Dinge, die vom Himmel fallen - Selja Ahava - E-Book

Dinge, die vom Himmel fallen E-Book

Selja Ahava

4,5

Beschreibung

Sachen gibt es, die gibt es gar nicht. Einen Eisbrocken etwa, der mitten im Sommer vom Himmel stürzt und der achtjährigen Saara auf tragische Weise die Mutter nimmt. Wenig später widerfährt auch Saaras Tante Unwahrscheinliches, als sie zum zweiten Mal im Lotto gewinnt – und vor Schreck in einen dreiwöchigen Dornröschenschlaf fällt. Und dann ist da noch der Fischer aus Schottland, der wiederholt vom Blitz getroffen wird – und sein Schicksal dennoch immer wieder aufs Neue herausfordert. Was passiert, wenn von einem Moment auf den anderen nichts mehr ist, wie es war? Wenn ein kleiner Zufall die ganze Welt ins Wanken bringt? In ihrem prämierten neuen Roman erzählt Selja Ahava eine Geschichte von den unberechenbaren Launen des Schicksals, schmerzhaft und ehrlich, tröstlich und märchenhaft leicht.

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mare

Selja Ahava

Dinge,die vomHimmelfallen

Roman

Aus demFinnischenvonStefan Moster

Die Übersetzung wurde gefördert von

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Taivaalta tippuvat asiat bei Gummerus Publishers, Helsinki.

© 2017 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, HamburgAbbildung plainpicture / fStop / Jutta Kuss

Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, HamburgDatenkonvertierung eBook bookwire

ISBN eBook: 978-3-86648-331-6

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-242-5

www.mare.de

Inhalt

Das Mädchen, das in der Wand begraben wurde

Die fünf Blitze des Hamish MacKay

Die Meerjungfrau schlägt mit der Flosse

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute

Dank

Zitatnachweise

EIN ANFANG ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht.

EINE MITTE ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht.

EIN ENDE ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt.

Aristoteles

Das Mädchen, das in der Wand begraben wurde

1»Was denkst du da hinten auf dem Rücksitz?«, fragt mich mein Vater und schaut in den Spiegel.

Ich begegne seinem Blick und antworte: »Nichts.«

Wir kommen an die Teboil-Tankstelle und biegen rechts ab. Das ist die Kreuzung, an der man rechts abbiegt, wenn man nach Förstorgård will, und links, wenn man zum Sägemehlhaus fährt. Neuerdings biegen wir meistens rechts ab.

Die Erwachsenen wollen immer wissen, was die Kinder denken. Aber ich glaube, sie würden sich Sorgen machen, wenn die Kinder es ihnen verraten würden. Wenn man zum Beispiel drei Jahre alt ist und ein starker Wind weht, sollte man nicht auf den Horizont starren und sagen: »Ich frage mich gerade, wie der Wind entsteht.« Man sollte lieber erklären, dass man Hubschrauber spielt. Und wenn man fünf ist, sollte man sich nicht zu sehr nach dem Tod und nach Fossilien erkundigen, denn die Erwachsenen wollen nicht über den Tod nachdenken und auch nicht über das Altern von Märchenfiguren oder darüber, wie Jesus am Kreuz starb. Als ich klein war, glaubte ich, die Oma meiner Mutter sei ein Fossil geworden, weil sie vor so langer Zeit gestorben war. Aber heute weiß ich, dass ein Fossil ein Farn, eine Schnecke oder ein Dinosaurier sein kann, aber keine Oma und kein Mensch.

Die Erwachsenen glauben also, dass das Kind auf dem Rücksitz die entgegenkommenden Laster oder die Buchstaben auf den Straßenschildern zählt oder dass es spielt, seine Finger seien Prinzessinnen, aber in Wirklichkeit kann es sein, dass das Kind zum Beispiel über die Umrisse eines Erwachsenen oder über die Zeit nachdenkt.

Ich denke viel über die Zeit nach. Ich habe graue Zellen im Gehirn, wie Hercule Poirot. Mit denen denke ich darüber nach, wie die Zeit vergeht und Wunden heilt. Die Erwachsenen sagen, die Zeit heilt alle Wunden, und damit ist gemeint, dass die Zeit vergeht und sich deswegen alles, was passiert, in Gedanken verwandelt und man sich immer schlechter daran erinnern kann. Wenn man sich dann nur noch ganz schlecht erinnert, ist die Wunde verheilt.

