Fähigkeit, sich örtlich zu orientieren, nimmt ab.

Diese Fähigkeit beruht auf einem ganz bestimmten Teil des Gehirns, dem Hippocampus. In ihm befinden sich Zellen, die für bestimmte Orte zuständig sind, weil sie diese Orte gelernt haben. Man kann solchen Lernprozessen zuschauen, d.h., man kann zusehen, wie aus Zellen, die noch keinen Ort kodieren, sogenannte Ortszellen werden. Anhand der Aktivität dieser Zellen lässt sich sogar angeben, wo sich ein Versuchstier gerade befindet. Man muss nur die Information aus dem Gehirn des Tieres mittels feiner Drähte auslesen, also letztlich das tun, was das Tier selbst auch tut. Durch solche Studien wissen wir mittlerweile eine ganze Menge darüber, wie räumliche Orientierung durch unser Gehirn bewerkstelligt wird.[21]

1.1 Der Hippocampus liegt beiderseits tief im Temporalhirn. Links ein Schnittbild, etwa in der Orientierung, wie in der Mitte durch die Ebene angezeigt, rechts ein Schnittbild, das ihn längs geschnitten zeigt.

Seit Ende des letzten Jahrhunderts wissen wir, dass Menschen, die sich in unbekanntem Terrain zurechtfinden müssen, dies mit Hilfe des Hippocampus bewerkstelligen; im Experiment konnte man bei Versuchspersonen, die den Ausgang aus einem Labyrinth finden mussten, seine Aktivierung nachweisen.[22] Zwei Jahre später fanden Wissenschaftler dann heraus, dass Londoner Taxifahrer einen größeren Hippocampus haben als eine im Experiment hinzugezogene Kontrollgruppe.[23] Bedenkt man, dass sie ein Gewirr von etwa 25 000 Straßen sowie Tausende von Plätzen und interessanten Orten kennen müssen, um in London überhaupt als Taxifahrer zugelassen zu werden, so wundert dies nicht. Es dauert etwa drei bis vier Jahre, bis jemand dieses Wissen erworben hat. Erst danach durchläuft er eine Reihe von Prüfungen, und wenn er alle bestanden hat, erhält er seine Lizenz. Das Vorgehen ist in der Welt einmalig und hat für den Nutzer natürlich einen Riesenvorteil: Der Fahrer weiß, wo es langgeht.

1.2 Ein Ausschnitt dessen, was Londoner Taxifahrer wissen müssen, um ihren Beruf ausüben zu dürfen.[24]

Lernen im Gehirn

Gerade weil Londoner Taxifahrer lernen, sich in ihrer Stadt richtig auszukennen, lassen sich bei ihnen die Gedächtnisprozesse im Gehirn, die dies bewerkstelligen, besonders gut untersuchen.[25] Es wird offensichtlich, was im Gehirn beim Lernen passiert, und man konnte zeigen, dass die Anzahl der Jahre, die ein Taxifahrer in London unterwegs ist, sich auf das Volumen seines Hippocampus auswirkt: Dieser für das Navigieren zuständige Gehirnteil ist umso größer, je mehr Jahre der Taxifahrer in den Straßen von London auf dem Buckel hat. Wer sich also Orte einprägt, bringt seinen Ortsspeicher zum Wachsen.

Dieses Prinzip gilt nicht nur für spezielle Orte oder gar nur den individuellen Personentransport in der britischen Hauptstadt, sondern ganz allgemein. Wer das Jonglieren erlernt, bei dem nimmt das Volumen von Bereichen im Gehirn, die für das Verarbeiten von visueller Bewegung zuständig sind, messbar zu (Abb. 1.3). Musiker eignen sich ebenfalls hervorragend als Versuchspersonen, wenn es um Lernprozesse geht.[26] Wer Geige oder Gitarre spielen lernt, vergrößert das für die Finger der linken Hand zuständige Areal im Gehirn (Abb. 1.4). Orchestermusiker haben ganz allgemein ein größeres Areal für das Hören, und dies hängt sogar von ihrem Platz im Orchester ab (siehe Abb. 1.5). Medizinstudenten müssen sich gerade für die Vorprüfung, das sogenannte Physikum, sehr viele Fakten merken: Selten wird das Gedächtnis derart auf die Probe gestellt, und auch dieses intensive Memorieren von vielen Fakten wirkt sich, wie in Experimenten nachgewiesen werden konnte, auf das Volumen des Hippocampus aus, und es zeigte sich auch, dass das vergrößerte Volumen nach dem Lernprozess erhalten blieb (Abb. 1.6).

