Disney: The Queen's Council 2: Feder und Flamme (Mulan) - Walt Disney - E-Book

Disney: The Queen's Council 2: Feder und Flamme (Mulan) E-Book

Walt Disney

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Beschreibung

Band 2 der neuen Reihe "The-Queen's Council" - Mulan erhält Unterstützung durch den "Rat der Königinnen" Mulan brachte Ehre auf das Schlachtfeld. Jetzt kommt eine neue Art von Herausforderungen ... Der Krieg ist vorbei. Jetzt ist Mulan eine berühmte Heldin und verbringt ihre Tage in ihrem Heimatdorf, wo sie eine Miliz aus weiblichen Kriegern ausbildet. Der Frieden ist willkommen, und sie weiß, dass er geschützt werden muss. Als Shang mit einer Einladung in die Kaiserstadt eintrifft, wird Mulans relativ friedliches Leben noch einmal auf den Kopf gestellt. Der alternde Kaiser verfügt, dass Mulan seine Thronfolgerin sein soll. Diese ungeahnte Macht und Verantwortung erschreckt sie, aber wer kann dem Kaiser schon Nein sagen? Als Mulan in die Hallen der Macht aufsteigt, wird ihr klar, dass nicht alle auf ihrer Seite stehen. Ihre Minister unterminieren sie, und die Hunnen wittern eine Schwäche auf dem Thron. Als selbst unter denjenigen, die sie für Freunde hält, Hinweise auf Verrat auftauchen, weiß Mulan nicht, wem sie vertrauen kann. Doch der Rat der Königinnen hilft Mulan, ihre wahre Bestimmung zu erkennen. Mit neuer Kraft und der Weisheit derer, die vor ihr kamen, wird Mulan sich ihre Macht zu eigen machen, ihr Land retten und einmal mehr beweisen, dass sie, ob mit Krone oder Helm, schon immer zur Anführerin bestimmt war. Diese wilde Neuinterpretation des Mädchens, das zur Kriegerin wurde, verbindet märchenhafte Überlieferungen und reale Geschichte mit einem Hauch von Disney.

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Für meinen Agenten Jim McCarthy. Sechs Bücher und kein Ende in Sicht!

Ein Tropfen Schweiß lief der Soldatin über den Nacken, verweilte kurz auf ihren sonnengewärmten Schultern, bevor ein kräftiger Schwung ihres Armes ihn abschüttelte. Sie hob ihren Stab. Trat in die Luft. Sprang. Und ließ ihren Stab mit einem Schrei auf den Boden aufschlagen.

Einhundert Kampfstäbe donnerten in den Staub. Einhundert Stimmen schrien. Die Soldatin lächelte über den hellen Klang, das Fehlen von Bariton- und Basstönen.

Die Gesichter der Frauen um sie herum waren rot vor Anstrengung und mit Staub bedeckt. Ihre Zöpfe hingen dunkel und feucht von Schweiß herab. Trotzdem blockten, schlugen und traten sie in perfekter Harmonie. Nicht eine einzige von ihnen senkte ihre Tritte oder milderte ihre Schläge, während die Sonne immer höher stieg und ihre Strahlen auf sie hinabbrannten. Auf ihre Tuniken hatten die Soldatinnen die Namen großer und längst verstorbener Kämpferinnen gestickt – Generalinnen, Soldatinnen, Ringkämpferinnen, Fechterinnen. Es war eine Hommage an diese Heldinnen – und vielleicht ein Versuch, ihre Geister herbeizurufen, falls die Stickerin selbst sich würdig erweisen sollte.

Ihre Anführerin stand an der Spitze und rief mit klarer Stimme Befehle. Mulan, Kriegsheldin von China, war kaum noch zu erkennen als das Mädchen, das vor ein paar Jahren davongelaufen war, um sich anstelle ihres Vaters der Armee anzuschließen. Mulan hatte die Kunst des Krieges gemeistert, aber andere Hürden lagen noch vor ihr, Gefahren, die vielschichtiger waren als der einfache Schlagabtausch zweier Schwerter. Sie stand kurz davor, ihr Schicksal zu erfüllen, aber zuerst musste sie lernen, die Wege der Geister zu ergründen und sich ihre Stärke zu eigen zu machen. Großer Schmerz stand ihr bevor. Denn Fenghuang, der Phönix und Wächter der kaiserlichen Harmonie, schenkte nicht jedem seinen Segen. Nur den Ehrlichsten, Treuesten und Selbstlosesten. Denjenigen, die sich tapfer gegen die einbrechende Dunkelheit stellten.

Das Schachbrett vor Mulan war zweifellos für einen Mann hergestellt worden. Die geschnitzten, abgerundeten Steine waren ein wenig zu groß, um bequem in der Hand einer Frau zu liegen, und ein wenig zu schwer, als dass Mulan sie leicht auf ihren Fingern hätte balancieren können. Diese Tücken waren ihr aus ihren Tagen in der Armee vertraut – Schwertgriffe, die zu breit waren, Sättel, die zu lang waren. Die Schachfiguren erzeugten in ihr ein seltsames Gefühl von Déjà-vu.

Sie setzte ihre Kanone auf dem Brett nach vorn. Auf der abgeflachten Oberseite des Steins war sein Name eingraviert, und sie fuhr mit dem Daumen über die feinen Rillen, bevor sie ihn absetzte. Mulan betrachtete ihre Hand. Obwohl ihre Ballen und Finger von den Jahren, in denen sie mit Schwert und Stab trainiert hatte, Schwielen davongetragen hatten, war ihre Knochenstruktur noch immer zu feingliedrig für die eines Mannes. Sie hatte es sich abgewöhnt, ihre Hände vor den Blicken anderer zu verstecken. Im Stillen schalt sie sich für ihre Unachtsamkeit, rollte die Finger unter ihrer Handfläche zusammen und legte die geballten Fäuste in den Schoß.

Glücklicherweise war ihr Gegner zu sehr in das Spiel vertieft, um etwas zu bemerken. Er war ein älterer, gut gekleideter Mann. Die eine oder andere weiße Strähne zierte seinen Schnurrbart, aber er saß aufrecht, und seine Schultern waren kräftig und muskulös. Eine Narbe verlief über seinem rechten Auge und eine weitere von seiner Nase bis zur linken Seite seines Gesichts. Lange Ärmel aus Seide bedeckten seine Arme, aber hin und wieder rutschte einer hoch, und Mulan konnte einen Blick auf weitere Narben erhaschen. Wenn sie einen Blick unter den Tisch riskierte, würde ihr Blick auf das Schwert fallen, das er an der Seite trug. Waffen waren in diesem Teehaus verboten, aber Yang Dafan tat, was ihm gefiel.

Endlich machte Dafan seinen Zug und schlug einen ihrer Soldaten mit seinem Elefanten. „Ihr verliert eine beträchtliche Menge an Soldaten, junger Meister Chen“, sagte Dafan. „Ist dies eine neue Strategie, mit der ich nicht vertraut bin?“

„Ich bin kein sonderlich geschickter Schachspieler, fürchte ich.“ Sie betonte die tieferen Lagen ihrer Stimme.

„Warum dann überhaupt den Fuß in ein Schachhaus setzen?“

„Ich habe früher oft Halbfeldschach mit meinem Vater gespielt. Auf der Straße wurde ich ein wenig nostalgisch.“

„Halbfeldschach?“

„Vielleicht kennt Ihr es als Blindschach. Dabei legt man die Steine zu Beginn verdeckt hin und dreht sie dann um, einen nach dem anderen.“

„Ein Kinderspiel.“

„Ich erwähnte bereits, dass ich es mit meinem Vater gespielt habe.“

Dafan schob die Haut an der Unterkante seines Daumennagels zurück. Mulan bemerkte, dass er sich den Nagel seines kleinen Fingers an der linken Hand besonders lang und gepflegt hatte wachsen lassen. Sie fragte sich, wie er ihn im Kampf davor schützte abzubrechen.

„An einem gewissen Punkt muss man erwachsen werden“, sagte Dafan.

„Ich weiß“, erwiderte Mulan. „Aber mich reizt die Kinderversion. Mir gefällt der Gedanke, dass man seine eigenen Soldaten verborgen hält, bis sie direkt neben dem Feind stehen.“

Tatsächlich waren sowohl Mulan als auch ihr Schachgegner äußerst gewandt in der Kunst, sich vor dem Feind verborgen zu halten. Erst fünf Tage war es her, dass Dafan und seine Männer einer Karawane aufgelauert hatten. Sie hatten die Hälfte der Wachen getötet und waren mit einem Vermögen an feiner Seide verschwunden.

