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Für Mulan ist die Familie heilig. Trotz ihrer temperamentvollen und manchmal ungeschickten Persönlichkeit, die so ganz anders ist als die ihrer sanften und anmutigen Schwester Xiu, sind die beiden jungen Frauen eng miteinander verbunden. Als Xiu von einer giftigen Spinne gebissen wird, zögert Mulan, die alles tun würde, um sie zu retten, keine Sekunde und macht sich auf den Weg, um die Hilfe eines berühmten Heilers in Anspruch zu nehmen. Doch schon bald muss sie feststellen, dass es sich nicht um den Biss einer gewöhnlichen Spinne handelt - und auch der seltsame Heiler verbirgt offensichtlich ein Geheimnis. Als Mulan ihm folgt, um das Gegenmittel zur Rettung ihrer Schwester zu finden, begibt sie sich auf eine Reise, die alles übertrifft, was sie sich je hätte vorstellen können. Eine Reise mit außergewöhnlichen Hindernissen, vielen Geheimnissen und der Entdeckung einer seltsamen Prophezeiung, die vielleicht das größte Geheimnis ihrer Familie birgt.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Für meinen Partner Alex, der unsere realen Leben am Laufen hält, während ich über fiktive schreibe.G. L.
Prolog
ES GEFIEL IHR NICHT, wenn sie sich in Spinnen verwandelten. Als Spinne war ihre Sicht getrübt, und alles sah aus, als bestände es aus Rauch. Aber sie konnte noch genug erkennen, um Daji zu folgen. Selbst im Schatten schien die weiße Spinne zu leuchten. Eines von Dajis magischen neun durchsichtigen Beinen berührte sie und strafte sie mit dem Schmerz einer Ohrfeige. Daji konnte sich nicht erklären, warum sie so oft versagt hatten. Wie oft hatten sie das schon getan? Wie viele Jahre, nur um wieder zu scheitern?
Die weiße Spinne klopfte ungeduldig mit einem Bein auf den Boden, und sie kannte die Botschaft hinter den blitzenden Augen. Nimm das richtige Mädchen, verlangten die Augen. Daji empfand das andere Mädchen als lästige Plage. Sie war immer im Weg und hielt sie ständig mit ihren trampelnden Füßen oder plötzlichen Bewegungen auf.
„Offensichtlich ist sie nicht diejenige, die wir brauchen. Dieses ungeschickte Kalb könnte den Kaiser niemals retten. Wir wollen also ganz sicher die andere“, hatte Daji gesagt.
Es war also die andere, zu der sie schlichen. Das Mädchen, das nach Stickgarn und gewebtem Stoff roch. Die Kleine mit sauberen, halbmondförmigen Fingernägeln und glattem Haar, das fast so glitzerte wie das Gift, das aus den Spinnenzähnen tropfte. Sie bewegten sich aus dem Schatten heraus. Krabbelten. Beobachteten. Krabbelten. Unbemerkt glitten sie über den Boden und das Tischbein hinauf. Dann verschwanden Dajis Spinnenbeine in den Ärmelfalten vom Oberteil des Mädchens. Sie waren näher dran als jemals zuvor. Und sie kamen immer näher.
Die weiße Spinne sprang vom Ärmel auf die Hand des Mädchens – die Haut war so weich und zart wie ein frisch gedämpfter Knödel. Das Mädchen keuchte, aber es war zu spät. Daji hatte ihre Reißzähne bereits tief ins Fleisch getrieben. Endlich, sagte das Glitzern in den Augen. Das Mädchen schrie auf.
Die Tür flog auf. Das andere Mädchen, das nach Pferd und Hühnerfedern roch, stürzte herein. „Was ist passiert?“, rief sie. „Xiu! Was ist denn los?“
„Die neunbeinige Spinne!“, keuchte das erschrockene Mädchen und umklammerte die starken Arme ihrer Schwester. „Die Spinne! Sie hat mich gebissen! Oh, Mulan!“
KAPITEL 1
Hua Mulan
HUA MULAN SPÜRTE Black Winds Mähne in ihrem Gesicht, als sie das Pferd anspornte, schneller zu laufen. Der Mann, der hinter ihr saß, war groß, schien aber nicht schwer zu sein, denn Black Wind beschleunigte sein Tempo mit Leichtigkeit. Trotzdem machte sich Mulan Sorgen. Schneller, dachte sie, wir müssen schneller reiten.
Sie trieb das Pferd über ein Feld – eine Abkürzung, die nur sie kannte –, und der Staub, den Black Winds Hufe aufwirbelten, stieg wie Rauch hinter ihnen auf. Sie galoppierten den Hang hinauf, und die sonnenbeschienenen Halme breiteten sich zu beiden Seiten vor ihnen aus, als die terrassenförmig angelegten Reisfelder und das Ackerland in Sicht kamen.
Hier würde es schneller gehen, als der Straße zu folgen, das wusste Mulan. Aber sie wusste auch, dass Ma oder einer der Dorfbewohner verärgert den Kopf schütteln würden, wenn sie sie sähen. Denn Mulan schien immer von der Straße abzuweichen.
Aber sie konnte den Blick der alten Tante Ho nicht vergessen. Als Tante Ho Mulans Schwester gesehen hatte, waren ihre Falten steif geworden, als wären sie aus Holz geschnitzt. Xiu war bleich wie der Mond und heiß wie Feuer. Sie lag reglos da und konnte ihre Augen nicht mehr öffnen.