Aber ich will mich nicht schlecht an meine Mutter erinnern können. Ich will mich richtig an sie erinnern, ohne Flugzeug, ohne Eissplitter, ohne Loch in der Veranda. So wie sie normalerweise war.

MAMA NORMALERWEISE. Mama läuft in Fellpantoffeln und Papas großem Pullover herum. Sie baut mir ein Nest in einer Ecke der Couch. Sie packt mich in eine Decke und geht erst dann in den Schuppen, Holz holen. Mama zieht mir vor dem Ofen die Kleider an. Zuerst öffnet sie die Ofenklappen, wärmt die Kleider dicht an den Flammen und schüttelt die Kälte aus ihnen heraus. Dann zieht sie mich aus und wieder an, so schnell es geht. Mama schiebt Schnee mit einer blauen Mütze auf dem Kopf und taut ihre Hände an einer Teetasse auf.

So ist Mama normalerweise.

Mein Vater sagt, es ist Scheißdreck, dass die Zeit alle Wunden heilt. Seiner Meinung nach sagen das nur Leute, die von nichts eine Ahnung haben und noch nie etwas Schlimmes aushalten mussten. Und meine grauen Zellen denken, dass mein Vater vielleicht recht hat, denn bis jetzt ist jedenfalls noch nichts geheilt worden, obwohl die Sommerferien schon angefangen haben.

Also sitze ich auf der Rückbank und sage »Nichts« und denke an die heilende Kraft der Zeit und beschließe, mich sicherheitshalber jeden Tag an meine Mutter zu erinnern, bevor die Zeit zu viel heilt.

Die Wischer fegen über die Scheibe, und wegen unserer feuchten Kleider bildet sich Nebel auf dem Glas. Mein Vater fährt mit vollem Tempo in eine Pfütze, es gefällt ihm, wenn das Wasser hochspritzt.

Es regnet.

Neuerdings regnet es jeden Tag. In der Schule sagt die Lehrerin, he, wir sind doch nicht aus Zucker. Wir ziehen Regenhosen, Regenjacken und Gummistiefel an und gehen nach draußen. Ich denke an die Zuckerkinder, die im Regen zerlaufen. Nur klebrige, süße Regenkleidung bleibt auf dem Schulhof liegen.

Im Sägemehlhaus hatte mein Vater immer Angst, das Dach könnte undicht sein und der Dachstuhl morsch und plötzlich wäre alles zu spät. Meine Mutter sagte, mein Vater ist dramatisch, weil er aus einer Mücke einen Elefanten macht.

Aber neuerdings ist alles groß wie ein Elefant. Und mein Vater bemerkt den Regen wahrscheinlich nicht einmal. Neuerdings kann es passieren, dass mein Vater im Regen Äste von den Bäumen sägt und dabei klitschnass wird, aber sogar meine Tante sagt dann nur: »Soll er sich ein bisschen abreagieren.«

Neuerdings werde ich jeden Tag mit dem Auto abgeholt. Als wir noch im Sägemehlhaus wohnten, holte mich meine Mutter nur von der Schule ab, wenn es regnete. Nach der Arbeit roch sie nach Zigaretten. Sie hatte Stecknadeln am Kragen, Farbe an den Fingern und die Haare zu einem Arbeitsdutt eingedreht.

MAMA BEI DER ARBEIT. Der Arbeitsplatz meiner Mutter liegt unter der Erde. Dort riecht es nach Staub, Zigaretten und alten Kleidern, und vom Boden bis zur Decke ist alles voller Zeug. Mama hat eine große goldene Schere, mit der sie Stoff zurechtschneidet, und am Handgelenk ein Samtkissen voller Stecknadeln. Sie hat einen langen Fingernagel, mit dem sie energisch die Falten im Stoff glatt zieht. In ihrem Arbeitsdutt steckt ein Stift. Ihre Schere darf niemand verlegen. Über Nacht hängt Mama die Schere an einen Haken.

So ist Mama bei der Arbeit.

2Schließlich biegt das Auto in die Förstorgård-Allee ein. Ich höre auf zu denken und ziehe eine weiße Linie um die einzelnen Teilchen meiner Mutter herum. Wenn ich die Gedanken an der weißen Linie stoppe, kann ich später an derselben Stelle weitermachen.

