Tief im Wald verliert sich ihre Spur
Die elfjährige Britt ist auf dem Nachhauseweg verschwunden. Kommissarin Lois Elzinga ermittelt unter Hochdruck, doch von dem Mädchen fehlt jede Spur. Da erreicht die Mutter eine SMS, die keinen Zweifel lässt: Ihre Tochter wurde entführt. Als sie erkennt, in wessen Händen sich Britt befindet, ist sie zutiefst schockiert – sie kennt den Täter und weiß, dass er vor nichts zurückschreckt …
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Seitenzahl: 376
SIMONE VAN DER VLUGT
Dir wird nichts geschehen
THRILLER
Aus dem Niederländischen von Janine Malz
Über den Roman
Als die elfjährige Britt nach dem Turnunterricht nicht nach Hause kommt, gibt ihre Mutter Mirjam sofort eine Vermisstenanzeige auf. Doch das Kind bleibt verschwunden, spurlos. Lois Elzinga und ihre Kollegen von der Kripo Alkmaar übernehmen den Fall und befürchten das Schlimmste. Doch dann erhält die Mutter eine SMS, und es wird klar: Britt lebt, sie wurde entführt. Sofort fällt der Verdacht der Polizei auf den kriminellen Vater des Mädchens. Roy de Graaf sitzt jedoch seit Jahren im Gefängnis und kann Britt unmöglich entführt haben. Die Ermittler stehen vor einem Rätsel, und die Zeit wird knapp. Und so begibt sich Lois in einem riskanten Alleingang auf die Suche nach dem Mädchen, die sie quer durch Europa führt.
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
Morgen ben ik weer thuis bei Ambo/Anthos Uitgevers, Amsterdam
Deutsche Erstausgabe 04/2015
Copyright © 2013 by Simone van der Vlugt
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2015 by Diana Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion | Anne Tente
Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München
Umschlagmotiv | © Mark Owen/Trevillion Images
Satz | Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-14503-3
www.diana-verlag.de
1
Sie sieht es nicht kommen. Niemand sieht das Verhängnis kommen, sodass es umso heftiger und erbarmungsloser zuschlägt. Sie ist derart in ihre Gedanken vertieft, dass sie überhaupt nicht mehr auf ihre Umgebung achtet. Und so entgeht ihr die Dringlichkeit, mit der sie der Unbekannte anschaut, sie nimmt den Mann nicht einmal wahr.
Britt freute sich riesig, als ihre Trainerin Madeleine sie nach dem Turnunterricht herbeiwinkte, und ihr Herz begann hoffnungsvoll zu pochen. Sie drehte sich zu Emma um, die die Geste der Trainerin ebenfalls bemerkt hatte und genauso überrascht war. Als deutlich wurde, dass die Lehrerin unter vier Augen mit Britt sprechen wollte, war Emma langsam zur Umkleidekabine getrottet.
»Ich habe gute Neuigkeiten für dich, Britt«, sagte Madeleine vergnügt. »Wir haben uns gestern beraten und sind uns einig, dass du einen Riesensprung gemacht hast. Im wahrsten Sinne des Wortes.« Sie lachte dabei, als ob sie einen Witz gemacht hätte, und Britt lächelte zurück, obwohl sie nicht recht verstand, was die Trainerin meinte.
Was sie aber sehr wohl verstand, war die Neuigkeit, dass sie ausgewählt worden war, um auf der nächsthöheren Stufe zu turnen. Mit strahlenden Augen vernahm sie die Komplimente, mit denen die Lehrerin ihre Leistungen lobte. Dass sie über sehr viel Kraft und Eleganz verfüge und sich in den letzten Wochen enorm weiterentwickelt habe. Als Jüngste in der Gruppe müsse sie in der Anfangszeit sicherlich die Zähne zusammenbeißen, aber sie habe größtes Vertrauen, dass Britt diese Herausforderung meistern werde.
Mit einem breiten Lächeln im Gesicht war Britt aus der Turnhalle gerannt. Als sie in die Umkleidekabine kam, fand sie diese fast leer vor. Nur Ilse und Fiona plauderten miteinander, während sie sich ausgiebig die Haare bürsteten. Emma hingegen war schon weg. Besorgt zog sich Britt um, viel schneller als sonst. Emma war doch hoffentlich nicht einfach gegangen, ohne Bescheid zu sagen?
Britt schnappte ihre Tasche und lief eilig den Flur entlang. Draußen schaute sie sich suchend um und sah zu ihrer Erleichterung Emma mit ihrem Fahrrad dastehen.
»Hey«, rief Britt, während sie schnellen Schrittes auf ihre Freundin zulief. »Ich dachte, du wärst schon weg.«
»Ihr habt noch so lange gesprochen, da dachte ich mir, ich warte schon mal draußen«, antwortete Emma ein wenig verstimmt. Das war natürlich keine sonderlich logische Erklärung, als ob draußen zu warten weniger lange dauern würde. Britt vermutete, dass Emma einfach hatte gehen wollen, aber im letzten Moment entschieden hatte, dass sie das nicht machen konnte. Schweigend beobachtete sie Emma, die sich gar nicht nach dem Gespräch erkundigte und stattdessen an ihrer Fahrradklingel herumschraubte. Schließlich musste sie doch einmal aufblicken und stellte mit leichtem Widerwillen in der Stimme fest: »Dann kommst du jetzt also in die Auswahl.«
Britt nickte, ebenfalls widerwillig. Wenn sie die Aufnahme in das Auswahlteam ihre Freundschaft zu Emma kosten würde, wusste sie nicht, ob sie immer noch so froh darüber war.