Dafan und seine Räuberbande waren vor fast einem Jahr wie eine Plage in Mulans Region eingefallen. Noch dazu war er äußerst vorsichtig, sehr zum Leidwesen des örtlichen Magistrats. Dafan hielt sich die meiste Zeit über verborgen. Wenn er sich einmal in die Öffentlichkeit begab – meist um sich an Musik, Schach oder Tee zu erfreuen –, nahm er stets seine Leibwächter mit. Wann immer er ein Gebäude betrat, postierte er Männer an sämtlichen Straßen, und seine beinahe schon übersinnliche Fähigkeit, sich beim ersten Anzeichen einer Verfolgung in Luft aufzulösen, hatte den Magistrat bereits bei mehr als einer Gelegenheit leer ausgehen lassen. Nach mehreren gescheiterten Versuchen hatte der Magistrat seine Bemühungen zurückgefahren, den Kriminellen zu fassen. Mulan hegte den Verdacht, dass er die Demütigung nicht länger hinnehmen wollte.

Mulan und Dafan blickten von ihrem Spiel auf, als eine Frau an ihren Tisch trat, um ihnen Tee nachzuschenken. Mulan nickte ihr dankend zu, aber die Frau schenkte ihr kaum Beachtung. Stattdessen himmelte sie Dafan hingebungsvoll an.

Liwen war von außergewöhnlicher Schönheit, mit vollen Lippen, langen Wimpern, einer stolzen Nase und glatter, olivfarbener Haut. Sie war jung, etwa im selben Alter wie Mulan, und absolut tödlich mit jeder nur vorstellbaren Waffe. Mulan hatte beobachtet, wie Liwen den Schaft eines Pfeils mit einem zweiten gespalten und gestandene Soldaten mit nichts als einem Schal entwaffnet hatte. Aber sie hatte noch nie gesehen, wie Liwen flirtete. Bis heute.

Sie war ziemlich gut. Zumindest kam es Mulan so vor. Liwens Augen huschten immer wieder zu Dafan, um ihm verstohlene Blicke zuzuwerfen, und sie schwang amüsant, aber ausgesprochen wirkungsvoll die Hüften, während sie den Raum durchquerte. Die Blicke der Schwertkämpfer, die Dafan in jeder Ecke des Teehauses platziert hatte, folgten jetzt Liwen, anstatt nach einer Bedrohung Ausschau zu halten. Doch Mulan vermutete, dass sie ziemlich rasch wieder zu Sinnen kommen würden, sollte ein Kampf ausbrechen. Zu Liwens Pech schien das Ziel ihrer Aufmerksamkeiten sich jedoch viel mehr für sein Schachbrett zu interessieren als für sie.

Mulan ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Abgesehen von den Männern in den Ecken mit ihren verbotenen Schwertern hatte Dafan hier und da noch weitere Banditen verteilt, die Tee tranken und sich ihren eigenen Schachpartien widmeten. Mulan zählte mindestens zehn. Und obwohl sie ihre eigenen Frauen in das Geschäft eingeschleust hatte – Teemädchen mit versteckten Dolchen in den Schärpen, Küchenmägde mit Kurzschwertern zwischen den Töpfen –, würde sie es bevorzugen, wenn es nicht zu einem offenen Kampf käme. Es wäre besser, wenn es Liwen gelang, Dafan in einen der oberen Räume zu locken, so wie sie es geplant hatten. Schalte den Hauptmann aus, gewinne das Spiel. Genau wie beim Schach.

Mulan bewegte ihre Kanone über den Fluss und zwang Dafan, eines seiner Pferde in Sicherheit zu bringen.

„Wohin führt Euch Eure Reise?“, fragte Dafan.

„Ein paar Tagesreisen gen Westen“, antwortete Mulan. „Mein Vater will dort geeignetes Land für einen Weinberg erwerben. Unser Weingeschäft ist in den letzten Jahren stetig gewachsen.“

„Ich selbst trinke keinen Traubenwein“, erklärte Dafan. „Taugt er was?“

„Ihr werdet feststellen, dass er süßer ist als Reiswein“, erwiderte Mulan. „Uns wurde die große Ehre zuteil, mehrere Fässer an den Kaiser zu liefern.“

Dafan hob eine Augenbraue, eine Bewegung, die an den Narben in seinem Gesicht zerrte. „Tatsächlich? Das ist eine große Ehre, in der Tat.“

Mulan nickte bescheiden. „Das Glück war uns hold.“

Liwen kehrte zurück, um ihre Tassen aufzufüllen, obwohl weder Mulan noch Dafan einen Schluck genommen hatten. „Meister Yang“, trällerte sie und legte ihm leicht eine Hand auf die Schulter. „Ihr seid ein so geschickter Schachspieler.“

Dafan stieß ein tiefes Husten aus und scheuchte sie mit einer Handbewegung davon. Liwen zog sich zurück und warf Mulan dabei einen entnervten Blick zu.

Mulan musste sich sehr zusammenreißen, um ihr Lächeln zu unterdrücken. Liwen war für gewöhnlich herausragend in allem, was sie tat. Daher wäre es erheiternd gewesen, mit anzusehen, wie sie sich abmühte, wenn nicht so viel auf dem Spiel stünde. Mulan sah ihr nach und traf eine rasche Entscheidung. „Meister Yang“, sagte sie. „Vielleicht kann ich Euch dafür entschädigen, dass ich in unserem Schachspiel heute ein so erbärmlicher Gegner war. Ich verwahre einige Krüge aus unserem Weinkeller oben in meinen Räumen. Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr davon probieren würdet.“

Dafan hob den Kopf. „In der Tat, warum nicht. Die Bediensteten sollen uns welchen bringen.“

„Ich traue keinem der Bediensteten“, sagte Mulan. „Die Charge ist ein Verschnitt aus Trauben von verschiedenen Weinbergen. Ich habe sie selbst zusammengestellt und würde sie nur ungern an unsere Konkurrenten verkauft sehen. Was haltet Ihr davon? In unserem heutigen Spiel habe ich offenkundig keine Aussicht auf einen Sieg. Vielleicht könnt Ihr mir die Schmach ersparen, meine Niederlage bis zum letzten Zug auszuspielen, und mich nach oben begleiten.“

Der Anführer der Räuberbande studierte das Schachbrett, dann zuckte er mit den Schultern und schob seinen Stuhl zurück. Als sie sich erhob, dachte Mulan gerade noch rechtzeitig daran, nach ihrem Gehstock zu greifen und beim Gehen ihr rechtes Bein stärker zu belasten. Ihr Gewand, angemessen edel für den Sohn eines reichen Händlers, reichte ihr bis zu den Knöcheln und war in der Taille mit einem jadebesetzten Gürtel zusammengefasst. Das Gewand saß zwar locker genug, als dass sie ein Schwert darunter hätte verstecken können, aber das Risiko war ihr zu groß. Ein Gehstock war die zweitbeste Option. So verfügte sie zumindest über etwas anderes als nur die eigenen Gliedmaßen, um eine scharfe Klinge abzuwehren.

Die Glockenärmel von Mulans Gewand flatterten irritierend, als sie ­Liwen zu sich winkte. „Bring einige frische Weinbecher auf meine Räume.“

Dafan ging auf die Treppe zu und bedeutete seinen Männern, ihm zu folgen. Mulan schluckte ihren Frust hinunter, als einer der Kerle die Stufen vor ihnen hinaufeilte und nicht weniger als drei weitere das Schlusslicht bildeten.

„Ich fürchte, ich kann Euren Männern keinen Schluck anbieten“, sagte sie.

„Schenkt ihnen keine Beachtung“, sagte er. „Bei meiner Betätigung sind sie ein notwendiges Übel, aber sie erwarten nicht, verköstigt zu werden.“

„Ihr habt mir noch nichts von Eurer Betätigung erzählt“, sagte Mulan. Sie gestattete einem Hauch von Argwohn, sich in ihre Stimme zu schleichen. Obgleich der reiche junge Reisende, den sie verkörperte, neu in der Gegend war, war er doch nicht naiv genug, um im Angesicht von fünf untersagten Schwertern nicht misstrauisch zu werden.

„Ich bin Geschäftsmann“, sagte Dafan. „Aber ich tätige keine Geschäfte an den Orten, an denen ich mich entspanne.“

Der Leibwächter, der vorausgegangen war, erschien oben am Treppenabsatz, als Mulan und Dafan sich näherten. Er nickte seinem Anführer knapp zu und nahm seinen Platz bei den anderen dreien ein.

Der Flur hier oben war eng, mit geschlossenen Türen zu beiden Seiten, die in die wenigen Gästezimmer führten. Die Schritte der Gruppe dröhnten auf dem Holzboden lauter, als es hätte sein dürfen. Demnach waren alle schwer behangen mit Metall und Rüstzeug. Dieses Wissen zerrte noch stärker an Mulans Nerven.

