Disney. Twisted Tales: Geheimnisvolle Liebe (Cinderella) - Walt Disney - E-Book
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Disney. Twisted Tales: Geheimnisvolle Liebe (Cinderella) E-Book

Walt Disney

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Beschreibung

Eine Zeitreise ändert Aschenputtels Schicksal – doch der Preis dafür ist hoch  Da sie nicht beweisen kann, dass sie die verschwundene Prinzessin ist, und das Leben unter Lady Tremaine nicht länger ertragen kann, versucht Cinderella einen Neuanfang und sucht eine Arbeit als Näherin im Palast. Doch als der Großherzog sie zum Dienst bei der Schwester des Königs ernennt, wird Cinderella Zeugin einer großen Verschwörung, die darauf abzielt, den König und den Prinzen zu entmachten. Konfrontiert mit Fragen der Liebe und der Loyalität gegenüber dem Königreich muss Cinderella einen Weg finden, die Schurken der Vergangenheit und der Gegenwart aufzuhalten, bevor es zu spät ist.  In der Reihe 'Twisted Tales' werden die beliebtesten Disney-Klassiker aus einer vollkommen anderen Perspektive erzählt. Sie präsentieren sowohl die Held*innen als auch die Bösewichte in einem völlig neuen Licht. Ein vielschichtiges Fantasy-Abenteuer voller neuer Blickwinkel, dunklerer Welten, überraschenden Twists und düsteren Geheimnissen. Moderne Märchen-Adaption mit einer starken Heldin in einem düsteren Fantasy-Setting: Ein spannender Coming-of-Age-Roman für alle Disney-Fans 

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Für Charlotte,

von der ich gelernt habe, wie eine Mutter zu lieben.

L. B.

Kapitel 1

Es war das Ereignis der Saison – ein königlicher Ball im Palast von König Georg, zu dem jedes heiratsfähige Mädchen eingeladen war. Und Cinderella würde dabei sein. Sie konnte es kaum glauben.

Einen Tanz, versprach sie sich selbst, während ihre Kutsche auf den Palast zufuhr. Wenn ich nur einmal tanzen kann – und sei es allein –, bin ich glücklich. Ich möchte mich nur daran erinnern, wie es sich anfühlt, frei zu sein, sich im Mondlicht zu drehen, zu drehen und immer weiter zu drehen.

Der Palast war gigantisch, eine Stadt für sich. Cinderella hätte den ganzen Abend damit verbringen können, nur den Hof zu erkunden, in dem ihre Kutsche sie absetzte.

Aber dafür war es Stunden zu spät, so spät, dass niemand sie am Eingang empfing.

Sogar die Hallen im Inneren waren leer, bis auf Dutzende Palastwachen, die mit ernsten Gesichtern ihren Dienst versahen. Cinderella hatte keine Einladung. Als sie auf der Suche nach dem Ballsaal die Prunktreppe hinaufging, wagte sie nicht, eine der Wachen nach dem Weg zu fragen, vor lauter Angst, sie würde sie hinauskomplimentieren.

Ohne den charmanten jungen Mann, der ihr auf der Suche nach dem Fest des Königs begegnete, wäre sie wahrscheinlich die ganze Nacht fröhlich im Palast herumgeirrt.

„Zum Ballsaal geht es hier entlang“, sagte er und berührte sanft ihre Hand.

Erschrocken drehte sie sich um und sah ihn an. Sie hatte eine der Palastwachen erwartet und stellte erleichtert fest, dass er zu den Gästen des Balls gehörte, so wie sie selbst.

„Ich danke Euch!“, erwiderte sie. Ihre Wangen waren bereits warm und vom langen Treppensteigen gerötet, aber nun schienen sie noch mehr zu erglühen.

Wie albern sie aussehen musste. Warum war sie nicht einfach der Musik gefolgt? Ganz in der Nähe vernahm sie Orchesterklänge und das leise, gedämpfte Gemurmel der Gäste des Königs.

Aber der junge Mann wirkte nicht so, als hielte er sie für ein Dummchen. Vielleicht war er aber auch einfach nur höflich. Das könnte seine hochgezogenen Schultern und die steife Haltung erklären. Seine Augen sahen warm und freundlich aus. Als er sich am Eingang zum Ballsaal vor ihr verbeugte, spürte Cinderella ein unbekanntes, aber wundervolles Flattern in ihrer Magengrube.

„Danke“, sagte sie noch einmal und machte instinktiv einen Knicks.

„Würdet Ihr … möchtest du tanzen?“

Cinderella blinzelte. „Du kannst wohl meine Gedanken lesen. Alles, was ich mir für heute Abend gewünscht habe, war ein Tanz. Ich habe schon so lange nicht mehr getanzt, dass ich befürchte, ich weiß nicht mehr, wie es geht.“

Da grinste der junge Mann. Er schien sich zu entspannen, und die Förmlichkeit zwischen ihnen löste sich. Ein Lächeln, so warm wie seine Augen, erhellte sein Gesicht, und er bot ihr seinen Arm. „Dann erinnere ich dich daran, wenn du erlaubst.“

Die nächsten Minuten vergingen wie im Flug. Sie waren wunderschön und berauschend. Schon jetzt wusste Cinderella, dass sie diesen Walzer, der den Saal erbeben ließ und dessen beschwingte Melodie sie von ganzem Herzen genoss, niemals vergessen würde. Sie würde auch nie vergessen, wie ihr Tanzpartner sie ansah, als sei sie die Einzige im ganzen Ballsaal. Hin und wieder bewegte er seine Lippen, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Ein Wunder, dass sie mit niemandem zusammenstießen. Oder waren sie wirklich die Einzigen auf der Tanzfläche?

Cinderella registrierte es kaum.

Als der Walzer zu Ende war, kam es ihr vor, als erwache sie aus einem wunderschönen Traum. Das Gemurmel von Gesprächen ersetzte die schwungvolle Orchestermusik. Ein Potpourri aus Parfüm verdichtete die Luft. Die Kronleuchter leuchteten schwindelerregend hell.

Fast hätte sie erwartet, dass ihr Tanzpartner sich von ihr verabschiedete, aber stattdessen beugte er sich vor und flüsterte ihr zu: „Machst du draußen einen kleinen Spaziergang mit mir? Ich würde dir gern den Garten zeigen.“

Wieder hatte er ihre Gedanken gelesen. Oder empfanden sie einfach dasselbe? Ihr Vater hatte über sich und ihre Mutter immer gesagt, dass es sich von dem Moment an, an dem sie sich begegnet seien, so angefühlt habe, als würden sie sich schon ewig kennen.

Vielleicht fühle ich mich auch so, weil ich schon so lange mit niemandem mehr befreundet war, dachte Cinderella, während sie den Palast verließen. Eine kühle Brise kitzelte ihren Nacken. Sie atmete ein und genoss die Frische des Gartens.

„Hier ist es herrlich friedlich“, sagte sie, strich mit den Fingern über die fein geschnittenen Hecken und fragte: „Findest du es schlimm, dass ich mich hier draußen besser fühle als im Ballsaal?“

„Und woran liegt das?“, antwortete er mit einer Gegenfrage.

Sie zögerte einen Moment, weil sie darüber nachdachte, was er wohl von ihrer ehrlichen Antwort halten würde. „Ich glaube, ich fühle mich in der Nähe von Blumen und Bäumen wohler. Ich war schon lange nicht mehr unter so vielen Menschen“, gab sie schüchtern zu. „Ich wüsste nicht einmal, was ich zu den meisten von ihnen sagen sollte.“

„Du bist nicht zum Ball gekommen, um einen – um neue Bekanntschaften zu machen?“

„Nein, ich bin vor allem zum Schauen gekommen. Um der Musik zu lauschen und den Palast zu sehen. Aber ich muss sagen, hier draußen ist es noch schöner als drinnen.“

„Die Luft ist jedenfalls nicht so stickig.“

Sie lachten zusammen. Wieder spürte Cinderella dieses Flattern im Bauch.

„Ich möchte alles von heute Abend in Erinnerung behalten“, sagte sie. „Den Walzer, die Blumen, die Brunnen …“

„Und mich?“, neckte ihr Begleiter sie.