Emma sagte nichts und gratulierte ihr auch nicht. Das brauchte sie auch nicht – wenn sie doch nur wieder ganz normal zu ihr wäre! Diese enttäuschte und neidische Emma, die da vor ihr stand, war Britt völlig fremd, und sie fühlte sich hundeelend.
»Kommst du noch kurz mit zu mir?«, schlug Britt vor.
Das machten sie jeden Samstag, mal kam Emma mit zu Britt nach Hause, mal fuhr Britt mit zu Emma. Es überraschte sie zwar nicht, als Emma den Kopf schüttelte, aber es versetzte ihr dennoch einen Stich mitten ins Herz.
»Ich habe ein wenig Kopfweh«, erklärte Emma, ohne sie dabei anzusehen. »Ich glaube, ich radle dann besser mal nach Hause. Also dann, mach’s gut, wir telefonieren noch mal.«
Mit diesen Worten schwang sie sich auf ihr Rad und fuhr davon. Britt schaute ihr nach, und das Glücksgefühl von eben war auf einmal völlig verschwunden.
Als Britt nun nach Hause fährt, ärgert sie sich, dass sie nicht doch versucht hat, Emma umzustimmen. Emma hat noch nie eine Ausrede erfunden, um sich nicht mit ihr verabreden zu müssen. Wieso auch? Die beiden sind sonst unzertrennlich und verbringen jede freie Minute miteinander.
In der Schule sitzen sie nebeneinander, und samstags, dienstags und mittwochs sehen sie sich beim Turntraining. Im Gegenteil, die meisten finden es eher verwunderlich, dass sie sich noch nie gestritten haben.
»Ihr seht euch kein bisschen ähnlich, sonst könnte man glatt meinen, ihr seid Schwestern«, hat ihr Lehrer Herr Jacobs erst neulich noch gesagt. Und Emmas Vater bezeichnet sie oft als seine ›dritte Tochter‹.
Darüber freut Britt sich ganz besonders, denn sie wäre auch gerne in einer ganz normalen Familie aufgewachsen, mit einem Vater und einem Bruder oder einer Schwester. Emma hat noch einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Britt hingegen hat nur ihre Mutter. Aber dafür ist das die jüngste und coolste Mutter der ganzen Schule, das sagen alle ihre Freundinnen. Während andere Eltern sich schon schwertun, ihren Kindern zu erlauben, in einem Zelt im Garten zu übernachten, ist es ihre Mutter, die immer auf die verrücktesten Ideen kommt. So wie letzten Monat, als Britt auf Mirjams Vorschlag hin ein paar Freundinnen zu einer Pyjamaparty einlud, um den Geburtstag ihrer Katze Tinkerbell zu feiern.
Langsam fährt Britt mit dem Fahrrad nach Hause. Ihre Gedanken kehren zu Emma zurück, die jetzt ebenfalls allein nach Hause fährt und für die der Tag bestimmt auch im Eimer ist.
Aber Britt kann ja auch nichts dafür, dass sie es ins Auswahlteam geschafft hat und Emma nicht. Schwerfällig und lustlos tritt sie in die Pedale. Das abweisende Verhalten von Emma nimmt sie so sehr in Beschlag, dass sie gar nicht mehr auf ihre Umgebung achtet.
2
»Du errätst nie, was ich mir gekauft habe«, kündigt Tessa am anderen Ende der Leitung an und kann ihre Begeisterung nur schwer zurückhalten.
Lois sitzt an ihrem Schreibtisch auf dem Polizeirevier am Mallegatsplein und lässt den Blick über die sonnenüberflutete Kanaalkade schweifen, über den Kanal, das Ufer und den vorüberziehenden Autoverkehr.
Sie hat tatsächlich keinen blassen Schimmer, was ihre Schwester gekauft haben kann. Da sie ständig die entlegensten Dinge anschleppte, konnte es alles sein.
»Einen begehbaren Kühlschrank?«, schlägt sie vor.
»Gibt es die überhaupt, begehbare Kühlschränke?«, fragt Tessa interessiert.
»In Schlachtereien schon. Aber das ist es dann wohl nicht.«
»Nein, ich habe jetzt einen Hund«, verkündet Tessa selbstzufrieden. »Guido wollte, dass ich mir einen zulege, damit er mir Gesellschaft leistet und auf mich aufpasst.«
Lois braucht ein paar Sekunden, um diese Neuigkeit zu verarbeiten. »Wozu brauchst du denn einen Hund, der auf dich aufpasst?«
»Das habe ich dir doch erzählt! Weil bei uns ab und zu so ein Typ hinter der Hecke steht.«
Lois schweigt verdutzt und versucht sich zu erinnern, wann Tessa ihr diese nicht ganz unwichtige Information mitgeteilt hat.
»Ich weiß genau, dass ich dir davon erzählt habe«, fügt Tessa ungeduldig an.
»Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, aber gut, da stand also ein Typ hinter der Hecke.«
»Genau, und irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl. Hast du das nie, dass so eine Stimme in deinem Unterbewusstsein dich vor drohendem Unheil warnt?«
Das hat Lois ständig, allerdings gibt es bei ihr dafür meist einen konkreten Anlass. »Manchmal«, erwidert sie.
»Ich habe ein ganz mulmiges Gefühl. Irgendetwas stimmt da nicht, Lois. Es ist nicht so, dass ich mich unsicher fühle, aber so richtig geheuer ist mir das nicht. Und darum hat Guido darauf bestanden, dass ich mir einen Hund kaufe.«
»Was hast du denn für einen?«, erkundigt sich Lois. »Einen Rottweiler oder einen Dobermann oder so was in der Richtung?«
»Nein, um Gottes willen! Siehst du mich mit so einem Ungetüm herumlaufen? Nein, es ist ein West Highland White Terrier.«
Da Lois mit Hunderassen nicht viel anfangen kann, googelt sie eben schnell den Namen. »Das sind doch diese Cesar-Hunde«, sagt sie, »diese kleinen weißen aus der Hundefutterwerbung.«
»Ja, süß, oder?«, ruft Tessa entzückt.