Mulan stoppte vor der ersten Tür und öffnete sie weit, damit Dafan hineinsehen konnte. Es war ein spärlich eingerichteter Raum, mit einem schmalen Bett und einem Tisch, ausgestattet mit Stift und Tuschestab. Zwei verschnürte Pakete und ein großer Tonkrug standen neben dem Bett.

„Wie Ihr sehen könnt, findet sich in meinem Zimmer keinerlei Bedrohung. Ich muss darauf bestehen, dass Eure Männer draußen warten.“

Dafan nickte. Die Schwertkämpfer blieben, wo sie waren, als der Räuberfürst Mulan über die Schwelle folgte. Mulan beugte sich über den Krug, der so hoch war wie ihr Oberschenkel, und löste das Leinentuch über dem Verschluss.

„Es ist ein frisch versiegelter Krug“, versicherte sie Dafan und ging einen Schritt beiseite, damit er den Stopfen sehen konnte. Sie wühlte in ihrer Tasche nach einem Messer und zog es hervor, ohne dass Dafan irgendeine Reaktion zeigte. Er hatte keinen Grund, sich zu sorgen. Es war schließlich nicht so, dass sie ihn damit in die Enge treiben könnte.

Als sie sich daranmachte, den Stopfen zu lösen, ertönten aus dem Flur Schritte. Dafan erstarrte kaum merklich und machte Anstalten, nach seinem Schwert zu greifen. Draußen vor der Tür tauschten seine Männer verwirrte Blicke.

„Becher für Meister Chen“, ertönte Liwens Stimme. Sie und drei weitere Dienstmädchen bahnten sich unter höflichem Lächeln und entschuldigenden Verneigungen ihren Weg. Liwen trug Becher und Servietten, während die nächste Frau Teller in den Händen hielt und die anderen beiden Platten mit einer Auswahl an getrockneten Früchten, Nüssen, geräuchertem Fisch und gerösteten Kernen hereinbrachten.

Dafan ließ die Hand sinken.

„Danke“, sagte Mulan. Sie nahm die Becher von Liwen entgegen und begegnete ihrem Blick, gab ihr jedoch noch kein Zeichen. Sie hatte gehofft, Dafan allein hier hinaufzulocken – oder höchstens mit ein oder zwei Wachmännern. Stattdessen waren es nun vier Wachmänner und vier ihrer eigenen Frauen. Sie nahm an, dass Liwen nicht noch mehr Dienstmädchen hätte mitbringen können, ohne Verdacht zu erregen. Mulan war ohnehin beeindruckt, dass ihre Stellvertreterin sich so viele plausible Erfrischungen hatte einfallen lassen, die sie anbieten konnte.

Es würde wohl auf einen ausgeglichenen Kampf hinauslaufen, fünf gegen fünf. Mulan hatte Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, und Liwen war mit dem Schwert unvergleichlich. Aber konnten die anderen drei es mit erfahrenen Banditen aufnehmen? Zwei der Mädchen trainierten seit fast einem Jahr mit Mulan. Sie waren gute Schülerinnen, hatten aber noch nie einen echten Kampf ausgetragen. Die letzte, Zhonglin, war eine neue Rekrutin, die erst ein paar Monate mit ihnen verbracht hatte. Sie hätte überhaupt nicht hier sein dürfen. Mulan hatte ihr einen Sicherungsposten am Ende der Straße zugewiesen, um fliehenden Banditen den Weg abzuschneiden.

Zwei Veteraninnen, zwei talentierte, aber unerfahrene Kämpferinnen und eine neue Rekrutin gegen fünf abgeklärte Banditen. Bis zu einem gewissen Grad konnten Liwen und Mulan die anderen decken, aber Mulan reichte das als Chancen nicht aus. Sie hasste die Vorstellung, ihre Mission abzubrechen, wo sie doch so nah dran waren, aber sie wollte das Blut dieser Frauen nicht an ihren Händen kleben haben.

Zhonglin stellte ihre Platte auf dem Tisch ab. Gleich darauf riss sie erschrocken die Augen auf und umklammerte hektisch ihr Kleid. Ein lautes Scheppern ertönte, als ein Kurzschwert vor ihre Füße fiel. Mulans Herz landete mit ihm auf dem Boden.

„Was ist das?“, fragte Dafan. Er sprang auf, war in zwei gewaltigen Schritten bei Zhonglin und schnappte sich das Schwert. „Warum sollte ein Dienstmädchen so etwas mit sich rumtragen?“

Zhonglins ohnehin schon blasses Gesicht war schneeweiß. Ihre herzförmigen Lippen zitterten.

Mulan tauschte einen panischen Blick mit Liwen. „Sie ist bloß eine Magd. Sie schneiden Dinge in der Küche.“

„Durchsucht die anderen“, befahl Dafan seinen Männern. Der erste von ihnen packte Liwen am Arm, ungeachtet der eisigen Warnung im Blick der falschen Magd.

Es sah ganz so aus, als bliebe Mulan keine andere Wahl.

„Yang Dafan, Ihr seid verhaftet“, sagte sie. „Auf Anordnung des Magistrats.“ Sie wünschte wirklich, sie hätte Gelegenheit, an ihr Schwert zu kommen.

Dafan starrte die Dienstmädchen an. „Bewaffnete Frauen?“, murmelte er. Dann musterte er Mulan aufmerksamer als zuvor. „Ihr seid nicht, was Ihr zu sein vorgebt.“

„Nein“, erwiderte Mulan und machte sich nicht die Mühe, die Stimme zu senken. „Das bin ich nicht.“

Liwen versetzte dem Mann, der sie festhielt, einen heftigen Tritt gegen die Kniescheibe. Er ging zu Boden, schreiend vor Schmerz, als ein langer Dolch in Liwens Hand aufblitzte.

„Pass auf!“, schrie sie.

Mulan hob ihren Gehstock gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass Dafans Schwert ihr den Schädel spaltete. Der Räuberfürst war rot im Gesicht vor Zorn, seine Augen zuckten wild umher, und er attackierte Mulan mit einer Heftigkeit, der sie nur wenig entgegenzusetzen hatte. Jeder seiner Schläge ließ ihren Stab erzittern, fuhr ihr die Arme hinauf und ließ ihre Hände taub werden. Mulan wich langsam zurück, sich der beunruhigenden Tatsache bewusst, dass die Wand hinter ihr rasch näher rückte.

Sie nutzte einen Moment der Schwäche in seiner Deckung und stieß ihren Gehstock in Dafans Solarplexus. Als er sich keuchend vornüberbeugte, wich Mulan einen weiteren Schritt zurück. Ihr Fuß stieß gegen die Tasche neben ihrem Bett. Rasch wog sie das Risiko ab, dann ließ sie ihren Gehstock fallen, riss die Tasche auf und zog ein Schwert und ein Messer heraus. Schnell warf sie Zhonglin das Messer zu, die unbewaffnet mit dem Rücken zur Wand stand. Das Schwert behielt Mulan für sich. Rufe und Schreie hallten von unten die Stufen hinauf. Ihre Frauen hatten die Treppe verbarrikadiert.

Dafan keuchte nicht länger. Mit einer Hand hielt er sein Schwert auf Anschlag bereit, obwohl seine andere Hand noch immer seine Rippen umklammert hielt. Seine Augen huschten von der Tür zu dem verletzten Mann am Boden und weiter zu seinen drei verbliebenen Kämpfern, die sich mit Mulans Frauen ein unerbittliches Gefecht lieferten.

„Wir haben die Treppe blockiert, und mehr Soldaten sind auf dem Weg“, sagte Mulan. „Ergebt Euch jetzt, dann bringen wir Euch unverletzt vor den Magistrat.“

Rufe drangen von draußen herein. Durch das Fenster konnte Mulan sehen, wie Frauen auf den Eingang des Teehauses zurannten – weitere Mitglieder ihrer Miliz, gekleidet wie Bäuerinnen und Arbeiterinnen. Das Wissen, dass Dafan auf seinem Weg hierher direkt an ihnen vorbeigekommen war und nicht erkannt hatte, was sie tatsächlich waren, verschaffte ihr eine gewisse Genugtuung.

Für einen Augenblick starrte Daran fassungslos auf die Frauen. Dann schob er sein Schwert in die Scheide und hievte seine massige Gestalt aus dem Fenster.

Mulan unterdrückte einige unpassende Worte. Das hätte sie kommen sehen müssen. Sie steckte sich ihr eigenes Schwert in den Gürtel und folgte ihm durchs Fenster. Davor verlief ein knarzender überdachter Gang, dessen geschnitztes Blumengeländer vom Alter ausgetrocknet war. Dafan sprintete den Gang hinunter. Als er das Ende erreichte, sprang auf das Geländer und schwang sich aufs Dach.