Sie lächelte, war aber zu verlegen, um zu antworten. Cinderella wollte sich an alles erinnern, was sie mit ihm erlebt hatte. An die Art, wie er ihre Hand hielt, sanft und doch fest, als wollte er sie nie wieder loslassen. An die Art, wie sich seine Schultern hoben, wenn sie ihn anlächelte.

Aber sie kannte nicht einmal seinen Namen. Sie hätte ihn sofort danach fragen sollen, aber ihre Gedanken stürmten – auch jetzt noch – wie ein Wirbelwind durcheinander. Nachdem sie getanzt hatten und aus dem Ballsaal in diesen schönen Garten geflohen waren, fühlte es sich außerdem so an, als erlebten sie zusammen ein großes Abenteuer. Und sie wollte keinen Schritt zurück machen, um Höflichkeiten auszutauschen.

Ehrlich gesagt hatte sie auch Angst, dass er sie fragen könnte, woher sie kam.

„Was hast du?“, fragte er, als er spürte, dass ihre Gedanken abgeschweift waren.

„Ich möchte einfach nicht, dass der heutige Abend zu Ende geht“, antwortete sie ehrlich.

Er näherte sich ihr, und Cinderella neigte den Kopf und wartete ab, was er sagen würde. Doch er schloss seine Lippen, räusperte sich, und seine Wangen erröteten seltsam.

„Ich auch nicht.“ Er zögerte. „Ich war schon seit Jahren nicht mehr in Valors. Ich hatte keine Lust, wieder nach Hause zu kommen, aber gerade fange ich an, meine Meinung zu ändern.“

„Oh? Wo warst du denn?“

Es überraschte ihn, dass sie das nicht wusste, aber er fing sich schnell wieder. „Weg, an der Universität. Das war nicht sehr spannend. Willst du noch ein Stück gehen?“

Sie nickte. „Mir gefällt es hier draußen. Merkwürdig, dass nicht noch mehr Leute im Garten sind. Sind wir die Einzigen?“

„Ja, alle sind drinnen“, bestätigte er.

„Tanzen?“

„Das – oder sie wollen den Prinzen treffen.“

„Ich verstehe. Nun, ich bin froh, hier zu sein. Wir hatten früher einen Garten, keinen so prächtigen wie diesen, aber … oh!“ Cinderella war der Weg mit den Rosenbüschen in ihrer unmittelbaren Nähe aufgefallen.

„Du magst Rosen?“, fragte er.

„Jeder mag Rosen, oder etwa nicht?“ Cinderella kniete sich hin und achtete darauf, dass ihr Kleid nicht an den Dornen hängen blieb. „Meine Mutter hat in ihrem Garten Rosen gezüchtet. Wir haben jeden Morgen zusammen einige gepflückt.“

Sie schwieg und erinnerte sich daran, wie sie diese Tradition nach dem Tod ihrer Mutter mit ihrem Vater fortgeführt hatte. Sie hatten eine Blüte nach der anderen abgeschnitten, jede so frisch, dass der noch auf den Blütenblättern glitzernde Tau an ihren Fingern heruntergelaufen war.

„Acht rosa Rosen, sieben weiße und drei Myrtenzweige“, murmelte sie und zeigte auf die rosa und weißen Rosenbüsche im Beet.

„Was bedeutet das?“

„Das habe ich Mama immer mitgebracht. So einen Strauß schenkte mein Vater ihr, als er um ihre Hand anhielt.“

Die Geschichte des Heiratsantrags war ihre Lieblingsgeschichte gewesen. Ihr Vater hatte sie ihr wieder und wieder erzählt. Sie konnte nie genug davon bekommen. Bevor ihre Mutter gestorben war, hatte er jedes Mal lächelnd das Ende der Geschichte erzählt und dann gesagt: „Deine Mutter ist meine große Liebe.“

Nach ihrem Tod wurde er ernst, Schatten legten sich auf seine Stirn, er biss die Zähne zusammen, um seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu behalten, und sagte dann: „Deine Mutter war meine große Liebe.“

So hatte Cinderella erfahren, wie ein Wort alles verändern konnte.

Und ihren Vater seitdem nicht mehr gebeten, die Geschichte zu erzählen.

„Ich hatte es fast vergessen“, sagte sie leise und mit angespannter Stimme. „Es ist schon so lange her …“

„Acht rosa Rosen, sieben weiße und drei Myrtenzweige“, wiederholte er. „Ich werde dir helfen, dich zu erinnern.“

Sie sah zu ihm auf, und Wärme erfüllte ihr Herz. Wie konnte es sein, dass sie für jemanden, den sie erst ein paar Stunden kannte, so viel empfand?

Während sie durch die Gärten schlenderten, vorbei an Marmorpavillons und glitzernden Teichen, und an der Treppe eine Pause machten, hatte Cinderella ihr Zeitgefühl vollkommen verloren.

„Es gibt einen Teil des Gartens, den du noch nicht gesehen hast und der dich begeistern wird. Es ist allerdings ziemlich weit – bist du müde?“, fragte er.

„Nein, überhaupt nicht.“

Er ging voran, um ihr den Weg zu zeigen, aber während sie ihm folgte, blickte Cinderella sich um. „Warte bitte, ich möchte einen Moment bewundern, wie schön es hier ist.“

Überrascht sah er sie an. „Was gibt es denn da zu bewundern?“

„Alles. Die Türme, die Bäume, die Vorhänge, die aus den Fenstern flattern. Sogar die Wolken.“ Cinderella verschränkte ihre Hände vor der Brust, drehte sich in Richtung Valors und betrachtete die funkelnde Stadt unter ihr. „Und wenn wir in diese Richtung schauen … was für eine Aussicht.“

„Das habe ich noch nie zu schätzen gewusst“, gestand er.

„Ich sehe den Palast jeden Tag von meinem Fenster aus, aber von hier wirkt er ganz anders.“ Cinderella lehnte sich gegen das Geländer und bewunderte das glitzernde weiße Schloss und den Garten zu seinen Füßen. „Ich weiß ja nicht, wann ich das nächste Mal komme.“

Sie setzte sich auf eine der Stufen und legte ihr Kleid eng um ihre Knie. „Ich habe immer davon geträumt, einmal hier zu sein. Seltsam, dass ich es jetzt wirklich sehe.“

Er kniete sich neben sie auf die untere Stufe. „Was träumst du denn noch so?“

Cinderella dachte nach. Bevor sie zum Ball gekommen war, hatte sie so viele Träume gehabt. Aber es waren eben bloß Träume. Eigentlich Wünsche, wenn sie ehrlich war. Wünsche, ein anderes Leben zu leben. Bis zum heutigen Abend hatte sie sich nicht einmal getraut, das Haus zu verlassen.

Aber das konnte sie ihm nicht sagen.

„Ich möchte mehr von der Welt sehen“, sagte sie zögerlich, „und ich möchte den Menschen helfen …“ Sie hielt inne, weil sie noch nicht weiter darüber nachgedacht hatte. Sie wusste ja nicht einmal, was es bedeutete, Menschen zu helfen. Wie sollte sie auch, wo sie doch im Haus ihrer Stiefmutter gefangen war.

„Und was noch?“

Nach dem Ball bekäme sie vielleicht nie wieder die Gelegenheit, mit jemandem über diese Dinge zu sprechen. Sie würde wieder für Gräfin Tremaine und ihre Stiefschwestern arbeiten und in Vergessenheit geraten.

„Ich würde mich gerne daran erinnern, wie es ist, geliebt zu werden“, gab sie schließlich zu und starrte auf ihre Hände. Kaum hatte sie es gesagt, wünschte sie, sie könnte es zurücknehmen. Es klang erbärmlich, selbst in ihren eigenen Ohren. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wann jemand das letzte Mal etwas Nettes zu ihr gesagt hatte, geschweige denn ihre Hand gehalten und sich Zeit genommen, sie kennenzulernen.

Aber zu ihrer alltäglichen Misshandlung und Vernachlässigung zurückkehren zu müssen, war das Letzte, woran Cinderella jetzt denken wollte. „Du hältst mich bestimmt für einen hoffnungslosen Fall“, beeilte sie sich darum zu sagen, bevor ihr Begleiter antworten konnte.

„Nein. Überhaupt nicht.“

Sie wagte nicht, zu ihm aufzusehen, aber er rückte näher an sie heran, sodass sich ihre Fingerspitzen beinahe berührten.

