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Die Schatten der Vergangenheit holen Anna ein: Band 4 der erfolgreichen Reihe "Dangerous Secrets" Anna wünscht sich nichts mehr, als ihrer Schwester Elsa zu helfen. Doch Elsa kommt nicht nur wunderbar allein zurecht, sondern will auch noch zu einer Weltreise aufbrechen. Erst als eine mysteriöse Krankheit im Königreich ausbricht bietet sich Anna endlich die perfekte Gelegenheit zu helfen. Sie entdeckt im Schloss einen geheimen Raum, findet einen Zauberspruch und hofft, dass sich mit ihm ihr Traum erfüllt, das Königreich von der Krankheit zu befreien. Doch stattdessen erwacht ein vollkommen anderer, entsetzlicher Traum zum Leben. Kann Anna den Schatten ihrer Vergangenheit entkommen?
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Für alle, die mutig genug sind, Angst zu haben.– Grand Pabbie
PROLOG
DER HIMMEL WAR WACH, und der Wald war es auch.
Anna von Arendelle umklammerte fest ihren Mantel, als die kahlen Äste wie Zähne über ihr klapperten und der Wind an ihren Zöpfen zerrte. Sie spähte in einen Busch. Soweit sie wusste, sollten Büsche keine Augen haben. Aber fünfjährige Prinzessinnen sollten sich nachts auch nicht allein außerhalb des Schlosses aufhalten. Und doch war sie hier … obwohl die Nacht für Anna nicht allein begonnen hatte. Ihre Schwester Elsa war auch irgendwo hier draußen im verschneiten Wald. Möglicherweise versteckte sie sich genau in dem Busch, an den Anna in diesem Moment auf Zehenspitzen heranschlich.
Drei Jahre älter als Anna, mit großen blauen Augen und einem schüchternen Lächeln, war Elsa die Art von Mädchen, die stundenlang still sitzen konnte, ohne mit den Beinen zu schwingen, und deren gepflegter weißblonder Zopf immer ganz gerade an ihrem Rücken herabhing. Erwachsene bemerkten oft, wie wohlerzogen Annas große Schwester war. Aber sie kannten Elsa nicht so, wie Anna sie kannte. Unter dem höflichen und ausgeglichenen Äußeren steckte ein schelmischer Sinn für Spaß. Alles, was Elsa brauchte, war eine Ausrede, und Anna war glücklich, genau das zu sein: Elsas Ausrede, um in ihren Mantel zu schlüpfen und sich aus dem Schloss zu schleichen, um einen Schneemann zu bauen und unter den Nordlichtern Verstecken zu spielen. Und genau das taten sie gerade. Anna suchte Elsa schon seit einer gefühlten Ewigkeit … oder zumindest seit fünf Minuten.
Die Blätter raschelten wieder, und Anna legte ihre Hände vor ihren Mund, um ein Kichern zu unterdrücken. Ja, da war auf jeden Fall jemand, der sie aus dem schneebedeckten Dickicht beobachtete. Sie hielt den Atem an und trat näher heran. Auch wenn sie sich ziemlich sicher war, dass es Elsa war, bestand immer die Möglichkeit, dass es ein Huldrefólk war. Jemand von den verborgenen Völkern, die in den Bächen lebten, unter den Felsen und in den Gutenachtgeschichten, die ihre Mutter, Königin Iduna, ihnen erzählt hatte. Annas Herz schlug schneller. Wenn es ein Huldrefólk war, musste sie einfach seinen Schweif sehen. Sie hatte sich immer gefragt, ob ihre Schweife wallend wie der eines Pferdes, buschig wie der eines Fuchses oder lang und dünn wie der einer Maus waren.
Sie drückte die Blätter auseinander und erhaschte im bunten Schein des tanzenden Himmels einen Blick auf blondes Haar. Also kein Huldrefólk. Nur eine Schwester.
Lachend schüttelte Anna den Busch. „Ich habe dich gefunden! Du bist dran mit Suchen!“
Elsa antwortete nicht.
„Ich sagte, ich habe dich gefunden.“ Anna spähte durch das Laub. „Ich bin mit Verstecken dran. Komm raus!“
Annas Schwester drehte den Kopf, und in dem Moment erkannte Anna ihren Fehler. Es war kein blondes Haar, das sie im wechselnden Licht gesehen hatte.
Es war weißes Fell.
Annas Schrei blieb ihr in der Kehle stecken, als ein riesiger weißer Wolf mit ungewöhnlicher Anmut aus dem Dickicht schlich. Sein grimmiger gelber Blick war auf sie gerichtet. Annas Augen fuhren an dem pferdegroßen Körper hinunter bis zu den vier furchterregenden Pfoten, jede so groß wie einer der großen Schilde ihres Vaters, König Agnarr.
Aber das war nicht das Schlimmste daran. Nein, das Schlimmste war das rot gefleckte Fell um seine Krallen und seinen Kiefer.
Rot. Die Farbe von Blut.
Was ist mit meiner Schwester geschehen?
„Elsa!“, schrie Anna. „Wo bist du?“
Der Wolf sprang.
Anna rannte.
Ihr Herz raste in ihrer Brust, jeder Atemzug war wie ein scharfes Messer, als sie versuchte, schneller und schneller zu rennen. Aber sie wusste, dass sie einem Wolf nicht entkommen konnte. Sie entdeckte einen umgestürzten Baumstamm, tauchte dahinter ab und presste ihre Knie an die Brust, um sich so klein wie möglich zu machen. Obwohl ihre Lungen nach Luft rangen, hielt Anna ihren Atem an, um sich nicht mit dem kleinsten Atemzug zu verraten.
Eine Sekunde verging, dann noch eine und noch eine. War sie dem Wolf entkommen?
Elsa. Wo war Elsa?
Vorsichtig spähte Anna um den Baumstamm herum und erwartete fast eine direkte Begegnung mit dem Wolf. Stattdessen sah sie nur eine Armee von Bäumen, die Schatten auf den schneebedeckten Boden warfen. Als der Wind auffrischte, wuchs auch Annas eiskalte Angst. Wenn sie durch den frischen Schnee lief, würde der Wolf ihre Spuren sehen können. Und wenn sie nicht durch den Schnee ging, würde sie ihre Schwester vielleicht nie wiederfinden.
Rot auf Weiß.
Blut auf Fell.