Ich liebe die Allee. Man biegt ab und hat plötzlich die uralte, schnurgerade, von Bäumen gesäumte Straße vor sich. Der Samtvorhang geht auf, das Licht ändert sich, Musik setzt ein. Es ist Geigenmusik. Ein Pferdegespann prescht dahin, der Mantel des Kutschers flattert. Am Ende der Straße steht Förstorgård.

Wenn ein Haus alt genug ist, hört es auf, so auszusehen, als wäre es von Menschen erbaut worden. Es wird auf die gleiche Art lebendig wie ein bemooster Stein oder ein alter, dicker Baum. Ich stelle mir vor, dass Förstorgård wie ein Pilz aus der Erde gewachsen ist. Zuerst erschien ein steinerner Ring, dann erhob sich darin eine rote Gestalt, die zu den Wänden erstarrte. Im Lauf der Zeit dehnten sich die Balken aus, und das Dach wurde stärker, Moos sprenkelte den steinernen Sockel, und die Farbe der Wände verblasste. So ist Förstorgård entstanden.

Die Eichen und Ahornbäume bilden ein grünes Dach, und der Sand knirscht unter den Reifen. Ein bisschen so, als würde man in eine Zauberwelt hineinfahren oder in einen Zeittunnel. Es gibt einen Schnitt in der Zeit, und dann liegt das Gutshaus vor einem.

»Papa, fahr langsamer!«

An solchen Orten muss man sachte ankommen. Früher kamen die Herrschaften auf Pferden, für die es einen eigenen Stall gab.

Die Schafe meiner Tante stehen vor der Haupttreppe auf dem Rasen der Paradeseite. Es sind acht weiße und drei schwarze. Bei Schafen sagt man schwarz, obwohl man braun meint. So wie man über Fische sagt, dass sie schwimmen, obwohl sie in Wirklichkeit tauchen.

Bruno ist das zahmste von Tantes Schafen. Er sagt böh, wenn ich zu ihm gehe, und stößt seinen Kopf gegen mein Bein. Noch schafft er es nicht, mich umzuwerfen, aber ein erwachsenes Schaf bringt mich mit einem Stoß zu Fall. Schafe haben einen harten Schädel.

Bruno ist zahm, weil ich ihn als Baby mit dem Fläschchen gefüttert habe. Jetzt glaubt er, dass ich seine Mutter bin, und kommt immer an den Zaun und blökt, wenn ich vorbeigehe. Bruno ist schwarz, also braun, und ein Ohr hängt weiter herunter als das andere, weil seine Mutter versucht hat, es ihm abzubeißen. Schafe wissen nicht immer, welches ihr Junges ist, auch wenn es ihnen gerade erst aus dem Po geflutscht ist.

Bruno hatte beschlossen, zu leben, und schnappte nach dem Fläschchen wie ein Raubtier. Die Milch spritzte, die Flasche gluckerte, und Bruno schlürfte und schmatzte. Von oben betrachtet konnte man sehen, wie sein Bauch wuchs und sich mit warmer Milch füllte. Bruno zu füttern war nicht drollig und wäre nichts für ein Kinderbuch gewesen. Wenn man die Flasche hielt, wurden sogar die Hände von der Milch nass gespritzt.

Inzwischen kann Bruno schon Gras fressen.

Heute sehen die Schafe trübselig aus, und keines sagt böh. Sie liegen auf dem Rasen herum, die Beine wohlweislich unter den Bauch gestopft. Sie liegen immer in den gleichen Grüppchen da. Die Braunen sind Freunde, bei den Weißen gibt es zwei verschiedene Gruppen. Sie gucken sich gegenseitig an, als würden sie nicht verstehen, was die anderen da auf der Weide zu suchen haben.

Bei starkem Regen wird ihre Wolle platt, und die Schafe sehen ganz dünn aus. Meine Tante hat mir erzählt, dass ein Schaf untergeht, wenn man es ins Wasser wirft.

Aus dem kleinen Schornstein von Förstorgård steigt Rauch auf, das heißt, dass Tante Annu Feuer in der Küche gemacht hat. Das ist gut, denn sonst ist die Küche so kalt, dass man keine Lust hat, die Jacke auszuziehen.

Ich weiß, dass man sich über die Kälte nicht beschweren darf, wenn man in einem Gutshaus wohnt.