„Das verstehe ich, und manchmal wünsche ich mir das auch.“ Er holte tief Luft. „Meine Mutter hat mir immer gesagt, es gebe viele Arten von Liebe. Bedingungslose Liebe, Selbstliebe, Liebe zu deiner Familie, Liebe zu deinen Freunden – romantische Liebe.“

Er verstummte kurz, als suche er nach den richtigen Worten. „Sie sagte, alle seien wichtig, um glücklich zu werden. Du warst also schon lange nicht mehr unter Menschen? Bei mir ist es das Gegenteil. Ich bin von Menschen umgeben, aber nur wenige sehen mein … mein …“

„Dein Herz?“, fragte Cinderella.

Sein Mund verzog sich zu einem undefinierbaren Lächeln. „Ja, mein Herz“, sagte er leise. Dann küsste er sie.

Sie war noch nie geküsst worden und noch nie verliebt gewesen. Doch als seine Lippen ihre berührten, blühte etwas in ihr auf, erwachte zum ersten Mal seit Jahren wieder. In diesem Moment flogen all ihre Sorgen und Nöte davon und hinterließen in ihrem Innern eine Freude, die sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.

Wie aus dem Nichts schlug eine Uhr. Da fiel ihr die Warnung ihrer guten Fee ein: Wenn es zwölf schlägt, wird der Zauber gebrochen – und alles ist wie zuvor.

Cinderella zuckte zusammen und beendete den Kuss.

„Was ist denn? Was ist denn los?“, fragte ihr wunderbarer Fremder.

„Es ist Mitternacht.“

„Ja, stimmt.“ Als sie aufstehen wollte, griff er nach ihrer Hand. „Aber warum …“

Cinderella zögerte. Hundert Erklärungen spukten ihr im Kopf herum, aber das Einzige, was sie sagen konnte, war: „Auf Wiedersehen.“

„Nein, nein, warte! Du kannst jetzt nicht gehen, es ist doch erst …“

„Ich muss leider.“ Cinderella löste sich aus seinen Armen. „Bitte. Bitte, ich muss gehen.“

„Aber warum denn?“

Die Uhr schlug erneut und brachte sie völlig durcheinander. Was sollte sie nur sagen?

„Na ja, ich … oh, der Prinz! Ich habe den Prinzen noch nicht getroffen“, stammelte sie.

„Den Prinzen?“ Seine Brauen zogen sich zusammen.

„Auf Wiedersehen.“

Sie rannte, so schnell sie konnte, durch den Garten und den Ballsaal und verlangsamte ihren Schritt nur kurz, um den Wachen in der Halle zum Abschied zuzuwinken.

Es kam ihr vor, als wollten alle, dass sie länger blieb, aber Cinderella ignorierte ihre Rufe. Selbst als sie ihren gläsernen Schuh auf der Treppe verlor, hob sie ihn nicht wieder auf. Dazu blieb keine Zeit mehr.

Sobald sie in der Kutsche saß, raste diese aus dem Palast und schaukelte den Hügel hinab nach Valors. Es war die längste Minute ihres Lebens. Allmählich hörte ihr funkelndes Ballkleid auf zu glitzern. Und als die Uhr das letzte Mal zur Mitternacht schlug, saß sie wieder in ihren Lumpen auf einem Kürbis, in Gesellschaft ihres Hundes Bruno und ihres Pferdes Major.

Eine Kutsche raste auf sie zu, und Cinderella schreckte zusammen. Als sie hastig von der Straße sprang, rumpelte die Kutsche schon an ihr vorbei und die Hufe der Pferde zerschmetterten ihren Kürbis. Sobald die Kutsche außer Sichtweite war, atmete Cinderella tief durch und kniete sich auf den Boden, um die Mäuse aufzuheben, die ihre eleganten Pferde gewesen waren.

Der Kopf schwirrte ihr, während sie die letzten Momente auf dem Ball Revue passieren ließ. Sie wünschte, sie hätte mehr Zeit mit dem Fremden verbringen können, den sie dort kennengelernt hatte. Mit was für einer dummen Ausrede sie sich von ihm verabschiedet hatte! Wie ärgerlich und dumm von ihr. Denn was kümmerte es sie, den Prinzen zu treffen?

Das Ganze war ihr entsetzlich peinlich. Ob es schlimm war oder vielleicht besser so, jedenfalls glaubte sie nicht, dass sie den jungen Mann jemals wiedersehen würde.

Trotzdem war es wunderschön gewesen. Endlich hatte sie den Palast gesehen, die glitzernden Kronleuchter, all die schönen Kleider und den Garten. Sie hatte die romantische Musik des Balls gehört und sehr genossen.

In der Dunkelheit glänzte ein gläserner Schuh an ihrem Fuß.

Cinderella bückte sich, um ihn aufzuheben.

Seltsam, dass alles verschwunden war, außer ihrem Glasschuh. Sie drückte ihn an ihre Brust. Vor dieser Nacht hätte sie nie gedacht, dass Zauberei in ihrem Leben einmal eine Rolle spielen würde. Nichts von alledem hätte ohne ihre gute Fee geschehen können.

Sie schaute zu den Sternen hoch, die über ihr funkelten, und wusste auf eine unerklärliche Weise, dass ihre Gönnerin sie hörte.

„Vielen Dank für alles“, sagte sie mit Blick zum nächtlichen Himmel.

Behutsam steckte sie den Glasschuh in ihre Tasche. Immerhin würde er sie an den schönen Abend erinnern.

Der Zauber ihrer guten Fee war gebrochen. Morgen würde alles wieder so sein wie zuvor. Ihre Stiefmutter würde sie herumkommandieren, ihre Stiefschwestern Anastasia und Drizella würden sie wieder piesacken und quälen. Aber sie hatte einen Hauch von Glück gespürt, seit vielen Jahren zum ersten Mal.

Jetzt wusste Cinderella, dass sie die Möglichkeit hatte, ihr Zuhause zu verlassen und Träume zu träumen, die tatsächlich wahr werden könnten. Aber sie hatte noch nicht genug Mut, sie zu verwirklichen. Noch nicht. Nicht sofort jedenfalls, direkt nach so einer herrlichen Nacht.

Ihr war nicht klar, dass sie vielleicht gar keine andere Wahl hatte.

Kapitel 2

Die Morgendämmerung zauberte farbige Streifen in den Himmel. Immer mehr rosafarbene Sonnenstrahlen glitzerten durch die opalgrauen Wolken und ließen es in der Stadt heller werden.

Viele der jungen Damen, die für den Ball von weit her angereist waren, kamen erst jetzt zu Hause an, die Füße geschwollen von der durchtanzten Nacht und enttäuscht, weil es ihnen nicht gelungen war, auch nur einen einzigen Blick auf Prinz Karl zu erhaschen.

Für Cinderella war es ein Morgen wie jeder andere. Sie hatte nach dem Aufwachen bessere Laune als sonst und summte vor sich hin, während sie das Frühstück für ihre Stiefmutter und ihre Stiefschwestern vorbereitete.

Als sie die Treppe hochging, um es ihnen zu servieren, waren Anastasia und Drizella nicht wach, jedenfalls noch nicht. Oben angekommen, hörte Cinderella, wie ihre Stiefmutter in die Zimmer ihrer Töchter stürmte und sie aufforderte, sich anzuziehen.

„Alle reden darüber“, erzählte Gräfin Tremaine, während Cinderella das Frühstückstablett in Anastasias Zimmer brachte, wo sich alle versammelt hatten. „Das ganze Königreich. Beeilt euch. Er wird jeden Moment hier sein.“

„Wer denn?“, fragte Drizella.

„Der Großherzog. Er war die ganze Nacht auf der Jagd.“

„Auf der Jagd?“, wiederholte ihre Stiefschwester.

„Nach dem Mädchen, das gestern Abend auf dem Ball seinen Schuh verloren hat. Alle sagen, er sei wahnsinnig in sie verliebt.“

Anastasia gähnte. „Der Herzog?“

„Nein, nein, nein! Der Prinz!“

Cinderella schnappte nach Luft und ließ das Tablett fallen. Der Prinz?

Unfassbar. Nie hätte sie gedacht, dass der junge Mann, mit dem sie den Abend verbracht hatte, Prinz Karl gewesen war. Sie hätte auch nicht erwartet, ihn je wiederzusehen – und schon gar nicht, am nächsten Tag zu erfahren, dass der Thronfolger von Aurelais hinter ihr her war.