„Mulan“, hatte Tante Ho gesagt, und die Sorge war deutlich in ihrer Stimme zu hören gewesen, „deine Schwester braucht mehr Hilfe, als ich ihr geben kann. Im Dorf der Familie Lu ist ein Heiler zu Besuch. Nimm dein Pferd und hole ihn her. Wenn du dich jetzt auf den Weg machst, wirst du vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein. Reite los. Schnell!“
Ihre Eltern hatten die Dringlichkeit gespürt und sie schnell verabschiedet. Ihre Mutter hatte bei dem Gedanken an Mulans Reitkünste nicht einmal die Stirn in Falten gelegt. Dabei hatte Ma sie vor Kurzem noch dafür gescholten, dass sie so oft auf Black Wind ritt. „Du strapazierst ja die Geduld einer Unsterblichen! Welches Mädchen reitet schon ständig auf einem Pferd?“, hatte Ma geschimpft, und Mulan war vor Scham errötet. „Davon wirst du noch krank. Du kannst nicht einmal mehr durch die Nase atmen.“
Vielleicht kann dieser Heiler auch meine Nase reinigen, dachte Mulan. Aber sie wusste, dass sie nur versuchte, sich von ihrer Angst um Xiu abzulenken. Von Xius Augen, voller Panik und Entsetzen und so stumpf geworden, dass sie nichts mehr sahen. Davon, wie ihre Hände gezittert hatten und dann ganz still geworden waren … wie die Blätter einer sterbenden Magnolienblüte. Es ist nur ein Spinnenbiss, sagte Mulan sich. Sie hatte Xiu Hunderte von Malen mit Spinnen geneckt. Hatte Witze über Spinnen in ihrem Haar gemacht, über Spinnen in ihrer Teetasse – und Xiu hatte geschrien, als würde der bloße Gedanke an eine Spinne sie umbringen. Aber ein Spinnenbiss kann nicht … Xiu kann nicht …
Mulan lehnte sich nach vorn. „Schneller, Black Wind“, murmelte sie dem Pferd ins Ohr. Schließlich kamen sie zur Straße und donnerten an den Reisfeldern vorbei. Die Pflanzen schwankten in dem stehenden Wasser und winkten mit ihren dünnen Blättern zur Begrüßung, als ob sie die Bauern vertreten wollten, die bereits zum Abendbrot gegangen waren. Mulan blinzelte in das frühe Abendlicht und hoffte, ihr Zuhause gleich in der Ferne sehen zu können.
Wenigstens war der Heiler leicht zu finden gewesen. Die Bewohner des Dorfes Lu hatten ihr sofort den Weg zum richtigen Haus gezeigt. Beim Eintreten hatte sie gleichermaßen überrascht wie angestrengt von dem langen Ritt gekeucht. Mulan war an Tante Ho mit ihrem gekrümmten Rücken und ihrer gefleckten Haut gewöhnt. Daher hatte sie einen verhutzelten, einfach gekleideten Mann erwartet. Aber dieser Heiler hatte einen silbernen Bart und trug ein leuchtend rotes Gewand mit blauen Verzierungen. Seine Augen hatten eine seltsame, ungewöhnlich helle Farbe. Sie waren bernsteinfarben, mit Pupillen wie brennende schwarze Kohlen, was Mulan beunruhigte, aber auch seltsam vertraut vorkam. Er stand dort, als hätte er sie bereits erwartet, seine gelbe Tasche gepackt und über eine Schulter geschwungen.
„Meine … meine … Schwester …“, hatte Mulan gestottert, „von … einer Spinne gebissen …“
Im Gegenzug hatte er sie mit einem langen, durchdringenden Blick angesehen, bevor er genickt und „Lass uns gehen“ gesagt hatte.
Endlich waren sie fast am Ziel. Jetzt konnte sie ihr Dorf-Tulou, das große, runde Gemeinschaftsgebäude, im goldenen Schein der untergehenden Sonne erkennen. Die Dorfbewohner mussten auf sie gewartet haben, denn die Türen des Tulou wurden bereits geöffnet. Mulan war zu Hause. Eine Welle aus Dankbarkeit und Wärme durchströmte sie, als sie hineinstürmten.
Einige Nachbarn starrten aus ihren Fenstern und standen an ihren Türen. Sie sah die Sorge in ihren Gesichtern, selbst als sie ihre Hände zum Gruß erhoben.
Der Dorfschmied Big Wan empfing Mulan an der Tür.
„Ich bringe Black Wind für dich auf die Weide“, sagte er. Big Wan war so groß, dass Mulan ihm vom Pferderücken aus direkt in die Augen sehen konnte. Als sie erkannte, dass sein Gesicht nicht nur Sorge, sondern auch Traurigkeit ausdrückte, fühlte Mulan, wie ihr kalt wurde.
Der Heiler glitt hinter ihr vom Pferd. Seine Füße schlugen schwer auf der Erde auf. „Ist Xiu …“ Mulan verschluckte sich an ihren Worten. „Geht es ihr … geht es ihr schlechter?“
Statt zu antworten, nahm Big Wan ihr sanft Black Winds Zügel aus ihren zitternden Händen und half ihr vom Pferd. „Geh lieber rein“, sagte er. „Sie warten schon.“
Mulan betrachtete die Tür und die Fenster, die geschlossen und verriegelt waren, als ob das Haus verlassen worden wäre. Sie schluckte.
KAPITEL 2
Der Heiler
„WIR SIND DA!“, rief Mulan, als sie die Tür aufstieß und über die Schwelle trat. Ihre verstopfte Nase dämpfte ihre Stimme, aber sie klang trotzdem laut durch das stille Haus. Sie blinzelte, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und hielt die Tür offen, sodass das Licht der untergehenden Sonne sich wie ein durchsichtiges Banner auf den Boden legte. „Hier ist … ähm“ – Mulan stellte beschämt fest, dass sie nicht einmal den Namen ihres Begleiters kannte – „der Heiler!“
Er trat ein und blickte finster auf die Szene, die sich ihm bot. Aber Mulan spürte, dass sein Zorn nicht den Dorfbewohnern galt. Sie hatten ein provisorisches Bett für Xiu gebaut, auf dem sie so still lag, als wäre sie eine Tonfigur. Mulans Augen füllten sich mit Tränen, als sie sah, dass Xius gesticktes Stoffkaninchen an einer Stange hing, die an einer nahen Wand lehnte. In ihrer Verzweiflung musste die alte Tante Ho dem Aberglauben verfallen sein und Xius Lieblingskuscheltier aufgehängt haben, in der Hoffnung, ihren umherwandernden Geist anzulocken.
Mulans Eltern waren beim Eintreten des Heilers aufgestanden. Ihre Augen spiegelten Hoffnung und Dankbarkeit wider. Aber der Heiler machte eine Geste, sodass sie sich sofort wieder setzten. Er ging zu Xius Bett, und Tante Ho hielt Xius schlaffe Hand hoch, um ihm die Wunde zu zeigen. Sein Blick verfinsterte sich. Die zwei kleinen Einstiche wären unmöglich zu sehen gewesen, wenn nicht eine zähe, honigfarbene Flüssigkeit langsam aus ihnen herausgesickert wäre.