Anna konnte nicht ewig hinter dem Baumstamm bleiben. Sie legte ihren Mantel auf dem Boden aus und bündelte ihn in der Form eines fünfjährigen schlafenden Mädchens. Dann kauerte sie sich so klein wie möglich zusammen und machte einen langsamen, ruhigen Schritt rückwärts. Und dann noch einen und noch einen. Vorsichtig schlängelte sie sich zwischen den Bäumen hindurch, so wie die Huldrefólk in den Gutenachtgeschichten ihrer Mutter, damit sie ihre Schweife verstecken konnten. Aber Anna hatte keinen Schweif zum Verstecken. Stattdessen hinterließ sie eine frische Spur Fußabdrücke im Schnee. Fußabdrücke, die immer davon wegführten, wo sie war.
„Elsa …“, flüsterte sie dabei, „du hast das Versteckspiel gewonnen. Bitte komm jetzt raus.“
Aber es kam immer noch keine Antwort. Der Schnee fiel schneller, also bewegte sich Anna auch schneller, flitzte zwischen Bäumen hindurch, tauchte hinter Felsbrocken ab und suchte die ganze Zeit den verschneiten Wald nach einem Zeichen ihrer Schwester ab – nach irgendeinem Zeichen. Aber es war kein einziger Fußabdruck zu sehen. Es war, als wäre ihre Schwester ausgelöscht worden. Als ob … aber der Gedanke war zu schrecklich, als dass Anna ihn zu Ende denken konnte.
Irgendwo in der Nähe heulte der Wolf.
Anna erstarrte. Sie kannte dieses Geräusch. Es war das gleiche Geräusch, das die Jagdhunde ihres Vaters machten, wenn sie die Fährte eines Fuchses aufgenommen hatten. Der Wolf heulte wieder auf, aber dieses Mal etwas weiter weg. Annas falsche Fährte hatte funktioniert! Sie drehte sich um und rannte los. Die dicken Flocken klebten an ihren Wimpern und erschwerten ihr das Sehen.
„Elsa! Elsaaaa! El…“ Sie verschluckte sich an dem Wort.
Dort, vor ihr, stand nicht ihre Schwester, sondern der Wolf.
Einmal mehr waren seine grimmigen gelben Augen direkt auf sie gerichtet.
Wie war er ihr nur zuvorgekommen? Es gab keine Zeit zum Nachdenken – nur zum Rennen.
Annas ganze Welt bestand aus Schnee und Angst und Kälte und dann plötzlich – endlosem Himmel! Stolpernd blieb sie stehen. Sie stand am Rande einer Klippe. Vor ihr lag ein dunkles weites Nichts. Aber sie wusste, dass das, was hinter ihr lauerte, weitaus schlimmer war.
Heißer Atem.
Scharfe Krallen.
Noch schärfere Zähne.
„ELSA!“, schrie sie wieder.
Aber Elsa kam nicht. Wenn ihre Schwester nicht hier war, musste etwas Schreckliches passiert sein. Schmerz breitete sich auf Annas Schultern aus. Sie hatte zu lange gezögert. Die Krallen des Wolfs hatten sich in ihren Rücken gebohrt. Anna stolperte vorwärts.
Sie stürzte über die Kante –
Und wachte auf.
Eine kühle, beruhigende Hand lag auf ihrer Stirn, und als sie blinzelte, sah Anna das Gesicht ihrer Mutter vor ihren Augen schärfer werden. Die blaugrauen Augen der Königin leuchteten vor Besorgnis, und ihr kastanienbraunes Haar fiel in Wellen über ihre Schultern herab. Iduna hatte sich einen breiten burgunderroten Schal mit violetten Fransen und aufgestickten Schneeflocken über die Schultern geworfen. Er verdeckte ein lavendelfarbenes Nachthemd.
Anna schoss hoch. „Wo ist Elsa? Hat der Wolf sie erwischt?“
„Anna, es ist alles in Ordnung.“ Ihre Mutter setzte sich auf und legte einen Arm um sie. „Alles ist gut.“
„Da war Schnee“, sagte Anna, deren Herz immer noch wild klopfte. „Und Bäume! Ich bin gerannt, und dann … bin ich ausgerutscht!“ Sie setzte sich unbeholfen auf und lehnte sich an die Kissen. „Elsa war da, und dann war sie nicht mehr da. Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“
Ihr Vater trug ein Tablett mit Bechern heißer Schokolade zu ihnen. „Du hast schlecht geträumt“, sagte er. Sein rotblondes Haar, das er normalerweise ordentlich nach hinten gekämmt hatte, war zerzaust, als käme er gerade von einem nächtlichen Ausritt zurück. Aus irgendeinem Grund trug er seine marineblaue Uniform mit Abzeichen und goldenen Epauletten statt eines Nachthemds. Er bückte sich und stellte das Tablett auf den Nachttisch. „Elsa ist in ihrem Zimmer und schläft, wie wir alle es um diese Zeit tun sollten.“
Aber das schien nicht ganz zu stimmen. Das Letzte, woran sich Anna erinnerte, war, dass sie aus diesem Bett den tanzenden Himmel durch ihr Fenster beobachtet hatte und Elsa wecken wollte, um … etwas zu tun. Aber was?
Ihr Vater setzte sich neben ihre Mutter und reichte Anna einen warmen Becher. „Trink“, sagte er.
Dampf stieg aus dem Becher auf und bewegte sich mit der gleichen mühelosen Anmut wie der Wolf.
Anna zitterte immer noch, aber sie hatte noch nie eine heiße Schokolade abgelehnt. Sie nahm einen Schluck, und die Flüssigkeit wärmte sie von innen.
Ihre Mutter strich ihr liebevoll über das Knie. „Wenn ich schlecht träume, stelle ich mir immer vor, den Albtraum zu zerknüllen und ihn aus dem Fenster zu werfen, damit Frigg etwas anderes zum Fischen hat als den Mond und die Sonne. Erinnerst du dich an die alte Geschichte, die ich dir über den Fischer Frigg erzählt habe?“
Anna tat es, aber sie schüttelte den Kopf. Sie wollte, dass ihre Mutter weiterredete. Sie lehnte sich zurück, als ihre Mutter die Geschichte des angeberischen Fischers erzählte, der seine Netze nach immer größeren Gewinnen auswarf und sich dabei versehentlich in einem nächtlichen Ozean aus Sternen verfing.
Die Erinnerung an den Albtraum verblasste und wurde durch die Wirklichkeit ersetzt: ihr gemütliches Schlafzimmer mit den rosa Tapeten, dicken, prachtvollen Teppichen, einem ovalen Gemälde von Schloss Arendelle, das sie so gerne anschaute, und einem Wandteppich mit Königinnen und flackernden Kerzen in den Leuchtern an den Wänden. Obwohl keine Flammen im Kamin brannten, glühte noch etwas Asche. Aber ihre Eltern waren das gemütlichste Detail von allen. Annas Augenlider wurden schwer.
