Disney. Twisted Tales: Verlockende Freiheit (Rapunzel) - Walt Disney - E-Book

Disney. Twisted Tales: Verlockende Freiheit (Rapunzel) E-Book

Walt Disney

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Beschreibung

Ein weiterer Band in der beliebten Reihe der "Twisted Tales"! Solange Rapunzel sich erinnern kann, hat sie im Turm gewohnt. Und sie ist im Turm geblieben, denn sie weiß, dass die starken Kräfte ihres zauberhaften Haares gefährlich sind. Doch als sie aus ihrem Turm herausgelockt wird, gerät sie auf eine Suche quer durch das Königreich. Bald erfährt Rapunzel, dass mehr hinter ihrer Geschichte und ihren magischen Strähnen steckt, als sie jemals wusste.

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Für alle Buchhändlerinnen und Buchhändler dieser Welt.

Ohne diese besonderen Buchhändler und Buchhändlerinnen wäre ich nicht die Schriftstellerin geworden, die ich heute bin: Wunderly Stauder, Peter Salesses, Jane White, Eleanor Malmfeldt und Rita Braswell.

– L. B.

Die Geschichte

Die letzten Töne eines Popsongs verklangen, während die Danksagungen über die Leinwand glitten, und um Brendan herum wurde die reale Welt wieder sichtbar.

Statt eines märchenhaften Königreichs mit Blumen und Vögeln, Königen und Königinnen war jetzt ein kalter quadratischer Raum zu sehen, kahl und kühl. Darin war gerade genug Platz für einen einzelnen Stuhl, eine kleine Konsole, einen Infusionsständer mit Pumpen – und das Krankenhausbett, in dem seine Zwillingsschwester Daniella lag.

Brendan hatte versucht, den Raum so aufzuhellen und zu dekorieren, wie er es immer tat, wenn er während der Chemotherapie neben ihr saß. Er hatte bunte Lämpchen über ihrem Bett angebracht, einen Strauß mit außergewöhnlich farbenfrohen Blumen auf die Konsole gestellt – Plastikblumen, denn echte Pollen und sonstige Allergene wären gefährlich für ihren immungeschwächten Körper gewesen – und einen Teller mit Bagels und Erdbeertörtchen dazugestellt. Für den Fall, dass sie Lust hatte, etwas zu Mittag zu essen, was nie der Fall war.

Diese Dinge dienten dazu, das Schreckliche auszublenden, aber das gelang nur teilweise.

Es war nicht die schlimmste Krebsart. Sie zählte nicht einmal zu den Top Twenty. Doch das war auch kein Trost für Brendan, wenn er zusah, wie seine sehr, sehr müde Schwester – die sich aufgesetzt hatte, um den Film mit weit aufgerissenen wachen Augen anzuschauen – erschöpft wieder auf ihr Kissen sank.

Im Schweigen, das nach dem Ende des Films ausbrach, war das Geräusch der Pumpen überdeutlich zu hören.

Daniella machte den Mund auf, aber es war kaum ein Gähnen.

„Okay, Rapunzel: Neu verföhnt zum dritten Mal gesehen und abgehakt!“, sagte Brendan mit einem leicht gezwungenen Lächeln. „Was möchtest du als Nächstes tun?“

„Liest du mir etwas vor?“ Ihre schläfrigen braunen Augen leuchteten kurz auf.

Wie könnte er dazu nein sagen … aber dann sah er das Buch, das sie ihm hinhielt, und seine Gesichtszüge entgleisten.

„Ach komm“, stöhnte er. „Wir haben doch gerade den Film gesehen. Können wir nicht was anderes lesen?“

„Nein, ich möchte Rapunzel vorgelesen bekommen“, beharrte Daniella mit einem Schmollmund, den Brendan gerne sah, weil mit ihm etwas von ihrem früheren Selbst zum Vorschein kam. „NOCHMAL! Es sei denn du willst es deiner sechzehn Jahre alten Schwester vorenthalten, die es verdient hätte …“

„Oh. Mein. Gott.“ Brendan griff frustriert nach dem Buch. „Okay, ich verstehe ja, dass du dich nach deiner Kindheit zurücksehnst. Aber warum ausgerechnet Rapunzel? Immer wieder Rapunzel? Deine Haare sind doch – schwarz. Und außerdem sind sie gar nicht mehr da.“

Nur ihr Bruder durfte so mit ihr reden. Ihr Bruder musste so mit ihr reden. Wenn er genauso betroffen, freundlich und mitleidig getan hätte wie ihr Freund und ihre Eltern, wenn er die bemühte Art der Pflegerinnen imitiert hätte, die um den heißen Brei herumredeten und nie sagten, was wirklich los war, dann hätte er Daniella in Angst versetzt und wütend gemacht. Nichts könnte schlimmer für sie sein, als wenn ihr unausstehlicher Bruder lieb und nett zu ihr gewesen wäre.

Er hatte sie einmal, nur ein einziges Mal, dabei ertappt, wie sie in den Spiegel schaute und die wenigen Haare betrachtete, die von ihren dicken glänzenden Box Braids übriggeblieben waren. Ihr Hals hatte sich aufgebläht, wie bei einem Vogel, der einen Fisch hinunterschluckt, als sie darum gekämpft hatte, nicht in Tränen auszubrechen.

„Lies. Mir. Vor“, war alles, was Daniella erwiderte. Müde. Ihre Augen schleuderten Laserblitze in seine Richtung, und sie schnaubte abfällig, soweit das noch möglich war.

Brendan seufzte und blätterte zum Anfang. Er zitterte. In den Räumen für die Chemotherapie war es ziemlich kalt – aus irgendwelchen medizinischen Gründen, die er vergessen hatte. Er brachte immer Daniellas alte Tiana-Bettdecke mit. Die war nun eng um sie geschlungen, zusätzlich zu den Krankenhausdecken, die eine freundliche Pflegerin festgesteckt hatte, damit ihr warm war.

Er warf einen Blick auf die erste Seite.

Dann schloss er das Buch.