„Habt ihr viele Spinnen hier?“, fragte der Heiler und prüfte den Puls an Xius beiden Handgelenken.
„Ein paar“, erwiderte Tante Ho. „Aber nur die üblichen.“
„Vielleicht nicht nur“, warf Mulans Mutter ein. „Vielleicht gibt es bei uns mehr. Oder etwas an unseren Spinnen ist doch seltsam. Das würde erklären, warum Xiu immer so viel Angst vor ihnen hatte.“
„Sie hatte schon ihr ganzes Leben lang Angst vor Spinnen“, erklärte Mulan, als sie den verwunderten und gleichzeitig skeptischen Blick im Gesicht des Heilers sah. Ihre Mutter blickte sie nun genauso an, und Mulan wusste, dass das daran lag, dass sie wieder einmal aus dem Nähkästchen geplaudert hatte – nicht so ruhig und gehorsam, wie sich ein junges Mädchen eigentlich verhalten sollte. Aber es schien dem Heiler wichtig zu sein, also fuhr Mulan fort. „Xiu verhielt sich immer so, als würden die Spinnen sie jagen.“ Ihre Stimme stockte. „Ich habe sie oft damit aufgezogen.“
„Sie jagen?“, fragte der Heiler leise. „Weißt du mit Sicherheit, dass es eine Spinne war, die sie gebissen hat?“
„Das hat sie auf jeden Fall gesagt“, antwortete Mulan und zögerte. „Aber vielleicht hat sie es auch nur gedacht, weil sie sich so vor ihnen fürchtet? Sie sagte, die Spinne hätte neun Beine gehabt, und ich glaube nicht, dass eine …“
„Neun Beine?“, unterbrach sie der Heiler, ließ Xius Arm los und stand auf. Er überragte sie alle, und das Schimmern in seinen Augen wirkte wie zuckende Blitze. „Die Spinne hatte neun Beine?“
Mulan nickte. „Das hat Xiu gesagt.“
Das klägliche Heulen eines angeketteten Hundes irgendwo im Dorf drang in den Raum. Als ihr Vater ungelenk zum Heiler humpelte, erkannte Mulan, wie beunruhigt er war. Normalerweise verbarg er die Schmerzen seiner alten Kriegsverletzungen. Sie hatte ihn nur einmal so humpeln gesehen: als sie als kleines Kind versehentlich ein Huhn aufs Dach gejagt hatte und ihm gefolgt war, um es herunterzuholen. Bis heute erinnerte sie sich an seine schwankenden, unsicheren Schritte, als er auf sie zugelaufen war und Angst gehabt hatte, sie würde in den Tod stürzen.
„Sagt mir“, bat ihr Vater. „Das ist kein gewöhnlicher Spinnenbiss, nicht wahr?“
Der Heiler zögerte. „Nein“, erwiderte er schließlich. Er griff in seine Tasche und wandte sich dann an Mulan. „Leg das in heißes Wasser“, forderte er sie auf und reichte ihr ein kleines Päckchen.
Sie nahm es mit in die Küche und ließ die Tür offen, da der Heiler – wie sie vermutete – ihr diese Aufgabe nur gegeben hatte, um unter vier Augen mit ihren Eltern und Tante Ho zu sprechen. Als sie das Päckchen öffnete, fand sie ein kleines Bündel getrockneter graugrüner Kräuter darin. Sie waren so zart, dass Mulan befürchtete, sie würden zerfallen, bevor sie das Wasser zum Übergießen erhitzt hatte.
Sie kümmerte sich um den Wasserkessel, warf dabei aber immer wieder Blicke über ihre Schulter. Sie hörte, wie ihre Eltern von Xius Schrei erzählten, wie sie sich an sie geklammert und wegen der Spinne geweint hatte und wie sie dann plötzlich in Mulans Armen erschlafft war. Der Heiler antwortete leise murmelnd. Während Mulan die hauchzarten Kräuter in eine Schale legte, versuchte sie angestrengt, einzelne Worte des Gesprächs auszumachen. Gift … das in die Vitalfunktionen eindringt … ihr Chi zerstört … Tod.
Mulan spürte einen eisigen Wind in sich, als der kochende Kessel leise zischte und eine dünne Schlange aus Dampf der Tülle entstieg. Langsam goss sie das Wasser in die Schüssel.
Die Kräuter schienen sich in Rauch aufzulösen, sobald das Wasser sie berührte. Mulan sah eine Wolke aufsteigen wie Staub von ausgefegter Asche. Sie ergriff die Schale mit beiden Händen und hoffte, dass sie nicht aus Versehen etwas falsch gemacht hatte. Der Nebel verdichtete sich, stieg zu ihrem Gesicht auf und hüllte es ein. Er wuchs zu einem schweren Nebelschleier auf, der alles verhüllte und jedes Geräusch dämpfte. Plötzlich war alles still, und Mulan sah nur noch Weiß. Ihre Welt war verschwunden.
KAPITEL 3
Das gefrorene Dorf
MULAN SCHÜTTELTE WILD DEN KOPF, und ihr Haar peitschte gegen den Nebel. Sie stellte die Schüssel blindlings ab, in der Hoffnung, dass der Tisch noch vor ihr stand. Als sie sie losließ, begann sich der Nebel zu lichten. Sie rieb sich die Augen und erkannte nach und nach wieder den vertrauten Kessel und den Herd.
Doch als sie sich umdrehte, musste sie sich erneut die Augen reiben. Es war, als wäre ihre Welt zu einem Standbild eingefroren. Durch die offene Tür sah sie den Rücken des Heilers und die Gesichter ihrer Eltern, die zu ihm aufblickten. Ihre Münder standen offen, als wären sie mitten im Satz verstummt, und ihre ausgestreckten, flehenden Arme hingen wie versteinert in der Luft. Tante Ho stand wie erstarrt neben dem Bett. Ihre Hände umklammerten immer noch eine rote Schnur, mit der sie Xius Geist wieder an ihren Körper binden wollte. Alles war in ein sanftes silbernes Licht gehüllt. Selbst das scharlachrote Gewand des Heilers hatte nun nur noch den gedämpften Farbton einer mattierten Weißdornbeere.