„Geht es dir besser?“, flüsterte ihr Vater, als ihre Mutter die Erzählung beendet hatte.
Anna nickte, und er lächelte.
„Mit heißer Schokolade ist immer alles besser“, sagte er.
„Wir sollten Elsa wecken.“ Annas Augen glänzten, als sie ihren leeren Becher hochhielt.
Fast hätte sie den flüchtigen Blick zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater verpasst. Es gab eine Veränderung im Raum, als wäre eine Wolke am Fenster vorbeigezogen.
„Elsa braucht Schlaf“, sagte ihre Mutter. „Und du solltest auch versuchen, etwas Ruhe zu bekommen. Agnarr, kannst du mir bitte das zusätzliche Kissen geben?“
Annas Vater stand auf und ging zu dem weiß gestrichenen Stuhl, der von seinem Platz an der Wand weggezogen worden war und nun zwischen Anna und dem Kamin stand. Ein Kissen und ein zerknüllter Stapel Decken lagen auf dem Boden um den Stuhl herum.
Anna sah vom Boden zu ihren Eltern auf. Sie blieben nur in ihrem Zimmer, wenn sie wirklich krank war … „Habt ihr hier geschlafen?“, fragte Anna. „Bin ich krank?“
„Dir geht es gut“, versicherte ihr Vater mit einem sanften Lächeln. Er hob das Kissen auf und legte es unter Annas Kopf, während ihre Mutter die Decken über ihr glatt strich, bevor sie das Licht löschte und mit Annas Vater zur Tür ging.
„Träum süß, Anna“, flüsterte ihre Mutter von der Tür aus.
„Träumt süß …“, murmelte Anna und sank tiefer in ihr Kissen.
Sie lauschte dem Geräusch der Schritte ihrer Eltern, die sich entfernten, dann drehte sie sich zur Seite und starrte aus dem Fenster.
Der Himmel schlief jetzt, und die Farbbänder der Nordlichter versteckten sich unter einem Flickenteppich aus Wolken. Aber der Mond schien hell. Er blickte auf sie herab wie eines der gelben Augen des Wolfs. Beobachtend. Wartend. Aber auf was?
Anna wurde wieder kalt, darum zog sie die Decke über den Kopf, aber einschlafen konnte sie nicht.
Sechzehn Jahre später …
KAPITEL EINS
ANNA FLOG DIE MIT TEPPICH AUSGELEGTE SCHLOSSTREPPE HINUNTER und nahm jeweils zwei Stufen auf einmal.
Auf dem Treppenabsatz wäre sie fast gestolpert, machte aber keine Anstalten, langsamer zu werden. Die Turmuhr hatte bereits zehn Uhr morgens geschlagen, und sie hatte Elsa versprochen, dass sie nicht zu spät kommen würde. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, das Geländer hinunterzurutschen. Es war wirklich die schnellste Art, nach unten zu kommen, aber mit einundzwanzig war sie zu alt für solche Dinge. Oder? Ja … aber …
Anna wurde langsamer. Das weiße Holz des Geländers war frisch poliert und glänzte, was eine hohe Geschwindigkeit versprach. Außerdem waren ihre neuen Reitstiefel mit Absätzen – das Geschenk eines Würdenträgers aus Zaria – noch nicht eingelaufen und nicht gerade die besten zum Rennen. Hastig warf sie einen Blick über ihre Schulter. Es war niemand in der Nähe. Anna fasste einen Entschluss, hob ihr Kleid hoch, warf ein Bein über das Geländer, rutschte den Rest des Weges hinunter und landete mit Leichtigkeit im ersten Stock. Sie flog durch die Schlosstüren und rannte nach draußen zu den Ställen.
„Elsa! Ich bin hier!“, flüsterte Anna, als sie durch die Stalltüren in die stille Welt aus süßem Heu und leise kauenden Pferden trat. Sie glättete die Rückseite ihres schwarzen Kleides und vergewisserte sich, dass ihr langes kastanienbraunes Haar immer noch von einem doppelten Zopf an Ort und Stelle gehalten wurde. „Ich bin nicht zu spät! Na ja …“, korrigierte sie, „nicht ganz so spät. Aber ich hatte gerade den faszinierendsten Traum, in dem …“ Ihre Stimme wurde leiser, und sie schaute sich um.
Ihr einziges Publikum waren die wachsamen Ohren der Schlosspferde und der Wurf der Stallkätzchen, die jedes Mal zum Stalleingang stolperten, wenn jemand eintrat. Aber von Elsa war nichts zu sehen. Verwirrt strich sich Anna die Haare aus der Stirn.
Irgendwie hatte sie es geschafft, Elsa zuvorzukommen, obwohl sie verschlafen hatte. Was seltsam war. Sehr, sehr seltsam. Elsa war immer pünktlich. Das war einer der vielen Gründe, warum sie so eine großartige Königin war und von allen in Arendelle geliebt wurde.
Sie hob ein schnurrendes graues Kätzchen hoch, das an ihren Schnürsenkeln zu ziehen begonnen hatte, und machte einen Schritt in Richtung des Stalllagers. Vielleicht war Elsa so früh hier gewesen, dass sie beschlossen hatte, die jüngste Lieferung von Äpfeln zu inspizieren. Um die Pferde nicht zu erschrecken, rief Anna noch einmal mit leiser Stimme: „Elsa?“
„Du suchst an der falschen Stelle“, rief eine freundliche Stimme aus dem hinteren Teil des Stalls. Eine Sekunde später tauchte Kristoffs Kopf über einer Stalltür auf. Er hielt eine Mistgabel in der Hand, und etwas Stroh ragte aus seinen Haaren.
Anna grinste. Das tat sie immer, wenn sie in Kristoffs Nähe war. Sie konnte nicht anders. Als Kristoff vor drei Jahren angefangen hatte, das Schloss häufiger zu besuchen, hatte Gerda beiläufig angemerkt, dass er den Bergen ähnelte, in denen er Eis erntete: breit und fest. Gerda war eine der Personen, die die Mädchen von klein auf kannten und die ihnen bei der täglichen Terminplanung halfen. Elsa hatte geflüstert, dass er „nett“ zu sein schien. Als Anna sie zu etwas mehr gedrängt hatte, hatte Elsa „blond“ hinzugefügt.
All das war wahr, aber für Anna war Kristoff nicht nur ein Mann der Berge oder „nett“ oder „blond“ – er war ihr bester Freund und definitiv noch mehr, auch wenn er manchmal wie ein Rentier roch. Was völlig verständlich war, da sein anderer bester Freund Sven ein Rentier war.