3Als ich sechs war, hatte Tante Annu einmal sieben Richtige. Im Lotto war der Original-Doppel-Jackpot zu gewinnen, was so viel Geld ist, dass man es schwer erklären kann. Es ist mehr, als es im Brettspiel Der Stern von Afrika gibt, die Rubine und alle Scheine zusammengezählt, und wenn man ihn gewinnt, muss man sich über alles ein paar neue Gedanken machen. Zum Beispiel, ob man gern zur Arbeit geht oder ob man immer noch Der Stern von Afrika spielen will. Oder ob man in einem anderen Haus wohnen oder Reitstunden nehmen oder Diamanten kaufen will. Man muss überlegen, was im Leben wichtig ist. Eigentlich ist es die Familie, aber die hat nichts mit Geld zu tun. Außerdem hat Annu keine Familie, weil sie keine Kinder hat. Vor Räubern muss man auch auf der Hut sein. Ins Weltall kommt man nicht unbedingt, selbst wenn man im Lotto gewonnen hat, und Glück kann man nicht mit Geld kaufen, und es kommen auch keine Diener ins Haus.

Wir sind zu Tante Annu gefahren, um anlässlich des Doppel-Jackpots mit ihr Kaffee zu trinken, und im Auto haben meine Mutter und mein Vater mir erklärt, dass der Lottogewinn ein Geheimnis ist, das man nicht im Kindergarten, bei Freunden, im Geschäft oder im Bus ausplaudern darf. Nur wir wissen davon, und darum hat Annu jetzt eine Torte gebacken, und wir feiern ein heimliches Fest. Ich mag Feste, Geheimnisse und Torten.

MAMA, WENN SIE VORNEHM IST. Mama hat ein Kleid aus Seide, silbern und schwarz. Sie ragt weit in die Höhe, denn sie trägt Schuhe mit Absätzen. Ihr Haar kringelt sich nach oben, als hätte eine Eismaschine es aufgewirbelt. Papa schaut Mama an und lächelt, auch er streckt die Brust heraus, weil er versucht, so groß wie Mama zu sein. Es klimpert an Mamas Handgelenk, und es sieht aus, als wüssten ihre Hände nicht, was sie tun sollen, weil sie keine Haarsträhnen aus dem Gesicht streichen können.

So ist Mama, wenn sie vornehm ist.

Ich war gespannt, wie die Tante jetzt aussieht, aber sie sah genauso aus wie immer, außer dass sie wieder rote Haare hatte. Tante Annu ging nur zum Friseur, wenn sie ein Stipendium bekommen oder einen Wandteppich verkauft hatte, der groß genug war, dazwischen ließ sie ihre Haare einfach wachsen. Sie war eine große und starke Frau, auch wenn sie manchmal zu schüchtern war, um anderen in die Augen zu schauen, und sie sprach leise, obwohl sie die Hände eines Mannes hatte. Seife, Wasser und Textilstaub machten ihre Hände rau und rot, und manchmal waren sie so trocken, dass sie an den Knöcheln wund wurden. Es waren Bärenpranken, sogar zwischen den Fingern konnte man Muskeln sehen.

Wir drängten uns in Tante Annus Wohnung, die nur ein Zimmer hatte und eine im Schrank versteckte Küche. Der Flur war so klein und voller Jacken und Schuhe, dass man im Gänsemarsch hineingehen musste, und Tante Annu wich in die offene Toilettentür aus, damit die Gäste vorbeikamen. Wir warfen unsere Jacken auf die Kommode, und damit war fast der ganze Flur verstopft.

Mein Vater, meine Mutter und Tante Annu umarmten sich und seufzten, oho, so was, tja, huhu, was soll man da sagen.

»Wo ist die Jackpot-Torte?«, fragte ich, und Tante Annu zwinkerte mir zu und führte mich ins Zimmer.

Ihr Pult war mitten ins Zimmer gerückt worden. Darauf lag eine große Platte mit einem Tischtuch, auf dem Kaffeetassen, Teller und die tollste Torte der Welt standen. Es war eine Weiße-Schokolade-Himbeer-Sahnetorte, die obendrauf mit Schokolinsen, Lakritzrollen, Himbeergummi, Weintrauben, Pralinen, Gummibärchen, Popcorn und Schaumherzen verziert war. In der Mitte steckten ein Regenschirm aus Papier, ein glitzernder Wedel, eine Marzipanrose und eine Kerze. Als ich die Torte sah, begriff ich, dass ein Doppel-Jackpot wirklich etwas Besonderes war. Auch meine Mutter lachte so sehr, dass ihr die Tränen kamen. Aber meine Tante hatte wahrscheinlich schon genug gelacht, denn sie stellte bloß Klappstühle für meinen Vater und meine Mutter hin und schnaubte leise.