„Brendan“, sagte Daniella schläfrig, aber ungeduldig.

„Was soll das denn?“, sagte er, als ihm eine Idee kam. „Wir haben das Buch schon hundertmal gelesen …“

„Zweimal“, verbesserte Daniella und schloss die Augen.

„Wie wäre es, wenn ich dir die Geschichte erzähle – leicht verändert? Auf meine Art?“

Sie riss die Augen auf und starrte ihn misstrauisch an.

„Na klar. Du wirst was richtig Blödes daraus machen, mit mobilen Einsatzkommandos, verschworenen Helden und Außerirdischen, die landen und alles verwüsten.“

„Nein, werde ich nicht! Ich verspreche es. Keine blöden Sachen. Genau die gleiche Geschichte, aber … ein bisschen anders.“

Daniella kniff die Augen zusammen.

„Mit Gothel als böser Hexe? Und Flynn, der sich in Rapunzel verliebt? Und Pascal? Und den Schurken aus dem Snuggly Duckling? Und Magie? Keine Roboter und keine Zeitreisen?“

„Wird alles dabei sein. Versprochen. Und keine Roboter.“

„Na gut.“ Daniella klang immer noch unsicher, war jetzt aber eindeutig wacher als noch kurz zuvor. „Versuchen wir’s.“

„Okay“, sagte Brendan lächelnd. Er schlug das Buch auf und tat so, als würde er lesen.

„Es war einmal vor langer Zeit …“

Das Märchen beginnt

Es war einmal vor langer Zeit, als der Himmel noch etwas mit dem, was auf der Erde geschah, zu tun haben wollte, und die Sonne so hell schien, dass er an einem schönen Frühlingstag vor Freude darüber in Tränen ausbrach. Dort, wo das Sonnenlicht hinfiel, spross eine magische goldene Blume. Sie leuchtete warm und sanft wie die Morgensonne und besaß die Kraft, die Kranken und Verletzten zu heilen.

Nur kam es nie dazu. Damals, vor langer Zeit, suchten jene, die den Wald kannten und Heilung benötigten, verzweifelt danach. Doch in diesen dunklen Zeiten kamen Kriege über das Land und die Pest merzte Generationen von weisen Frauen und alten Einsiedlern aus. In dieser Zeit verschwand die Erinnerung an die Blume namens Sonnentropfen fast ganz aus dem Gedächtnis der Menschen.

Viele Jahre vergingen. Die Welt drehte sich weiter. Und schließlich fand eine schlaue und böse Frau, die sich an die alten Geschichten und Gerüchte erinnerte, die Blume wieder.

Ihr Name war Gothel.

Mit ihrer Magie hätte sie viele Dinge bewirken können. Sie hätte eine große Heilerin werden können – oder zumindest eine gefragte Ärztin, die die Reichen und Adeligen behandelte. Stattdessen behielt sie die Blume ganz für sich und nutzte ihre magischen Kräfte, um ihr Altern aufzuhalten und sich die ewige Jugend zu sichern.

Hundert Jahre vergingen.

Frieden herrschte im Land. König Frederic und Königin Arianna, die trotz ihres jungen Alters gerecht und weise handelten, regierten ihr Land seit Jahren gut. Und wie in so vielen Märchen hatten sie alles, was sie sich nur wünschten … bis auf ein Kind.

Das war natürlich traurig für das Königspaar, aber das Fehlen eines Thronfolgers sorgte auch für Unruhe bei den Untertanen. Denn wenn es keinen Nachfolger gab, würde das Land wieder in Chaos und Zwietracht fallen. Auch die benachbarten Herzöge gierten nach neuen Besitztümern.

Nachdem sie Hebammen, Ärzte, Priester und Scharlatane konsultiert hatte, wurde die Königin endlich schwanger. Im Schloss herrschte große Freude darüber. Doch leider wurde sie krank, wie das in solchen Märchen oft geschieht. Und als die Zeit der Niederkunft nahte, schwebte sie in Lebensgefahr.

Erneut wandte der König sich an die Hebammen, Ärzte, Priester und Scharlatane, und das letzte alte Weib, das zu ihm kam, erinnerte sich an eine Geschichte seiner eigenen Urgroßmutter, in der von der geheimnisvollen Blume namens Sonnentropfen die Rede gewesen war.

Sofort schickte der König alle seine Männer los, um das ganze Land nach dieser magischen Blume abzusuchen. Alle gesunden Untertanen mussten sich von morgens bis abends dieser Suche widmen. Sie taten es gern, denn das Königspaar war beliebt. Die Menschen wollten es glücklich sehen, sie wollten einen Thronfolger, sie wollten keinesfalls in die Finsternis früherer Jahrhunderte zurückfallen. Außerdem winkte dem Finder eine großzügige Belohnung.

Und so wurde die Blume namens Sonnentropfen schließlich gefunden und für einen Aufguss verwendet, der das Fieber der leidenden Königin lindern sollte. Schon bald war sie wieder gesund und schenkte der Welt ein wunderschönes Baby. Im ganzen Land wurde gefeiert, trotz des großen Fehlers, der den Menschen unterlaufen war.

Dann der reich belohnte Bauer hatte gar nicht die Blume namens Sonnentropfen gefunden.

Er hatte die Blume namens Mondtropfen gefunden.

Krebs-Zentrum New York City

„Moment mal, was?“

Daniella stemmte sich auf dem Krankenbett hoch. Die Schläuche am Infusionsständer schepperten, aber zum Glück spritzte nichts heraus.

„Die Blume namens Mondtropfen“, wiederholte Brendan geduldig. „Sie haben die falsche Blume gepflückt. Ich hab dir doch gesagt, dass die Geschichte ein bisschen anders sein wird.“

„Ja, aber … wie konnte das denn passieren? Der Sonnentropfen glänzt golden und leuchtet hell und so weiter.“

Sie verzog das Gesicht und verschränkte die Arme, voller Abscheu angesichts des Fehlers eines Mannes, der noch nicht einmal einen Namen hatte – und wahrscheinlich trotz dieses Fehlers reich geworden war und mehr Ziegen und Gold besaß, als gut für ihn war.