Svens Kopf lugte über die Stalltür, um Anna zu begrüßen. Obwohl Anna sowohl Sven als auch Kristoff mehrmals eingeladen hatte, sich in einem der vielen Zimmer des Schlosses einzurichten, zogen es beide vor, im Stall zu bleiben. Anna vermutete, dass sie den nicht beengten Raum in der Scheune genossen, nachdem sie die Sommermonate in den Bergen verbracht hatten, um Eis für das Königreich zu ernten.
„Sie ist nicht hier?“, fragte Anna und beugte sich vor, um das Kätzchen sanft abzusetzen. Es huschte davon und gesellte sich zu den anderen.
Kristoff schob seine Hand unter Svens Unterlippe und begann sie zu bewegen, während er mit verstellter Stimme sagte: „Da hört jemand nicht zu.“
Kristoff führte andauernd Dialoge für seinen Rentierfreund. Es war albern, aber sie liebte es, und so nahm sie „Svens“ Rat an und hörte auf ihre Umgebung. Anfangs konnte sie nur das gelegentliche Zischen eines Pferdeschweifs, der Fliegen verscheuchte, und das Miauen der herumtollenden Kätzchen ausmachen, aber schließlich erhob sich neben den üblichen Geräuschen ein merkwürdiges Summen, das sich anhörte wie …
„Oh!“ Anna machte große Augen und eilte zu einem kleinen Fenster am Ende des Stalls. Als sie hindurchspähte, sah sie genau das, was sie vermutet hatte: eine kleine Schar Dorfbewohner, die sich im Hof versammelt hatten. Und obwohl Anna nicht genau erkannte, wer oder was in ihrer Mitte war, wusste sie genau, wer es sein musste: Elsa.
Wo auch immer Elsa hinging, schienen ihr die Leute zu folgen. Sie kamen morgens und fragten sie, was sie am Nachmittag tun sollten, was sie am Abend tun sollten und was sie am nächsten Tag tun sollten. Elsas Tisch in der Ratskammer war immer mit Papieren überhäuft, und meistens erhaschte Anna nur einen flüchtigen Blick auf ihre Schwester, wenn Gerda sie von einem Termin zum anderen führte, wobei sie immer wie ein Metronom auf den übermäßig großen Kalender klopfte, um Elsa im Takt zu halten.
Elsas hektischer Zeitplan war im letzten Monat noch voller geworden, denn am Ende dieser Woche würde sie endlich der Tradition folgen, die ihr Großvater König Runeard begonnen hatte: zu einer großen Weltreise aufbrechen. In fünf Tagen würde Elsa vom Arenfjord, dem Gewässer, an dem Arendelle lag, aufbrechen und an Weselton und den Südlichen Inseln vorbeifahren, bevor sie nach Osten segeln würde, um Länder wie Zaria, Royaume, Chatho, Tikaani, Eldora und Torres zu erkunden, um nur ein paar zu nennen. Elsa würde jeden treffen: Würdenträger und Tänzer, Wissenschaftler, Maler und prämierte Bergziegen. Und sie würde ohne Anna unterwegs sein.
Als Kai, der in die Jahre gekommene Verwalter des Schlosses, zum ersten Mal erwähnt hatte, dass es für Elsa an der Zeit sei, ihre große Reise zu planen, hatte Anna angenommen, dass sie ihre ältere Schwester begleiten würde. Aber die Monate wurden zu Wochen und dann zu Tagen, und Elsa hatte sie immer noch nicht eingeladen. Und es war nicht so, als hätte Anna Elsa nicht viele Gelegenheiten dazu gegeben. Erst letzte Woche hatte sie ganz beiläufig erwähnt, dass es schon immer ein Traum von ihr gewesen sei, das Ballett in Chathoan zu sehen – und sie hatte es auf Chathoanisch gesagt. Vorher hatte sie Tage damit verbracht, ihre Aussprache zu perfektionieren. Doch bislang hatte keine von Annas Bemühungen gefruchtet.
Aber das sollte sich heute ändern. Zumindest hatte sie das geplant.
Anna runzelte die Stirn, als noch mehr Dorfbewohner mit bunten Tüchern und Jacken gekleidet durch das Schlosstor kamen und sich eilig zu der Menge um Elsa gesellten.
Die ganze Woche hatte Anna sich den Kopf zerbrochen und schließlich beschlossen, dass der perfekte Zeitpunkt heute Morgen war, während ihres letzten geplanten schwesterlichen Ausritts durch den Wald vor Elsas Abreise. Anna wusste, dass Elsa die Stille des Waldes als friedlich empfand, und sie hoffte darauf, den perfekten Moment zu erwischen, um Elsa zu fragen, ob sie mit ihr auf die große Reise gehen dürfte. Ein Ausritt bot zudem eine gute Gelegenheit, zu beweisen, dass Anna eine nützliche und hilfreiche Reisebegleiterin wäre. Aber das war ein Teil des Problems. Elsa schien keine Hilfe zu benötigen.
Obwohl Elsa erst vor drei Jahren zur Königin gekrönt worden war, wusste Anna jetzt bereits, dass ihre ältere Schwester als eine der großen Herrscherinnen von Arendelle in Erinnerung bleiben würde. So wie die Königinnen, die auf dem Wandteppich gegenüber von Annas Bett zu sehen waren. Ihre Schwester schien immer alles unter Kontrolle zu haben – sogar ihre magischen Kräfte –, und das mit einer königlichen Präsenz, die alle respektierten. Wann immer Elsa Anna zuhörte, gab sie Anna das Gefühl, etwas Besonderes und Wichtiges zu sein.
„Das ist so, seit sie hier ist“, erklärte Kristoff und stellte sich neben Anna ans Fenster. „Was …“, er warf ihr einen neckenden Blick zu, „vor einer halben Stunde war.“
„Ich weiß, ich weiß – ich habe verschlafen … schon wieder.“ Sie musste einen Weg finden, Elsa für ihren gemeinsamen Ausritt aus der Menge zu holen.
Etwas zerrte an Annas Fuß. Das kleine graue Kätzchen war zurückgekehrt und wild entschlossen, wie es schien, die hinterhältigen Schnürsenkel zu fangen.
„Hey, Kristoff?“, sagte Anna langsam und beobachtete immer noch das hartnäckige Kätzchen, das nur so groß wie ihre Handfläche war und dennoch an ihrem großen Stiefel zog und zurrte. „Ich habe eine Idee. Hast du einen Moment Zeit?“
„Für dich?“ Er zwinkerte. „Immer.“
Anna hob das Kätzchen hoch und legte es in Kristoffs Arme. „Perfekt! Also, das ist der Plan …“
Wenige Minuten später verließ Anna die Ställe und eilte hinaus zu der freundlichen Menschenmenge auf dem Hof. Als sie näher kam, hörte sie, wie Elsa mit Fragen bestürmt wurde.