„Heb das auf, du ungeschicktes Ding“, befahl die Gräfin.

Gehorsam kniete Cinderella sich nieder, aber ihre Aufmerksamkeit war meilenweit von den Porzellanscherben auf dem Boden entfernt. Wie gebannt lauschte Cinderella den Worten ihrer Stiefmutter.

„Der Glasschuh ist ihre einzige Spur“, fuhr Gräfin Tremaine fort. „Der Herzog hat den Befehl, dass jedes Mädchen im Königreich ihn anprobieren soll. Wenn er das Mädchen findet, dem dieser Schuh passt, wird sie laut königlichem Erlass die Braut des Prinzen.“

Seine Braut.

Cinderella schwirrte der Kopf. Alles verschwamm. Sie vergaß ihre Stiefmutter und ihre Stiefschwestern – sie vergaß sogar, wo sie war. Wenn der Prinz sie heiraten wollte, bedeutete das – er liebt mich. Es bedeutete, dass sie nicht länger als Dienstmagd ihrer Stiefmutter arbeiten und allein auf dem Dachboden leben müsste. Sie wäre frei.

Unwillkürlich summte sie die Melodie der Musik, zu der sie und ihr Begleiter – der Prinz – getanzt hatten. Ein imaginäres Orchester begleitete sie. Streicher, die mit einer rauschenden Harmonie lauter wurden, der Klang einer sanft im Takt gestrichenen Harfe und Flöten, die eine liebliche Gegenmelodie spielten.

Sie schwankte bei jedem Schritt, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, um sich für die Ankunft des Großherzogs zurechtzumachen. Er durfte sie nicht mit Staub im Haar und Krümeln auf der Schürze antreffen. Vor lauter Vorfreude war sie wie betäubt. Wie lange war es her, dass sie etwas so sehr gehofft hatte?

Hastig griff sie nach dem Kamm neben dem Spiegel und strich sich damit durchs Haar. Jeder Strich kribbelte bis in ihren Rücken. Vom Fenster aus sah sie das Königsschloss in der Ferne glänzen, seine Türme und Spitzen glitzerten weiß wie Perlen. Anmutig wie ein Schwan saß es auf einer grünen Wolke, dem prächtigen Garten mit endlosen Ulmen- und Fichtenreihen, die so grün waren, dass Smaragde im Vergleich dazu stumpf wirken würden.

Vielleicht war der Prinz jetzt im Schloss, schaute aus einem der hohen Bogenfenster und fragte sich, wo sie war?

Würde er sie wirklich heiraten, wenn er erführe, dass sie den anderen Glasschuh besaß? Sie hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn sie sich wiedersähen, aber das störte sie nicht. Im Gegenteil, es inspirierte sie. Zum ersten Mal würde die Zukunft mehr für sie bereithalten als die alltäglichen Aufgaben, die Vorwürfe ihrer Stiefmutter und die Gehässigkeiten ihrer Stiefschwestern. Ihr Leben würde sich ändern. Endlich!

Sie beugte sich zum Spiegel vor und wünschte, sie hätte etwas Schöneres zum Anziehen als das Kleid, das sie zum Arbeiten trug. Aufgeregt legte sie den Kamm beiseite und schaute aus dem Fenster. Noch keine Spur vom Großherzog.

Hoffentlich käme er bald. Denn sie wusste nicht, wie lange sie das Warten noch aushalten würde. Cinderella umarmte sich selbst und spürte eine unbändige Vorfreude. Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie Gräfin Tremaine, die ihr die Wendeltreppe hinauf in die winzige Dachkammer gefolgt war, erst bemerkte, als es schon zu spät war.

„O nein!“, flüsterte sie, als sie ihre Stiefmutter hinter sich stehen sah, deren dunkle Silhouette den Spiegel komplett ausfüllte.

Ihr Entsetzen wuchs, als sie sah, wie Gräfin Tremaines Finger über die Holztür glitten. Cinderella drehte sich um, aber ihre Stiefmutter nahm gerade den Schlüssel vom Nagel und schlug die Tür zu.

„Nein!“ Cinderella rannte durch das Zimmer und hämmerte mit ihren Fäusten gegen die Tür. „Du kannst mich nicht hier einsperren! Bitte! Das kannst du nicht machen. Das geht nicht.“

Aber Gräfin Tremaines Schritte verhallten bereits.

Cinderella warf sich gegen die Tür. Es war sinnlos, ihre Stiefmutter würde nicht zurückkommen. Und sie saß in der Falle.

Unten öffnete sich knarrend das Hoftor. Pferde wieherten. Die schweren Räder einer Kutsche rumpelten in die Einfahrt.

Der Großherzog war angekommen.

Bei seinem Anblick schöpfte Cinderella Hoffnung. Sie rappelte sich auf, eilte zum Fenster und versuchte verzweifelt, sich bemerkbar zu machen, damit der Herzog sie sah.

„Euer Gnaden!“, rief sie und winkte. „Ich bin hier oben! Bitte helft mir!“

Unten half ein Diener dem Großherzog beim Aussteigen aus der Kutsche. Sein Schatten sah seltsam aus, dünn, abgesehen vom Bauchansatz. Und er hatte einen Eierkopf. Ein hoher blauer Hut bedeckte sein schwarzes Haar. Die knallrote Hutfeder war farblich auf die Schärpe um seinen Oberkörper abgestimmt.

Gräfin Tremaine begrüßte ihn draußen, aber er ging zügig zur Haustür und erwiderte nur den allernötigsten Höflichkeitsgruß.

„Euer Gnaden!“, versuchte Cinderella es erneut – lauter.

Aber der Herzog verschwand im Haus.

Er hatte sie nicht gehört. Niemand hatte sie gehört, und niemand würde sie hören.

Schließlich war sie im Burgturm eingesperrt, so hoch oben, dass sie auf die Baumwipfel hinunterblicken konnte. Zu schreien half nicht.

Wut brannte in ihr, aber Cinderella unterdrückte sie.

Sie hatte sich der Grausamkeit ihrer Stiefmutter immer gefügt. Im Verlauf der Jahre hatte sie sich daran gewöhnt. Ihr Herz war abgehärtet. Abend für Abend vergab sie Gräfin Tremaine und ihren Töchtern die Gemeinheiten, die sie ihr offenbar mit Vorliebe zufügten.

Aber heute hatte ihre Stiefmutter einen Traum zerschmettert, von dem Cinderella eben erst begonnen hatte zu glauben, er könne wahr werden.

Mäuse huschten aus ihren Verstecken in den Wänden und knabberten am Saum ihres Kleids. An einem anderen Tag hätte sie das zum Lächeln gebracht, aber heute hielt sie blinzelnd ihre Tränen zurück und wandte sich ab.

„Ich will einfach nur allein sein“, sagte sie leise.

Die Mäuse verstanden sie nicht, umkreisten sie und tapsten mit ihren kleinen Klauen über den Holzboden.

So lange waren die Mäuse außer Bruno ihre einzige Gesellschaft gewesen. Sie verbrachte auf jeden Fall lieber Zeit mit ihnen als mit ihren Stiefschwestern. Bis gestern Abend hatte sie seit Wochen, vielleicht sogar Monaten außer im Haus ihres Vaters mit niemandem mehr gesprochen.

Sie spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen, als sie sich an ihre leichtherzige Unterhaltung erinnerte – mit Karl, dem Prinzen. Hätte sie es doch nur gewusst.

Aber was hätte das geändert? Ich wäre trotzdem um Mitternacht weggelaufen, oder?

Ohne die Antwort zu wissen, seufzte sie und sah den Mäusen nach, die nun davonhuschten und wieder in der Wand verschwanden. Cinderella wünschte, auch sie könnte einfach so aus ihrem Zimmer springen.

Sie atmete tief ein und beruhigte sich. Sie war es gewohnt, jede Nacht stundenlang darüber nachzugrübeln, was sie nur getan haben mochte, dass ihre Stiefmutter sie so sehr hasste. Ihre Versuche, ihren Stolz hinunterzuschlucken und Gräfin Tremaine zu gehorchen, um sie dazu zu bringen, sie zu mögen, schienen ihre Stiefmutter nur noch mehr gegen sie aufzubringen. Als Cinderella älter wurde, hatte sie es aufgegeben und bemühte sich nur noch darum, jeden Tag so erträglich wie möglich zu gestalten.