Der Lottogewinn war nirgendwo zu sehen.

»Der ist nicht nach Hause geschickt worden«, erklärte Tante Annu, »sondern direkt auf die Bank.«

»Würde er in dieses Zimmer passen?«

»Da bin ich mir nicht sicher.«

»Hast du ihn denn nie gesehen?«

Die Tante schüttelte den Kopf und faltete ihre großen, leeren Hände. Dann hob sie die Schultern und senkte sie wieder.

»Würde er in die Badewanne passen?«

»Vielleicht wäre es wirklich eine gute Idee gewesen, einmal zu schauen, wie er aussieht«, sagte Tante Annu.

Mein Vater machte eine Flasche Sekt auf, und ich durfte mir gelbe Limo und Cola mischen, ohne dass sich ein Erwachsener beschwerte.

»Na dann, herzlichen Glückwunsch, du Millionärin!«, sagte mein Vater, und wir stießen mit den Gläsern an.

»Tja, nee. Was soll man da sagen?«, sagte die Tante. »Jetzt kann ich jedenfalls zum Zahnarzt und zum Gynäkologen gehen!«

Und wieder lachten die Erwachsenen und wischten sich die Augen. Dann nahm meine Tante den Tortenheber und sagte: »Entscheide du, Saara, wo angeschnitten wird.« Und ich entschied mich für die Gummibärchen, das Popcorn und die Marzipanrose.

Tante Annu machte sich über alles ein paar Gedanken und beschloss, mit dem Lottogeld einen Gutshof in der Nähe des Sägemehlhauses zu kaufen. Er war hellrot angestrichen und alt, und Tante Annu hatte ihn immer jenseits der Felder stehen sehen, wenn sie zu uns gefahren war. Er hieß Storgård, was so viel bedeutet wie Großes Gut, aber mein Vater nannte ihn Förstorgård, was so viel heißt wie Zu großes Gut, weil er so groß und meine Tante so klein war und weil kein Mensch fünfzehn Schlafzimmer braucht. Bald benutzten auch alle anderen diesen Namen für das Haus.

Förstorgård hatte zwanzig Jahre lang leer gestanden. Davor war ein Büro darin untergebracht gewesen, davor irgendein Lager, davor eine Sommerkolonie für Kinder, davor war der Krieg gewesen und die Geburtsabteilung der Klinik auf der Flucht vor den Bomben nach Förstorgård gekommen. Davor waren die Möbel des Guts verkauft worden, und davor hatte Frau Gyllenhök auf Förstorgård gewohnt, deren Großvater den Gutshof im Jahr 1877 für seine Familie erbaut hatte.

Tante Annu zog aus ihrer Wohnung aus und wurde Gutsfrau. Ihr gesamtes altes Zuhause hätte samt Wänden, Klo und Schränken ins blaue Zimmer des Gutshauses gepasst, und als die Möbel meiner Tante gebracht wurden, standen sie hoffnungslos klein, zerbrechlich und schäbig in einer Ecke der Eingangshalle.

Der alte Geschirrschrank aus Holz war das einzige Möbelstück, das zu Förstorgård passte. Schwer und dunkel hatte er in der Einzimmerwohnung der Tante gestanden, hinter der Tür eingezwängt, man hatte ihn gar nicht richtig aufmachen können. Aber auch dort in der Ecke war es dem Geschirrschrank gelungen, so auszusehen, als wäre er das einzige echte Möbelstück in der Wohnung. Als er jetzt in den Saal getragen wurde, blähte er die Brust, streckte die Kanten und ließ seine Verzierungen blühen.

Ich liebte die tschechoslowakischen Kaffeetassen meiner Tante. Jede war anders, aber trotzdem passten sie zusammen. Es waren Rosen in verschiedenen Farben darauf, Landschaften, Goldschnörkel und zarte Gräser, rostfarbene Herzen und grüne Dreiecke. Sie hingen an den Tassenhaken im Geschirrschrank, und die dazugehörigen Untertassen standen darunter.