„Eure Majestät, der Schornstein in unserer Schmiede hat Risse, und ich habe Angst, dass er nicht rechtzeitig vor dem Winter repariert wird“, rief Ada Diaz, eine Frau mit lockigen braunen Haaren, die neben ihrem Mann Tuva Diaz stand, der noch lockigeres braunes Haar hatte. Sie waren die besten Hufschmiede des Kontinents und bekannt dafür, die glückbringendsten Hufeisen herzustellen.
„Ich war zuerst hier“, schnauzte ein anderer bekannter Dorfbewohner Ada an, bevor er sich in Elsas Richtung drehte und verbeugte. „Eure Majestät, Ihr habt versprochen, dass die Felsen in meinem Garten bis zum Herbstanfang entfernt werden. Und seht …“ Er hielt ein rotes Eichenblatt hoch. „Es ist schon Herbst!“
„Ähem“, sagte ein anderer. „Die Dorfkrone wartet darauf, dass Ihr bekannt gebt, wer die Richter für das diesjährige Erntedankfest werden, Eure Majestät. Habt Ihr die Namen?“ Obwohl Anna den Sprecher nicht sehen konnte, wusste sie aufgrund seiner Stimme und seines knirschenden, besserwisserischen Hustens, dass es Wael war, der selbst ernannte Reporter des Dorfes, dessen glattes schwarzes Haar mustergültig zu seinen dunklen tintenbefleckten Händen passte.
Anna schlich sich an Elsa heran und zählte leise rückwärts. Drei … zwei … eins … Dann gab sie Kristoff ein Zeichen.
„Ach du meine Güte, Sven!“, verkündete Kristoff laut aus dem Eingang des Stalls. „Schau dir diese niedlichen Kätzchen an!“
„Die sind ja niedlicher als du!“, sagte er mit Svens Stimme.
Und während der kurzen Sekunde, in der sich jeder in der Menge zu den Kätzchen umdrehte, ergriff Anna Elsas Hand und zog sie zur Rückseite der Ställe und dann hinein.
„Anna!“, keuchte Elsa, als sie sich hinter einer Ecke versteckten, wo die gesattelten Havski und Fjøra, die schnellsten Pferde des Stalls, bereits auf sie warteten. „Was machst du da?“
Anna grinste. „Dich befreien!“
„Aber … die Dorfbewohner, sie brauchen meine Hilfe …“
„Ich weiß!“ Anna nickte. „Aber Kai und Gerda können sich um ihre Anliegen kümmern. Es ist wichtig, dass du ein letztes Mal ausreitest, bevor du in See stichst – nur um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Meinst du nicht auch? Außerdem … willst du nicht noch etwas Zeit mit mir verbringen?“
Obwohl sie schon den ganzen Morgen mit Beschwerden zu tun hatte, wirkte Elsa immer noch majestätisch und ruhig. Der Wind wehte durch eine offene Tür und blies in ihren durchsichtigen blauen Umhang und zerrte an ihrem Zopf. Einen Moment lang sah sie aus wie eine zeitlose, tapfere Königin aus einem von Annas Geschichtsbüchern. Aber in der nächsten Sekunde blitzte Anna ein Grinsen entgegen, und alles war wie früher – als sie zwei Kinder gewesen waren, die sich aus ihren Zimmern geschlichen hatten, um ein nächtliches Abenteuer zu erleben.
„Ich denke, ich könnte Kai und Gerda die Sache überlassen – nur dieses eine Mal“, überlegte Elsa.
Anna stieß einen Freudenschrei aus. Sie schwang sich auf Havskis Rücken, während Elsa einen Moment brauchte, um auf Fjøra zu klettern, ein schönes Pferd mit einem schwarz-weiß gestreiften Schweif. Sie trabten aus den Ställen und verließen den Hof, wobei Anna Kristoff zuwinkte, der unter einem Knäuel aus Kätzchen hervorlächelte, die ihre Tatzen in sein Gesicht schlugen.
Die Schwestern überquerten die Bogenbrücke und sogen die frische Herbstluft ein. Hinter ihnen, eingebettet in den Schatten der hohen Berge, funkelte das Schloss. Anna trieb ihr Pferd in den Galopp, und Elsa schloss sich ihr an.
Arendelle war ein Königreich der Wildnis, der zerklüfteten Küsten, der tiefblauen Gewässer und der gewaltigen Schiffe. Viele, viele Schiffe. Sie kamen von überall und brachten Menschen aus der ganzen Welt her, die glücklich waren, sich in dem malerischen Königreich niederzulassen. Menschen, die gerne Annas Einladung annahmen, ihre Erinnerungen an ihre eigenen Länder zu teilen, damit sie etwas über ihre Bräuche lernte. Erinnerungen, die Anna helfen könnten, Elsa auf die große Reise vorzubereiten … wenn Elsa sie nur lassen würde. Denn während die Schiffe Menschen ins Königreich brachten, verließen sie es auch mit Menschen. Das königliche Schiff lag derzeit beladen mit Waren im Hafen und wartete darauf, dass Elsa an Bord ging.
Als sie an ihrem stetig wachsenden Dorf vorbeiritten und die Menschen ihnen aufgeregt zuwinkten, erfüllte ein freudiges Prickeln Annas Körper. Das war das Beste an der Öffnung des Königreichs vor drei Jahren gewesen – all die neuen Leute und Ideen, die ihr Königreich bereicherten. Arendelle würde immer Annas Herz und Heimat sein. Das war eine Sache, die sich nie ändern würde.
Als sie die Häuser und Läden hinter sich ließen, blühte der Wald von Arendelle um sie herum in leuchtenden Gelbtönen, tiefem Rot und einem bräunlichen Orange auf, das Anna an Lagerfeuer und geschmolzene Karamellbonbons erinnerte. Sie seufzte glücklich. Die Herbstblätter hatten gerade begonnen, sich zu verfärben, und die Lebewesen des Waldes schienen damit zurechtzukommen, so wie Elsa in die Rolle der Königin gefunden hatte. Anna mochte Veränderungen nicht besonders. Sie wollte, dass die Dinge so blieben, wie sie waren.
Die Pferde wurden langsamer und fielen in einen leichten Trab. Anna fragte sich, ob jetzt der richtige Moment war. Sie blickte zu Elsa hinüber. Ihre Schwester trug einen fernen und nachdenklichen Blick auf ihrem Gesicht.
„Worüber denkst du nach?“, fragte Anna.