Dieses Mal fluchte Mulan tatsächlich. Mit zusammengebissenen Zähnen kletterte sie auf das Geländer und hielt sich an einem hölzernen Pfeiler fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ein Büschel Dattelpflaumen, aufgehängt, um in der Sonne zu trocknen, schlug ihr ins Gesicht. Über ihr erstreckte sich das Dach, das den Balkon um eine Armeslänge überragte und von einem Querbalken getragen wurde. Mulan war kleiner als Dafan. Den Querbalken zu erreichen, bedeutete für sie einen wesentlich größeren Sprung.

Sie warf sich nach vorn, erwischte das trockene Holz mit den Fingerspitzen. Unter ihr schwankte das Geländer, genau wie der Boden, noch viel weiter unten. Seltsam, wie deutlich sie die gezackten Kanten von jedem einzelnen Stein erkennen konnte, die spitzen Enden jedes Baumzweiges. Mulan hob den Blick. Eine Hand vor die andere setzend, hangelte sie sich bis zum Ende vor und schwang dann ihren Arm über den Rand des spitz zulaufenden schwarzen Ziegeldachs.

Als es Mulan endlich gelungen war, sich an den brüchigen Ziegeln hochzuziehen, rannte Dafan bereits über die Dachschräge, schlitternd und rutschend, aber ohne herunterzufallen. Dachziegel brachen unter seinen schweren Schritten weg und polterten die Schräge hinunter. Mulan hoffte inständig, dass dort unten niemand stand. Die Außenwand ihres Gebäudes grenzte an eine Baumgruppe, und der Räuberfürst hechtete direkt darauf zu.

Mulan kam auf die Füße, schwankend und mit den Armen rudernd. Ihre Schuhe verschafften ihr einen gewissen Halt, aber nicht genug, um sie zu beruhigen. Der Trick, stellte sie nach einer Weile fest, war, den nächsten Fuß so rasch vor den anderen zu setzen, dass es nichts ausmachte, wenn der hintere wegrutschte.

Dafan stolperte und landete mit einem ohrenbetäubenden Krachen flach auf dem Dach. Er streckte Arme und Beine von sich, mit ausgestreckten Glieder rutschte er das Dach hinunter, bis sein Fuß gegen die Dachkante stieß. Mulan verdoppelte ihre Geschwindigkeit und zog ihr Schwert.

Er hatte gerade wieder seinen Halt gefunden und sich aufgerichtet, als sie ihn erreichte. Irgendwie war es ihm gelungen, sein Schwert festzuhalten, und als sie sich ihm näherte, ging er zum Angriff über. Mulan kam schlitternd zum Halt, um zu verhindern, dass sie direkt in sein Schwert lief, und verlagerte das Gewicht, um seine Schläge zu parieren. Ziegel bröselten unter ihren Füßen weg und zerschellten weit unten auf dem Boden. Aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, dass sich eine Menschenmenge vor dem Haus gesammelt hatte. Sie durfte sich davon nicht ablenken lassen, das war gefährlich. Jetzt galt es, die Sache rasch zu Ende bringen.

Dafan holte nach ihrem Gesicht aus. Anstatt seinen Schlag abzuwehren, duckte Mulan sich dieses Mal, fuhr mit ausgestecktem Bein herum und trat ihm die Füße weg. Der Bandit landete mit einem dumpfen Schlag auf der Seite. Sein Schwert schlitterte über die Dachkante, und er krallte sich an den Dachziegeln fest, um ihm nicht in die Tiefe zu folgen. Mulan stellte einen Fuß auf sein Handgelenk und hielt ihm die Spitze ihres Schwerts an die Kehle.

„Genug. Der Magistrat erwartet Euch.“

Sie wagte es nicht, ihre Deckung aufzugeben, während sie Dafan fesselte. Auch unbewaffnet war er noch ein äußerst gefährlicher Mann. Der unbändige Hass in seinen Augen war beängstigend. Zählte man noch dazu, dass sie beide nur einen falschen Schritt davon entfernt waren, sich die Hälse zu brechen …

Als Mulan Dafan schließlich mit vor der Brust gefesselten Händen auf dem Dach abgesetzt hatte, schmerzte jeder Muskel ihres Körpers vor Anstrengung.

Sie trat einen Schritt von dem Räuberfürsten zurück. Das Schwert auf Dafans Rücken gerichtet, gestattete Mulan sich endlich einen Blick hi­nunter in den Hof. Der Kampf war im Abklingen, Dafans wenige verbliebene Männer waren Mulans Truppen zahlenmäßig weit unterlegen.

„Mulan!“, rief Liwen zu ihr herauf. Die Bänder in ihrem sorgfältig geflochtenen Zopf hingen zerzaust hinab. „Bist du unversehrt?“

„Ja, es ist alles in Ordnung. Bring mir eine Leiter!“, erwiderte Mulan.

Eine junge Rekrutin kam mit einer Leiter über der Schulter zu ihnen geeilt. Kurz befürchtete Mulan, dass Dafan sich lieber vom Dach stürzen würde, als sich verhaften zu lassen, aber er kletterte die Leiter vorsichtig hinunter und griff die Sprossen mit beiden am Oberkörper gefesselten Händen. Drei Frauen mit Schwertern in den Händen erwarteten ihn am Fuß der Leiter. Kaum dass der Fuß des Banditen den Boden berührt hatte, drängten sie ihn gegen die Wand, durchsuchten ihn nach Waffen und fesselten seine Füße.

Mulan folgte ihm nach unten und nahm dankbar Liwens Hand, als sie von der drittletzten Sprosse sprang. Der Kampf war jetzt vollständig zum Erliegen gekommen. Die Gefangenen standen aufgereiht an einer Seite des Hofes. Das Alter von Dafans Männer reichte von einfachen jungen Burschen bis zu ergrauenden Kerlen. Manche wirkten geschlagen, während andere den Eindruck erweckten, dass man sie besser im Auge behalten sollte. Mulan musterte die verschiedenen Gruppen, und ihr Magen verkrampfte sich, als ihr Blick auf eine Handvoll Körper fiel, die über die gepflasterten Wege des Hofs verteilt lagen.

Sie wappnete sich. „Verluste?“, fragte sie.

„Keiner von denen gehört zu uns“, sagte Liwen, die ihrem Blick gefolgt war. „Wir haben einige Verletzte mit Schnittwunden, die bereits versorgt werden. Jiayi hat einen gebrochenen Arm.“ Liwen presste die Lippen aufeinander. „Fu Ning hat eine schwere Wunde am Bein erlitten.“

Der Knoten in Mulans Magen löste sich, aber nicht ganz. Liwen hätte eine Wunde nicht als schwer bezeichnet, wenn die Lage nicht sehr ernst wäre.

„Bring mich zu ihr“, sagte Mulan.

Der Hauptraum des Schachhauses war kaum noch als der Raum zu erkennen, den Mulan keine halbe Stunde zuvor verlassen hatte. Die edlen lackierten Tische waren umgeworfen worden. Stühle lagen zerschmettert herum. Die große Tonstatue eines Reiters war umgestürzt und entzweigebrochen. Schachfigurengroße Löcher verunzierten das filigrane Gitterwerk der Fenster, und Blut verdunkelte Teile des Steinbodens. Mulan rutschte das Herz in die Hose, als sie an das ältliche Ehepaar dachte, dem das Geschäft gehörte. Sie hatten gleich zweimal enormes Vertrauen in Mulan bewiesen. Zum einen, als sie ihr von Dafans Aktivitäten erzählt hatten, und dann wieder, als sie ihr gestattet hatten, diesen Hinterhalt zu planen. Sie musste sich etwas überlegen, wie sie die beiden für ihre Verluste entschädigen konnte.

In der Mitte des Raums war ein Teil des Bodens freigeräumt worden, wo eine Gruppe Frauen um eine liegende Gestalt kauerte. Mulan brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln, ihre eigene Betroffenheit zu unterdrücken und die Stärke heraufzubeschwören, die die anderen jetzt in ihr sehen mussten. Erst dann näherte sie sich.

Fu Ning war eine von Mulans jungen Soldatinnen, eine Frau, die hart an sich arbeitete und sich selbst bei den zermürbendsten Übungen nie beklagte. Jetzt war ihr Gesicht blass, beinahe grünlich, und ein Schweißfilm glänzte auf ihrer Stirn. Sie biss die Zähne zusammen, als eine andere Frau die klaffende Wunde in ihrem Oberschenkel abband, aber sie schrie nicht auf.