War es Zeit zum Kaffeetrinken, ließ Tante Annu mich den Tisch decken und die Tassen aussuchen. Normalerweise suchte ich für mich eine mit Rosen aus oder einem Kreis von Mädchen in Tracht, für meine Mutter Bärentatzen oder Veilchen, für meinen Vater goldene Bäume oder hellblaue Segelboote und für Tante Annu eine besonders große, auf der ein Mädchen mit Käppchen ein Bambi füttert.

Das Gutshaus Förstorgård hatte einen dicken Sockel aus Stein, eine große Treppe, die durch eine Glasveranda führte, zwei Säulen vor der Tür und einen Turm. Es war massiv wie eine Eiche. Durch drei Luken konnte man in den Sockel kriechen, aber weil es darin keine Fenster gab, war es stock-finster. Vor dem Gutshaus lag eine runde Rasenfläche. Das war der Paradeplatz, zu dem die Allee führte. Oben im Turm auf der Südseite gab es ein kleines Sommerzimmer, zu dem eine Wendeltreppe hinaufführte. Vom Sommerzimmer aus hatte man Aussicht in alle Himmelsrichtungen, und Tante Annu stellte das Bett mitten in den Raum. Das Bett musste in zwei Teilen an Seilen durchs Fenster gehievt werden, denn die Wendeltreppe war zu eng dafür. Dort oben im Turm schlief die Tante dann, bis die Nächte zu kalt wurden.

Im Erdgeschoss gab es fünf Zimmer und eine Küche. Sie waren nach Farben benannt: die rote Eingangshalle sowie das blaue, das grüne, das lila und das gelbe Zimmer. Im ersten Stock befanden sich die Bibliothek und fünfzehn kleine Schlafzimmer. In den Schlafzimmern standen Krankenhausbetten aus Metall und kleine Öfen aus der Kriegszeit, aber ansonsten waren sie leer. In der Bibliothek gab es gar keine Bücher, doch auf dem Dachboden stand ein großer, alter Bücherschrank, den Annu, mein Vater und meine Mutter zu dritt in die Bibliothek zurücktrugen. Das Sofa, die Sessel und den Rauchtisch kaufte meine Tante später bei einer Versteigerung.

Sobald sie aufs Gut gezogen war, kaufte Tante Annu eine Herde Schafe. Für diese wurde auf dem Paradeplatz eine Weide eingezäunt, und weil die Pumpe des Springbrunnens, der mitten darauf stand, kaputt war, wurde das Becken jetzt zur Tränke für die Schafe. Die Schafe waren der Rasenmäher meiner Tante. Wenn nötig, wurde der Weidenzaun auf eine andere Seite des Hauses versetzt.

Förstorgård atmete. Es gab genug Platz für alles, alles passte zusammen, und alle Türen ließen sich öffnen. Die Zimmer sahen auch ohne Möbel gemütlich aus, aber hin und wieder kaufte die Tante etwas, zum Beispiel einen Kronleuchter.

Als der Winter kam, ergaben sich die Holzwände langsam der Kälte. Die Fenster liefen an, obwohl Flechten zwischen den Scheiben lagen. Es war kalt im Gutshaus. Die Tante schloss die Türen der meisten Zimmer und zog sich zum Wohnen in eine Ecke im Erdgeschoss zurück, weil sie nicht das ganze Haus heizen wollte. Sie richtete sich im gelben Zimmer ihr Winterquartier ein und wohnte nur dort und in der Küche. Durch die Küchentür betrat man das Haus. Die rote Eingangshalle, die übrigen Räume im Erdgeschoss und der erste Stock blieben kalt. Tante Annu stopfte die Türritzen mit Wolle aus und verschloss die Fugen mit Klebeband. Zum Schluss hängte sie Decken und alte Steppbetten vor die Türen und trug alle Teppiche ins gelbe Zimmer.

Die Leute sagten, die Tante ist verrückt, weil sie im Winter in so einem Haus ohne anständige Heizung wohnt. Die soll sich eine Heizung einbauen lassen oder wenigstens einen Hausmeister zum Schneeräumen einstellen, die hat doch Geld wie Heu! Aber meine Tante mochte es, den Kachelofen zu heizen, und behauptete, es ist praktisch, wenn man die Milch einfach auf dem Fußboden kalt stellen kann.