„Na ja, beide Blumen leuchten nun mal“, verteidigte Brendan den anonymen Protagonisten. „Man hatte ihnen gesagt, sie sollten nach einer leuchtenden Blume suchen. Das haben sie dann getan. Aber leider gab es mehr als nur eine davon. Denn vor langer Zeit hatte der Mond eine Träne vergossen, und daraus erwuchs diese Blume.“

Er sah, wie sich auf dem Gesicht seiner Schwester ein Ausdruck des Verstehens ausbreitete, und musste sich zusammenreißen, um sich seinen Triumph nicht anmerken zu lassen.

„Gibt es auch Blumen namens Sternentropfen?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich. Warum nicht?“

„Und was ist so anders an der Blume namens Mondtropfen?“, fragte Daniella und bemühte sich, ihre Neugier zu unterdrücken.

„Warum entspannst du dich nicht einfach und hörst zu? Dann wirst du es schon erfahren.“ Brendan schlug das Buch erneut auf, dieses Mal mit einem gewissen Schwung. Seine Schwester verzog missbilligend das Gesicht, ließ sich aber auf die Kissen zurückfallen und schluckte ein oder zwei Mal. Die Chemotherapie hatte seltsame Effekte. Zum Beispiel schmeckte und roch sie Dinge, die gar nicht da waren. Brendan nahm sich vor, ihr das nächste Mal, wenn er zur Toilette ging, eine Tüte Gummibärchen aus dem Automaten zu ziehen. Die mochte sie zwar nicht übermäßig, aber sie waren stark aromatisiert und halfen ein bisschen.

„Und so erblickte ein gesundes Mädchen das Licht der Welt. Nach einer Woche – so war es damals Sitte wegen der hohen Kindersterblichkeit – bekam die kleine Prinzessin ihren Namen. Sie hieß Rapunzel wegen der vielen Glockenblumen, die an der Stelle geblüht hatten, wo die Zauberblume gefunden worden war. Im ganzen Königreich wurde gefeiert. Die Menschen tanzten, speisten und tranken, veranstalteten Picknicks und Gelage für jedermann. Das Königspaar ließ eine fliegende Laterne in den Himmel aufsteigen. Alles war absolut perfekt.

Und eines Tages war alles vorbei.“

Rapunzel

Die kleine Prinzessin war gesund, kräftig und lebhaft und zeigte keine Anzeichen irgendeiner Krankheit – oder hegte den Wunsch, der sündigen Menschenwelt zu entfliehen und in den Himmel zurückzukehren, wie manche es ausdrückten. Eine Amme wurde gefunden – und sofort wieder weggeschickt von Königin Arianna, die sich ganz persönlich um ihre Tochter kümmern wollte. Wer konnte ihr das verdenken? Rapunzel hatte rosige Wangen, war fröhlich, anschmiegsam und wohlgenährt. Das einzig Merkwürdige an ihr war ihr Haar. Es schimmerte silbrig und war schon bei ihrer Geburt mehrere Zentimeter lang.

Die alte Nanna Bess, die für die Mägde und Diener im Schloss verantwortlich war und von allen als die Schlossmutter angesehen wurde, verwahrte sich gegen alle Gerüchte, dämonische Kräfte hätten dabei ihre Hände im Spiel gehabt. Schließlich handelte es sich lediglich um das erste Babyhaar, das wahrscheinlich in einer Woche oder so ausfallen und durch Haare der richtigen Farbe ersetzt würde. Königin Arianna war auch mit einem kohlrabenschwarzen Haarschopf geboren worden, der nach zwei Wochen verschwand und durch kastanienbraune Locken ersetzt wurde.

Aber Rapunzels Haare waren dünn und schwierig. Sie verknoteten sich ständig, und es war eine Höllenarbeit, die kleinen Knötchen wieder auszubürsten. Das Ganze wurde noch verschlimmert durch jede Menge Babyspeichel und ausgespuckte Milch.

Am Tag der Taufe sollte es ein großes Fest im ganzen Königreich geben. König Frederic war ein passionierter Sterngucker und hatte herausgefunden, dass an diesem Tag Neumond und der Himmel tiefschwarz sein würde.

„Wir brauchen noch mehr Lampions!“, forderte er. „Wir müssen den Himmel damit erleuchten! Damit es eine fröhliche Feier werden kann!“

Eine Handelskarawane aus dem Osten hatte diese Wunderdinge vor einigen Monaten ins Land gebracht: bunte, leuchtende Papierlaternen, die in den Nachthimmel aufstiegen, wenn kleine Kerzen darin angezündet wurden. König Frederic hatte eine große Menge davon gekauft und die Händler gebeten, ihm noch mehr davon zu liefern.

Außerdem hatte er Feuerwerk, Seide, Tee und viele Gewürze für die Schlossküche gekauft, von denen die Köche zwar noch nie gehört hatten, aber reichlich Gebrauch machten.

Die Lampions wurden an alle Bürger im Königreich verteilt, zusammen mit der Anweisung, sie nach Sonnenuntergang von den Booten im Hafen aus aufsteigen zu lassen.

Im ganzen Land waren die Menschen mit Vorbereitungen für das nächtliche Fest beschäftigt: Die Häuser wurden mit Blumengirlanden geschmückt. Die Chanci malten mit Kreide farbenfrohe Mandalas auf die Markplätze. Die Musiker stimmten und polierten ihre Instrumente. Alle legten ihre besten Gewänder bereit, die Frauen flochten sich Zöpfe und verzierten sie mit weißen Lilien, die nur einen Abglanz des vermuteten Leuchtens des Sonnentropfens bieten konnten.

Mondtropfens.

Aber der kleinen Rapunzel gefiel überhaupt nicht, wie sie für das Fest vorbereitet wurde.

Sie hatte nichts dagegen, ein schneeweißes Taufkleid zu tragen, das aus der Seide der berühmtesten zwölf Seidenspinner des Landes gefertigt worden war.