Die Zeit kroch voran. Cinderella wusste nicht, wie lange sie dagesessen, ihre Tränen getrocknet und versucht hatte, sich einzureden, dass alles gut werden würde.

Nach einer Zeit, die ihr sehr lang vorkam, schloss sich das Tor draußen wieder.

Sie stand auf, ging zum Fenster, lehnte sich an das Fensterbrett aus Holz und sah zu, wie die Kutsche des Großherzogs sich vom Herrenhaus ihres Vaters entfernte und hinter der Straßenbiegung mit der Eichenallee verschwand. Ihre Stiefmutter hatte den Herzog nicht hinausbegleitet, was nur bedeuten konnte, dass der Glasschuh weder Anastasia noch Drizella gepasst hatte.

Das wunderte Cinderella nicht, aber sie empfand keine Genugtuung.

Sie war einfach nur erleichtert.

Vielleicht wird jetzt alles wieder so, wie es war.

Nein, nur ein Narr würde das glauben.

Es konnte überhaupt nicht wieder so werden wie vorher. Außerdem: Konnte sie wieder die Dienerin ihrer Stiefmutter und ihrer Stiefschwestern sein, wo sie zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters eine Ahnung davon bekommen hatte, dass ein neues Leben möglich war?

Es ist nicht alles verloren, dachte Cinderella. Ich habe ja noch den anderen Glasschuh.

Aber was nützte ihr das, solange sie hier eingeschlossen war? Gewitterwolken brauten sich in der Ferne zusammen. Eine scharfe Brise wehte in ihr Zimmer. Cinderella schloss das Fenster, behielt ihre Hand aber an der Scheibe.

Das Gut ihres Vaters war seit ihrer Geburt ihr Zuhause. Früher war es wunderschön gewesen. Hohe Eichen umgaben das Anwesen, Efeu rankte über die grau gestrichenen Ziegel. Cinderellas Lieblingsort war der Garten, wo sie viele Stunden mit ihrer Mutter auf einer mit Blumen geschmückten Schaukel verbracht hatte.

Die Schaukel gab es schon lange nicht mehr. Sie war abgebaut worden. Abgesehen von ihren Erinnerungen war dieser Ort alles, was ihr von ihrer Mutter und ihrem Vater geblieben war. Gräfin Tremaine hatte schon vor Jahren das meiste verkauft, was ihren Eltern gehört hatte: ihre Porträts und Gemälde, ihre Bücher, ihre Möbel, ihre Kleidung. Und ihre Briefe hatte sie verbrannt.

Sehr lange hatte Cinderella den Wunsch fortzugehen ignoriert, der sie von ganzem Herzen erfüllte. Aber wie konnte sie gehen, wo das hier doch alles war, was sie kannte und ihr von ihren geliebten Eltern geblieben war? Woher sollte sie wissen, dass das Leben da draußen besser sein würde als das, was sie hier erlitt?

Außerdem wusste sie nicht, wohin sie gehen und wie sie sich selbst versorgen sollte.

Für ein mittelloses Waisenkind gab es nicht viele Möglichkeiten.

Auch waren Gräfin Tremaine und ihre Töchter die einzigen Verwandten, die sie noch hatte. Wie sehr es sie auch quälte, dass sie sie zu einer Dienerin in ihrem eigenen Haus gemacht hatten, sie schluckte es. Papa hätte gewollt, dass ich dafür sorge, dass sie sich wohlfühlen, redete sie sich ein.

Doch zum ersten Mal begann sie sich zu fragen, ob das stimmte.

Zum ersten Mal erkannte sie, dass Gräfin Tremaine nie das Beste für sie gewollt hatte. Dass sie versuchte, jeden kleinen Funken Glück, den Cinderella empfand, sofort zu ersticken.

Als wäre es Gedankenübertragung, hörte Cinderella die Schritte ihrer Stiefmutter die Treppe hinaufsteigen.

Dieses Mal kam Gräfin Tremaine allerdings nicht allein.

„Unglaublich! Was bildet sich dieser Mann bloß ein“, schimpfte Anastasia. „Das war eindeutig mein Schuh. Mein Pumps!“

„Dein Schuh?“, schrie Drizella. „Du spinnst wohl.“

Ihre Mutter wies sie zurecht. „Mädchen! Benehmt euch.“

Cinderellas Stiefschwestern schwiegen, aber nicht lange.

Anastasia beklagte sich als Erste erneut. „Warum müssen wir den ganzen Weg hier hoch? Hier ist es so staubig.“

„Ich habe eine Maus gehört“, fügte Drizella hinzu. „Mutter, können wir sie nicht einfach runterkommen lassen? Warum gehen wir zu ihr? Das ist so …“

„Seid still, ihr beiden!“, verlangte Gräfin Tremaine scharf. „Genug mit dem Gejammer.“

So wie es sich anhörte, war ihre Stiefmutter nicht gut gelaunt. Aber Cinderella hatte keine Angst. Was konnte sie ihr noch antun? Der Großherzog war bereits weg und würde nicht wiederkommen. Er suchte weiter und würde ein anderes Mädchen finden, dem der Glasschuh passte und das den Prinzen heiraten würde – ein anderes Mädchen als sie.

Die Schritte kamen immer näher. „Es ist an der Zeit, ihr wahres Gesicht zu erkennen“, sagte Gräfin Tremaine laut und vernehmlich. „Sie hat sich ausdrücklich über meine Anordnung hinweggesetzt und sich zum Ball geschlichen.“

Cinderella erstarrte. Woher wusste ihre Stiefmutter, dass sie auf dem Ball gewesen war? Sie war lange vor ihnen nach Hause gekommen, und am Morgen hatte alles normal gewirkt – zumindest bis sie die Neuigkeit gehört hatte.

Die Melodie! Ich habe die Melodie des Walzers auf dem Ball gesummt! Cinderella lief ein Schauer über den Rücken. Konnte ihre Stiefmutter das gehört haben?

Wenn ja, wüsste Gräfin Tremaine, dass Cinderella das Mädchen mit dem Glasschuh war. Das Mädchen, das der Prinz suchte.

Sie war ihr bis zu ihrem Zimmer gefolgt und hatte sie auf dem Dachboden eingesperrt, ohne jede Erklärung. Jetzt ergab das Ganz einen Sinn. Aber was würde nun, da der Großherzog weg war, mit ihr geschehen?

Ich entschuldige mich auf keinen Fall, sagte sich Cinderella standhaft, nicht dafür, dass ich auf dem Ball war.

Als der Schlüssel im Schloss einrastete und sich der Türknauf drehte, holte Cinderella tief Luft, sammelte ihren Mut – und saß genauso in der Falle wie immer.

Kapitel 3

Was für ein Desaster!

Ferdinand, der Großherzog von Malloy, lehnte sich in den Plüschsamtpolstern der Kutsche zurück und wünschte, er wäre irgendwo anders.

Leider standen auf der zusammengerollten Liste, die neben ihm lag und deren Seiten an den unteren Ecken etwas zerknittert waren, noch fast hundert Haushalte, die er besuchen musste.

Er schloss die Augen, und ihm war klar: In dem Moment, in dem er einschlief, würden sie am nächsten Haus auf der Liste ankommen. Er konnte nur hoffen, dass die Familie dort nicht so schrecklich wäre wie die vorige.

Allein bei der Erinnerung an Gräfin Tremaines furchtbare Töchter gruselte es ihn. Wie peinlich sich die beiden jungen Frauen auf den Glasschuh gestürzt hatten.

„Das ist mein Schuh!“, hatten sie sich gegenseitig angeschrien.

Das ist mein Glasschuh! Wenn Ferdinand diese vier Worte heute noch einmal hörte, würde er verrückt. Vermutlich müsste er morgen beim Aufwachen feststellen, dass alle seine schwarzen Haare über Nacht grau geworden waren.

Was für eine Demütigung!

Das Sonnenlicht strömte durch die Falten der Vorhänge in die Kutsche. Die Helligkeit ließ den Herzog zusammenzucken. Er öffnete ein Auge und schaute nach draußen. Sie fuhren gerade an der Statue seines Vaters auf einem der nobleren Plätze der Stadt vorbei.