1.3 Gehirnwachstum durch Gehirnbenutzung beim Jonglieren[27]

1.4 Gehirnwachstum durch Gehirnbenutzung beim Musizieren im Bereich der sensomotorischen Kontrolle der linken Hand bei sechs Geigern, einem Bratschenspieler und zwei Gitarristen[28]

1.5 Gehirnwachstum beim Musizieren im Bereich der akustischen Verarbeitung bei Orchestermusikern

1.6 Gehirnwachstum bei Medizinstudenten beim Auswendiglernen von sehr vielen Fakten[29]

Wenn man über Ursache und Wirkung langfristiger Prozesse Aussagen machen will, kommt man um Längsschnittstudien nicht herum: Man muss hierzu eine bestimmte Größe wie beispielsweise das Volumen des Hippocampus vor und nach einem bestimmten längeren Erfahrungszeitraum messen. Findet man bei denjenigen, die beispielsweise ein bestimmtes Training durchlaufen, dann im Vergleich zu anderen, die dieses Training nicht durchlaufen, entsprechende Veränderungen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Veränderungen durch das Training verursacht wurden. Solche Studien gibt es bereits, und neben den gerade erwähnten Medizinstudenten ist eine neue Studie mit – wie könnte es anders sein? – Londoner Taxifahrern besonders zu erwähnen.

Londoner Neurowissenschaftler untersuchten das Wachstum des Hippocampus bei 79 männlichen Taxifahrern vor deren Ausbildung und drei bis vier Jahre später nach der Ausbildung. Ebenfalls untersucht wurde eine Kontrollgruppe von 31 männlichen Probanden. 39 der 79 Anfänger bestanden am Ende der Fortbildungsperiode ihre Prüfungen und konnten sich dadurch zum lizenzierten Taxifahrer qualifizieren. Man konnte daher das Wachstum des Hippocampus bei insgesamt drei Gruppen vergleichen: eine Gruppe, die gelernt hatte, eine, die das Lernen versucht hatte, aber gescheitert war, und eine dritte Gruppe als Kontrollgruppe, die den Lernprozess nicht durchlaufen hatte. Die Gruppen unterschieden sich nicht signifikant im Hinblick auf Alter, Schulbildung, Intelligenz sowie Gesamttrainingszeitraum in Monaten, wohl aber im Hinblick auf die Trainingszeit pro Woche. Bei denen, die die Prüfung bestanden hatten, betrug sie im Mittel 34,5 Stunden, bei denen, die die Prüfung nicht bestanden hatten, jedoch nur 16,7 Stunden. Wie die Abbildung oben deutlich zeigt, kam es bei den Taxifahrern, die die Zulassungsprüfung bestanden hatten – und nur bei ihnen! – zu einem signifikanten Anstieg der grauen Substanz (d.h. der Nervenzellen) im Hippocampus.

1.7 Intensität der grauen Substanz des Hippocampus bei Londoner Taxifahrern vor der Ausbildung (weiße Säulen) und drei bis vier Jahre später (schwarze Säulen) bei 39 erfolgreichen Absolventen (links), bei 20 der 40 durchgefallenen Prüflinge (20 waren zum zweiten Messzeitpunkt nicht erschienen) und bei 31 Kontrollpersonen ohne durchgemachte Ausbildung[30]