Die Menge teilte sich für Mulan. Nings Miene wurde beinahe entschuldigend, als ihr Blick auf ihre Anführerin fiel. „Ich habe meine Abwehr nicht oben behalten“, sagte sie mit einer Ernsthaftigkeit, die Mulan das Herz brach. „Er ist an meinem Schwert vorbeigekommen … Genau das, wovor Ihr mich immer gewarnt habt.“

Mulan nahm Nings Hand zwischen ihre eigenen und unterbrach mit leichtem Druck ihre nächsten Worte. „Du hast dich gut geschlagen. Keine von uns kämpft in der Hitze des Gefechts ihren besten Kampf. Darum trainieren wir so hart. Du hast gekämpft, und du bist am Leben geblieben. Du hast dich weit besser geschlagen, als du es getan hättest, wenn ich dich noch vor einem Jahr in den Kampf geschickt hätte.“

Ning lächelte. Noch vor sechs Monaten hatte sie ein Schwert nicht von einer Axt unterscheiden können. „Manchmal frage ich mich, ob es mir einfach nur bestimmt ist, die Tochter eines Bauern zu sein“, murmelte sie.

„Es ist keine Schande, die Tochter eines Bauern zu sein. Und niemand behauptet, dass ein Bauer kein Schwert tragen kann. Aber lass dir von niemandem einreden, dass du, nur weil du als Bäuerin geboren wurdest, es auch immer bleiben musst und nichts anderes sein kannst. Wusstest du, dass du den Nachnamen einer großen Kriegerin trägst?“

Ning drehte ihr den Kopf zu, nun mit ungetrübter Neugier im Blick.

„Ihr Name war Fu Hao“, sagte Mulan. „Sie war eine große Generalin und führte ein Heer von dreitausend Kämpfern an.“

Nings Augen leuchteten auf. „Eine Frau?“

Mulan nickte. „Die Größe liegt dir im Blut. Lass dir von niemandem etwas anderes erzählen.“

Eine der Kräuterfrauen aus dem Dorf kam mit einem bitter riechenden Gebräu herbei. „Damit sie schlafen kann“, sagte sie.

Mulan nickte und unterdrückte den irrationalen Impuls, die Kräuterfrau fortzuschicken und sich selbst um Fu Ning zu kümmern. „Achtet gut auf sie.“

Weder Mulan noch Liwen sagten ein Wort, bis sie außerhalb der Hörweite der anderen waren.

„Glaubst du, sie wird das Bein behalten?“, fragte Mulan schließlich. Allein schon die Frage laut auszusprechen, drohte das Unheil heraufzubeschwören, aber sie konnte nicht an sich halten.

„Vielleicht werden ihre Ahnen sich für sie einsetzen“, sagte Liwen.

„Hast du Ning bei den Feierlichkeiten gesehen?“, fragte Mulan. „Sie ist eine überschwängliche Tänzerin.“ Mulan hatte ein deutliches Bild von Fu Ning vor Augen, wie sie sich zu einem schnellen Trommelschlag drehte, mit strahlendem Gesicht und einem mit Federn besetzten Fächer in jeder Hand.

„Lass uns die Hoffnung nicht aufgeben.“

Viel mehr gab es dazu nicht zu sagen, und so verstummten sie beide. Draußen auf dem Hof herrschte rege Betriebsamkeit. Frauen eilten auf den steinernen Wegen vor und zurück, fesselten Gefangene, stellten Statuen wieder an ihren Platz, spülten das Pflaster mit eimerweise Wasser. Ein paar legten die Hände aneinander und verneigten sich vor Mulan, bevor sie sich wieder an die Arbeit machten.

Da war noch etwas, das an Mulan nagte, aber sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, was es war. Dann sagte sie: „Zhonglin hätte nicht bei dir sein sollen.“

Liwens Lippen spitzten sich. Sie nickte knapp. „Sie war dazu eingeteilt, die Straßen zu überwachen. Ich habe sie nicht gesehen, bis ich die Frauen die Treppe hinaufführte und es bereits zu spät war, um sie wieder nach unten zu schicken. Ich habe keine Ahnung, wie es ihr gelungen ist, uns derartig zu täuschen. Verzeih mir.“

Gedankenverloren rieb Mulan an einem Schmutzfleck auf ihrem Arm. Es war nicht das erste Mal, dass sie Probleme mit Zhonglin hatten. Das Mädchen hatte Talent – die Tatsache, dass sie an Liwens wachsamem Blick vorbeigeschlüpft war, bewies das deutlich –, aber sie achtete keine Befehle. „Ich hätte den Hinterhalt abgeblasen, wenn sie dieses Kurzschwert nicht fallen gelassen hätte. Wir konnten die Situation noch retten, aber sie hätte genauso gut in einer Katastrophe enden können.“

„Möchtest du, dass ich sie mir vorknöpfe?“, fragte Liwen. „Mir machen diese Dinge weit weniger aus als dir.“

Das stimmte. Mulan bezeichnete Liwen gern als die disziplinierteste Rebellin, die sie je getroffen hatte. Die Frau hatte keinen Respekt vor Autoritäten, weder vor den Nonnen, die sie erzogen hatten, noch vor dem örtlichen Gouverneur. Aber als stellvertretende Befehlshaberin von Mulans Miliz führte sie ein strengeres Regime als jede Nonne oder irgendein Gouverneur. Darin sah Liwen keinen Widerspruch.

So verlockend Liwens Angebot auch war, Mulan schüttelte den Kopf. „Danke, aber das liegt in meiner Verantwortung. Ich werde morgen mit ihr sprechen.“

Endlich lagen alle Gefangenen in Fesseln, und Mulan führte den langen Marsch zurück ins eigentliche Dorf an. Sie mussten einen aufsehenerregenden Anblick bieten – eine Truppe zerzauster, blutiger und jubelnder Frauen, die ihren humpelnden Kameradinnen die Straße hinunter halfen, während ihre Gefangenen, zu zweit aneinandergereiht, zwischen ihnen marschierten.

Bei ihrem Eintreffen erwartete der Magistrat sie bereits in der Tür seiner weiß getünchten Backsteinhütte. Mulan nahm an, dass sie wirklich nur schwer zu übersehen waren.

„Lady Fa“, sagte er, seine Stimme war so steif wie sein langer Schnurrbart.

Mulan legte die Handflächen vor der Brust aneinander und verneigte sich zur Begrüßung.

„Magistrat Fong, ich hoffe, Ihr seid wohlauf.“ Die Unterhaltungen mit ihm waren immer ein bisschen unbeholfen. Zwar glaubte Mulan nicht, dass der Magistrat sie nicht leiden konnte, aber er schien in ihrer Gegenwart immer ein wenig nervös zu sein. Vielleicht war sie für seinen Geschmack zu unberechenbar.

„Wir haben Yang Dafan“, berichtete sie ihm. „Zusammen mit fünfzehn seiner Männer.“

Der Magistrat, der die Gefangenen hinter ihr beäugt hatte, zuckte überrascht zusammen. „Ich hätte nicht an Euch zweifeln dürfen, Lady Fa. Wie habt Ihr ihn gefangen?“

Er hatte das Gesicht den Gefangenen zugewandt, und Mulan wünschte, sie hätte einen besseren Blick auf seine Miene. Was sie getan hatte, war beschämend für den Magistrat, aber sie hoffte, dass er Manns genug war, um sich davon nicht von seiner Pflicht abhalten zu lassen.

„Alles hing davon ab, bewaffnete Soldaten ohne sein Wissen in seine Nähe zu bringen. Ich habe meine Frauen hineingeschickt, mit versteckten Waffen.“

„Sehr geschickt, Lady Fa. Soll das Kopfgeld an das Haus Eures Vaters geschickt werden?“

„Bitte sendet das Kopfgeld an die Eigentümer des Bamboo River Chess House. Sie werden umfangreiche Reparaturen durchführen müssen.“

„Werdet Ihr verfügbar sein, sollte ich noch weitere Fragen haben?“

„Ich bin jeden Morgen hier auf den äußeren Feldern und trainiere meine Soldatinnen.“

Am nächsten Morgen versammelten sich die Frauen wie gewöhnlich noch vor Sonnenaufgang. Niemand beklagte sich offen, denn jede Klage hätte Extrarunden um das unbestellte Feld, das sie als Übungsplatz verwendeten, zur Folge. Aber Mulan erwischte einige dabei, wie sie Grimassen zogen, während sie sich in der kühlen Morgenluft streckten und gähnten. Sie spürte die Nachwehen des Kampfes am eigenen Leib. Ihre Beine und Arme brannten vom Klettern und Laufen auf dem Dach, und Blutergüsse waren überall auf ihrem Körper erblüht. Dennoch setzte sie ihre Generalsmiene auf und nahm ihren Platz an der Spitze des Feldes ein, wobei sie sich heimlich eine wunde Stelle am Rücken rieb und Liwen einen bösen Blick zuwarf, als diese vielsagend grinste.