Das war sein Lieblingsort in Valors. Als Junge hatte Ferdinand nie genug davon bekommen können, vor seinen Freunden damit zu prahlen, wie wichtig sein Vater war, weil ein so würdiges und heldenhaftes Ebenbild von ihm mitten in der Stadt stand.

„Eines Tages wird es auch von mir eine Skulptur geben“, hatte er erklärt.

Man stelle sich also sein Entsetzen vor, als er nun Tauben auf dem Kopf seines Vaters hocken sah, dessen Denkmal offensichtlich seit Wochen nicht mehr gereinigt worden war! Und in den Blumenbeeten rund um die Statue erleichterten sich die Hunde!

Hätte er nicht einen so engen Zeitplan gehabt, wäre er aus seiner Kutsche gestürzt, hätte die Tauben verscheucht und die völlig respektlosen Leute aufgefordert, ihre Hundebrut anderswo auszuführen.

„Eine Schande“, murmelte der Herzog mit finsterem Blick. Und das nach allem, was seine Familie für Aurelais getan hatte! Er nahm sich vor, den vernachlässigten Zustand der Statue seines Vaters baldmöglichst zu beheben.

Wie sich die Zeiten doch geändert hatten. Als er klein gewesen war, hatten die Menschen noch Respekt vor dem Adel gehabt. Allein der Gedanke daran, der Prinz könne eine Frau aus dem niederen Adel heiraten, hätte die Gemüter erregt. Und eine Bürgerliche von unbedeutender Herkunft wäre ein Skandal gewesen!

Sein Vater, der frühere Großherzog, hätte dem König sicherlich davon abgeraten, genau wie Ferdinand es auch versucht hatte.

Sein Vater hatte den Wiederaufbau von Aurelais nach dem 17-jährigen Krieg geleitet. Seine prächtige Statue auf dem Hauptplatz von Valors ehrte ihn dafür, dass er die Verbannung aller magischen Wesen aus dem Königreich erwirkt hatte. Vor allem die Feen hatten mit dieser lächerlichen Tradition, Prinzen und Prinzessinnen bei ihrer Geburt zu segnen oder zu verfluchen, einen viel zu großen Einfluss auf die Politik gehabt. Dafür, dass er die sogenannte wahre Liebe von Prinz Karl fand, würde Ferdinand bestimmt kein Denkmal bekommen.

Womit habe ich nur ein solches Schicksal verdient? Dass ich wie ein gewöhnlicher Bote durch das Königreich geschickt werde? Die ganze Nacht und den halben Morgen hatte Ferdinand damit verbracht, eine alberne Bekanntmachung über einen Glasschuh auszurufen, statt an wichtigen Gesetzen und Haushaltsplänen zu arbeiten, die er dem Rat präsentieren sollte.

In Aurelais herrschte zwar seit über einem halben Jahrhundert Frieden, aber es gab noch wichtige Verträge zu verhandeln und große Geister zu treffen. Erst neulich hatte Ferdinand über einen Erfinder gelesen, der mit einem fliegenden Ballon die Welt bereiste. Er konnte sogar Fluggäste mitnehmen!

Andere Nationen charterten Schiffe, um die Welt zu umsegeln, erschlossen wichtige Handelswege und entdeckten neue Länder.

Aber er, die rechte Hand des Königs von Aurelais, wurde in jeden Winkel des Reichs geschickt, um die Besitzerin eines Schuhs zu finden.

Ferdinand starrte auf den Glasschuh auf seinem Schoß, dessen Anblick ihm verhasst war. Er war kurz davor, ihn aus dem Fenster zu werfen.

Schuld daran war der Prinz.

„Ihr habt sie erschreckt“, hatte Prinz Karl gestern Nacht zu ihm gesagt. „Hättet Ihr Eure Männer nicht hinter ihr hergeschickt, wäre sie vielleicht zurückgekommen.“

Der Junge hatte Wahnvorstellungen. Und Ferdinand hatte sich, so gut er konnte, beherrschen und auf die Zunge beißen müssen, um ihm das nicht zu sagen.

Der König war keine große Hilfe. Schließlich war es seine Idee gewesen, alle Mädchen des Königreichs den Schuh anprobieren zu lassen. Und Ferdinand hatte dem zugestimmt. Ferdinand hatte sogar mit Freude die Proklamation verfasst.

Per Dekret wird heute verfügt, dass die Suche in unserem gesamten Reich erfolgt, in seiner ganzen Länge und Breite.

Einziger und ausdrücklicher Zweck dieser Suche ist der Folgende:

Jede Maid im ganzen Königreich, ohne vorgesehene Ausnahme, soll an ihrem Fuß diesen gläsernen Schuh anprobieren. Sollte einer dieser Schuh richtig passen, so soll dieses Mädchen zum gefundenen Objekt dieser Suche erklärt werden und unmittelbar fortan allerseits als die wahre Liebe Seiner Königlichen Hoheit, unseres geliebten Sohns und Erben, des edlen Prinzen, anerkannt werden.

Allerdings hatte Ferdinand nicht damit gerechnet, dass er derjenige sein würde, der die Suche leitete.

König Georg war schon immer irrational gewesen, wenn es um seinen Sohn ging. Das erinnerte Ferdinand regelmäßig daran, warum er selbst froh war, nie geheiratet oder Kinder gezeugt zu haben. Es gab elegantere Wege, ein Erbe zu hinterlassen.

Er betete nur, dass er das Mädel bald finden würde. Sehr bald.

Er versuchte, nicht einzuschlafen, und griff in seiner Tasche nach einem Taschentuch, um sein Monokel zu säubern. Doch noch bevor er dazu kam, zügelte der Kutscher die Pferde und die Kutsche hielt an.

„Wir sind da, mein Herr.“

Ferdinand schnitt eine Grimasse. Er griff nach seinem Hut, setzte seine würdevollste Miene auf, stieg aus der Kutsche und schritt zur Haustür.

Von innen lugte jemand durch die Vorhänge und schloss sie hastig, als der Großherzog es bemerkte.

„Er ist es!“, hörte er eine junge Frau rufen. „Der Großherzog. Mit meinem …“

An dieser Stelle zog Ferdinand seinen Hut über die Ohren, um das gefürchtete Wort nicht zu hören.

„… Glasschuh!“

Es würde ein entsetzlich langer Tag werden.

Kapitel 4

Die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren, und Cinderella wappnete sich für die Ankunft ihrer Stiefmutter. Ich gehe fort, übte sie im Kopf, was sie Gräfin Tremaine sagen wollte. Ich bleibe keine Minute länger hier.

Nur … wohin sollte sie gehen? Wohin könnte sie gehen?

In diese Lumpen gekleidet, würde ihr niemand glauben, dass sie das Mädchen von dem Ball mit dem glitzernden Kleid und den Glasschuhen war.

Ich … ich werde den Großherzog suchen, um ihm zu zeigen, dass ich den anderen Schuh habe. Sie atmete auf, ihr Plan machte ihr Mut. Dann muss er mir einfach glauben.

Der Schatten ihrer Stiefmutter schob sich durch die Tür und verdeckte die spärlichen Sonnenstrahlen, die Cinderellas Zimmer ein wenig erhellten. Hinter ihr standen ihre Stiefschwestern und versperrten ihr die Möglichkeit zur Flucht.

„Wie eng es hier ist“, maulte Drizella. „Wir passen da gar nicht alle rein.“

„Und dreckig ist es auch“, fügte Anastasia hinzu. „Mein Haar ist voller Staub.“ Sie warf sich ihre roten Locken über die Schulter und fächelte sich mit den Händen Luft zu.

Als sie Gräfin Tremaines gekräuselte Lippen und die aufgeblasenen Wangen ihrer Stiefschwestern sah, richtete Cinderella sich auf. Egal wie sehr sie sich über sie lustig machten, sie würde nicht zulassen, dass sie sie verletzten.

„Der Großherzog ist abgereist“, informierte Gräfin Tremaine sie gleichmütig. „Und er wird auch nicht wiederkommen.“

„Ich weiß“, antwortete Cinderella.