Nun könnte man dahingehend argumentieren, dass man sich als Fahrer fortbewegt und dass es dieser dauernde Bewegungseindruck ist, der zum Wachstum des Hippocampus führt. Weil in der Tat durch eine Reihe neurowissenschaftlicher Befunde die Eigenbewegung mit der Aktivität des Hippocampus in Verbindung gebracht wurde, ist diese Erklärung nicht von vorneherein auszuschließen. Zum Nachweis, dass die Größenzunahme des Hippocampus von Londoner Taxifahrern tatsächlich mit deren über Jahre erworbenen extremen Fähigkeit zum Navigieren in der britischen Metropole zu tun hat, müsste man ihre Gehirne nicht mit normalen Kontrollpersonen vergleichen, sondern mit einer ganz speziellen Kontrollgruppe: Londoner Busfahrer. Diese bewegen sich im Verkehr ebenso wie Taxifahrer, andererseits fahren sie jedoch nur bestimmte Routen ab und brauchen hierfür keine besonderen Ortskenntnisse. Das jahrelange Navigationstraining entfällt also, ansonsten gleichen sich die Voraussetzungen. Die Londoner Gehirnforscher untersuchten daher achtzehn lizenzierte Londoner Taxifahrer und siebzehn Londoner Busfahrer, die im Hinblick auf Alter, Schulbildung, Fahrerfahrung und Intelligenz keine Gruppenunterschiede aufwiesen. Die Zunahme des Hippocampus zeigte sich nur bei den Taxifahrern.[31]

Obwohl es sich beim Hippocampus um eine vergleichsweise kleine Struktur des Gehirns handelt, ist er dennoch für das Funktionieren des gesamten Gehirns sehr wesentlich (siehe Grafik 1.8). Er speichert nicht nur vernetzte (reale) Ortskenntnisse, sondern auch Orte (»Adressen«) in der Großhirnrinde, wo bestimmte Eigenschaften oder Merkmale kodiert sind. Ihre Verknüpfung macht das aus, was man ein Ereignis nennt (»Gestern um halb drei fiel mir in der Küche die grüne Tasse auf den Fußboden und zerbrach in tausend Stücke.«). Im Gegensatz zur Gehirnrinde, die in ihren vielen Modulen geordnete Karten von Merkmalen durch langsames Lernen produziert hat, ist der Hippocampus permanent damit beschäftigt, die Dinge zusammenzubinden und aus den vielfachen Erregungen in unserer Großhirnrinde Ereignisse, Erlebnisse und langfristige Gedächtnisinhalte zu formen.

1.8 Meine frisch gebadete kleine Tochter Anna kommt zu mir, lächelt mich an, ist kuschelig warm, riecht nach Vanille-Schaumbad und sagt »Hallo«. Mein Cortex verarbeitet die Eindrücke durch Aktivierungen in den entsprechenden Arealen (oben links). Die begleitenden positiven Emotionen aktivieren zugleich den Hippocampus, dessen Zellen den Zusammenhang der Aktivierungen dadurch lernen, dass sie selbst ganz rasch entsprechende Zusammenhänge untereinander aufbauen (oben rechts). Dadurch können sie das Erlebnis kortikal wieder aktivieren (unten links), was langfristig zur Verstärkung der Verbindungen zwischen den kortikalen Repräsentationen des Erlebnisses führt. Sind diese etabliert, ist die Erinnerung cortikal abgespeichert und der Hippocampus kann sie vergessen (rechts unten).

Seit längerer Zeit wird vermutet, dass die fortwährend stark beanspruchten Nervenzellen im Hippocampus bei zusätzlicher Belastung, beispielsweise durch Stress, vom Absterben bedroht sind.[32] Stress erhöht also nicht nur das Risiko von Bluthochdruck, Herzinfarkt, Magengeschwüren, Hormonproblemen (mit Wachstums- und Sexualstörungen), Muskelschwund (durch Eiweißabbau zur Bereitstellung von Energie) und einer Drosselung des Immunsystems (mit vermehrtem Auftreten von Infektionskrankheiten und Krebserkrankungen); er führt auch, wie die Grafik 1.9 verdeutlicht, zum Absterben von Nervenzellen im Gehirn.

1.9 Nervenzellen im Hippocampus eines Tieres ohne (links) und mit Stresssymptomen (rechts). Auch als Laie erkennt man deutlich die normalen Nervenzellen links und den nach dem Absterben der Zellen übrig gebliebenen »Zellmüll« rechts.[33]

Durch die Untersuchungen des Frankfurter Anatomen Heiko Braak ist zudem seit längerer Zeit nachgewiesen, dass die Alzheimersche Krankheit (siehe dazu das folgende Kapitel) im Bereich des Hippocampus ihren Ursprung hat und sich dann entlang der zahlreichen Verbindungen mit anderen Arealen der Großhirnrinde ausbreitet (siehe Grafik 1.10).