»Aber Tes, das ist doch kein Wachhund! Was willst du denn mit dem?«
»Das hat Guido auch gesagt. Aber man darf nicht vergessen, dass diese kleinen Hunde ganz schön bissig sein können.«
»Das sind kleine Wadenbeißer. Ein Fußtritt, und die liegen im Gebüsch.«
»Auf jeden Fall bellen sie wie verrückt, das reicht mir. Dann weiß dieser Stalker, dass er nicht unbemerkt in unser Haus eindringen kann.«
»Ist es ein Welpe? Weil dann wird er vorerst höchstens ein Piepsen von sich geben.«
»Ja, es ist ein Welpe. Und so niedlich! Jacinta hat einen ganzen Wurf und hat mir einen angeboten. Er heißt Scottie.«
»Na, heute Abend lerne ich ihn ja kennen. Ich bin schon gespannt. Du und ein Hund – wer hätte das gedacht? Früher hattest du Angst vor Hunden.«
Sie hätte sich Tessa auch gar nicht mit einem großen, schwarzen Kampfhund vorstellen können. So ein kleiner, weißer Welpe passte sehr viel besser zu ihr – auch farblich zu ihrer Wohnungseinrichtung. Plötzlich steht Ramon Koenen, der Leiter der Mordkommission, in der Tür.
»Die Kollegen vom Empfang haben gerade angerufen, dass unten eine Frau steht, die eine Vermisstenanzeige aufgeben will, weil ihre Tochter verschwunden ist. Kümmerst du dich darum?«
»Klar, mach ich«, sagt Lois, und an Tessa gewandt: »Ich muss auflegen. Die Pflicht ruft.«
»Gegen wie viel Uhr kommst du denn heute Abend? Ich mache uns Spaghetti carbonara. Außerdem dachte ich, du hättest heute frei. Immerhin ist heute Samstag!«
»Heute Morgen gab es einen Raubüberfall auf eine Snackbar«, erklärt Lois. »Ich muss die nächsten zwei Stunden noch ein paar Zeugen vernehmen und Berichte schreiben, aber um sechs sollte ich bei dir sein.«
»Okay, dann sehen wir uns heute Abend um sechs. Frohes Schaffen, Schwesterherz!«
»Danke!« Um ihrer Schwester keine Gelegenheit zu geben weiterzureden, legt Lois nach diesen Worten sofort auf. Schnell eilt sie die Treppe hinunter zur Empfangshalle. Eine Mutter, die eine Vermisstenanzeige aufgeben will, lässt sie nicht gerne warten.
Bonnie, die hinter dem Empfang steht, grüßt sie und weist zu der Frau hinüber.
Mit ausgestreckter Hand und einem freundlichen Lächeln geht Lois auf sie zu. »Guten Tag. Ich bin Polizeihauptmeisterin Lois Elzinga. Sie möchten eine Vermisstenanzeige erstatten?«
Eine Frau von Anfang dreißig und gepflegter Erscheinung drückt ihr die Hand. Sie hat schulterlanges, blondes Haar, in das sie einige Zeit investiert haben muss, so perfekt, wie es liegt. Doch an ihrem Gesicht kann man ablesen, dass sie in diesem Moment keinen Gedanken an ihr Äußeres verschwendet.
»Ich bin Mirjam Strijbis. Meine Tochter ist bereits den ganzen Nachmittag weg, und ich mache mir große Sorgen«, trägt die Frau in ruhigen, wohlüberlegten Worten ihr Anliegen vor.
»Begleiten Sie mich doch bitte nach hinten, dann können wir uns hinsetzen und in Ruhe unterhalten.« Lois macht eine einladende Geste und führt Frau Strijbis in den Verhörraum, wo sie ihr einen Stuhl zuweist. Sie selbst nimmt ihr gegenüber Platz, wo schon ein Laptop bereitsteht.
»Ich nehme zuerst Ihre persönlichen Angaben auf. Können Sie mir bitte Ihren Namen und Ihre Anschrift nennen?«, fragt Lois.
Müde streicht sich Mirjam Strijbis eine dicke Locke aus der Stirn. Sie buchstabiert ihren Vor- und Nachnamen und gibt eine Adresse in Oudorp an. Ohne Lois’ Fragen abzuwarten, beginnt sie zu erzählen: »Meine Tochter Britt ist heute Vormittag mit dem Fahrrad zu ihrem Turnverein zum Training gefahren und danach nicht nach Hause gekommen.«
»Wo befindet sich der Turnverein? In Oudorp?«, erkundigt sich Lois und beginnt zu tippen.
»Nein, in Alkmaar-Noord. Da haben wir früher gewohnt. Vor zwei Jahren sind wir dann umgezogen, aber Britt wollte gerne bei ihrem alten Verein bleiben. Ich habe die Kontaktdaten dabei.«
Mirjam schiebt eine Visitenkarte der Turnschule über den Tisch, und Lois übernimmt die Angaben.
»Wie alt ist Ihre Tochter?«, fragt sie.
»Elf. Sie ist vor einem Monat elf geworden«, gibt Mirjam mit einem leichten Zittern in der Stimme zu Protokoll.
»Und wie sieht Britt aus? Kleidung, Augenfarbe, Größe?«
»Sie ist blond, hat blaue Augen und ist relativ klein und zierlich für ihr Alter, ungefähr einen Meter dreißig groß.« Mirjam holt ihr Handy hervor und zeigt Lois das Foto eines fröhlich in die Kamera lachenden Mädchens.