Auch hatte sie nichts dagegen, dass ihre Babyspeckfalten mit Rosenwasser bespritzt wurden, damit sie so roch, wie Dummköpfe sich vorstellten, dass Babys riechen sollten.

Rapunzel hatte nicht einmal etwas dagegen, sich die Fingernägel schneiden zu lassen, damit sie sich nicht das Gesicht zerkratzte.

Was sie aber hasste, war diese Umstandskrämerei mit ihren Haaren.

„Wie kann ein Neugeborenes nur so viele Knoten im Haar haben“, wunderte sich Nanna Bess und drückte Rapunzel an sich, während die junge Magd Lettie verzweifelt versuchte, die Haare mit einem silbernen Kamm zu glätten. Königin Arianna schaute lächelnd zu und erfreute sich heimlich an den lautstarken Protesten und erstaunlich kräftigen Fußtritten ihrer Tochter. Zorn bedeutete Leben, was nicht bei allen Neugeborenen der Fall war. Zorn deutete auf einen starken Willen hin – der besonders für Mädchen und Frauen von Nutzen war, sogar für Königinnen.

König Frederic lief ungeduldig im Zimmer auf und ab und kontrollierte ständig die Arbeit des Hofmalers, der die Szene im Bild festhalten sollte. Eine durchaus charmante Idee – hätte er den armen Künstler nicht bereits dazu verpflichtet gehabt, Rapunzels erstes Bad, ihr erstes Schläfchen in der Wiege und sogar ihr erstes Windelwechseln für die Nachwelt zu dokumentieren.

„Bleib doch mal ruhig, Liebes“, bettelte Lettie, die den Kopf des Kindes vorsichtig festhielt, damit es nicht durch den hübschen Kamm verletzt wurde.

„Ganz ruhig, meine Kleine“, sagte Nanna Bess und schaukelte die Kleine auf ihrem Schoß.

„Nur noch ein Knötchen, dann haben wir es geschafft“, sagte die Magd verbissen.

Vielleicht zog sie den Kamm ein wenig zu kräftig durch. In jedem Fall stieß Rapunzel einen wütenden Schrei aus und ruckte mit dem Kopf, wodurch die wirren Haare im Kamm hängen blieben.

„O Liebes!“, rief Lettie und strich mit der Hand beschwichtigend über die rötlich verfärbte Stirn.

Rapunzel wurde knallrot im Gesicht vor Zorn, Schmerz und Verletztheit. Sie öffnete ihren rosigen Mund, heulte laut auf …

… und die Magd fiel auf der Stelle tot um.

Schweigen brach aus. Nur die Prinzessin weinte, aber nicht sehr laut, denn sie war ja noch ein Neugeborenes.

„Was …?“, fragte der normalerweise sehr schweigsame Frederic als Erster.

Einer der Wächter war schneller von Begriff. Er eilte herbei, kniete sich hin und hielt prüfend eine Hand an die Wange der Magd. „Sie wird kalt. Ruft schnell einen Arzt. Auch wenn es vielleicht schon zu spät ist.“

Der andere Wächter salutierte und lief lauf rufend durch die Flure auf der Suche nach Signore Dottore Alzi, der für die Gesundheit der Schlossbewohner verantwortlich war.

„Rapunzel!“, rief die Königin und sprang auf. Wie jede Mutter war sie verwirrt angesichts dieses schrecklichen Ereignisses. Ihr erster Instinkt war, ihr Baby an sich zu reißen.

Aber Nanna Bess wandte sich ab, drückte das Baby an sich und wollte es ihr nicht geben.

„Nein, Eure Majestät, nicht“, sagte sie. Sie hatte schneller als alle anderen Anwesenden erfasst, was hier geschehen war, abgesehen von dem Wächter wahrscheinlich. „Ihr müsst Euch von ihr fernhalten.“

„Gib mir mein Kind“, verlangte Arianna, und etwas von dem Starrsinn ihrer Tochter huschte über ihr Gesicht.

„Nein, meine Königin“, weigerte sich Bess bestimmt. „Hier geht etwas sehr Eigenartiges vor sich – Ihr habt es selbst gesehen. Lettie hat Rapunzel an den Haaren gezogen, und nun ist sie tot. Wie es scheint, hat sich das Baby wieder beruhigt, aber lasst es mich noch ein wenig halten, bis wir wissen, dass alles gut ist.“

Arianna machte einen Schritt auf Nanna Bess zu, aber Frederic hielt sie zurück.

Der Künstler fuhr fort, die Szene zu zeichnen: einen düsteren Raum, in dem Stille ausgebrochen war und Verzweiflung vorherrschte … und ein glucksendes Baby mit rosigen Wangen, das schon vergessen hatte, was eben passiert war.

Der Künstler wurde nicht in den Wintergarten geladen, wo die traurige Szene ihren Fortgang nahm – auch wenn sie nun von Nachdenklichkeit und Sorgen geprägt war. Frederic und Arianna hielten sich umschlungen, während ihre Tochter in der Nähe schlief, in einer Wiege aus Ebereschenholz, das die bösen Geister fernhalten sollte. Signore Dottore Alzi war anwesend, ebenso der Schlosspriester und Nanna Bess sowie der Wächter, der erkannt hatte, dass Lettie tot war.

„Ich bin geneigt, davon auszugehen, dass es sich um einen unglücklichen Zufall handelt“, sagte der Arzt müde. Seine freundlichen Augen blickten durch eine Brille mit Drahtgestell. »Vielleicht hatte die Magd ein schwaches Herz oder einen kranken Kopf gehabt. Die Aufregung des Augenblicks könnte ihr Blut zum Kochen und sie selbst so sehr in Aufruhr gebracht haben, dass ihr schwacher Körper es nicht mehr ertragen hatte.«

„Glauben Sie etwa, dies wäre das erste Mal gewesen, dass sie etwas Aufregendes erlebt hat?“, schnaubte Nanna Bess. „Sagen Sie mir, Signore, haben Sie jemals mit einer jungen hübschen Magd aus einer armen Familie gesprochen?“

Der Arzt zuckte nur mit den Schultern. Darauf fiel ihm nichts ein.