Im Frühjahr knackste und krachte es im Gutshaus. Die Wärme weckte die Balken auf und brachte den Blutkreislauf des Hauses zum Zirkulieren. Die ganze Zeit hörte es sich an, als würde jemand umhergehen. Tante Annu machte das keine Angst. Förstorgård dehnt und streckt sich bloß ein bisschen, sagte sie. Das Knacksen und Krachen dauerte so lange, bis die Wärme sich im ganzen Gebälk ausgebreitet hatte. Dann kam das Gutshaus zur Ruhe, und die überzähligen Schritte im ersten Stock verstummten.

Wenn ein Haus jung ist, muss man sich darum kümmern, ein bisschen wie um ein Kind. Man muss es gerade richten, flicken, pflegen und in Ordnung halten. Aber wenn ein Haus zum Beispiel zweihundert Jahre alt ist, kommt es allein zurecht. Alles, was morsch werden sollte, ist schon morsch geworden. Alles, was absinken oder platzen sollte, ist schon abgesunken und geplatzt. In einem alten Haus muss man schicklich wohnen. Das bedeutet, dass man so wohnen muss, wie früher in dem Haus gewohnt worden ist.

Förstorgård war behäbig und alt. Seine Balken hingen den Jahreszeiten hinterher, ein bisschen so, wie das Meer die Wetterlagen an der Küste ausgleicht. Es wurde November, bis die Balken im Gutshaus die ganze Wärme des Sommers wieder hergegeben hatten, und es dauerte bis weit in den Juli hinein, bevor sich in den Zimmern die Hitze staute. Tante Annu passte sich dem Rhythmus des Gutshauses an. Sie zog sich einen Pullover über und wurde langsamer. Sie fuhr einmal die Woche zum Einkaufen, redete einmal am Tag mit den Schafen, trank um elf Uhr eine Tasse Kakao, ging nach dem Kakao einmal durch alle Zimmer im Erdgeschoss und blieb in jedem kurz stehen. Sie genoss den leeren Raum und vermisste die Möbel nicht. Jetzt musste sie nicht mehr in die Toilettentür ausweichen, wenn jemand zu Besuch kam.

4Wir durften helfen, als Tante Annu nach Förstorgård zog und Gutsherrin wurde. Obwohl niemand auszog, trugen wir mehr Dinge von drinnen nach draußen als von draußen nach drinnen.

Alle Sachen von Tante Annu passten in einen einzigen Lieferwagen. Aber aus dem Gutshaus wurden sämtliche Möbel hinausgeschafft, die zum Büro, zur Kinderkolonie oder zum Lager gehört hatten, und von denen gab es eine Menge. Das Einzige, was Annu aufhob, waren die Krankenhausbetten im ersten Stock. In jedem Schlafzimmer standen ein oder zwei Metallbetten auf Rädern, deren Seiten man nach oben ziehen konnte. Meinem Vater graute vor den Betten, weil man ihm den Blinddarm operiert hatte, als er neun war, aber Tante Annu fand, dass sie Charme hatten.

Am Abend des Umzugstages flüsterte mir Tante Annu zu: »Komm mal mit, Saara, ich zeige dir was.«

Wir stiegen die Treppe zum ersten Stock hinauf, in die Halle, von der nach beiden Seiten Flure abgingen. Wir nahmen den Westflur, und die Tante öffnete eine Tür.

Dahinter lag ein leeres Schlafzimmer, in dem ein Bett und zwei alte Holzstühle standen. Vom Fenster aus blickte man auf den Rasen vor dem Haus und auf den Springbrunnen, auf den Lieferwagen und auf einen Stapel Kartons. Aber die Tante steuerte auf die linke Wand zu.

»Schau«, sagte sie, griff nach der Ecke der mittleren Platte in der Wandverkleidung und zog daran.

»Eine Geheimtür!«, hauchte ich.

Tatsächlich öffnete sich die Wandverkleidung, ohne das geringste Knarren von sich zu geben. Da hätte sogar Hercule Poirot die Augenbrauen gehoben. Hinter der Geheimtür lag ein kleiner Raum, in den nur ein Mensch hineinpasste. Die Tante ließ mich ausprobieren, wie man die Tür öffnete. Mit den Fingern konnte man am oberen Rand der Leiste einen Zapfen ertasten, den man nach links schieben musste. Dann spürte man ein leichtes Knacken, und die Verkleidung ging auf.