»Können Sie mir das Foto per E-Mail senden? Dann füge ich das gleich den Unterlagen hinzu.«
Mirjam nickt und tippt die E-Mail-Adresse ein, die ihr Lois nennt.
»Meistens habe ich sie hingebracht und auch wieder abgeholt«, fährt sie leise fort. »Aber sie ist doch schon elf. Sie fand, dass sie jetzt alt genug ist, um alleine mit dem Fahrrad zum Turnen zu fahren, und da hatte sie natürlich recht. Und so habe ich sie die letzten paar Male nicht mehr begleitet, außer es war schlechtes Wetter.« Nervös kaut sie auf dem Nagel ihres Zeigefingers herum.
Lois geht zunächst die Fragen auf ihrer Liste durch, etwa zur Kleidung, die Britt trägt, und zur Farbe und Marke ihres Fahrrads. Danach schiebt sie den Laptop ein Stück von sich. Die wichtigsten Angaben hat sie notiert, jetzt will sie sich ganz auf das Gespräch konzentrieren.
»Was ist Britt für ein Mädchen? Kommt sie nach dem Turnen immer direkt nach Hause, oder geht sie manchmal noch mit ihren Freundinnen mit?«, fragt sie.
»Natürlich geht sie auch mal zu einer Freundin, vor allem zu Emma, ihrer besten Freundin. Aber dann sagt sie mir vorher Bescheid oder ruft mich an. Zu ihrem elften Geburtstag habe ich ihr ein iPhone geschenkt, damit sie immer erreichbar ist. Das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit.«
»Hatte sie ihr Handy auch dabei, als sie heute Morgen zum Turntraining fuhr?«
»Ja, sie nimmt es überall mit hin, und es ist auch immer eingeschaltet. Nur jetzt nicht. Ich habe den ganzen Nachmittag versucht, sie zu erreichen, aber das Handy war aus. Bei Emma ist sie nicht und bei den anderen Freundinnen auch nicht. Ich bin alle Namen und Adressen von den Mädchen, mit denen sie befreundet ist, durchgegangen und habe alle angerufen, aber keiner weiß, wo sie ist. Emma meinte, Britt sei nach dem Turnen ganz normal wie immer mit dem Fahrrad nach Hause gefahren.«
»Sind die beiden noch ein Stück zusammen gefahren?«
»Nein, Emma wohnt in der anderen Richtung. Ich habe sie natürlich auch gefragt, ob sie irgendetwas für den Nachmittag geplant hatten, aber das hatten sie nicht. Emma fuhr nach Hause und Britt auch. Nur dass Britt nicht zu Hause angekommen ist.«
»Wissen Sie das ganz sicher? Kann es nicht sein, dass Britt nach Hause kam, als Sie gerade weg waren?«
Mirjam schüttelt den Kopf. »Ich war nur heute Morgen kurz zum Einkaufen weg, aber ab Mittag habe ich dann draußen im Garten gearbeitet. Ich kann sie gar nicht verpasst haben.«
Lois schaut nachdenklich auf ihren Bildschirm und gibt eine kurze Zusammenfassung dessen ein, was Mirjam ihr erzählt hat. Die Wahrscheinlichkeit ist natürlich groß, dass Britt einfach zu einer anderen Freundin mitgegangen ist, an die ihre Mutter nicht gedacht hat, doch genauso gut kann sie tatsächlich verschwunden sein.
»Wie haben Sie Britt heute Morgen erlebt? Also, in welcher Stimmung war sie? Verhielt sie sich anders als sonst?«, fragt Lois, nachdem sie alles abgetippt hat.
»Nein, sie war gut gelaunt wie immer und hat sich auf das Training gefreut. Sie ist auch sehr gut im Turnen und hatte gehofft, dass sie ins Auswahlteam kommt. Denn dann trainiert man auf einer höheren Stufe und darf zu Turnieren mitfahren. Die Entscheidung sollte heute verkündet werden.«
»Bedeutet es Britt viel, in die Auswahl zu kommen?«
»Ja, klar. Sie ist sehr ehrgeizig, wenn es ums Turnen geht.«
»Wie, glauben Sie, würde sie reagieren, wenn sie es nicht schafft?«
»Da wäre sie natürlich ziemlich enttäuscht. Aber Emma hat mir vorhin erzählt, dass Britt ins Auswahlteam aufgenommen ist und überglücklich war. Darum ist es ja auch so merkwürdig, dass sie mich weder angerufen hat, noch nach Hause gekommen ist. Ich bin mir sicher, dass sie es kaum abwarten konnte, mir davon zu erzählen.« Mirjam kämpft mit den Tränen.
»Geht’s?«, erkundigt sich Lois mitfühlend. »Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«
»Nein, danke. Schon in Ordnung.« Mirjam trocknet ihre Tränen mit einem Taschentuch und lächelt schwach, wie um sich selbst Mut zu machen.
»Und wie war die Situation zu Hause? Hatten Sie kürzlich vielleicht Streit?«, fährt Lois fort.