„Hier ist der Teufel am Werk“, verkündete der Priester. „Das kommt davon, wenn man sich auf die Wirkung von Zauberkräutern und Hexerei verlässt und nicht auf das Wort Gottes.“

König Frederic rieb sich die erstaunlich dichten Augenbrauen und drückte Ariannas Schulter, um sie zu trösten, bevor er das Wort ergriff.

„He, Wärter, komm her“, befahl er dann. „Du bist der Einzige, der sofort verstanden hat, was geschehen ist. Du bist sofort zu dem armen toten Mädchen gegangen. Erzähl mir ganz genau, was du gesehen hast.“

Der Königliche Wachmann Justin Tregsburg war jung, aber erfahren genug, sich jeglicher Gefühlsäußerungen zu enthalten. „Eure Majestät, für mich sah es aus, als sei die Prinzessin zornig geworden – und daraufhin ist die Magd augenblicklich gestorben. Ich konnte nichts erkennen bis auf die Tatsache, dass die Magd das Baby berührte, als es geschah. Die Haare des Babys, um genau zu sein. Aber Bess, die das Baby festgehalten hat, lebt noch. Ich kann mir nicht erklären, wie das passieren konnte.“

„Das Haar der Prinzessin …“ Arianna erhob sich und ging zur Wiege. Rapunzels silberne – und immer noch verknotete – Locken lagen ausgebreitet auf dem Kissen. Ihre Farbe war eigenartig und unnatürlich gemessen an der Tatsache, dass das Haar ihrer Eltern so braun war wie der Schweif eines arabischen Hengstes.

Hexenhaar.

„Vielleicht liegt es an dieser Blume“, überlegte Signore Alzi. „Natürlich glaube ich nicht an solche Dinge. Arianna ist eine schöne, gesunde Frau, die sich wahrscheinlich auch allein erholt hätte. Aber gehen wir trotzdem einmal davon aus, dass diese Blume namens Sonnentropfen Zauberkräfte hat und ihre Essenz auf die Königin übertragen wurde, als sie den Aufguss trank. Wäre es so abwegig, davon auszugehen, dass auch das Baby diese Essenz in sich aufgenommen hat, als es im Mutterleib genährt wurde?“

Arianna und Frederic warfen sich besorgte Blicke zu. Die Königin legte eine Hand auf ihren Bauch, in dem jetzt kein Baby mehr heranwuchs.

„Ein Kind kann seine Wut nicht im Zaum halten, Eure Majestät“, sagte der Priester freundlich. „Ob dies nun das Werk des Teufels ist oder es sich um diese lächerlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse handelt, von denen Alzi spricht, spielt keine Rolle. Falls die kleine Rapunzel die Macht hat, zu töten, wird sie es wieder tun – vollkommen gedankenlos, so wie kleine Kinder nun einmal ihren Neigungen nachgehen.“

Frederic bemühte sich, seine Gefühle im Zaum zu halten, und verzog das Gesicht gerade so viel, wie es für einen König angemessen war und wie er es von seinem Vater und dieser wiederum von seinem Vater gelernt hatte.

„Aber was sollen wir tun? Hat jemand von euch irgendeine Idee? Tregsburg?“

Der Wächter sah die Umstehenden unglücklich an. Er war weitab im Hinterland des Königreichs aufgewachsen. Nun aber trug er plötzlich das Gewand eines typischen Märchenbuch-Jägers oder gar Scharfrichters, den man womöglich dazu abkommandieren würde, das Baby in den Wald zu bringen, um dort … zu tun, was zu tun war.

„Es klingt so, als könnte sie eine ernsthafte Gefahr für Euch und die Königin darstellen, Eure Majestät“, erwiderte er zögernd. „Oder für Nanna Bess oder jede Person in ihrer Nähe.“

Arianna unterdrückte ein Schluchzen.

Nanna Bess warf einen wehmütigen Blick auf das Baby. „Denkt doch nur! Eine Prinzessin, die über solche Macht verfügt … als Königin … sie wäre eine mächtige Herrscherin, nicht wahr? Das wäre was.“

„Sie muss in Sicherheit aufgezogen werden“, erklärte König Frederic und sprach damit den einzigen Gedanken laut aus, der allen durch den Kopf spukte.

„In Sicherheit für sich selbst und alle anderen“, fügte Alzi hastig hinzu.

„In einer sicheren, gottesfürchtigen Gemeinschaft. Unter Nonnen“, schlug der Priester vor.

„Vielleicht bei jemandem, der sich mit solchen Dingen auskennt“, widersprach der Wächter so höflich wie möglich.

„Sie ist mein Kind“, rief Arianna. „Ich werde mit ihr gehen!“

„Ich bitte um Entschuldigung, aber Ihr seid die Königin“, warf Bess ein und machte einen Knicks. „Ihr tragt die Verantwortung für viele Kinder, nicht nur für Euer eigenes. Für ein ganzes Königreich voller Kinder und ihre Eltern, die Eure Führung brauchen.“

„Da hat sie nicht ganz unrecht“, pflichtete Signore Alzi ihr bei.

„Ihr seid die Hüterin Eures Volkes“, betonte der Priester.

„Vielleicht könnten wir sie in der Nähe unterbringen, damit du sie besuchen kannst“, überlegte König Frederic, aber diese Überlegung war der letzte Aspekt in seinen Gedankengängen. „Bis sie aus diesen Dingen herausgewachsen ist … oder gelernt hat, sich zu beherrschen.“

Arianna warf ihm einen finsteren Blick zu, lenkte dann aber ein und nickte.