Was war geschehen? Warum hatte sich alles um sie herum in ein Standbild verwandelt? Mulan schlich lautlos vorwärts, um die plötzlich stille Welt nicht zu stören. Sie fühlte sich, als wäre sie in einen mondhellen Traum geschlüpft, in dem alle außer ihr schliefen.
Doch dann, ohne Vorwarnung, regte sich der Heiler. Seine Arme sanken nach unten, und er wandte sich mit einer schnellen Bewegung von Mulan und ihren Eltern ab. Dabei wirbelte sein Gewand hinter ihm her. Das Geräusch seiner Stiefel hallte in der Stille wider, als er aus der Tür stakste.
Mulan sah ihm mit offenem Mund nach und stahl sich dann hinter ihm her durch die Tür. Als sie jedoch über die Türschwelle trat, blieb sie abrupt stehen. Ihre Eltern waren nicht die Einzigen, die sich nicht mehr bewegten. Alle Dorfbewohner sahen aus, als wären sie in Statuen verwandelt worden. Big Wan hielt einen Hund am Genick, dessen weit aufgerissenes Maul verriet, dass er draußen ein fremdes Tier aufgespürt hatte. Jungen standen mitten im Spiel wie erstarrt auf einem Bein. Ein Ball balancierte versteinert auf dem Zeh eines Kindes. Oben lehnte sich eine Frau über den Balkonsims, und ein herabfallendes Stück ihrer frischen Wäsche schwebte knapp außerhalb der Reichweite ihrer ausgestreckten Hand. Selbst die Hühner verharrten schief und unbeweglich in ihren halb watschelnden Schritten.
Der silberne Nebel umhüllte alles, als wäre er ein zuckriger Belag, der die Welt zur Reglosigkeit verdammte. Mulan drehte ihren Kopf langsam und sah sich staunend um. Sie kannte jeden und alles um sie herum, und doch war es wiederum nicht so. Denn sie alle schienen an einem realen Ort und in einer realen Zeit gefangen zu sein, während sie allein in diesem Traum umherirrte. Und es gab kein Geräusch, keine Bewegung … außer dem flatternden roten Gewand des Heilers, der sich um die unbeweglichen Dorfbewohner herumschlängelte und durch die Tür des Tulou verschwand.
KAPITEL 4
Das Kaninchen
MULAN RANNTE um die wie versteinert wirkenden Dorfbewohner herum und verfolgte das flatternde rote Gewand des Heilers, als würde sie versuchen, einen Schmetterling zu fangen. Die karmesinrote Seide verschwand aus ihrem Blickfeld, und Mulan stolperte über die Türschwelle vom Tulou. Sie breitete ihre Arme erschrocken aus und fiel mit dem Gesicht voran zu Boden.
Als sie keuchend im Dreck lag, bemerkte sie, dass die Geräusche der Welt außerhalb ihres Dorf-Rundhauses unverändert geblieben waren. Selbst als ihre Füße auf dem Boden des Tulou aufgeschlagen waren, hatten die Schläge gedämpft gewirkt. Hier aber drangen das sanfte Rauschen des Windes und das Zwitschern der Vögel in der Dämmerung an ihre Ohren. Als sie den Kopf hob, sah Mulan, dass auch hier alles noch in einem gedämpften Licht lag, aber – anders als im Tulou – in Bewegung und lebendig war. Das Gras und die Bäume wogten im Wind, und schwarze Vogelsilhouetten flogen vor den bernsteinfarbenen Wolken vorbei.
Sie konnte den Heiler immer noch sehen. Er war ihr weit voraus, hatte den ausgetretenen Pfad des Dorfes überquert und ging nun durch das Gras auf den Wald zu. Sein karmesinroter Mantel wehte wie verschütteter Wein hinter ihm her, und mit jedem Schritt, den er von ihr wegtrat, schien er kleiner zu werden. Mulan blinzelte. Nein, der Heiler schien nicht kleiner zu werden – er wurde kleiner.
Als er zu ihnen gekommen war, war der Heiler groß und schlank gewesen, aber jetzt sah es aus, als ob der Himmel ein unsichtbares Gewicht auf ihn drückte, das ihn kleiner und stämmiger werden ließ. Auch sein silbernes Haar wurde immer kürzer. Es legte sich wie ein Fell über seinen Nacken. Seine Kleidung passte sich seiner Größe an, und als er fast eiförmig zu sein schien, wuchsen zwei spitze Ausbuchtungen aus seinem Kopf. Sie waren lang und weiß. Wie zwei Kranichfedern. Waren es Ohren? Ja, genau das waren sie!
Das ist unmöglich, dachte Mulan. Ich muss mir das einbilden.
Aber ihre Augen sahen dieser Unmöglichkeit weiterhin zu. Und der Heiler schrumpfte noch weiter! Inzwischen hatte er die Größe eines Hundes. Mulan starrte wie gebannt auf ihn, ihre Hände immer noch auf den Boden gepresst. Den Himmel überzog das gelbe Licht der Sonne, die ihre Farben hinter die fernen, bewaldeten Berge warf, als kämpfe sie gegen den Einbruch der Dunkelheit. Die neuen spitzen Ohren des Heilers glänzten in diesem letzten goldenen Licht, und das Gras verdeckte den größten Teil seiner kleiner werdenden, runden Gestalt. Plötzlich hielt der Heiler inne und zitterte. Seine Kleider fielen von ihm ab wie die Hüllen einer sich öffnenden Pfingstrose. Für einen Moment schien er ein weicher Hügel aus silbernem Fell zu sein, überzogen mit den Farben des Sonnenuntergangs. Doch gleich darauf richtete er sich mit einer plötzlichen Bewegung auf und streckte die langen Ohren nach oben. Mulan riss ihre Augen auf, wie sie es die ganze Zeit bereits mit ihrem Mund getan hatte. Vor dem orange- und pinkfarben gestreiften Himmel zeichnete sich die Gestalt des Heilers als unverwechselbare Silhouette ab. Er hatte sich in ein Kaninchen verwandelt.