»Nein, ganz und gar nicht. Alles lief prima. Wir waren heute Abend zum Grillen eingeladen, und Britt hat sich schon sehr darauf gefreut.«
»Und Britts Vater? Wie ist ihr Verhältnis zu ihm?«
»Britt hat keinen Kontakt zu ihm«, erzählt Mirjam. »Wir haben uns scheiden lassen, da war Britt noch ein Baby.«
»Überhaupt keinen Kontakt? Gibt es eine Umgangsregelung?«
»Nein.« Mirjam schweigt, und als sie weiterspricht, kann man sehen, dass ihr die Worte nicht leicht über die Lippen kommen. »Er sitzt im Knast.«
Lois sieht sie überrascht an. »Und weswegen?«
»Wegen allem Möglichen. Er landet ständig im Knast. Mich geht das schon lange nichts mehr an.«
»Aber woher wissen Sie dann, dass Ihr Exmann gerade im Gefängnis sitzt? Könnte er nicht gerade auf freiem Fuß sein?«
»Das weiß ich, weil ich erst letztens mit meinen Schwiegereltern gesprochen habe, und die haben mir erzählt, dass er mindestens noch ein halbes Jahr absitzen muss.«
»Hat Britt Ihnen gegenüber irgendwann mal geäußert, dass sie gerne ihren Vater sehen würde?«
»Nein, nie. Wir sprechen eigentlich überhaupt nicht über ihn.«
»Also können Sie sich nicht vorstellen, dass Britt ihn vielleicht im Gefängnis besuchen wollte?«
»Ohne mir Bescheid zu sagen? Nein, das glaube ich nicht. Außerdem ist das Gefängnis in Vught – wie sollte sie denn da alleine hinkommen?«
Für ein unternehmungslustiges Mädchen gibt es tausend Möglichkeiten, denkt Lois, behält den Gedanken aber lieber für sich. Diesem Anhaltspunkt würde sie nach dem Gespräch schnellstmöglich nachgehen. Sie erkundigt sich nach dem Namen des Vaters und notiert »Roy de Graaf«.
»Wie werden Sie jetzt vorgehen?« Der hoffnungsvolle Klang in ihrer Stimme verrät, dass sie erwartet, dass sofort ein großer Suchtrupp losgeschickt wird.
»Das muss ich mit meinem Chef besprechen«, erläutert Lois. »Wir werden natürlich die Personenbeschreibung von Britt herausgeben und Streifenwagen aussenden, um nach ihr Ausschau zu halten. Mehr kann ich im Augenblick leider nicht versprechen.«
Ungläubig starrt Mirjam sie an. »Ist das alles?«
»Ich würde Sie bitten, mir noch eine Liste mit allen Namen und Adressen von Britts Freundinnen zu geben. Und denken Sie bitte noch mal in Ruhe nach, wo Britt eventuell noch sein könnte. Vielleicht hat sie ein Tagebuch oder einen Kalender, in dem Namen stehen, die Sie nicht kennen. Fragen Sie auch bei allen Klassenkameraden nach. Vielleicht hat sie eine Bekannte getroffen und ist mit ihr mitgegangen. Beim Spielen vergessen Kinder schnell mal die Zeit.« Lois überlegt kurz und fragt dann: »Oder hat sie vielleicht einen Freund?«
»Soweit ich weiß, nicht. Das kann ich mir eigentlich auch nicht vorstellen, Britt spielt doch noch mit Barbies.«
Lois nickt, auch wenn sie die Barbie für kein überzeugendes Argument hält.
Sie kann sich noch gut an ihre eigene Pubertät erinnern und daran, wie sie sich langsam für Jungs zu interessieren begann. Aus dem Wildfang, der am liebsten draußen herumtobte und auf Bäume kletterte, wurde beinahe über Nacht eine unsichere Teenagerin, die hochrot anlief, sobald ihr Schwarm in der Nähe war.
Sie verabschiedet sich von Mirjam, nachdem sie sie noch einmal mit Nachdruck daran erinnert hat, sich umgehend zu melden, sollte Britt wieder auftauchen.
»Aber die Polizei wird doch nach ihr suchen, nicht wahr?«, fragt Mirjam verzweifelt.
»Ich werde alles, was Sie mir erzählt haben, an meinen Chef weitergeben«, versichert ihr Lois nochmals. »Und dann werden wir die erforderlichen Schritte einleiten.«
»Die erforderlichen Schritte?«
Lois entfährt ein unmerklicher Seufzer. Verständnisvoll legt sie eine Hand auf Mirjams Arm. »Ich bleibe dran. Das verspreche ich Ihnen.«
Ein paar Sekunden lang blicken sich die beiden Frauen in die Augen, dann entspannt sich Mirjam sichtlich. »Danke«, sagt sie aus tiefstem Herzen. »Haben Sie vielen Dank.«
3
Nachdem Mirjam die Wache verlassen hat, geht Lois zum Büro ihres Chefs. Seine Tür steht offen, was bedeutet, dass sie einfach hineingehen kann.