„Tregsburg, zieh Erkundigungen ein, aber bitte im Geheimen“, befahl der König. „Befrage alle Hebammen und Hex… äh, Frauen, die sich mit solchen Dingen auskennen. Mit so gefährlichen Zauberdingen. Finde heraus, wer willens ist, sich um Rapunzel zu kümmern wie um sein eigenes Kind. Wer sie aufziehen will, fernab, um die Welt vor ihr und sie vor der Welt zu schützen.“

„Sehr wohl, Eure Majestät.“ Der Wächter salutierte.

„Und was geben wir bekannt, was hier geschehen ist?“, fragte der Priester und meinte damit nicht nur das Baby, sondern auch die nicht mehr anwesende, unerwähnte, aber zweifellos existierende Leiche der Magd.

„Wir werden bekannt geben, dass sie gestorben ist, als sie versucht hat, die Prinzessin zu retten“, schlug Signore Alzi vor. „Sie hat sich aufgeopfert, aber es war zu spät. Eine giftige Schlange oder eine Eidechse ist ihnen beiden zum Verhängnis geworden.“

Der Arzt hatte das Glück gehabt, dem Hof der Medici zu entkommen, um sich in diesem Land niederzulassen, in dem keine Giftmischer ihr Unwesen trieben. Aber er hatte die Kunst des Lügens und die Macht der Gerüchte und des Klatschs ausreichend studiert, um sich mit ihnen auszukennen.

„So soll es sein“, befahl der König.

Dann umarmte er seine weinende Gemahlin und hielt sie fest, bis die Nacht hereinbrach.

Mutter Gothel

Die Auswahl an Hebammen, Ärzten, Priestern und Scharlatanen war diesmal deutlich kleiner, da die Person einen gewissen praktischen Sachverstand an den Tag legen musste. In Dingen der Magie kommt es mitunter auf den feinen Unterschied zwischen Glauben und Wissen an. Gewöhnliche Heilpraktiker, die gerne über die Kräfte des Sonnentropfens verfügt hätten und sich im Allgemeinen darauf beschränkten, Liebestränke für naive Teenager zu mixen und ihnen gleichzeitig nützliche Tipps zu geben, waren hier nicht gefragt. Auch keine Personen, die die Zukunft in den Karten lesen konnten oder am Hof Zaubertricks vorführten.

Geisterbeschwörer waren gerade nicht verfügbar.

Es gab nur noch wenige Personen, die sich wirklich auf diese Dinge verstanden. Doch dann tauchte an einem düsteren Abend eine schwarzhaarige Frau in einem weiten Umhang wie eine Märchenfee vor dem Schlosstor auf. Die Wächter öffneten ihr, aber sie nahm sie kaum zur Kenntnis. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, den Schatten zu bewundern, den ihr – zugegeben sehr attraktiver – Körper warf, der von den Fackeln an den Wänden beleuchtet wurde. Sie posierte und warf den Kopf hin und her, als wäre sie viel jünger.

„Entschuldigt, aber in meiner Hütte ist so wenig Licht“, sagte sie mit einem gewinnenden Lächeln. „Ich habe nur Talgkerzen und das Sonnenlicht, um meinen schönen jugendlichen Körper zu bewundern.“

Tregsburg ließ sich nicht von ihrem Lächeln täuschen, auch nicht von ihren wunderbar üppigen schwarzen Haaren oder ihren großen Augen. Aber er hegte auch nicht die dummen Vorurteile der Bauern. Es war ihm egal, ob sie von den Romi oder den Judisce abstammte, ob sie aus den Bergen oder aus dem Süden kam. Es war einfach etwas … Eigenartiges an ihr. Etwas Falsches.

Trotzdem führte er sie hinein wie all die anderen. Interessiert schaute sie sich die Wandteppiche an, die Ritterrüstungen, den Schmuck der adeligen Bewohner – wenn auch leicht abschätzig. Als würde sie diese zwar entzückend finden, aber gleichzeitig auch unwichtig: Wie dumm diese Leute doch sind, solchen Tand anzuhäufen!

„Eure Majestät“, kündigte der Wächter sie an. „Mutter Gothel.“

„Schwester Gothel, genau genommen“, korrigierte sie ihn augenblicklich. „Nicht, dass ich mich nicht danach sehne, eines Tages die Mutter eines kleinen Babys zu sein. Aber … Mutter klingt so … alt … oder?“

Erst im letzten Moment machte sie einen Hofknicks.

Der König saß auf seinem bequemsten Stuhl, nicht auf dem Thron. Arianna lag erschöpft und blass auf einem Kanapee, eine Hand an der Wiege. Nanna Bess stand neben ihr. Der Priester und der Arzt lungerten im Hintergrund herum.

„Ich bin entzückt, dass die Königin ihre Leiden überwunden und so ein hübsches Baby geboren hat“, sagte Gothel und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf die kleine Prinzessin zu werfen. „Nach dieser Tragödie, als der Sonnentropfen nicht gefunden wurde.“

„Aber das wurde er doch“, sagte Frederic. Er war so verwirrt, dass er die formelle Ansprache vergaß, die er mehrfach eingeübt hatte. „Wir haben die Blume gefunden, gepflückt und den Tee gekocht, den die Königin getrunken hat – und genau das ist die Ursache unseres Problems, wie wir meinen.“

„Wie bitte, Eure Majestät?“, fragte Gothel, die nun ihrerseits verwirrt war. „Der Sonnentropfen kann doch gar nicht gepflückt werden! Ich habe noch … ich meine, ich habe das Gefühl, dass es ein Zeichen oder ein unheilvolles Omen gegeben hat, etwas, das ich in den Teeblättern las …“

„War die Zeremonie mit den Hofsängern, die den Zauber einer gesunden Geburt besangen, denn nicht genug?“, fragte Nanna Bess listig.

Gothel ging nicht darauf ein, sondern trat zu dem Baby. Sie schaute die Prinzessin mit noch größerer Neugier und Faszination an als zuvor.

„Ihr Haar …“, sagte sie langsam. „Es ist silbern. Nicht golden, wie man es erwarten würde, wenn sie die Essenz der goldenen Blüten getrunken hätte. Seid Ihr sicher, dass es der Sonnentropfen war?“

„Ja, es sei denn, es gibt noch eine andere leuchtende Blume irgendwo“, erwiderte Signore Alzi ungeduldig.