„Oh.“ Elsa blickte von ihren Zügeln auf. „Über nichts … nur, du weißt schon, über die Arbeit.“
„Willst du es mir erzählen?“, fragte Anna und versuchte, ihren Eifer nur etwa auf Stufe acht zu halten statt auf der üblichen Stufe zehn. „Du weißt doch noch, was Vater immer gesagt hat, oder?“
Elsa legte den Kopf schief. „Dass Sorgen geteilt werden sollten?“
Etwas kratzte Anna in der Kehle wie ein rauer Krümel, der feststeckte. Denn die Sorgen und Geheimnisse ihrer Familie waren nicht für jeden bestimmt gewesen. Zumindest waren sie es nicht für Anna gewesen. Ihr Vater hatte Annas Erinnerungen an Elsas Eismagie von einem Bergtroll wegschließen lassen und zusammen mit ihrer Mutter und Elsa alles versucht, um es vor Anna geheim zu halten.
Und es war ein sehr, sehr großes Geheimnis geblieben, bis zu Elsas Krönungstag, als Anna es mit der neuen Königin ein wenig zu weit getrieben hatte und Elsa die Kontrolle über ihr Temperament – und ihre Eiskräfte – verloren hatte. Was ihr damals so schrecklich erschienen war wie der riesige und ewige Winter, der sich anschließend im Königreich eingenistet hatte. Aber im Nachhinein betrachtet war es das Beste gewesen, was Anna je passiert war. Es war nicht nur der Beginn einer neuen Ära mit ihrer Schwester gewesen, sondern Anna hatte es auch gerade noch geschafft, eine sehr … übereilte … Heirat mit einem Prinzen zu vereiteln, der sie betrogen hatte.
„Nee! Nicht das!“ Anna schüttelte den Kopf und wünschte, sie könnte das unangenehme Gefühl abschütteln. „Das andere Sprichwort – das über viele Hände, die leichte Arbeit machen.“
Elsa lachte. „Er kannte eine Menge Sprichwörter, nicht wahr?“
Anna wartete darauf, dass Elsa weiterredete, aber die schien vergessen zu haben, dass Anna neben ihr ritt.
„Hey, Elsa?“, versuchte sie es erneut.
„Hmm?“
„Ich wette, ich bin vor dir auf der Lichtung!“
„Was?“
Aber Anna hatte Havski bereits wieder zum Galoppieren gebracht. Das Pferd stürmte vorwärts und füllte Annas Herz mit Leichtigkeit. Der Ritt auf dem Grauschimmel war wie der Ritt auf einer Lawine – schnell, aufregend und kraftvoll. Ohne nachzudenken, ließ sie die Zügel los.
„Was machst du da?“, rief Elsa hinter ihr her.
„Fliegen!“, rief Anna zurück. Sie streckte ihre Arme aus. Kühler Wind strömte über ihr Gesicht. Er schien das Gefühl der Enge wegzublasen, das sich in ihrer Brust festgesetzt hatte, seit Elsa angekündigt hatte, dass sie gehen würde. Elsa schrie etwas, aber der Wind fegte ihre Worte weg.
„Was?“ Anna warf einen Blick über ihre Schulter.
„AST!“, schrie Elsa wieder.
Anna schwang gerade noch rechtzeitig nach vorn, um dem tief hängenden Ast einer Birke auszuweichen. Kichernd umarmte sie Havskis Hals, und das Pferd schnaubte als Antwort, ohne das Tempo zu verringern. Und warum sollte er auch? Sie waren zusammen aufgewachsen, und für lange Zeit war er das gewesen, was Anna am ehesten als ihren besten Freund bezeichnen würde. Sie waren zusammen dickeren Ästen ausgewichen und über breitere Flüsse gesprungen. Sie nahm die Zügel wieder in die Hände, hielt sie locker und ließ Havski in einen atemlosen Galopp verfallen.
Allmählich wurden seine Schritte kleiner, und er ging in einen leichten Trab über, bevor er eine moosbewachsene Lichtung erreichte. Ein Knirschen und das Geräusch von knackenden Zweigen ertönten. Anna drehte sich gerade noch rechtzeitig im Sattel um, um zu sehen, wie Elsa und Fjøra auf die Lichtung stürzten. Ein einzelnes scharlachrotes Blatt hatte sich in Elsas Haar verfangen, und es sah fast so aus, als hätte der Wald sie zu seiner Herbstkönigin gekrönt.
Anna grinste. „Macht das nicht Spaß?“
Elsa zupfte das Blatt von ihrem Kopf, betrachtete es und lachte. „Doch, das macht es“, stimmte sie zu.
Anna fühlte sich, als schiene eine Miniatursonne in ihrer Brust.
Elsa war endlich angekommen und sah sich mit neugierigen Augen in der Landschaft um. Sie schien sich wohlzufühlen und wirkte entspannt. Vielleicht war es Zeit für Anna, endlich ihre brennende Frage zu stellen. Als sie nach links abbogen, kamen sie an einem schönen Obstgarten mit leuchtend roten Äpfeln und Herbstblättern vorbei, die so orange waren, dass die Welt aussah, als wäre sie in Flammen aufgegangen. Äpfel. Perfekt.
Anna zeigte auf die Früchte. „Wusstest du, dass auf der königlichen Flagge von Zaria ein Apfel abgebildet ist?“, fragte sie so beiläufig wie möglich. „Das liegt daran, dass es üblich ist, dass ein Gast dem Gastgeber einen Apfel schenkt.“ Eine Sorge stach in ihre Gedanken. „Dein Schiff hat doch Äpfel an Bord, oder?“
„Ja, Anna, du hast doch dafür gesorgt! Wenn ich noch mehr Fässer mit Geschenken mitnehme, wird mein Schiff zu schwer sein, um den Hafen zu verlassen!“
Anna strich sich den Pony aus den Augen und lachte. „Was würdest du nur ohne mich tun?“ Sie brachte Havski sanft zum Stehen. „Elsa, ich wollte dich etwas fragen. Ich habe mich gefragt, ob ich dich begleiten …“ Aber bevor sie zu Ende sprechen konnte, legte Havski seine Ohren an, als es im Gebüsch raschelte.
Eine Dorfbewohnerin brach schwer keuchend aus dem Unterholz und hob ihren grünen Rock an, um besser laufen zu können.
Anna brauchte einen Moment, um sie einzuordnen – es gab momentan so viele neue Dorfbewohner in Arendelle –, aber dann erkannte sie SoYun Lim, ein Mädchen in Annas Alter, das vor Kurzem angefangen hatte, Rinder auf einer Farm in ihrer Nähe zu hüten. Anna hatte im Sommer auf einem der Lagerfeuerabende auf dem Schloss im Rahmen ihrer Recherche für Elsas große Reise mit ihr gesprochen und sie über ihr Heimatland Chatho befragt. Tatsächlich war SoYun diejenige gewesen, die Anna geholfen hatte, ihren chathoanischen Akzent zu perfektionieren.