1.10 Ausbreitung der Alzheimerschen Krankheit. In frühen Stadien (oben) ist lediglich der Bereich des Hippocampus betroffen, in mittleren Stadien (Mitte) diejenigen Bereiche der Großhirnrinde, die mit dem Hippocampus verbunden sind, und im Spätstadium (unten) praktisch das gesamte Gehirn.[34]

Fazit

Gehirnnutzung führt, wie hier anhand unterschiedlicher Beispiele gezeigt wurde, zum Wachstum der Gehirnareale, die für die spezielle Fähigkeit gebraucht werden. Unser Gehirn funktioniert also in einer wichtigen Hinsicht so ähnlich wie ein Muskel: Wird er gebraucht, wächst er; wird er nicht benutzt, verkümmert er.

Lange Zeit dachte man, dass sich das Gehirn bei geistiger Arbeit nicht verändert. Die Veränderungen vollziehen sich an winzigen Strukturen, den sogenannten Synapsen, deren genaue Untersuchung bis vor wenigen Jahren noch gar nicht möglich war. Auch die Auswirkungen auf das Gehirn und dessen Strukturen im Großen, wie sie in diesem Kapitel beschrieben wurden, konnten bis vor wenigen Jahren nicht untersucht werden, denn hierfür mussten erst eine aufwendige Technik der Gehirnbildgebung und komplizierte mathematische Verfahren zur Auswertung der Daten entwickelt werden. Heute wissen wir, dass unser Gehirn nicht nur das komplizierteste, sondern auch das dynamischste Organ in unserem Körper ist. Es verändert sich mit seinem Gebrauch. Wird es nicht gebraucht, dann wird neuronale Hardware abgebaut. Was das bedeutet, wird im nächsten Kapitel näher betrachtet.

[home]

2. Wo bin ich?

Sind Sie auch öfter mit dem Auto unterwegs und verlassen sich auf Ihr Navigationsgerät? Dann wird es Ihnen vielleicht irgendwann so ergehen wie mir neulich, nachdem man mir dieses Wunder der Informationstechnik aus dem Wagen gestohlen hatte: Ich hatte Mühe, mich zurechtzufinden. Auch vom Fahrweg zu Orten, wo ich schon mehrfach gewesen war, hatte ich nur noch eine vage Ahnung. Völlig frustriert über meine Unfähigkeit zur örtlichen Orientierung, verfuhr ich mich immer wieder.

Früher war das nicht so: Wenn ich einmal irgendwo gewesen war, fand ich auch wieder dorthin. Man hatte ohnehin eine Karte im Auto und wusste zumindest so einigermaßen, wo man sich gerade befand und in welche Himmelsrichtung man sich gerade bewegte. Man achtete darauf, denn nur wenn man weiß, wo man ist, kann man sein, wo man will, wie mein Fluglehrer immer zu sagen pflegte. Steuert man ein kleines Flugzeug, dann kann man nicht mal eben rasch rechts ranfahren und auf die Karte schauen. Man muss vielmehr zu jedem Zeitpunkt wissen, wo man ist, sonst geht es einem nicht nur wie einem Piloten, der von Mannheim nach Nürnberg unterwegs war und irgendwann von tschechischen Abfangjägern zur Landung gezwungen wurde. Nein, man lebt auch gefährlich, denn es gibt verbotene Lufträume, und der Kraftstoff sollte vor dem Zielflughafen nicht ausgehen: Mal eben zur Tankstelle fahren geht in der Luft auch nicht. Daher ist Navigieren mit das Wichtigste, was ein Pilot lernt und tut.

Demenz

Warum also fand ich mich ohne mein Navi plötzlich nicht mehr zurecht? Als Psychiater weiß ich nur zu gut, dass man auch mit 53 Jahren an Demenz erkranken kann. Die erste vom Neuropathologen Alois Alzheimer (1864–1915) beschriebene Patientin war zu Beginn ihrer Erkrankung 51 Jahre alt. Ging es also bei mir jetzt auch langsam los? Schließlich kann ich mir auch nicht mehr so gut die Namen von Menschen merken, deren Gesichter ich sofort wiedererkenne, und meinen Haustürschlüssel habe ich auch schon ab und zu morgens gesucht.