KAPITEL 5
Die Füchse
DAS KANINCHEN HÜPFTE mit einer geschmeidigen Bewegung vorwärts, und Mulan sah, dass sich auch das Gewand des Heilers verwandelt hatte und zu einem Beutel geworden war, der wie eine dünne Mondsichel über den Rücken des Kaninchens geschlungen lag. Der Himmel war nun violett gefärbt. Die Nacht hatte endlich ihren Kampf gegen die Sonne gewonnen. Das Kaninchen sprang weiter. Wie eine silberne, gewundene Kurve tauchte es über dem Gras auf und anschließend wieder in es hinab.
Dann brachen zwei Hundekreaturen aus dem Schatten der Dämmerung hervor und jagten dem Kaninchen hinterher. Füchse!
Einer war klein und dunkel. Der andere war größer, schimmerte weiß – selbst in dem schwindenden Licht – und bellte so bösartig, dass Mulan zusammenzuckte. Und er griff zuerst an. Seine scharfen Krallen glitzerten, als er sich auf das fliehende Kaninchen stürzte. Entsetzt sah Mulan zu, wie das Kaninchen zusammenbrach und zu Boden fiel.
„Nein!“, hörte Mulan sich schreien. Für einen Moment vergaß sie die seltsame Verwandlung des Heilers, das schlafende Dorf, ihre Schwester und ihre Eltern und sah nur noch die angreifenden Füchse – wilde Bestien, die ein hilfloses Tier töten wollten. Sie rannte auf sie zu.
Doch anstatt das gefallene Kaninchen zu verschlingen, umkreisten die Füchse es, als ob sie einen Gegenangriff erwarteten. Ihr Zähnefletschen wurde zu einem gemeinsamen Knurren, das im Wind immer lauter zu werden schien und Mulans Ohren mit einer bedrohlichen Melodie erfüllte, die nur das Trommeln ihres Herzens und ihrer Füße unterbrach.
Sie blinzelte. Vielleicht lag es an der düsteren Nacht oder an der Schnelligkeit der Füchse, aber hatte der weiße Fuchs mehr als nur einen Schwanz? Mulan konnte sie nicht zählen und versuchte es auch nicht einmal, denn der weiße Fuchs richtete sich auf. Sie wusste, dass er sich darauf vorbereitete, erneut zuzuschlagen – seine gefletschten Zähne und die Krallen glitzerten vor dem nun schwarzen Himmel.
„Nein! Stopp!“, schrie Mulan erneut. Ohne nachzudenken, nahm sie einen Stein vom Boden auf und warf ihn nach dem weißen Fuchs – so wie sie schon Hunderte von Malen nach diebischen Krähen geworfen hatte. Selbst im Dunkeln traf sie gut, und der weiße Fuchs jaulte vor Wut und Überraschung. Mulan hob eine Handvoll Steine auf und reckte ihren Arm zum erneuten Angriff, als sich beide Füchse zu ihr umdrehten.
Ihre Blicke trafen sich – und Mulan erstarrte. Der Mond brach durch die nächtliche Finsternis und warf sein sanftes Licht auf die zitternde Gestalt des hilflosen Kaninchens am Boden. Jetzt erkannte sie, dass beide Füchse Weibchen waren. Die kleinere Füchsin hatte zinnoberrotes Fell. Aber es war die andere Füchsin, die weiße mit mehreren Schwänzen, die sie vor Schreck lähmte. Ihre Augen glitzerten kalt und hart wie schwarze Diamanten, und Mulan spürte, wie sie sich mit der Schärfe eines Messers in ihre Augen bohrten. Entsetzen kroch ihr den Rücken hoch, aber Mulan biss die Zähne zusammen und zwang sich, stolz und gerade vor dem Tier zu stehen.
Die stechenden Augen der weißen Füchsin verengten sich und blickten mit solcher Wut auf sie, dass Mulan die Steine noch fester umklammerte und alle Muskeln anspannte. Da warf die Füchsin den Kopf zurück, spuckte in Richtung des Kaninchens und schoss in die Nacht davon.
Als Mulan sich umdrehte, sah sie, dass die rote Füchsin und das Kaninchen sich gegenseitig mit einem undeutbaren Blick fixierten. Gebannt schaute sie zwischen den beiden Tieren hin und her. Die Augen der Füchsin flackerten wie eine Flamme, während die des Kaninchens so beständig wie Mondlicht wirkten. Schließlich schüttelte es traurig den Kopf.
„Wirst du jemals deinen Platz finden?“, fragte das Kaninchen und sah die Füchsin direkt an.
Das Kaninchen spricht?, dachte Mulan verwirrt und erinnerte sich an all die Seltsamkeiten, die sie gerade gesehen hatte. Ihr wurde fast schwindelig. Die Steine fielen ihr aus der Hand und prasselten auf den Boden wie ein dumpfer Regen.
Die rote Füchsin drehte ihren Kopf in Richtung des Geräuschs und fauchte Mulan böse an, bevor sie sich umdrehte und der weißen Füchsin in die Dunkelheit folgte.
KAPITEL 6
Das Kaninchen heilt
MULAN BLIEB WIE BETÄUBT STEHEN. Was geschah gerade mit ihr? War sie immer noch Mulan, die ältere, unbegabte Tochter der Familie Hua? Als sie jünger gewesen war, hatte ihr Vater ihr die Geschichte vom Jade-Kaninchen auf dem Mond erzählt, das einen Mörser und einen Stößel benutzte, um Medizin herzustellen. Sie war so begeistert von der Geschichte gewesen, dass sie Reis zu Mehl zerstampft hatte, nur damit sie so tun konnte, als wäre sie das große Jade-Kaninchen. Mulan hatte versucht, ihre Aufgabe pflichtbewusst zu erledigen, aber ein Korn war ihr immer wieder entwischt. Sie hatte es unbedingt gut machen wollen und darum mit aller Kraft auf das Korn eingeschlagen. Und dann – krach! – war der Mörser durch die Wucht ihres Schlages in zwei Teile zersprungen. Das Reismehl war in die Luft geflogen und hatte sie mit weißem Staub bedeckt. Ma war hinausgerannt und hatte geschrien: „Mulan! Was machst du da? Reiß dich zusammen!“
Vielleicht habe ich die Kontrolle über meinen Verstand verloren, dachte Mulan. Oder vielleicht ist es gar nicht so, dass alle anderen schlafen. Vielleicht bin ich diejenige, die schläft, und das alles ist nur ein Traum.
„Kannst du mir helfen?“, rief eine höfliche Stimme. Es war das Kaninchen.