„Aufstellung einnehmen!“, rief Mulan. Ihre Stimme war in der Kälte deutlich zu hören. Die Frauen beeilten sich, ihre Plätze einzunehmen, die Füße schulterbreit auseinander, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

„Ihr habt gestern gut gekämpft“, sagte Mulan. „Ihr habt eine Gruppe Banditen zur Strecke gebracht, die unsere Region fast ein Jahr lang terrorisiert hat. Ihr wart erfolgreich, wo der Magistrat gescheitert ist.“

Die Frauen standen aufrechter.

„Aber Kriege enden nicht, weil ihr einen Tag lang gut gekämpft habt. Kriege werden gewonnen, weil ihr weiterkämpft, Tag für Tag, durch Schmerz, durch Hunger, durch unendliche Erschöpfung, bis die Arbeit erledigt ist.“ Mulan hielt einen Moment inne, damit ihre Wort Wirkung entfalten konnten. „Also werden wir so trainieren, als wären wir im Krieg. Zeigt mir die Stellung des Pferdes.“

Mehr als eine Stirn runzelte sich in Fassungslosigkeit, aber alle ließen sich in eine tiefe Hocke fallen. Mulan zwang sie nicht lange, diese Stellung zu halten, bevor sie die Frauen in die erste Übung schickte. Während ihre Kompanie Tritte, Schläge und Sprünge ausführte, schritt Mulan ihre Reihen ab und korrigierte hier und da Haltungen.

„Männer wollen uns glauben machen, dass wir nicht für den Kampf geschaffen sind, dass Schwertkampf und Kung-Fu allein ihre Domänen sind.“ Ein Schwarm Krähen hob sich in die Lüfte, und Mulan wartete, bis ihre Flügelschläge verklungen waren, bevor sie weitersprach. „Aber nichts könnte der Wahrheit ferner liegen. Tatsächlich war es eine Frau, die uns die Grundlagen der Schwertkunst überliefert hat. Die Yue-Maid brachte sich selbst das Fechten bei und schrieb die erste Abhandlung über den Schwertkampf. Sie schmiedete ein Kurzschwert, das ihren Bedürfnissen gerecht wurde, scharf, aber geschmeidig, mit einem biegsamen Kern, der auf ihre Befehle reagierte. Viele weitere Frauen sind in ihre Fußstapfen getreten. Generalinnen, Piratinnen, Reiterinnen, Ringkämpferinnen, Fechterinnen. Wir sticken ihre Namen auf unsere Tuniken, um ihrer Tapferkeit zu gedenken. Wir trainieren jeden einzelnen Tag, damit, wenn der Tag gekommen ist, unsere Nachfahrinnen auch unsere Namen auf ihre Tuniken sticken können.“

Die Frauen schlugen sich tapfer. Mulan beobachtete, wie sie sich durch ihren Muskelkater und ihre Schmerzen bissen, und spürte Stolz in sich aufsteigen. Trotz ihrer ausführlichen Rede darüber, sich durch den Schmerz kämpfen zu müssen, beendete sie das Training eine halbe Stunde früher als sonst und tat so, als würde sie das erleichterte Seufzen und Stöhnen nicht bemerken.

„Zhonglin“, sagte sie. „Ich möchte mit dir sprechen.“

Zhonglin saß auf dem Boden und nahm abwechselnd Schlucke aus ihrem Wasserschlauch und Bissen von einem Reisbällchen. Sie hatte zwei Spatzen ein weiteres Reisbällchen zugeworfen, an dem diese nun pickten, und war gerade dabei, einen dritten zu überreden, sich ihr zu nähern.

Die Soldatin wirkte nicht überrascht, von Mulan angesprochen zu werden, und ihre Kameradinnen, die sich ebenfalls wenig überrascht zeigten, räumten eilig das Feld. Zhonglin ließ den Wasserschlauch sinken und klopfte sich den Staub von der Kleidung, bevor sie vor Mulan Stellung bezog.

Mulan holte tief Luft. Bringen wir es hinter uns, dachte sie. „Zhonglin, welcher Posten war dir gestern zugeteilt?“

Zhonglin sah Mulan fest in die Augen. „Der Wachposten an der Straße, Kommandant.“

„Warum warst du dann im Teehaus?“

„Ich wollte im Herzen des Kampfes sein.“

Mulan suchte in den Augen des Mädchens nach Reue oder Scham, fand jedoch keine. „Ich teile die Posten aus einem Grund zu, Soldatin. Du bist eine neue Rekrutin. Du musst noch lernen, mit dem Schwert umzugehen. Dir fehlen noch die nötigen Fähigkeiten, um an vorderster Front von Nutzen zu sein.“

Zhonglin hob kaum merklich das Kinn. „Ich habe einen Banditen entwaffnet.“

„Ein einzelner besiegter Gegner bedeutet rein gar nichts. Menschen gewinnen ständig Kämpfe, durch pures Glück. Eine ungelernte Soldatin ist nicht nur ineffektiv, sie ist eine Gefahr für ihre Kameradinnen. Hast du vergessen, dass dein auf den Boden gefallenes Kurzschwert unser Vorhaben überhaupt erst verraten hat?“

In den Augen des Mädchens blitzte es. „Wir haben gewonnen, oder nicht?“

„Weil deine Kameradinnen die Situation gerettet haben. Sie haben aber auch die Kosten getragen. Fu Ning wird womöglich nie wieder laufen.“

Bei der Erwähnung von Nings Namen fiel Zhonglins Gesicht in sich zusammen. Für einen Augenblick senkte sie den Blick, verunsichert, aber dann zwang sie ihre Gesichtszüge zurück in eine kämpferische Maske. „Warum nennt Ihr uns dann überhaupt Soldatinnen? Ihr sagt uns, wie stark wir sind, und dann tut Ihr alles, was in Eurer Macht steht, um uns vom Kampf fernzuhalten. Würde ein Hauptmann in der Kaiserlichen Armee seine Soldaten auf diese Weise behandeln?“

„Belehre mich nicht über die Kaiserliche Armee“, fuhr Mulan sie an. „Nur eine von uns hat in ihren Reihen gedient, und das bist nicht du. Dafür, dass du gestern deine Befehle missachtet hast, wirst du den nächsten Monat über der Kräuterfrau zur Hand gehen, anstatt an den Übungen teilzunehmen. Versuche, das Leid, das du deinen Kameradinnen zugefügt hast, wiedergutzumachen. Und für deine Anmaßung gerade eben wirst du die Übungsrüstungen putzen.“

Zhonglins Kiefer spannte sich an, und ihre Augen funkelten trotzig. Mulan begegnete ihrem Blick mit gleicher Wucht, ihr eigener Zorn brodelte unter der Oberfläche. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, ob Zhonglin so weit gehen würde, einen Befehl zu verweigern, während Mulan direkt vor ihr stand. Aber dann wandte Zhonglin sich ab. Mulan beobachtete den Rücken des Mädchens, als es einmal tief Luft holte und dann langsam und bedacht einen Satz Übungsrüstungen aufhob. Als Zhonglin zwei weitere Rüstungen in ihre Arme gestapelt hatte, wandte Mulan sich ab und ging mit bebenden Nerven vom Feld.

Liwen wartete am Feldrand auf sie. „Das Gespräch ist wohl nicht gut gelaufen?“

Mulan warf einen Blick über die Schulter zurück auf Zhonglin, die Übungsrüstungen zu einem Stapel aufhäufte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass eine Soldatin jemals so offen aufmüpfig gewesen wäre, nicht einmal in der Kaiserlichen Armee. „Sie muss Disziplin lernen. Ich kann keine Soldatin gebrauchen, die keine Befehle befolgt.“

„Sie erinnert mich an mich selbst, als ich noch jünger war“, sagte Liwen. „Ich habe mir auch nie viel aus Regeln gemacht.“

„Haben die Nonnen dich deswegen rausgeworfen?“

„Sie haben mich nicht rausgeworfen. Ich bin gegangen.“

„Und seither hast du dir dein Haar geflochten.“

Liwen fuhr mit der Hand über ihre komplizierte Frisur. Heute hatte sie Zöpfe auf beiden Seiten ihres Kopfs zu zwei Dutts gewickelt und zwei kleinere Zöpfe darunter geflochten. „Du würdest dich auch mehr um deine Haare kümmern, wenn du so viel Zeit deiner Kindheit ohne sie hättest auskommen müssen.“

Mulan dachte zurück an ihre Tage in der Armee, als sie sich das Haar kurz geschnitten hatte, um zwischen den Männern nicht aufzufallen. Sie hatte es nicht wirklich vermisst. Wenn überhaupt, dann hatte sie die neue Länge als sehr viel pflegeleichter empfunden. Aber es war ein himmelweiter Unterschied, sich das Haar kurz zu schneiden oder es vollständig abzurasieren.