„Gut. Mir ist zu Ohren gekommen, dass du nicht ganz ehrlich zu uns warst.“ Cinderella wollte schon protestieren, aber ihre Stiefmutter schnitt ihr das Wort ab und fuhr fort. „Ich habe etwas über die Angelegenheit nachgedacht und werde dich anzeigen.“

„Mich anzeigen?“, Cinderella runzelte die Stirn. Damit hatte sie allerdings nicht gerechnet. „Was habe ich denn getan?“

„Was du getan hast?“, wiederholte Gräfin Tremaine. Sie drehte sich zu ihren Töchtern um und lachte. „Sie tut so, als hätte sie nicht die geringste Ahnung!“

Anastasia und Drizella schienen auch keine Ahnung zu haben, aber sie kicherten aufgeregt.

„In dem da wirst du ja wohl nicht zum Ball gegangen sein. Wen hast du bestohlen?“

„Was …?“, stammelte Cinderella erstaunt. Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte, ruhig zu bleiben, aber ihre Stimme zitterte. „Ich … was … ich verstehe nicht.“

„Ach nein?“, schnaubte Gräfin Tremaine. „Das Kleid, die Ohrringe, die Kutsche – die Glasschuhe.“

Drizella schaltete als Erste. „Sie? Sie war es ganz bestimmt nicht.“

„Mutter!“, schnaubte Anastasia mit vor der Brust verschränkten Armen. „Sie soll das Mädchen mit dem Glasschuh sein? Das kannst du nicht ernst meinen.“

„Doch.“ Gräfin Tremaines eiskalter Blick lag auf Cinderella. „Wir haben sie offenbar alle unterschätzt. Aber sie hat einen großen Fehler gemacht.“ Mit gehobener Hand befahl sie ihren Töchtern: „Durchsucht die Kammer.“

„Nein!“ Cinderella wollte ihre Stiefschwestern aufhalten, aber sie waren zu schnell.

Drizella schubste sie weg und warf sie dabei fast gegen die Wand. In wilder Raserei nahmen die beiden Cinderellas Bett auseinander, rissen die Laken herunter und griffen sich eine Schere von ihrem Nachtisch, um die Matratze aufzuschneiden.

Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte ruhig zu bleiben, geriet Cinderella in Panik. Die Szene erinnerte sie an einen Abend vor langer Zeit, als ihre Stiefschwestern ihr Kleid zerrissen hatten – das Kleid ihrer Mutter, das diese sich eigenhändig genäht hatte. Sie hatten ihre grüne Perlenkette zerschmettert und sie so lange grausam gequält, bis sie in Tränen ausgebrochen war.

Sie durften den Glasschuh nicht finden. Er war das Einzige, was ihr von der Zeit auf dem Ball geblieben war, die einzige Erinnerung an einen seltenen, wertvollen Glücksmoment. Und das Einzige, was ihr im Moment helfen könnte, ein neues Leben zu beginnen.

„Hört auf, bitte!“, schrie Cinderella und versuchte, die Schere aus Anastasias Händen zu winden.

„Mutter!“, kreischte Anastasia.

Kalte Finger umfassten Cinderellas Handgelenk, scharfe Nägel gruben sich in ihre Haut. Während ihre Stiefmutter sie zurückriss, weiteten sich Cinderellas Augen vor Schreck. Drizella hatte den Glasschuh gefunden.

„Du hattest recht!“, schrie sie. „Mutter, da ist …“

Gräfin Tremaine streckte ihre Hand aus. „Gib ihn her.“

Bevor Drizella gehorchen konnte, befreite sich Cinderella aus dem Griff ihrer Stiefmutter und schnappte sich den Schuh.

Das Gesicht der Gräfin verfinsterte sich. „Cinderella, gib mir den Schuh.“

„Nein.“

„Sofort, Cinderella.“

Doch Cinderella gab nicht nach. In der königlichen Proklamation hatte es geheißen, dass der Prinz das Mädchen heiratete, dem der Glasschuh passte, den er auf dem Ball gefunden hatte. Wenn sie ihrer Stiefmutter den Schuh überließ, würden Anastasia oder Drizella ihn für sich einfordern, ihn zum Palast bringen und dem König vorlügen, sie hätten mit dem Prinzen getanzt.

Fest entschlossen antwortet sie: „Nein.“

„Gut, wenn das so ist“, sagte ihre Stiefmutter befremdlich ruhig. „Drizella, Anastasia.“

Von beiden Seiten der Kammer stürmten die Schwestern auf Cinderella zu. Sie geriet in Panik. Auf keinen Fall konnte sie ihnen den Schuh überlassen.

Die beiden stürzten sich auf sie und schrien: „Gib ihn her!“

Da wusste Cinderella plötzlich, was sie tun konnte. Sie sammelte ihre ganze Kraft und hob den Schuh hoch über ihren Kopf. Das schillernde Glas fing das Licht von draußen ein und funkelte wie ein Diamant. Sie schleuderte den Schuh gegen die Wand. Er zersplitterte in tausend Stücke.

„Schau, was du angerichtet hast!“, rief Drizella.

Cinderella atmete schwer. Sie hörte ihre Stiefschwester kaum. Der Anblick ihres zerborstenen Schuhs versetzte ihr einen Stich. Ein scharfer Schmerz stieg in ihrer Brust auf. Der Schuh war ihr Schlüssel gewesen, den jungen Mann vom Ball wiederzusehen und ein neues Leben jenseits von hier aufzubauen. Und jetzt gab es ihn nicht mehr …

Cinderella biss die Zähne zusammen. Da er nicht mehr da war, konnte ihre Stiefmutter ihn auch nicht mehr zu ihrem Vorteil nutzen.

„Mutter!“ Anastasia weinte. „Wie konnte sie nur? Ich verstehe nicht, wie sie überhaupt an den gläsernen Schuh gekommen ist …“

„Schweig!“, unterbrach Gräfin Tremaine sie, dann sagte sie todernst: „Mädchen, geht jetzt bitte raus.“

„Aber Mutter!“

„Ich sage es nicht noch einmal.“

Verärgert verließen Drizella und Anastasia das Zimmer und schlossen die Tür hinter sich. Als sie fort waren, stieg Gräfin Tremaine über die Glasscherben und sah Cinderella mit eisigem Blick an „So, du hast mich also angelogen.“

„Stiefmutter, Ihr könnt doch unmöglich glauben, dass ich gestohlen habe …“

„Es ist mir egal, woher du das Kleid oder die Schuhe hast“, unterbrach Gräfin Tremaine sie. „Oder wie du es geschafft hast, zum Ball zu gehen.“ Ihre blassgrünen Augen verengten sich. „Du bist zu weit gegangen, und zwar zum letzten Mal. Sieh dich doch nur an – du bist ein Nichts. Eine Waise und eine Dienerin. Wer soll dich schon wollen? Der Prinz ganz bestimmt nicht.“

Tief gekränkt von diesen Worten, fiel es Cinderella schwer, ruhig zu bleiben. „Ich … ich bin die Tochter meines Vaters. Eure Stieftochter. Ich bin ein Mitglied dieser Familie.“

Ihre Stiefmutter lachte hohl. „Ein Mitglied dieser Familie? Kompliment an deine Fantasie, wenn du das wirklich glaubst.“

„Warum hasst Ihr mich so?“ Cinderellas Lippen zitterten.

„Ich hasse dich?“ Gräfin Tremaines Augen blitzten sie erst ungläubig, dann spöttisch an. „Wie kommst du darauf, dass ich etwas für dich empfinde, geschweige denn Hass?“

„Aber …“

„Habe ich dich jemals geschlagen, Cinderella? Dich hungern lassen oder dich öffentlich beschämt? So wie sie es mit den Mädchen im Waisenhaus machen?“

Cinderella schüttelte stumm den Kopf.