2.1 Auguste Deter aus Frankfurt am Main, die erste von Alois Alzheimer beschriebene Patientin mit der heute nach ihm benannten Form der Demenz

Nun kann ich glücklicherweise aufgrund meiner Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur mit einiger Sicherheit sagen, dass es um mich nicht allzu schlecht bestellt ist, denn was ich erlebte und erlebe, ist völlig normal: Wer seinen Haustürschlüssel nach einem langen Arbeitstag erschöpft nach Hause kommend irgendwohin wirft und dabei in Gedanken noch bei der Arbeit oder mit etwas ganz anderem beschäftigt ist, der hat die Stelle, wo der Schlüssel liegt, keineswegs vergessen, sondern gar nicht eingespeichert.[35] Und wer auf einer Party ein paar Leute vorgestellt bekommt und einen davon wenig später beim kalten Buffet ansprechen will, sich aber einfach nicht mehr erinnert, wie die Person heißt, ist ebenfalls völlig normal.

Amerikanische Wissenschaftler haben das Erinnerungsvermögen für die Namen von Menschen bei dreißig einseitig gehirngeschädigten Patienten (jeweils die Hälfte hatte die Schädigung auf der linken bzw. rechten Seite) und fünfzehn ganz normalen Kontrollpersonen untersucht, indem sie am Computer nacheinander zehn Gesichter und jeweils einen Namen zwei Sekunden lang zeigten. Danach wurden nur die Gesichter nacheinander gezeigt, und die Probanden sollten den Namen nennen. Nach einem Durchgang konnten die Patienten mit Hirnschädigung auf der linken Seite sich an keinen Namen erinnern, die mit der Hirnschädigung auf der rechten Seite auch nicht. Die Kontrollpersonen allerdings auch nicht! Bei der Wiederholung der Prozedur wurden alle Probanden langsam besser, aber auch nach sieben Durchgängen erreichte selbst die Kontrollgruppe keine hundertprozentige Erinnerungsleistung, wie aus der Abbildung 2.2 zu ersehen ist. Wenn Sie also wieder einmal am kalten Buffet stehen und einen Namen nicht wissen, dann sprechen Sie die Person einfach ganz ehrlich an: »Verzeihen Sie, aber wenn wir sieben Mal vorgestellt worden wären, hätte ich jetzt eine etwa achtzigprozentige Chance zu wissen, wie Sie heißen …«

2.2 Prozentsatz der korrekt erinnerten Namen von Personen, deren Gesicht zusammen mit dem Namen am Computerbildschirm präsentiert wurde in Abhängigkeit von der Anzahl der Präsentationen aller Gesichter/Namen bei gesunden Kontrollpersonen und Patienten mit Gehirnschädigung im Bereich des linken oder rechten Gehirns[36]

Orientierung im Raum

Das Suchen des Schlüsselbunds und Vergessen von Namen können Sie also getrost als normal verbuchen: kein Grund zur Beunruhigung und vor allem kein Anlass zur Sorge in Hinblick auf eine mögliche beginnende Demenz. Aber wie verhält es sich mit dem Navigieren? Nicht zu wissen, wo man ist, gehört zu den klassischen Symptomen in meinem Fachgebiet, etwa so, wie ein schneller Puls in das Fachgebiet des Internisten fällt. Wenn ein Psychiater einen Patienten untersucht, gehört es zur klinischen Routine, dass man einfache Fragen stellt, wie beispielsweise »Welche Uhrzeit und welches Datum haben wir jetzt gerade?«, »Wo sind Sie?« oder sogar »Wer sind Sie?«.

Jeder Medizinstudent lernt: Wer die letzte Frage nicht beantworten kann, ist geistig ziemlich schlecht dran. Wenn jemand weiß, wer er ist, aber nicht weiß, wo er gerade ist, dem geht es auch nicht wirklich gut. Wer dagegen nur nicht weiß, welches Datum wir gerade haben, könnte zwar geistig gerade nicht ganz auf der Höhe sein – oder aber einfach nur im Urlaub! Denn im Urlaub ist vielen Menschen die Zeit völlig egal, und das ist auch gut so. Wem die Zeit im Urlaub nicht egal ist, der befindet sich vielleicht sogar während seines Urlaubs – zumindest im Kopf – in der Firma bei der Arbeit.