„Wie bitte?“ Mulan ging zögernd zu dem Kaninchen. Aber als sie näher kam, hielt sie erschrocken die Luft an. Was sie für Flecken auf dem Fell des Kaninchens gehalten hatte, war in Wirklichkeit Blut. Vier schwarze Wunden am Hinterbein des Kaninchens bluteten und färbten das Fell karmesinrot. Das Kaninchen schaute mit ruhigen Augen zu ihr auf, obwohl sein Körper vor Schmerz und Schwäche zitterte.
„Du?“, fragte das Kaninchen eher amüsiert als verärgert. Seine Stimme war immer noch die des Heilers, wirkte aber weicher. „Du solltest wie der Rest des Dorfes schlafen. Aber ich bin froh über deine Hilfe. Könntest du bitte meine Tasche holen?“
Mulan schüttelte ihre Verwirrung ab und griff nach der Tasche des Kaninchens. Sie war während des Angriffs durch die Füchse heruntergefallen und lag unversehrt im Gras. Blass und silbrig schimmerte sie in der Dämmerung. Ihr Stoff fühlte sich wie reine Seide an ihren rauen Fingern an.
„Nimm den blauen Verband heraus“, forderte das Kaninchen sie auf und streckte sein verwundetes Bein aus, „und binde es fest hier herum.“
Mulan griff in die Tasche und fand darin ein blaues Tuch. Es war leicht und weich wie Gänsedaunen. Als sie es hochhielt, schien es ihr, als hielte sie ein Stück Himmel in der Hand. Sie kniete sich neben das Kaninchen und hob so sanft wie möglich sein Bein an. Dunkle Flüssigkeit tropfte aus den übel aussehenden Bissen. Sie wickelte das Tuch schnell um das Bein und stellte sicher, dass es die gesamte Wunde bedeckte. Als sie das Tuch festband, sah sie einen seltsamen Blick in den Augen des Kaninchens – eine Mischung aus Bewunderung und Respekt. Mulan lächelte. Irgendwie hatte sie dieses außergewöhnliche sprechende Kaninchen-Heiler-Wesen wohl beeindruckt.
„Gut gemacht“, lobte es sie und nickte.
Mulan stand auf – und schaute ungläubig nach unten. Denn das Tuch, mit dem sie die Wunde gerade verbunden hatte, verschmolz mit dem Bein des Kaninchens. Während es sich im Fell auflöste, verschwanden auch die hässlichen Blutspuren. Innerhalb eines Wimpernschlages wurde das Fell des Kaninchens wieder silbern und schimmerte im Licht des Mondes. Die einzigen Überreste des gewaltsamen Angriffs waren vier lange dunkle Flecken auf seinem Bein, die aussahen, als hätte sie jemand mit einem verbrannten Ast gezeichnet.
Mulan konnte nicht aufhören, auf das Bein zu starren, und ihre Augen wurden dabei so groß und rund wie Reisschüsseln. „Wer …“ Sie schluckte. „Wer seid Ihr?“
Das Kaninchen lächelte schief, und es verwirrte Mulan noch mehr, einen so menschlichen Ausdruck auf einem Tiergesicht zu sehen.
„Was glaubst du denn, wer ich bin?“, antwortete das Kaninchen und blickte mit der gleichen Ruhe wie zuvor zu ihr auf. Seine Augen sind die einer Katze, dachte Mulan, oder vielleicht eher wie die eines Tigers? Sie waren rund und bernsteinfarben mit Pupillen, so schwarz wie eine sternenlose Nacht, und blattförmigen Augenbrauen darüber. Irgendwie kamen sie ihr bekannt vor. Aber sie konnte sich nicht erinnern, woher sie sie kannte. Ihre Gedanken fühlten sich so verstopft an wie ihre Nase. Vielleicht musste sie nur ihren Kopf freibekommen. Mulan schniefte.
„Ah, das ist es!“, sagte das Kaninchen in einem Tonfall, als hätte es ein Rätsel gelöst. Mulan schaute das Kaninchen abermals verwundert an.
„Du hast die Kräuter nicht eingeatmet“, erklärte das Kaninchen. „Darum bist du nicht eingeschlafen.“
Das Kaninchen erhob sich, und Mulan sah, dass es größer war, als sie gedacht hatte. Seine Ohren reichten ihr bis zu den Knien. Sie beobachtete, wie das Kaninchen langsam zu seiner Tasche hüpfte und dabei sein verletztes Bein nachzog. Dann zog es einen kleinen bestickten Beutel von der Farbe und Form einer Dattel heraus. Das Kaninchen reichte Mulan das Täschchen und forderte: „Riech mal daran.“
Zögernd betrachtete Mulan das Säckchen. Eine violette Blume, umgeben von den fünf giftigsten Tieren – Schlange, Spinne, Kröte, Tausendfüßler und Skorpion –, war dort mit Seidenfäden eingenäht worden. Auch das kam ihr irgendwie bekannt vor.
„Davon wirst du nicht einschlafen“, erklärte das Kaninchen amüsiert. „Es wird deine Nase frei machen.“
Mulan zog eine Grimasse und atmete dann tief ein. Zu ihrem Erstaunen wurde ihre Nase tatsächlich frei. Sie sog den kühlen Wind bis in ihre Lungen ein und staunte, als die Luft wieder aus ihrer Nase herausströmte.
„Also“, sagte sie hoffnungsvoll und lächelte, „seid Ihr wirklich ein Heiler?“
„Ja“, antwortete das Kaninchen, nahm den Beutel wieder an sich und steckte ihn zurück in die Tasche. „Unter anderem.“
„Und diese Füchse waren keine normalen Füchse, oder?“, fragte Mulan. „Sie haben ja nicht einmal versucht, Euch zu fressen!“
„Nein“, antwortete das Kaninchen lachend. „Sie würden mich jetzt nicht fressen. Das wäre viel zu barbarisch für eine so kultivierte Frau wie sie.“
„Wie sie?“ Mulan war überrascht. „Ihr kennt eine der Füchsinnen?“
„Ich kenne beide“, erwiderte das Kaninchen, und es schien, als zöge ein Schatten über sein Gesicht. „Aber ich meinte die weiße Füchsin.“
„Woher kennt Ihr sie?“, wollte Mulan wissen. Sie konnte nicht anders, auch wenn sie wusste, dass es unhöflich war. Ein junges Mädchen sollte nicht solche Fragen stellen. Denke an deine Stellung, hörte sie Bas ruhige, aber feste Stimme in ihrem Kopf sagen.