„Findest du, ich bin überfürsorglich mit den Frauen?“, fragte Mulan plötzlich.

Liwens Talent für schlagfertige Erwiderungen machte die Pause, die auf Mulans Frage folgte, umso auffälliger. „Allein aus den Übungen heraus ist es schwer zu sagen, wie bereit eine Soldatin für die Schlacht ist.“

„Das war weder ein Ja noch ein Nein“, erwiderte Mulan.

Liwen zuckte mit den Schultern. „Wenn ich die Sorgen einer Kommandantin gewollt hätte, hätte ich meine eigene Miliz auf die Beine gestellt. Aber ich habe mich deiner angeschlossen.“

Die Art und Weise, wie sie sich Mulans Miliz angeschlossen hatte, war zu einhundert Prozent Liwen gewesen. Einige örtliche Banditen hatten einen Bauern in Mulans Dorf belästigt, und Mulan hatte sich freiwillig gemeldet, um mit einigen ihrer erfahrenen Kämpferinnen in der Gegend zu patrouillieren. Tatsächlich war ein paar Tage später eine Bande von fünf Schurken aufgetaucht. Sie waren gerade drauf und dran gewesen, Mulan eine ordentliche Abreibung zu verpassen, als jemand sich mitten ins Getümmel stürzte.

Es war eine Frau. Ihre Kleidung war zerlumpt, aber ihr Schwert war scharf. Die Fremde entwaffnete einen der Banditen mit einer Leichtigkeit, als führte sie eine Fechtübung durch, und bewegte sich dann weiter zum nächsten. Als der Staub sich gelegt hatte, wollte Mulan etwas sagen, aber Liwen kam ihr zuvor.

„Ihr seid Fa Mulan?“, fragte sie mit derselben Zielstrebigkeit, von der ihre Schwertschläge gezeugt hatten.

„Ja“, erwiderte Mulan überrascht.

„Ihr führt eine weibliche Miliz an?“

„Das tue ich.“

Bei diesen Worten nickte Liwen und ging davon.

Am nächsten Morgen tauchte sie eine Viertelstunde nach Beginn des morgendlichen Trainings auf und sah still von der Seite des Feldes aus zu. Liwen beobachtete sie eine ganze Woche. Sie erschien kurz nachdem sie mit dem Training begonnen hatten und verschwand, kurz bevor es beendet war. Danach kam sie auf Mulan zu, um ihr ihr Schwert anzubieten.

„Ich kann nicht sagen, wie lange ich bleiben werde“, hatte sie gesagt. „Aber während ich hier bin, werde ich mein Bestes geben.“

Mulan hatte ihre Zweifel an dieser unnahbaren Schwertkämpferin gehabt, aber Liwen hatte ihr Wort gehalten und sich mit derselben Zielstrebigkeit der Miliz gewidmet, mit der sie sich auch jenem ersten Kampf gestellt hatte. Mit der Zeit hatte Mulan mehr über Liwens Vergangenheit erfahren, über ihre Kindheit als Waise in einem Konvent und darüber, wie sie es schließlich verlassen hatte, um als wandernde Schwertkämpferin durch das Land zu ziehen. Trotz Liwens ständigen Erinnerungen daran, dass sie nicht lange bleiben würde, schien sie sich in Mulans Miliz zu Hause zu fühlen. Mit der Zeit hatte Mulan ihr mehr und mehr Verantwortung übertragen, bis Liwen praktisch zu ihrer Stellvertreterin geworden war.

Liwen rieb sich den Staub von den Händen. „Ich bin hier fertig. Möchtest du …“ Sie kniff die Augen zusammen, den Blick auf die Straße gerichtet. „Warum kommen sie zurück?“

Mulan folgte Liwens Blick und entdeckte sechs Frauen ihrer Miliz, die auf das Übungsfeld zuliefen. Mulan hätte sich Sorgen gemacht, wäre da nicht das erwartungsvolle Strahlen auf ihren Gesichtern.

Wenling, eine ihrer jüngeren Rekrutinnen, ruderte wild mit den Armen durch die Luft, als die Frauen vor ihr zum Stehen kamen. „Mulan, da kommt ein Reiter die Straße entlang. Er ist aus der Kaiserlichen Stadt.“ Sie wackelte bedeutungsvoll mit den Augenbrauen, während die Frauen hinter ihr in absolut unmilitärisches Gekicher ausbrachen.

„Verstehe. Warum kommt ihr deswegen zu mir?“ Doch Mulan hatte so eine Vermutung, und die Möglichkeit ließ das Herz in ihrer Brust Saltos schlagen.

Wenling packte sie bei der Hand und zog sie von einer amüsierten Liwen weg. „Kommt schon!“

Mulan musste rennen, um mit den Mädchen Schritt zu halten. Sie schlängelten sich durch Straßen mit feinem Gitterwerk vor den Fenstern und spitz zulaufenden Dächern, wobei sie in ihrer unbedachten Eile eine Menge Staub von den Pfaden aufwirbelten. Ein Dim-Sum-Verkäufer riss seinen Karren gerade noch rechtzeitig aus ihrem Weg. Endlich, völlig außer Atem, erreichten sie die kaiserliche Straße, die aus dem Dorf führte. Eine kleine Gruppe hatte sich bereits dort versammelt, und alle hatten ihren Blick auf den Reiter geheftet, der sich rasch näherte.

Mulan trat aus der Gruppe heraus, um besser sehen zu können. Der Mann hatte breite Schultern. Seine Haltung und die Leichtigkeit, mit der er im Sattel saß, zeugten von einem erfahrenen Reiter. Er trug den auf Hochglanz polierten eisernen Brustpanzer eines hochrangigen Offiziers der Armee. Als er näher kam, konnte Mulan seine hohen Wangenknochen und die markante Linie seines Kiefers erkennen, den ausdrucksstarken Mund, der sich so leicht zu einem Lächeln verzog. Doch da wusste sie bereits, um wen es sich handelte. Li Shang war in ihr Dorf gekommen.

Ein gutes Stück vom Dorf entfernt brachte er sein Pferd zum Stehen und saß ab. Er bewegte sich mit derselben geschmeidigen Anmut – ungewöhnlich für einen Mann seiner Größe –, an die Mulan sich noch aus ihren Tagen in der Armee erinnerte. Mulan winkte ihm zur Begrüßung zu und wünschte, sie hätte Zeit gehabt, sich nach dem Training zu waschen. Was ein alberner Gedanke war. Shang hatte sie viele Male zuvor erschöpft und verschwitzt gesehen. Als er sein Pferd näher heranführte, trafen sich ihre Blicke, und er lächelte.

Als Mulan ihn zuletzt gesehen hatte, hatte Shang in einem Genesungsbett gelegen, blass von einer tiefen Schwertwunde. Sein Regiment hatte den Befehl erhalten, einen Einfall der Balhae am Shanhai-Pass abzufangen, und sie hatte ihnen ihr Schwert geliehen. Irgendwie waren sie und Shang vom Rest der Truppen getrennt worden und saßen in einer Felsspalte in der Falle, während feindliche Soldaten die Umgebung durchkämmten. Sie hatten sich einen Tag lang versteckt gehalten, aber ihre Wasservorräte gingen zur Neige, und so hatten sie entschieden, einen Fluchtversuch zu unternehmen, bevor der Durst sie zu stark schwächte.

Die Balhae-Soldaten hatten sie beinahe augenblicklich entdeckt. Shang war es gelungen, ihre Reihen zu durchbrechen, aber Mulans Weg wurde von drei Soldaten blockiert, die sie in die Zange nahmen. Sie hatte Shang zugerufen, sie zurückzulassen, aber er war auf der Stelle umgedreht und hatte zwei Männer niedergestreckt, um an ihre Seite zu eilen. Niemals würde sie diese anstrengende Schlacht vergessen, in der sie Rücken an Rücken kämpften, während jeder gefallene Feind durch einen neuen Soldaten ersetzt wurde. Genauso wenig wie ihr blankes Entsetzen, als Shang plötzlich aufschrie und fiel. Sie hatte seinen Namen gebrüllt, und der lange schreckliche Moment, bis sie seine schmerzverzerrte Stimme vernahm, hatte eine ganze Lebzeit gedauert.

Wie es ihr gelungen war, ihn auf das Pferd eines Gegners zu hieven und ihre Verfolger abzuschütteln, blieb für Mulan bis heute ein Rätsel. Sie schaffte es, ihn während des gesamten mühsamen Ritts zurück ins kaiserliche Lager wach und am Leben zu halten, und war stundenlang vor dem Medizinzelt auf und ab gegangen, bis der Arzt ihr endlich versichert hatte, dass Shangs Wunde genäht werden konnte und er sich nun ausruhte. Erst als er am nächsten Morgen erwacht war, hatte sie endlich Frieden gefunden.