„Ich habe dich hier eingesperrt, weil du hinterlistig warst. Du hast mich und meine Töchter belogen.“

„Ich habe nie gelogen“, widersprach Cinderella. „Ich habe immer getan, was Ihr von mir verlangt habt. Ich habe geputzt, gekocht und mich nie beklagt. Ich wollte die ganze Zeit, dass Ihr mich wie eine Eurer Töchter anseht.“

„Wie könnte ich dich als meine Tochter ansehen?“, bellte Gräfin Tremaine aufgebracht, beruhigte sich wieder und fuhr fort: „Bis zu dem Tag, an dem ich dich kennengelernt habe, hattest du noch nie auch nur einen einzigen Tag in deinem Leben gearbeitet. Weißt du noch, was du zu deinem Vater gesagt hast? Papa! Du hast mir eine Mutter mitgebracht.“ Ihre Stiefmutter sah sie finster an. „Als sei ich ein Gegenstand, den man mitbringt, ein Objekt, das man kaufen kann.“

Natürlich erinnerte Cinderella sich. Sie hatte sich gefreut, dass Gräfin Tremaine da war. Darum waren ihr diese Worte herausgerutscht. Sie hatte sie nicht beleidigend gemeint. „Ich habe mich gefreut, Euch kennenzulernen. Es war nicht meine Absicht …“

„Ich weiß noch, wie du auf meine Töchter herabgesehen hast. Du mit deinen feinen Kleidern und deinem Musikunterricht. Deinem Reitzeug, deinen Blumen und deinen kleinen Liedern für die Vögel und den Hund. Das Erste, was du getan hast, war, mich zu verspotten und meine Töchter vor deinem Vater zu blamieren.“

„Das habe ich nicht …“

„Na klar, du hältst Unwissenheit für Unschuld. Ich musste mir mein Leben aus dem Nichts aufbauen. Ich musste meinen Töchtern einen Platz in dieser Gesellschaft bieten. Aber du, du hast dich über unsere alten Kleider, über Drizellas Zähne und Anastasias Haare lustig gemacht.“

Stimmte das? Cinderella konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem ihre Stiefmutter gekommen war. Sie hatte Musikunterricht gehabt und war sofort nach draußen gerannt, als sie die Kutsche ihres Vaters durch das Fenster ankommen sah.

Niemand hatte ihr von Gräfin Tremaine erzählt. Sie zu sehen, hatte Cinderella schockiert. Ihr herzförmig aufgetürmtes Haar, das sie größer erscheinen ließ als ihren Vater, ihr langer Hals und ihre unnachgiebige Haltung. Sie trug damals ein bordeauxrotes Kleid mit hohem Kragen und hatte eine Tochter an jeder Seite – beide mit gleichmäßig gelocktem Haar, keine von beiden lächelte.

„Sie ist eine Dame“, hatte einer der Diener gesagt, der an Cinderella vorbeiging, die sich neben der Treppe versteckt hatte. „Du rennst besser nicht zu deinem Vater und umarmst ihn, wie du es sonst immer tust. Behalte das Kinn oben und mach einen Knicks, wenn du seine Gäste begrüßt.“

Das hatte sie getan. Aber vielleicht war ihr Kinn zu hoch gewesen, oder sie hatte zu tief geknickst. Ihr Vater hatte nie ein so steifes Benehmen von ihr verlangt. Sie wollte ihrer neuen Mutter damit gefallen, war aber sehr nervös gewesen.

„Gräfin Tremaine“, hatte Cinderella sie mit ihrem tiefsten Knick begrüßt.

Leise lachend zog ihr Vater sie sanft hoch. „Ist schon gut, Cinderella. Wir sind jetzt eine Familie.“

„Oh, Papa!“, rief sie aus und umarmte ihn heftig. „Du hast mir eine Mutter mitgebracht!“

In ihrer Aufregung löste sich ihre Haarschleife, die ihr Vater ihr neu band. „Warum zeigst du Drizella und Anastasia nicht das Musikzimmer, während Gräfin Tremaine und ich uns im Schloss einrichten?“

„Ich habe heute Nachmittag eine Musikstunde“, sagte sie zu ihren neuen Schwestern, darauf bedacht, besonders höflich und rücksichtsvoll zu sein. Sie wollte unbedingt, dass Anastasia und Drizella sie mochten. „Meine Lehrerin bringt mir ein neues Lied bei. Sie ist oben und wartet auf mich. Wollt ihr mitkommen?“

„Ich möchte singen“, hatte Drizella gesagt. „Anastasia spielt Flöte.“

Woher hätte sie wissen sollen, dass ihre Stiefschwestern kein musikalisches Talent hatten? Sie hatte sie nicht in Verlegenheit bringen wollen.

Später hatte Cinderella die Diener beim Plaudern in der Küche überrascht. Sie hatten sie nicht gesehen, und es war nicht ihre Absicht gewesen, sie zu belauschen. Doch was sie gesagt hatten, vergaß sie nie mehr.

„Ich mag unsere neue Herrin nicht. Ist dir aufgefallen, wie sie auf die Finanzen schaut? Eben hat sie mir gesagt, ich würde den Hühnern zu viel zu fressen geben und beim Kochen zu viel Butter verwenden. Ich befürchte, sie hat den guten Herrn nur wegen seines Gelds geheiratet.“

„Sei still, du wirst noch Ärger bekommen, wenn du so redest! Ihr Mann war ein Adliger.“

„Ja, aber ein mittelloser.“

„Das kann nicht sein. Das würde der Herr nicht …“

„Der Herr wurde getäuscht, ich schwöre es. Ich habe gehört, dass Graf Tremaine das Vermögen seiner Familie verspielt hat. Er hat nur im Krieg gedient, um seinen Gläubigern zu entkommen. Dann versuchte er zu desertieren und wurde erhängt. Eine Schande.“

„Du darfst diese Gerüchte nicht glauben.“

„Das sind keine Gerüchte! Du weißt, was für ein gutes Herz unser Herr hat. Wahrscheinlich ist er ihr auf seinen Reisen begegnet und hatte Mitleid mit ihr und ihren Töchtern. Aber sie ist nicht unschuldig … Wenn du nur die Hälfte von dem gehört hättest, was die Leute über sie sagen! Zum Beispiel dass sie Wahnvorstellungen hat und größenwahnsinnig ist. Und jetzt ist sie hier die Hausherrin. Ich mache mir große Sorgen um die liebe Cin…“

Da hatten die Diener sie entdeckt und waren verstummt.

Damals hatte Cinderella die Bedeutung der Worte nicht verstanden. Und selbst als Gräfin Tremaine nach dem Tod ihres Vaters als alleinige Hausherrin übrig blieb, hatte Cinderella nicht viel über die Vergangenheit ihrer Stiefmutter nachgedacht.

Immer wenn ihre Stiefmutter grausam zu ihr war, sagte sie sich, es sei trotzdem besser, im Haus ihres Vaters bei ihrer Stieffamilie zu bleiben, als sich hinauszuwagen.

Aber wenn sie sich nun geirrt hatte? Ihre Stiefmutter war berechnend, und sie würde vor nichts zurückschrecken, um ihre Zukunft und die ihrer Töchter zu sichern. Außerdem war sie rücksichtslos. Cinderella hatte sich bislang nur nicht eingestehen wollen, wie sehr. Sie schirmte sich ab, indem sie ihr Unglück in Tagträumen verdrängte und sich vormachte, es gehe ihr gut. Dass die anderen sie brauchten.

Sie blickte zu Gräfin Tremaine auf, einer Frau, die früher alles gehabt hatte, was ihr wichtig gewesen war: Reichtum, Ansehen und Bewunderung. Jetzt lebte sie in einem heruntergekommenen Schloss ohne Bedienstete außer ihren Töchtern. Sie hatte so wenig Geld, dass sie die Vorhänge verkaufen musste, um ihre Kleidung zu bezahlen.

„Ihr habt mich falsch verstanden, Stiefmutter“, sagte Cinderella leise. „Ich wünschte, wir hätten das schon vor Jahren klären können, wenn es das ist, was Euch bedrückt. Ich habe nicht auf Anastasia oder Drizella herabgesehen. Ich habe mir nur gewünscht, eine Mutter zu haben, so wie die beiden. Meine starb …“

„Dein toter Vater hat mir schon genug von deiner toten Mutter erzählt“, schnauzte Gräfin Tremaine. „Als er starb, habe ich es auf mich genommen, für dich zu sorgen. Ich habe mein Bestes getan, um dich zu einem anständigen Mädchen zu erziehen, aber offensichtlich waren meine Bemühungen vergeblich.“

Sie kickte die Glasscherben in Cinderellas Richtung. „Räum dieses Chaos weg. Ich entscheide später, was ich mit dir mache.“ Damit drehte sich ihre Stiefmutter auf dem Absatz um.

Bevor Cinderella die Tür erreichte, schlug sie wieder zu, und der Schlüssel wurde im Schloss gedreht, um sie einzusperren.

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