»Ein Mädchen ist verschwunden«, sagt sie ohne Umschweife. »Elf Jahre alt und nicht der Typ, der einfach ohne Bescheid zu sagen wegbleibt. Der Vater befindet sich in Haft.«
Ramon blickt ruckartig von der Akte auf, über die er eben noch gebeugt saß. »Was? Wo?«
»In Vught. Die Mutter sagt, er hat keinen Kontakt zu seiner Tochter. Ich habe dir die Unterlagen zugemailt.«
Ihr Teamleiter öffnet daraufhin sofort die E-Mail und überfliegt kurz deren Inhalt. »Ein Mädchen, das seit circa vier Stunden als vermisst gilt«, bemerkt er. »Sie könnte natürlich jederzeit wieder auftauchen, aber dass ihr Handy aus ist, gefällt mir ganz und gar nicht.«
»Das könnte sie auch selbst ausgeschaltet haben. Gerade weil sie nicht von ihrer Mutter gefunden werden will.« Lois lässt sich auf einen Stuhl sinken. »Als ich in dem Alter war, wollte ich zum Shoppen nach Amsterdam fahren, weil ich Alkmaar über hatte. Aber natürlich durfte ich das nicht. Also bin ich heimlich mit Tessa hingefahren. Meine Eltern haben einen Riesenaufstand gemacht, als wir weit nach dem Abendessen zu Hause eintrudelten. Wir haben einfach behauptet, dass wir uns die ganze Zeit im Einkaufszentrum herumgetrieben und am Ende nicht mehr nach Hause getraut hätten. Das hat auch gestimmt, nur haben wir die Tatsache unterschlagen, dass wir in Amsterdam gewesen waren.«
»Das kenne ich. Meine Tochter ist jetzt vierzehn und erzählt mir gar nichts mehr. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Mädchen von heute immer früher erwachsen werden.«
»Ich habe der Mutter gesagt, dass wir Britts Personenbeschreibung herausgeben und Streifenwagen losschicken.«
»Das sowieso. Ruf doch schon mal in der Haftanstalt in Vught an, ob der Vater wirklich einsitzt und ob sich da vielleicht zur Besuchszeit ein elfjähriges Mädchen gemeldet hat. Wenn sie mit dem Zug gefahren ist, müsste ihr Fahrrad am Bahnhof stehen. Bring das doch bitte in Erfahrung. Und erstatte mir danach sofort Bericht.«
Lois nickt und steht auf. Auf dem Weg zum Büro stößt sie beinahe mit ihrem Kollegen Fred Klinkenberg zusammen. Das lässt sich auch nur schwer vermeiden, denn Fred scheint mit jedem Tag runder und fülliger zu werden. Vor einem halben Jahr hatte er noch geplant, in Rente zu gehen, aber dann hatte er es sich anders überlegt und versucht seither, abzunehmen und seine Kondition zu verbessern.
»Ist irgendwas?«, erkundigt er sich, als Lois schnurstracks an ihm vorübereilt.
»Ein Mädchen ist verschwunden«, antwortet Lois über die Schulter hinweg.
»Soll ich dir helfen?« Fred folgt ihr ins Büro.
»Gerne. In neun von zehn Fällen taucht das Kind ja kurze Zeit später wieder auf, aber in diesem Fall habe ich ein ungutes Gefühl im Bauch.«
»Liegt das vielleicht an dem ganzen Gemüsesaft, den du in letzter Zeit trinkst?«, fragt Fred mit einem spöttischen Grinsen.
»So ein Glas von meinem Gemüsesaft würde dir auch nicht schaden, mein Freund«, kontert Lois. »Wie viele Kilos hast du jetzt schon verloren?«
»Fünf. Nanda meint aber, es hätten schon viel mehr sein müssen. Sie glaubt, dass ich heimlich bei der Arbeit esse.«
»Und, hat sie recht?«
»Hast du mich schon mal heimlich essen gesehen?«
»Ich habe wirklich andere Dinge zu tun, als auf dich aufzupassen. Willst du meinen Rat?«
»Dass ich auf dich hören soll, muss ich mir auch ständig von Nanda anhören. Aber wenn ich so leben muss wie du, sterbe ich lieber.«
»Keine Sorge, das passiert sowieso«, entgegnet Lois trocken.
Sie rollt mit dem Stuhl hinter ihren Schreibtisch und sucht im Internet die Telefonnummer von der Strafanstalt in Vught heraus.
»Schick mir doch eben mal die Unterlagen per Mail zu, dann kann ich schon mal zur Einsatzzentrale gehen und die Streifenwagen informieren«, bietet Fred an.
Lois schickt ihm das Dokument zu und greift zum Telefon. Zehn Minuten später weiß sie, dass Roy de Graaf tatsächlich wegen eines Raubüberfalls in Vught einsitzt und dass bislang kein junges Mädchen dort aufgetaucht ist.
»Vielleicht kommt sie ja heute Abend. Könnten Sie mich dann bitte anrufen?«, bittet Lois den Beamten am anderen Ende der Leitung.
Sie legt gerade den Hörer auf, als Fred zurückkommt.
»Die Kollegen halten nach ihr Ausschau. Sie suchen jetzt erst einmal an den Bahnhöfen Centraal und Noord nach ihrem Fahrrad. Ein rosafarbenes Mädchenfahrrad, das sollte nicht allzu schwer zu finden sein.« Fred blickt hoch, als Ramon das Büro betritt.
»Und?«, erkundigt sich ihr Teamleiter.
Lois dreht sich in ihrem Stuhl in seine Richtung. »Roy de Graaf sitzt tatsächlich in Vught, wegen eines Raubüberfalls. Britt wurde jedoch nicht gesichtet. Sie rufen uns an, falls sie auftaucht.«
Ramon nickt zufrieden. »Die Abteilung für Sittlichkeitsverbrechen hat einen Hinweis erhalten, dass sich in der letzten Zeit ein Mann in der Nähe der Turnhalle aufhielt«, berichtet er. »Heute Morgen war er auch wieder dort. Wenn dann kurze Zeit später ein Mädchen verschwindet, macht mir das Sorgen. Wir werden das weiterverfolgen.«
»Ein Pädophiler?« Lois klingt beunruhigt. »Wohnt denn einer in der Gegend?«
»Nicht nur einer«, bemerkt Fred finster. »Kümmert sich die Sitte darum?«
»Ich möchte erst einmal die Nachbarn befragen und mir ein genaueres Bild von dem Mann machen. Wie er aussah, ob er sich wirklich im Gebüsch versteckte oder sich einfach in der Nähe aufhielt und so weiter. Es kann sich genauso gut einfach um einen Vater handeln, der seine Tochter vom Turnunterricht abholte. Lois und Fred, ihr beide fahrt zu der Stelle, wo Britt zuletzt gesehen wurde, und sprecht mit den Anwohnern.« Ramon dreht sich zu den anderen Ermittlern um, die sich mittlerweile ebenfalls eingefunden haben. »Silvan, du durchforstest das Internet. Vielleicht war das Mädchen bei Facebook oder anderen sozialen Netzwerken angemeldet. Nick und Claudien, ihr sorgt dafür, dass auf der Website von Burgernet eine Vermisstenanzeige erscheint und alle auf der Plattform angemeldeten Bürger mit einer SMS-Benachrichtigung zur Mithilfe aufgerufen werden. Nehmt alle Hinweise auf und erstattet mir dann Bericht. In der Zwischenzeit kümmere ich mich darum, dass das Ermittlungsteam verstärkt wird. Also dann, an die Arbeit, Leute.«
4
Der erste Schritt bei einem Vermisstenfall besteht darin, so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Im zweiten Schritt wird dann die Stelle untersucht, wo die vermisste Person zuletzt gesehen wurde.