Als es für Mulan an der Zeit war, nach Hause aufzubrechen, hatte Shang sich so weit erholt, dass er sprechen und etwas essen durfte, auch wenn er weiterhin ans Bett gefesselt war. Mulan brachte ihm eine Schüssel Brühe an sein Krankenlager, um sich zu verabschieden. Shang nippte genüsslich daran, während sie versuchte herauszufinden, ob sie sich den grünlichen Stich seiner Haut nur einbildete und seine Hand zitterte, als er die Schale an die Lippen führte.

„Du hättest das alles vermeiden können, wenn du nicht zurückgekommen wärst, um mich zu retten“, sagte sie. „Nach allem, was wir wussten, hätten sich noch fünfzig weitere Eindringlinge hinter dem nächsten Hügel versteckt halten können. Du hättest abhauen sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest.“

Shang ließ die Schale sinken. Sein Griff war so fest wie eh und je, als er nach ihrer Hand fasste, und der Blick aus seinen dunklen Augen war tief und ausdrucksstark. „Du weißt, dass ich das nicht gekonnt hätte.“

In seiner Stimme lag ein seltsamer Unterton, voller unausgesprochener Emotionen, der Mulan in ihrem tiefsten Inneren berührte. Ein Ton, der ihre Gedanken wieder und wieder zu ihrer Unterhaltung zurückkehren ließ, als sie an jenem Tag heimwärts ritt. Der sie dazu brachte, seine Briefe in den folgenden Monaten immer wieder zu lesen und über die Bedeutung seiner Grüße und seines erklärten Wunsches, sie bald wiederzusehen, zu rätseln. Sie hatten geplant, einander zu besuchen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab, aber das Schicksal hatte andere Pläne. Shang wurde in den Rang eines Generals befördert und ritt auf neue Feldzüge. Mulans Verpflichtungen mit ihrer Miliz häuften sich. Hin und wieder tauschten sie Briefe aus, aber Mulan zwang sich, seine Worte nicht mehr so zwanghaft zu analysieren. Auf all seinen Reisen durch China traf Shang sicherlich auf unzählige interessante Menschen. Mulan musste sich das ins Gedächtnis rufen und ihren Frieden damit machen.

Wenlings Gekicher endete in einem hohen Quietschen.

„Was glaubt Ihr, warum er hier ist?“, fragte Ruolan. Ruolan war eine ältere Rekrutin und Mutter eines vierjährigen Sohns. Mulan hätte nicht erwartet, sie in dieser schnatternden Gruppe anzutreffen. Im Grunde überraschte es sie, dass überhaupt eine der Frauen sich an Shang erinnerte, geschweige denn ihn wiedererkannte. Nach dem Ende des Krieges war er nur ein paarmal durch ihr Dorf gekommen. Obwohl, dachte Mulan, Shang ist wohl die Sorte Mann, die Eindruck hinterlässt.

„Vielleicht hat er einen Auftrag vom Kaiser“, mutmaßte sie und fand, dass sie sehr erwachsen klang. Angemessen würdevoll.

„Vielleicht wollte er Euch nur sehen“, untergrub Wenling ihren Einwand.

Mulan fragte sich, was für Geschichten hinter ihrem Rücken die Runde machten. „Seid nicht albern. Er trägt die offizielle Amtstracht.“

„Und wie er sie trägt“, ertönte eine verschmitzte Stimme hinter ihr. Es folgte ein leichtes Handgemenge, als ob der Sprecherin mehr als ein Ellenbogen in die Rippen gestoßen wurde, aber sie war noch nicht fertig. „Und ich möchte wetten, dass er sich trotzdem freut, Euch zu sehen.“

„Ich freue mich auch, ihn zu sehen“, erwiderte Mulan. „Es ist immer schön, auf alte Kampfgefährten zu treffen.“

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie die Mädchen vielsagende Blicke tauschten.

„Das reicht“, sagte Mulan. „Hinfort mit euch.“

Zu ihrer Überraschung gehorchten die Mädchen, doch ihr Abgang half nicht dabei, die Schmetterlinge in Mulans Bauch zu beruhigen. Die wachsende Nähe zu Shang war auch keine Hilfe. Er war jetzt beinahe in Sprechweite und kam mit lässigen Schritten auf sie zu. Seine Arme und Schultern waren mit festen Muskeln bepackt, womöglich sogar noch mehr als bei ihrer letzten Begegnung. Seine Rüstung war heute eindeutig ausgefallener, wie es sich für seinen neuen Rang schickte. Ihre Metallschuppen glänzten und waren in blauen und grünen Reihen angeordnet, und sein seidener Überrock war mit Löwen und Tigern im Kampf bestickt.

Er sah immer noch so umwerfend gut aus wie an dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten.

„Shang.“ Ein Knicks kam ihr nicht wie die richtige Art vor, einen anderen Soldaten zu begrüßen, und eine Verneigung fühlte sich zu förmlich für jemanden an, den sie verletzt durch die Berge geschleift hatte. „Ich wusste nicht, dass du kommst.“

„Mulan.“ Die Wärme in seinen Augen entfachte eine Glut, die sich von ihrer Brust bis in ihre Fingerspitzen ausbreitete. „Verzeih, dass ich keine Nachricht geschickt habe. Der Befehl kam unerwartet.“ Für einen Augenblick sagte keiner von beiden ein Wort, dann verzog sich sein Mund zu einem Grinsen. „Ich hoffe, es verdirbt dir nicht allzu sehr den Tag.“

Mulan lachte, und die seltsame Anspannung fiel von ihnen ab. „Ich werde versuchen zu retten, was noch zu retten ist“, erwiderte sie. „Wen suchst du?“

Die Menge begann sich allmählich aufzulösen, als die höflicheren Dorfbewohner in ihre Häuser zurückkehrten, während andere Beschäftigungen nachgingen, die sich zufälligerweise genau in Hörweite befanden. Eine Handvoll Kinder blieb stehen und starrte den neuen Besucher unverhohlen an. Shang winkte ihnen zu, und ein kleines Mädchen, das ihr Haar zu einem Knoten gebunden hatte, floh zu seiner Mutter.

„Tatsächlich ist die Nachricht für dich“, sagte Shang. „Der Kaiser verlangt deine Anwesenheit in der Kaiserlichen Stadt.“

„Der Kaiser?“ Mulan bemerkte, wie überall um sie herum die Ohren gespitzt wurden. Sie ging, begleitet von Shang, die Straße hinunter, weg von den lauschenden Ohren.

„Ich weiß nicht, warum. Er hat nur gesagt, dass er dich in der Hauptstadt sehen will und möchte, dass du so rasch wie möglich aufbrichst.“

Mulan verlangsamte ihre Schritte. Nach dem Krieg hatte der Kaiser Mulan eine offizielle Position im Palast angeboten, aber sie hatte darum gebeten, nach Hause zurückkehren zu dürfen. Seit diesem Tag hatte sie den Kaiser einige Male gesehen, wenn sie der Kaiserliche Stadt einen Besuch abstattete. Aber er hatte noch nie zuvor ausdrücklich nach ihrer Anwesenheit verlangt. „Ist etwas geschehen?“ Gab es vielleicht einen Krieg, von dem sie nichts wusste?

Shang schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste. Kannst du morgen abreisen?“

Das ging alles ziemlich schnell. Mulan ging die nächsten Tage in Gedanken durch. „Ich glaube nicht, dass mich hier etwas hält. Liwen kann das Training der Miliz für ein paar Wochen übernehmen. Sie wird sich über die Verantwortung beklagen, aber sie wird zurechtkommen. Ich werde Mama und Baba heute Abend von meiner Abreise unterrichten.“

„Gut“, sagte Shang. Er lächelte. „Ich bin froh, dich zu sehen, Mulan.“

Die Morgensonne wärmte ihr Gesicht, als sie sein Lächeln erwiderte. „Ich bin auch froh, dich zu sehen.“

Mulans Mutter schwirrte um Shang herum. Trotz der kurzfristigen Ankündigung seines Besuchs hatte sie ein Huhn geschlachtet und ein Festmahl aus Schnittlauch-Dim-Sums, Süßkartoffelblättern und Suppe auf die Beine gestellt. Mama Fa schnalzte missbilligend die Zunge darüber, wie dünn Shang geworden sei, und bestand darauf, dass er sich richtig satt aß. Mulan musterte Shangs gewaltigen Bizeps und beschloss, das unkommentiert zu lassen.