Aber das Kaninchen war nicht gekränkt. Stattdessen schaute es Mulan nachdenklich an, als wüsste es nicht, wo es anfangen sollte. „Ich kenne sie schon lange“, erklärte es schließlich. „Aber ich habe erst jetzt wirklich erkannt, wer sie ist. Als ich starb.“
KAPITEL 7
Die Geschichte des Kaninchens
„IHR … IHR SEID GESTORBEN?“, stammelte Mulan. Alles, von dem silbernen Licht bis zu dem sprechenden Kaninchen, gab ihr plötzlich ein schwindelerregendes, geblendetes Gefühl, als hätte sie ein imaginäres Land betreten. Sie setzte sich hin und war froh, den festen Boden unter sich zu spüren. Verwundert schüttelte sie den Kopf. Dann blickte sie wieder auf das Kaninchen, das vor ihr stand.
Es hatte in die Ferne gestarrt, war wie in einen Traum versunken. Aber auf Mulans Worte hin drehte es seinen Kopf und richtete seine Augen wieder auf sie.
„Ja“, sagte das Kaninchen, „ich bin gestorben. Das ist schon lange her. Es kam so …“
Die Geschichte des Kaninchens
Als das Land noch jung war, verfügte der Jade-Kaiser August, der Herrscher des Himmels, dass die Vollmondnacht des siebten Monats heilig sein sollte. In dieser Nacht durften die Bewohner der Geisterwelt und des Himmels frei auf der Erde umherziehen, und alle sterblichen Kreaturen sollten ihnen zu Ehren großzügige Feste veranstalten. Kein Mensch oder Tier, kein Geist oder Unsterblicher sollte in dieser Nacht Hunger leiden. Jeder Einzelne sollte Nahrung erhalten, wenn er darum bat. Dies abzulehnen, wäre nicht nur beschämend, sondern würde auch Schande über die Familie und die Vorfahren bringen.
Auch den Tieren wurde dieser Erlass mitgeteilt, und sie alle planten dementsprechend. Der Affe sammelte Kastanien von den Bäumen. Der Otter fing einen Vorrat an Fischen. Der Hund grub einen Haufen Tarowurzeln und Radieschen aus.
Aber das Kaninchen sorgte sich um das Festmahl, das es anzubieten hatte. Es fraß nur Gras und dachte, dass dies ein schlechtes Angebot an die Hungrigen sei. Also beschloss das Kaninchen, etwas anderes vorzubereiten. So ging es von Tier zu Mensch und sammelte mit viel Feilschen und Schmeicheln eine große Auswahl an Lebensmitteln – von den Kastanien des Affen bis zu einem Topf mit Milch von der Kuh.
Aber egal was das Kaninchen versprach oder anbot, es gab ein Wesen, das sich weigerte, etwas zu seinem Festmahl beizutragen. Das war die weiße Füchsin.
„Sieh dich nur an“, spottete die Füchsin. „Du huschst herum wie ein Bauernsklave! Irgendein dreckiger Bettler wird sich an deiner harten Arbeit satt essen.“
„Ich arbeite lieber hart, als eine Schande zu riskieren“, gab das Kaninchen steif und mit einem Hauch von Hochmut zurück. „Was ist mit deinem eigenen Festmahl? Oder bedeutet dir Schande nichts?“
„Oh, ich werde für ein Festmahl sorgen“, versicherte die Füchsin gerissen, „und meines wird das beste von allen sein. Ich werde nicht wie ein armer Schlucker arbeiten müssen. Mach dir um mich mal keine Sorgen.“
Das Kaninchen schüttelte verächtlich den Kopf. Seine schlechte Meinung über die Füchsin war durch diese Unterhaltung nicht verbessert worden. Die beiden waren noch nie Freunde gewesen. Die Füchsin machte sich oft über das Kaninchen lustig, weil es so ernst und anspruchsvoll war, und das Kaninchen fand die Füchsin oberflächlich und skrupellos. Aber das Kaninchen hatte nie bemerkt, wie skrupellos die Füchsin wirklich war … bis zu besagter Vollmondnacht.
Während des Tages stellten alle Menschen und Tiere ihre Essensvorräte auf. Und welche Vielfalt das war! Eine solche Fülle hatte man selten zuvor gesehen. Die Tische schienen sich unter dem Gewicht der Teller mit Nudeln und Knödeln und gedämpften Brötchen zu biegen. Berge von Lotussamen und goldenen Longan-Früchten lagen neben Schalen mit runzligen roten Datteln. Aber das üppigste, das reichhaltigste Menü – das Juwel aller Darbietungen – war jenes, welches das Kaninchen vorbereitet hatte. Sein Angebot war ein überquellendes Festmahl. Mengen von roten Wachsäpfeln, blassen runden Birnen und leuchtenden Orangen erhoben sich über einer Silhouette von Suppen und gedämpftem Reis.
Vielen lief das Wasser im Munde zusammen, und alle wanderten von Nachbar zu Nachbar, um sich zu informieren, was auf dem Abendmenü stand.
Ein Tier schien besonders neugierig auf die Festmahle der anderen. Die Füchsin. Sie ging zu jeder Speise und starrte sie an, als bewerte sie jede einzelne in ihrem Geiste. Als sie die Auslage des Kaninchens erreichte, starrte sie so intensiv darauf, dass es das Kaninchen irritierte.
„Warum schaust du mein Festmahl so an?“, fragte das Kaninchen.
„Oh“, antwortete die weiße Füchsin mit ihrem vertrauten intriganten Lächeln, „ich bewundere es nur. Ich finde, deines ist sogar das beste.“
Das Kaninchen misstraute dem Kompliment der Füchsin, nickte aber dankend. „Und wo ist dein Festmahl?“, fragte es.