Gothel erwiderte nichts.

„Es ist folgendermaßen geschehen“, erklärte König Frederic gepresst. Das war der schwierigste Teil der Übung, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, was genau geschehen war. Arianna drehte sich um und vergrub ihr Gesicht in der Schürze von Bess wie ein Kind. Die alte Amme umarmte die Königin wie eine Mutter.

Gothel sagte nichts, aber ihre Augen weiteten sich immer mehr, während der König wahrheitsgemäß die Geschichte von Rapunzel und Letties Tod erzählte.

Als er fertig war, musterte Gothel das Baby lange.

„So viel Macht …“, murmelte sie dann und kniff nachdenklich die Augen zusammen. „In den richtigen … oder falschen … Händen … Jemand würde ein Vermögen zahlen für diese hübsche kleine Waffe, anstatt sie wegzusperren.“

„Was hast du da gerade gesagt?“, wollte Arianna wissen.

Gothel schaute den König mit grimmigem Gesichtsausdruck an. „Hoheit, Ihr seid zu Recht besorgt. Die Macht des Himmels ist jetzt auf das Schrecklichste konzentriert im Herzen dieses … süßen kleinen Babys. Rapunzel muss beschützt werden vor jenen, die sie für böse Zwecke benutzen wollen. Auch wenn es gefährlich ist, wäre es eine Ehre für mich, diese Last auf mich zu nehmen.“

„Rapunzel ist keine Last“, widersprach Arianna, und ihre Hände an der Wiege spannten sich an. „Sie ist ein Kind. Sie ist keine Verantwortung, sie ist ein Geschenk.“

„Eure Majestät, ich verstehe, dass Ihr eine … aufgeregte junge Mutter seid, der alle Möglichkeiten eines ganzen Königreichs zur Verfügung stehen“, sagte Gothel mit einem Knicks und einem Augenzwinkern in Richtung Bess. „Alle Säuglinge und kleinen Kinder sind sowohl Verantwortung als auch Last … Darum haben viele, die sich den Künsten verschrieben haben, oftmals keine Zeit für sie.“

Bess widersprach nicht, war aber unangenehm berührt wegen des familiären Tons, den Gothel gegenüber ihrer Herrin anschlug.

„Du hast also noch nie für ein Kind gesorgt“, stellte der König fest.

„O, lasst Euch nicht von meinem mädchenhaften Aussehen täuschen“, sagte Gothel lachend und drehte sich kokett im Kreis. „Ich bin viel älter, als ich aussehe, und habe ein langes, entbehrungsreiches Leben hinter mir. Meine Erfahrungen sind zu vielfältig, um sie alle auflisten zu können.“

„Das war keine Antwort auf die Frage“, stellte Signore Alzi fest.

„Na, du“, sagte Gothel und wandte sich, statt zu antworten, dem Baby zu und beugte sich über die Wiege.

Sie streichelte Rapunzels Wange und murmelte einige freundliche Worte … dann hob sie sie heraus.

Alle Anwesenden hielten die Luft an.

Die kleine Prinzessin war überrascht, von einer Fremden geweckt zu werden, merkte aber sofort, dass keine Gefahr drohte. Sie hob ihr Köpfchen von Gothels Schulter und schaute sich um. Als sie ihre Mutter sah, entspannte sie sich und kuschelte sich an die fremde Frau.

„Seht Ihr?“, murmelte Gothel sanft und wiegte das Kind. „Ich kann gut mit kleinen Kindern umgehen. Und mein Wissen über bestimmte Dinge wie den Sonnentropfen befähigt mich dazu, sie in Sicherheit aufzuziehen, weit weg von den Menschen, damit sie niemandem Schaden zufügen kann.“

„Bis sie aus allem herausgewachsen ist“, betonte Arianna und wiederholte sorgfältig, was Frederic bereits gesagt hatte, so genau und abergläubisch wie ein Kind, das Angst hat, dass ein Versprechen nicht eingelöst werden könnte. „Oder bis sie alt genug ist, sich selbst im Zaum zu halten.“

„Ach, Eure Majestät, ich fürchte, wenn solche Dinge mitspielen, dann gibt es kein Herauswachsen“, sagte Gothel und schürzte traurig die Lippen. „Ihre Kräfte werden mitwachsen und noch stärker werden. Bis sie so tödlich sind, dass man schon in ihrer Nähe in Lebensgefahr gerät.“

„Nein!“, rief Arianna und sprang auf.

„Ich fürchte doch“, sagte Gothel seufzend. „Ehrlich gesagt ist es auch für mich gefährlich. Man hört immer wieder von solchen Dingen in den Kreisen, in denen ich mich bewege. Jemand nimmt ein Findelkind an, auf dem ein Fluch lastet, und stirbt … Mir wäre das nicht weiter wichtig, wenn ich wüsste, dass meine Familie im Falle meines Todes angemessen entschädigt wird.“

„Selbstverständlich“, versicherte der König, dem entging, wie Tregsburg die Augen verdrehte. „Wir werden für alles Vorsorge treffen, für dich und deine Familie, im Falle deines … Glaubst du denn wirklich, dass sie dazu fähig wäre?“

„Nein“, hauchte Arianna und schaute Rapunzel an, die nicht gefährlicher aussah als jedes andere schlafende Baby.

„Wo wohnst du, Gothel?“, fragte der König und bemühte sich um einen geschäftsmäßigen Ton. Aber ihm standen die Tränen in den Augen.

„In einer kleinen Hütte im Tal des Deiber-Flusses“, sagte Gothel lässig. „Vielleicht nicht der ideale Ort für eine so gefährliche … äh, hübsche kleine Prinzessin. Aber ich kenne einen sehr guten Ort. Ein verstecktes Plätzchen zwischen den Hügeln mit vielen wilden Blumen und weichem Gras. Die Ruine einer alten Festung … mit einer Art … Einrichtung … die dazu dienen kann, den kleinen Liebling zu schützen.“

„Wo genau ist das?“, fragte Tregsburg.