Das Mädchen schien immer so ruhig wie ein See an einem windstillen Morgen. Ihre gelassene Art beruhigte die Tiere, die sie hütete. Doch die SoYun, die jetzt vor ihr stand, war zerzaust. Ihr tiefschwarzer Zopf, der normalerweise so gerade und ordentlich wie eine Wäscheleine herabhing, war ein Wirrwarr aus Strähnen. Außerdem hatte sie zwei verschiedene Stiefel an – der linke Fuß steckte in einem hohen schwarzen Stiefel, während sie am rechten Fuß einen weichen braunen Lederstiefel trug. Aber es war nicht der seltsame Zustand ihrer Kleidung oder ihrer Haare, der bei Anna die Alarmglocken läuten ließ. Es war der Ausdruck des Mädchens – mit großen Augen, als hätte sie einen Geist gesehen – und die verrückte Art, auf die sie mit den Armen fuchtelte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
„Eure Majestät!“ SoYun wippte mit dem Kopf in eine Richtung und verbeugte sich leicht. „Gott sei Dank habe ich Euch eingeholt – etwas Schreckliches ist passiert!“
KAPITEL ZWEI
„SOYUN! WAS IST PASSIERT?“ Anna schwang sich von Havski, landete in einem Laubhaufen und eilte auf sie zu.
„Es ist mein Vieh“, stöhnte SoYun und schaute von Elsa, die vorsichtig von Fjøra abstieg, zu Anna hinüber.
„Es ist … oh!“ SoYun schüttelte den Kopf. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll!“ Tränen standen in ihren Augen.
Anna öffnete den Mund, um zu antworten, hielt sich dann aber zurück, um Elsa eine Chance zum Reden zu geben.
Elsa trat ein wenig näher. „Wie wäre es, wenn du uns zu deinem Vieh bringst und uns unterwegs alles darüber erzählst? Sag einfach, was dir als Erstes einfällt, und wir fügen es zusammen. In Ordnung?“
SoYun schnäuzte sich und nickte dann. „Es ist gleich da oben“, erklärte sie und ging so schnell los, dass es fast unter Rennen hätte fallen können. Die Schwestern hielten die Zügel ihrer Pferde fest, folgten ihr und versuchten, SoYuns Geschichte zu verstehen, während diese sie erzählte.
„Es begann vor ein paar Tagen, als ich versuchte, das Vieh herbeizurufen. Ihr wisst, wie einfach es normalerweise funktioniert.“
Anna wusste es. Das Herbeirufen des Viehs war ein alter arendellianischer Brauch, bei dem die Menschen ihre Tiere mit gesungenen hohen Tönen nach Hause riefen. Es bedurfte viel Übung und Kontrolle, um es richtig zu machen, da es so viel mehr war als nur ein einfacher Ruf. Es war ein feenhafter Klang. Ein Klang, der die Haare in Annas Nacken aufstellte und sie – wirklich, wahrhaftig, zutiefst – für einen einzigen Augenblick wissen ließ, dass jeder Unterschied zwischen ihr und der Erde und dem Wind und dem Himmel nur eine Illusion war. SoYun war eine der besten Viehtreiberinnen des Dorfes. Sie hatte nie Probleme damit gehabt. Und wenn Kühe nicht nach Hause kamen, baten die Leute immer SoYun um Hilfe.
„Ich ging also hinaus auf die Felder“, fuhr SoYun fort, „und versuchte, sie nach Hause zu singen. Aber …“ Ihre Schultern sackten nach unten. „Sie kamen nicht. Nicht einmal, als ich mein Bukkehorn herausholte. Ich suchte nach ihnen, und als ich sie endlich fand …“ SoYuns Stimme brach.
„Was ist passiert?“, drängte Elsa, als sie ein Wäldchen mit Ahornbäumen durchquerten und auf eine Wiese am Fuße eines blauen Berges kamen. Auf ihr konnte Anna ein gepflegtes Bauernhaus zwischen goldenen Feldern ausmachen, neben dem eine Rinderherde um einen großen weißen Felsbrocken kreiste.
„Das ist passiert.“ SoYun führte sie weiter. Als sie näher an die Herde herankamen, bemerkte Anna, dass die Kühe gar keinen weißen Felsbrocken umkreisten, sondern einen schlafenden Stier.
„Das ist Hebert“, sagte SoYun. „Der Anführer meiner Herde.“
Hebert. Der Name kam Anna sehr bekannt vor, und sie erinnerte sich, dass ein Jahr zuvor während des Erntedankfest-Wettbewerbs ein großer kräftiger Bulle mit diesem Namen den ersten Platz gewonnen hatte. Aber das Fell dieses Bullen war so schwarz wie ein Rabenflügel gewesen, während dieses Tier vollkommen weiß war.
SoYun holte zitternd Luft. „Vor ein paar Tagen bemerkte ich, dass er ein paar weiße Fellhaare hatte, was nicht allzu seltsam war. Er kommt eben in die Jahre. Aber dann, am nächsten Morgen, nahm das Weiß ziemlich dramatisch zu, bis er so aussah, wie Ihr ihn jetzt seht.“
Elsa hob die Augenbrauen, als wollte sie sagen: Das ist alles? Etwas weißes Fell?
Aber Anna erinnerte sich daran, wie eine Locke ihres eigenen Haares in ihrer Kindheit durch Elsas Eiszauber weiß geworden war.
SoYun zupfte an dem Ende ihres langen Zopfes und biss sich auf die Unterlippe. „Aber ich hätte Euch nicht nur deswegen belästigt, Eure Majestät. Da ist … da ist noch mehr.“
„Zum Beispiel …“ Anna wandte ihren Blick nicht von der Gestalt des schlafenden Stieres ab, dessen große Hörner spitz gen Himmel zeigten.
„Hebert hat sich auch ein paar Tage lang komisch verhalten. Zuerst schien es, als hätte er Angst vor etwas, das er nicht sehen konnte, so wie ein Draug“, sagte SoYun und bezog sich damit auf einen furchterregenden Zombie aus der Mythologie, von dem Anna an Lagerfeuern in der Burg gehört hatte. „Und dann rannte er auf dem Feld herum, bis er in panischen Schweiß ausbrach, der sein Fell weiß zu färben schien. Und schließlich wurden seine Pupillen weit, riesig, bis seine Augen komplett von tiefem Schwarz verschluckt wurden.“ SoYun machte große Augen, als sie sie ansah. „Zuletzt fing er an zu stöhnen, als hätte er furchtbare Schmerzen, fiel um und schlief ein.“
Anna tauschte einen verwirrten Blick mit Elsa aus. Normalerweise hielt Anna Schlaf nicht für etwas Schlechtes. Im Gegenteil, je mehr Schlaf sie bekam, desto besser.