Die zeitliche, örtliche und personale Orientierung gehörten zu unseren geistigen Grundfähigkeiten; bei Patienten mit Demenz nimmt sie in genau dieser Reihenfolge ab – Zeit, Ort, Person. Natürlich kann auch jemand, der schon stark geistig beeinträchtigt ist, auf seine Uhr schauen (sofern die Person eine hat und weiß, wo sie sich befindet) und mir die Uhrzeit sagen. Aber das ist nicht entscheidend: Es geht vielmehr darum, dass bei zunehmendem geistigem Verfall das Bemühen, die Kontrolle über sich und sein Leben zu haben, und das Bewusstsein dafür, in welchen Zusammenhang die Situation hier und jetzt eingebettet ist, nachlässt: Wer dement ist, kümmert sich weniger um Datum und Uhrzeit. Diese Person geht seltener aus dem Haus, versteht ihre Umwelt immer schlechter – die unmittelbare Umgebung und die große weite Welt sowieso – und begreift irgendwann auch sich selbst nicht mehr so gut, weil sie sich immer weniger merken kann. Am Ende bleibt nur noch eine Hülle, das Äußere des Menschen; sein Geist jedoch, seine unverwechselbare Persönlichkeit, seine Besonderheiten und Eigenarten, seine Geschichte sind verloren.

Nicht nur die Person geht »verloren«, die mit ihr verbundenen Sachverhalte auch. Wer an Demenz leidet, der weiß auch nicht mehr, worum es geht; er vergisst, was er gerade tun wollte, macht vieles mehrfach und merkt nichts davon. Auch der Bezug zu anderen Menschen löst sich langsam auf, zuerst zu den Bekannten aus der jüngeren Vergangenheit, bis am Schluss auch der Ehepartner oder die eigenen Kinder nicht mehr erkannt werden. Gleichzeitig erlischt das Bewusstsein für Vergangenheit und Zukunft: Demenzpatienten leiden nicht einfach nur unter zeitlicher Desorientiertheit (ein Frühsymptom), sondern unter der völligen Auflösung jeglicher Zeitlichkeit mit der Folge, dass sie nur noch von Augenblick zu Augenblick leben, wobei die wachen Momente nicht durch ein permanentes Bewusstsein verbunden sind, sondern disparat nacheinander ablaufen. Es ist übrigens müßig, sich zu fragen, was zuerst kommt, das Sich-nicht-Kümmern oder das Nicht-daran-Denken oder das Verschwinden der Menschen und Dinge – es bedingt sich alles wechselseitig.

Wie stark gerade die Leistung der räumlichen Orientierung vom Lernen abhängig ist, zeigen nicht nur die Londoner Taxifahrer. Auch bei ganz normalen Kindern unterschiedlicher Herkunft lässt sich sehr schön zeigen, dass die Orientierung im Raum mehr oder weniger gut beherrscht wird – je nachdem, welches Training man hatte. Kinder und Jugendliche, die in indischen Sanskrit-Schulen aufwuchsen, schneiden in Tests über die Orientierung im Raum besonders gut ab. Warum ist das so? Wie Latein ist Sanskrit eine tote Sprache aus der indogermanischen Sprachfamilie, doch ist sie nach wie vor eine von insgesamt 22 anerkannten Nationalsprachen in Indien und wird in den meisten indischen Schulen der Sekundarstufe nach Hindi und Englisch als dritte Sprache gelehrt. Sanskrit ist mehr als 3000 Jahre alt, wurde in verschiedenen Schriften geschrieben und mehrere Jahrhunderte vor Christi Geburt bereits systematisiert. Bei den Hindus gilt sie als heilige Sprache und wird im Rahmen religiöser Rituale bis in die Gegenwart verwendet, denn alle wichtigen religiösen Schriften (die Veden und die Upanishaden) sind in Sanskrit verfasst. Die älteste der vier Veden ist die Rig-Veda, eine religiöse Schrift über Götter, Mächte, Kräfte und die Natur, in der – wie in der übrigen Sanskrit-Literatur auch – der Raum in zehn Raumrichtungen aufgeteilt ist: Neben oben und unten gibt es acht Himmelsrichtungen,