Zusammen mit Fred fährt Lois zu jenem Wohnviertel in Alkmaar-Noord, wo sich die Turnschule befindet, in der Britt drei Mal pro Woche trainiert. Lois und Fred stellen das Auto in der Nähe ab und gehen hinein. Sie haben einen Termin mit Ellen van Duijn, der Leiterin der Turnschule.
Als sie Frau van Duijn allein im Pausenraum befragen, gibt sie nach einigem Zögern schließlich zu, dass ihr aufgefallen ist, dass sich ab und an ein Mann im Gebüsch nahe der Turnschule aufhält. Sie hat ihre Beobachtungen auch der Polizei gemeldet, aber abgesehen davon, dass sie einmal vorbeigekommen sind, um nach dem Rechten zu schauen, als der Mann schon längst weg war, haben sie die Sache nicht weiterverfolgt.
»Das hat mich schon sehr irritiert«, bemerkt Ellen van Duijn vorwurfsvoll. »Ich fand die Angelegenheit äußerst beunruhigend, aber die Polizei hat dem keine Bedeutung beigemessen. So nach dem Motto: ›Tja, jetzt ist er nicht mehr da, da können wir leider auch nichts tun.‹ Ich habe die beiden Polizisten noch gefragt, ob sie nicht zumindest des Öfteren in der Gegend Streife fahren könnten, vor allem zu den Zeiten, wenn unsere Schülerinnen und Schüler kommen und gehen. Aber sie meinten nur, dafür hätten sie nicht genügend Personal. Und jetzt wimmelt es hier plötzlich nur so von Ermittlern. Wirklich, ein tolles Timing!«
»Und haben Sie selbst irgendwelche Maßnahmen ergriffen, Frau Van Duijn?«, erkundigt sich Lois. »Haben Sie zum Beispiel Ihre Schüler gewarnt oder den Eltern geraten, ihre Kinder immer persönlich zu bringen und abzuholen?«
»Na ja, ich habe so etwas in der Richtung natürlich angedeutet.«
»Aber Sie haben Ihren Schülern keinen Brief für die Eltern mitgegeben oder sie angerufen?«
»Nein.« Ellen blickt fassungslos und setzt zur Verteidigung an. »Ist es jetzt plötzlich meine Schuld, dass dieser Mann hier herumlungert? Wenn ich einen solchen Vorfall der Polizei melde, gehe ich eigentlich davon aus, dass sie etwas unternimmt. Oder soll ich vielleicht selbst mit der Waffe in der Hand nach draußen rennen und den Mann zur Rede stellen?«
»Nein, natürlich nicht, das hat auch niemand behauptet«, beschwichtigt Fred. »Können Sie den Mann denn näher beschreiben?«
Noch nicht gänzlich besänftigt, wendet Ellen sich ab, holt ein paar Mal tief Luft und denkt nach. »Ich konnte ihn nicht so gut sehen«, antwortet sie Fred schließlich. »Er trug eine grüne Jacke. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»War er groß, klein? Blond, dunkelhaarig? Trug er eine Brille?«, versucht ihr Fred auf die Sprünge zu helfen.
»Ich würde sagen, er war mittelgroß«, sagt sie zögerlich. »Er trug keine Brille und war, glaube ich, blond. Aber ich erinnere mich nicht mehr so richtig.«
»Aber Sie haben ihn doch mehrere Male gesehen, oder nicht?«, sagt Lois. »Ich kann mir vorstellen, dass man beim ersten Mal noch nicht so genau hinschaut, aber wenn jemand zum zweiten Mal auftaucht oder sogar zum dritten oder vierten Mal …«
Ellen wirft Lois einen irritierten Blick zu. »Er stand ja nicht direkt vor meiner Nase. Es ist gar nicht so einfach, jemanden auszumachen, der sich in einer grünen Jacke zwischen den Bäumen versteckt, auch wenn er schon zum zweiten, dritten oder vierten Mal dort steht.«
»Das ist verständlich«, bestätigt Fred und fährt unbeirrt fort: »Wenn wir Ihnen ein Foto zeigen, würden Sie den Mann wiedererkennen?«
»Haben Sie denn ein Foto von ihm?«
»Nein, im Moment noch nicht. Aber falls es erforderlich ist, würden wir Sie gerne um Ihre Hilfe bitten.«
»Dann stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung«, erklärt Ellen. »Die Sicherheit meiner Schüler hat schließlich Vorrang.«
»Zweifellos«, sagt Fred freundlich. »Könnten wir jetzt bitte mit Britts Turnlehrerin sprechen?«
»Natürlich. Ich hole sie eben.« Ellen nickt ihnen steif zu und verlässt erhobenen Hauptes den Pausenraum.