Wir betraten das Geheimzimmer. Meine Tante hatte zwei Samtkissen und einen aus Wolle gewebten Teppich auf den Boden gelegt, sodass man es sich bequem machen konnte. In der hinteren Wand befand sich ein kleines Fenster. Es ließ nicht viel Licht ein, weil davor Wilder Wein wuchs.

»Von außen sieht man nur den Wilden Wein«, sagte meine Tante.

Ich war noch nie in einem echten Geheimzimmer gewesen. Ich war auch noch nie in einem Gutshaus gewesen, und jetzt war meine Tante plötzlich in ein Märchenschloss gezogen.

Weil das Geheimzimmer der richtige Ort zu sein schien, um über geheime Dinge zu sprechen, solche, über die man nicht im Kindergarten, nicht im Bus und nicht bei Freunden reden durfte, beschloss ich, Tante Annu etwas zu fragen.

»Tante, woher wusstest du die Zahlen für den Doppel-Jackpot?«

Sicherheitshalber fragte ich es ganz leise. Tante Annu nickte, überlegte kurz und schaute mir dann in die Augen:

»Es war Zufall.«

»Warum darf man es dann niemandem erzählen, wenn es Zufall war?«

»Gerade darum«, sagte Tante Annu. »Man kann es so schwer erklären.«

Wir lauschten auf die Geräusche im Erdgeschoss. Meine Mutter spülte in der Küche Geschirr, und mein Vater hantierte mit den Kartons, die er in der Halle stapelte. Im Gutshaus gab es mehr Geräusche als im Mietshaus, weil die Tante erlaubt hatte, auch drinnen die Schuhe anzubehalten – wegen des Umzugs, aber auch, weil die Böden so kalt waren und sich von der Treppe Splitter lösten.

»Saara! Saara! Wir brechen bald auf!« Die Stimme meiner Mutter schallte den Kamin hinauf in den Schlafzimmerofen. Ich schaute Tante Annu an, und sie nickte, zum Zeichen, dass wir wieder nach unten müssten. Lautlos verließen wir das Geheimzimmer und verschlossen die Wandverkleidung.

»Bleibt das Geheimzimmer unser ganz eigenes Geheimnis?«, flüsterte ich Annu zu.

»Einverstanden«, antwortete sie.

Dann gingen wir nach unten. Den ganzen Abend über fühlte ich mich toll, weil ich jetzt eine Gutsherrin als Tante hatte und weil nur ich wusste, dass es in der Wand des Gutshauses ein Geheimzimmer gab.

5MAMA, WENN SIE NACKIG IST. Zwischen Mamas Beinen sieht man Licht, wenn sie heißes Wasser aus dem Kessel in der Sauna schöpft. Sie hat lange Beine, und ihre Knie knacken jedes Mal, wenn sie sich bückt. Mama hat an den Beinen keine Haare, im Gegensatz zu Tante Annu.

Mama schmort auf der Saunapritsche und riecht nach Kokosnuss. Sie hat Kokosnussöl in den Haaren unterm Handtuch. Ihr Rücken ist gebogen, und sie bewegt das Gelenk des Beins, das in der Luft hängt, im Kreis, immer im Kreis. Ich spiele Gitarre auf den Falten an Mamas Bauch und mache dazu Töne: »Blom, blom, blom, blim!«

Über Mamas Bauch läuft eine lange Narbe. Dort bin ich herausgekommen.

So ist Mama, wenn sie nackig ist.

Im Sägemehlhaus ging mein Vater allein in die Sauna, weil ihm dann das Atmen leichter fiel. Meine Mutter redete in der Sauna zu viel und über zu viele ernste Themen, und sie vergaß zu fragen, bevor sie einen Aufguss machte. Sie goss mit Schwung drei Kellen Wasser auf einmal auf den Ofen und rannte dann in den Schnee hinaus. So etwas ertrug mein Vater nicht.

Als wir einmal zu zweit auf der Pritsche saßen, versuchte ich, die Brüste meiner Mutter zu berühren. Da gab sie mir einen Klaps auf die Hand.

»Ich hab sie als Baby doch auch angefasst.«

»Das ist was anderes«, antwortete sie.

»Nur ein Mal«, bettelte ich.

»Nein.«