Elsa schaute überrascht. „Einschlief?“, fragte sie.
„Ja.“ SoYun nickte energisch. „Aber es ist kein gewöhnlicher, sondern ein sehr tiefer Schlaf. Egal, was wir tun – schreien, ihn schütteln, ihn mit Wasser bespritzen –, er wacht nicht auf. Das geht schon seit Tagen so, was bedeutet, dass er auch nichts gegessen hat.“
Jetzt, da SoYun es erwähnt hatte, bemerkte Anna die Rippen des Stieres, die deutlich zu sehen waren. Das weiße Fell verdeckte sie so weit, dass man ihn sich nicht als einen Haufen Knochen vorstellen konnte, die von der Sonne gebleicht waren. Anna wickelte ihre Finger in Havskis lange, seidige Mähne. Sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn ihm so etwas zustoßen würde. Gleichzeitig zerfiel jeder Gedanke, den Anna über eine Verbindung zwischen ihrer einst weißen Haarsträhne und dem weißen Stier gehabt hatte. Denn als Elsa ihre Haarsträhne in Weiß verwandelt hatte, war Anna Gefahr gelaufen, zu Eis zu werden und nicht einzuschlafen.
SoYun blickte von dem Stier zu den Mädchen, und eine Träne lief ihr über die Wange. „Er wird direkt vor unseren Augen immer schwächer, und die anderen Rinder zeigen bereits ähnliche Symptome!“ SoYun zeigte auf eine süße Kuh mit langen Wimpern und Augen, die sich hin und her bewegten wie das Pendel in einer Standuhr. Es war, als ob die Kuh mit ihren Augen etwas verfolgte, das nicht da war. Oder, besser gesagt, sie verfolgte etwas Unsichtbares, das nur die Kuh selbst sehen konnte.
„Was, wenn …“, fuhr SoYun fort, „… wenn sie alle in den Tiefschlaf fallen und dann …?“ Die Angst in der Stimme des Mädchens war greifbar und stark.
Anna drückte sie fest an sich. „Es wird ihnen wieder gut gehen“, versprach sie. „Mach dir keine Sorgen. Wir werden einen Weg finden zu helfen, nicht wahr, Elsa?“
Elsa streckte die Hand aus und klopfte SoYun ein paar Mal sanft auf die Schulter. „Ja. Es war genau richtig, es mir zu sagen.“
Mir. Dieses kleine Wort hallte durch Annas ganzen Körper. Es hatte mal eine Zeit gegeben – da war sie sich sicher –, in der Elsa uns gesagt hätte.
Anna drehte sich zu Elsa um. „Ich habe eine Idee“, flüsterte sie. „Wir sollten die Trolle aufsuchen.“ Obwohl sie nur halb so groß wie Anna und mit Moos bedeckt waren, gehörten die winzigen Bergtrolle zu den mächtigsten Geschöpfen, die sie kannte.
Grand Pabbie, der älteste und wohl auch weiseste der Trolle, nutzte manchmal das leuchtende Polarlicht, um einen Blick auf das zu werfen, was sein könnte – oder gelegentlich auch, um mit Angelegenheiten umzugehen, die mit Magie zu tun haben könnten. Wenn jemand SoYun und ihrem Vieh helfen konnte, dann waren es die Trolle, da war Anna sicher. Denn wie sie gelernt hatte, war es bei mysteriösen Ereignissen am besten, mystische Wesen aufzusuchen, um Antworten zu erhalten.
Elsa lächelte. „Das ist eine großartige Idee, aber ich fürchte, wir haben nur Zeit, um in der Schlossbibliothek nachzusehen. Warum versuchen wir das nicht zuerst? Denk daran, was Vater immer gesagt hat.“
Anna runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern, auf welchen der vielen Sprüche sich Elsa beziehen könnte. „‚Anna und Elsa, verlasst euch immer aufeinander, wenn ihr Hilfe braucht‘?“,vermutete sie.
Ein leichtes Lächeln legte sich auf Elsas Lippen, obwohl es mit einem Hauch Traurigkeit getüncht war. „Das hat er gesagt. Aber er sagte auch: ‚Die Vergangenheit findet immer einen Weg zurück in die Gegenwart.‘ Wir sollten herausfinden, ob das schon einmal passiert ist, und zumindest Informationen sammeln, die für die Trolle nützlich sein könnten.“
Diesen Einwand fand Anna sehr gut und war plötzlich ganz aufgeregt bei dem Gedanken, gemeinsam in der Bibliothek nachzusehen. Beide Schwestern genossen es, sich dort mit einem guten Märchenbuch einzukuscheln, aber die Bibliothek enthielt auch Bücher über die Geschichte des Königreichs, der königlichen Familie und der Stadtbewohner. Wenn irgendein Ort im Schloss Antworten darauf hatte, dann dieser.
„Hilft irgendetwas gegen die Symptome?“, fragte Elsa SoYun.
SoYun, die sich hingekniet hatte, um Heberts Nase zu streicheln, blickte auf. „Minze scheint ihnen zu helfen, aufmerksam zu bleiben. Der Geruch ist scharf in ihren Nasen, aber er hält nicht lange an.“
„Minze“, wiederholte Elsa. „Ich werde das auf jeden Fall in den Bericht schreiben. Erinnere mich bitte daran, Anna.“
Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass sie alles Wesentliche über die Symptome aufgenommen hatten, verabschiedeten sie sich von SoYun, Hebert und dem Rest des Viehs.
Als Anna sich auf Havskis Rücken hievte, rief sie noch: „Mach dir keine Gedanken, SoYun! Wir bekommen das schon hin. Ich verspreche es.“
Anna und Elsa verbrachten den Rest des Nachmittags in der Schlossbibliothek. Bisher hatten sie keine Erwähnung in der Geschichte von Arendelle gefunden, dass krankes Vieh jemals in einen scheinbar endlosen Schlaf gefallen wäre. Das bedeutete, dass es keine Vorschläge für ein Heilmittel gegen die Fäule, wie Elsa beschlossen hatte, diese Schlafkrankheit zu nennen, gab.
Elsa saß auf der Fensterbank und blätterte in einem Buch, während Anna sich auf der Couch vor dem Kamin ausstreckte und ein Buch zum Lesen hochhob.
Ein scharfes Klopfen ertönte in der Bibliothek, gefolgt von Kais dringlicher Stimme. „Eure Majestät, seid Ihr da drin?“
Ende der Leseprobe