Als sie allein sind, grinst Fred Lois an. »Dir fällt es wirklich leicht, dir Freunde zu machen, was? Musstest du unbedingt so streng zu ihr sein?«
»Ach, es regt mich einfach auf, wenn die Leute immer alles besser wissen. ›Wir haben angerufen, aber die Polizei hat nichts unternommen‹. Dabei weiß ich genau, dass ein solcher Hinweis sehr wohl Konsequenzen hat. Pädophile stehen unter ständiger Beobachtung. Bei dem kleinsten Vorfall steht sofort die Sitte vor der Tür. Darüber habe ich mich erst letztlich ausführlich mit Christiaan und Jacco unterhalten.«
»Das können die Leute aber nicht wissen, weil wir bestimmte Informationen nicht weitergeben«, erinnert sie Fred.
»Nein, weil es Mord und Totschlag gäbe, wenn die Leute wüssten, dass in ihrer Nachbarschaft drei Pädos wohnen. Aber wenn ihnen ein verdächtiger Mann auffällt, der im Gebüsch herumsteht, kommt niemand auf die Idee, die Eltern zu informieren. Dann hätten die Eltern zumindest ihre Kinder vom Turnen abholen können. Das ist alles so scheinheilig, wenn du mich fragst.«
Fred bedeutet Lois, leise zu sein, und nickt zum Flur hin, wo eine blonde Frau mit Pferdeschwanz angelaufen kommt. Mit einem nervösen Lächeln betritt sie das Lehrerzimmer und stellt sich als Madeleine van Vliet vor.
Das Gespräch dauert nicht lange. Madeleine beschreibt Britt als ein fröhliches, lebenslustiges Mädchen mit einem außergewöhnlichen Talent fürs Turnen. »Sie ist sehr gelenkig und flexibel. Jeder kann turnen lernen, aber um auf einem höheren Niveau zu trainieren, muss man eine angeborene Eleganz besitzen. Und die hat Britt. Außerdem ist sie nicht ängstlich. Das ist auch sehr wichtig, denn bei vielen Übungen steht einem die Angst im Weg.«
Fred fragt, ob ihr an diesem Morgen irgendetwas an Britt aufgefallen sei. Ob sie sich anders verhalten habe als sonst oder vielleicht mit jemandem gestritten habe, und mit wem sie nach dem Training weggegangen sei.
»Ich weiß nicht recht«, antwortet Madeleine unsicher. »Mein Eindruck war, dass sie sich ganz normal verhielt. Britt ist ein aufgewecktes, aber eher zurückhaltendes Mädchen. Wenn sie also irgendetwas bedrückt haben sollte, wäre mir das nicht so schnell aufgefallen. Außerdem habe ich ihr heute die gute Neuigkeit überbracht, dass sie ins Auswahlteam kommt. Darüber hat sie sich sehr gefreut.«
»Wissen Sie, mit welchen Mädchen vom Turntraining Britt befreundet ist?«, erkundigt sich Fred.
Madeleine nennt die Namen von zwei Mädchen: Emma van Rijn und Leonie Dijkstra.
Während Fred die Namen notiert, befragt Lois die Lehrerin nach dem Mann im Gebüsch, doch Madeleine gibt an, dass sie ihn nicht selbst gesehen hat. Und nein, sie hat die Eltern auch nicht benachrichtigt, als sie von dem Spanner erfuhr. Wenn sie geahnt hätte, dass die Kinder in Gefahr sind, hätte sie das aber ganz sicher getan.
»Glauben Sie, dass dieser Kerl Britt entführt hat?«, fragt sie nun besorgt.
»Das wissen wir nicht«, erwidert Fred. »In diesem Stadium der Ermittlungen können wir aber nichts ausschließen.«
Und genau das ist das Problem, denkt Lois, als sie die Turnschule verlassen. Ein Vermisstenfall ist hochkomplex. Bei einem Mord weiß man, woran man ist; es gibt eine Leiche und einen Tatort. In diesem Fall hingegen ist es möglich, dass Britt einfach bei einer Freundin ist, aber genauso gut könnte ihr etwas zugestoßen sein. Das macht die Sache so schwierig.
5
Normalerweise braucht Britt mit dem Fahrrad eine Viertelstunde bis nach Hause, aber heute fährt sie langsamer als sonst. Es ist herrlichstes Frühlingswetter, und die Sonne scheint ihr warm auf den Rücken. Sie hätte ihre weiße Sommerjacke gar nicht anziehen müssen, so mild ist es. Britt schiebt die Ärmel ein Stück hoch. Alles hätte so schön sein können, wenn Emma jetzt neben ihr herfahren und wie sonst auch mit ihr fröhlich plaudern würde. Natürlich freut Britt sich immer noch über das Lob ihrer Trainerin, und eigentlich sollte sie schnell nach Hause radeln, um ihrer Mutter die guten Neuigkeiten zu überbringen, aber sie hat es nicht eilig. Ehrlich gesagt hat sie keine Idee, was sie jetzt den Rest des Tages anstellen soll. Emma und sie verbringen so viel Zeit miteinander, dass Britt nicht so recht etwas mit sich allein anzufangen weiß.
Emmas Reaktion hat ihr gründlich die Laune verdorben. Ist sie wirklich neidisch, nur weil sie ins Auswahlteam kommt? Vielleicht hat Emma ja inzwischen versucht, sie anzurufen. Britt angelt ihr Handy aus der Sporttasche, die am Lenker hängt. Dabei gerät ihr Fahrrad ins Schlingern, sodass sie vorsichtshalber anhält und absteigt. Emma hat sie nicht angerufen und ihr auch keine SMS geschickt. Dabei muss sie doch wissen, dass sie sich unfair verhalten hat. Britt bemerkt, dass der Akku fast leer ist, und erinnert sich selbst daran, dass sie später zu Hause das Ladekabel suchen muss.