„Da drüben“, sagte die Füchsin und wies mit dem Kopf in Richtung eines bedeckten Erdhügels. Sie sah, wie das Kaninchen die Stirn runzelte. „Es ist noch etwas hin, bis die Nacht einbricht. Ich will nicht, dass mein ganzes Futter verdorrt und von Fliegen verspeist wird. Ich bin überrascht, dass du deines so offen liegen lässt.“
Als sie gegangen war, zuckte die Nase des Kaninchens, und es sah in den Himmel. Die Füchsin hatte recht; es war noch eine Weile bis zum Einbruch der Nacht. Das Kaninchen hoppelte davon und kehrte mit einem Tuch zurück. Schnell und sorgfältig bedeckte es damit sein Futter.
Als die Nacht endlich hereinbrach, war das Kaninchen sehr zufrieden mit seinem Futterangebot und dessen Aufbewahrung. Und mit dieser Gewissheit wurde es nahezu ungeduldig, bis der erste Bedürftige bei den Tieren eintraf. Er war offensichtlich ein Bettler – ein alter, gebeugter Mann mit unschönen Geschwüren im Gesicht und einem langen schmutzigen Bart. Seine Kleidung stank so sehr nach Mist und Dreck, dass der Hund, der ein ganzes Stück entfernt saß, interessiert seine Schnauze hob.
„Heute Abend soll es hier wohl Essen für mich geben“, kicherte der Arme mit der Stimme einer Krähe. „Was habt ihr Tiere für mich?“
Der Affe präsentierte seine Kastanien, während der alte Mann die Fische des Otters begutachtete.
„Die kann ich nicht essen“, meckerte der Bettler. „Rohe Nüsse? Roher Fisch? Wie soll ich das denn essen? Ich hätte bei den Menschen bleiben sollen. Dumm von mir hierherzukommen. Ihr Tiere wisst nicht, wie man gastfreundlich ist.“
Die Tiere sahen sich verängstigt an. Würden sie alle heute Abend in Ungnade fallen?
„Wenn Ihr uns nur einen Moment gebt“, schnatterte der Affe nervös und warf dem Otter einen panischen Blick zu, „dann kochen wir Euch sofort Euer Essen.“
Der Mann grunzte, als der Affe und der Otter schnell ein Feuer entfachten. Er untersuchte die Radieschen des Hundes und die Rüben des Schweins. „ROH!“, brüllte der Bettler erneut, woraufhin sich diese Tiere dem Affen und dem Otter anschlossen, um ein noch größeres Feuer zu schüren.
„Wenn Ihr möchtet“, sagte das Kaninchen über die verschiedenen ekeligen Geräusche des Mannes hinweg, „ich habe Essen, das Euch schmecken könnte.“
Das Kaninchen führte den Bettler zu seinem bedeckten Festmahl. Mit einer schwungvollen Bewegung entfernte es das schützende Tuch – und alle zuschauenden Tiere stöhnten gleichzeitig auf. Erschrocken bewegte sich das Kaninchen etwas, um einen kurzen Blick auf sein Festmahl zu werfen. Dann erstarrte es vor Entsetzen.
Sein ganzes Futter war weg!
Statt der Reis- und Obsthaufen lagen dort nur noch Grasbündel. Sie waren überall auf dem Boden verstreut wie heruntergefallene Blätter. Das erschrockene Kaninchen fühlte sich, als würde es zu Stein erstarren.
„GRAS?“, heulte der Bettler. „IHRERWARTETVONMIR, DASSICHGRASESSE?! IHRTIERESEID …“
„Komm mit mir.“ Die beruhigende Stimme der Füchsin unterbrach den Redeschwall des Bettlers, und er drehte sich zu ihr um. Sie warf ihm einen verführerischen Blick zu und führte ihn zu ihrer bedeckten Auslage. Dann – mit einem Zwinkern in Richtung des Kaninchens – hob sie das Tuch an.
Dort lag das Festmahl des Kaninchens!
Es war nicht zu übersehen. Die rosa Äpfel, der weiße Reis, der Topf mit Milch … es war die vom Kaninchen hart erarbeitete Nahrungssammlung. Die Füchsin hatte sie ihm mit irgendeinem Trick gestohlen. Der Bettler stürzte sich mit Heißhunger auf das Festmahl. Reisstücke und Saft liefen ihm aus dem Mund, als er schmatzend kaute. Das Kaninchen konnte nur noch staunen und war stumm vor Schreck.
„Keine Ahnung, was das Kaninchen vorhatte“, grunzte der Bettler zwischen zwei Bissen. „Das ist eine Beleidigung! Einem Mann Gras anzubieten!“
„Nun, das Kaninchen hat einen schlechten Sinn für Anstand“, erklärte die Füchsin voller Herablassung, „aber wir müssen seine Wertlosigkeit bemitleiden. Es hat nichts, was es Euch zu essen geben könnte.“
Daraufhin regte sich das Kaninchen. Die grauen Felsen, das Gebrüll des Bettlers, das lodernde Feuer – alles schien schneller und schneller um es herumzuwirbeln und es mit Scham und Demütigung zu ersticken. Es hat nichts, was es Euch zu essen geben könnte. Die Worte der Füchsin dröhnten in seinen Ohren. Es hat nichts, was es Euch zu essen geben könnte.
„Mein Lord!“, sprach das Kaninchen. Es sprach nicht laut, aber die Intensität seiner Stimme schnitt durch das Knistern des Feuers, und alle – auch der Bettler – drehten sich zu ihm um.
„Ich entschuldige mich dafür, dass ich nichts zu essen für Euch habe“, sagte das Kaninchen und sah den Bettler direkt an. „Aber vielleicht wollt Ihr MICH essen!“
Und mit diesen Worten sprang das Kaninchen ins Feuer.
Für das Kaninchen folgten Schmerz und Schwärze und dann der Tod. Das hätte das Ende sein müssen. Aber das war es nicht.
Denn als das Kaninchen verendete, erschrak der Bettler fürchterlich. Sein verfilzter Bart begann sich plötzlich zu glätten und dunkler zu werden. Die Flecken in seinem Gesicht verschwanden. Der Bettler richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Sein schmutziges Gewand fiel von ihm ab und enthüllte himmelfarbene, mit Drachen bestickte Kleider. Kaiserliche Gewänder! Er hob den Kopf. Perlen baumelten an seinem Hut. Er begann zu strahlen, stärker als das Feuer. Nun konnten alle sehen, dass er kein Bettler war. Er war der Jade-Kaiser. Der Herrscher des Himmels.