„Das sollte ich besser nicht verraten. Entführungen und Lösegelderpressungen kommen viel zu häufig vor in Kreisen der Nachkommenschaft von Herrschern. Und was, wenn die Untertanen aufbegehren und sie vernichten wollen?“

„Aber ich will sie sehen“, verlangte Arianna bestimmt. „Ich will zusehen, wie sie heranwächst! Auch wenn ich nicht … bei ihr sein kann.“

„Wir können Besuche arrangieren“, sagte Gothel besänftigend. „Aber vielleicht wäre es besser für ihr – und Euer – Seelenheil, wenn sie nichts davon weiß. Zumindest zu Anfang. Ich lasse Euch herein, und Ihr könnt ihr nach Herzenslust zuschauen.“

„Ihr müsst noch heute Abend losfahren“, erklärte der König. „Alzi, holen Sie bitte den Schatzmeister. Wir müssen sicherstellen, dass es unserem Kind an nichts fehlt und ihm ein angemessener Lebensstil ermöglicht wird, auch wenn sie fern von uns aufwächst.“

„Ihr seid sehr freundlich, Eure Majestät“, sagte Gothel und machte einen Knicks, immer noch mit dem Baby im Arm.

„Heute Abend …“, sagte Arianna ohne Tränen, denn sie hatte alle verbraucht.

Eine Säuglingsausstattung wurde rasch zusammengestellt und verpackt. Decken und Gewänder, weiche Mützen und noch weichere Windeln wurden in Koffer verpackt. Einem hübschen freundlichen Esel wurde ein Korb für das Baby umgehängt. Man spannte ihn vor einen Karren mit der Verpflegung für die Prinzessin – und legte Gold dazu.

Obwohl die Wächter sie davon abhalten wollten, konnte Königin Arianna sich nicht zurückhalten und gab ihrer Tochter einen letzten Kuss.

„Wir tun das Richtige“, versicherte König Frederic.

„Für unser Land vielleicht schon“, erwiderte Arianna. „Und vielleicht auch für unsere eigene Sicherheit. Aber nicht für mein Baby. Das brauchst du dir gar nicht erst einzureden.“

Und so machte Mutter Gothel sich wie eine Diebin in der Nacht auf den Weg, zusammen mit der gut eingemummelten kleinen Prinzessin.

Am nächsten Tag wurde öffentlich bekannt gegeben, dass Rapunzel ganz plötzlich gestorben sei, zusammen mit der tapferen Dienerin, die vergeblich versucht hatte, sie vor einer Giftschlange zu retten. Wer die Wahrheit kannte, wurde zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet. Das Königreich trauerte vierzehn Tage lang. Die Zeremonie endete mit dem Aufsteigen der Himmelslaternen zu Ehren der verstorbenen Prinzessin. Der König legte fest, dass dies von nun an jedes Jahr an ihrem Todestag getan werden sollte.

Anschließend verlief das Leben im Land wieder in seinen geregelten Bahnen, nur nicht für das Königspaar. König Frederic und Königin Arianna regierten zwar immer noch milde und gerecht, verfielen aber in Trauer und Schweigen.

Eine märchenhafte Unterbrechung

Eines Abends, nicht lange nach diesen Ereignissen, war am Eingangstor des Schlosses ein leises, aber bestimmtes Klopfen zu hören. Ein Wächter öffnete die Tür und erblickte eine Frau, die dort geduldig wartete. Sie war eingehüllt in zahlreiche Lagen von Gewändern aus ungebleichter Wolle und Schals und umklammerte mit ihren gichtigen Fingern einen knorrigen Holzstab. Ihre schwarzen und weißen Haare waren lang und in Zöpfen um ihren Kopf geschlungen. Sie schaute den Wächter mit wachen schwarzen Augen an.

„Ich bin gekommen wegen des Babys“, sagte sie.

Der Wächter schaute sie einen Moment lang verwundert an, dann ging er los, um seinen Vorgesetzten zu holen. Corporal Tregsburg, der wegen der ruhigen und verschwiegenen Art, mit der er das Problem mit der Prinzessin behandelt hatte, befördert worden war, führte die alte Frau hastig ins Schloss und in ein kleines Zimmer, wo sie ungestört reden konnten.

„Diese Krise ist vorbei“, erklärte er ihr. „Wir haben schon vor Wochen eine Person gefunden, die sich um die Prinzessin kümmert. Warum kommt Ihr denn erst jetzt zu uns?“

„Ich lebe im Wald und mir kommen nur gelegentlich Neuigkeiten zu Ohren. Doch selbst wenn ich welche mitbekomme, vergesse sich sie nach ein oder zwei Tagen wieder“, sagte die Frau, jedoch ohne sich dafür entschuldigen zu wollen. „Es gibt immer etwas, das meine Aufmerksamkeit beansprucht … zumeist die Ziegen. Oder die kleinen Siebenschläfer werden unruhig, ein Heinzelmann wird vermisst oder ein Stück Land seit dem Frühling vernachlässigt … Sie kennen das ja.“

Tregsburg kannte das nicht. Er wusste nur, dass solche Dinge nun wirklich nicht zu seinem Aufgabenbereich oder in seine Weltsicht passten. Es wäre ihm lieber gewesen, ein anderer hätte sich um diese Frau gekümmert. Er wies einen Diener an, ihr eine Schale mit Suppe zu bringen und einen Krug Apfelmost. Für den Fall, dass sie ein Engel oder eine verkleidete Hexe war, hatte er alles Nötige getan.

Sie machte sich freudig über die Suppe her … und wurde zur Verzweiflung des Corporals immer redseliger.

„Aber nun, da ich schon mal hier bin, könnten Sie doch die Gelegenheit nutzen und mir erzählen, um was es sich handelt. So wie Ihr Bote davon sprach, muss es sich wohl um eine dringliche Angelegenheit handeln. Und nun bin ich hier, viele Meilen entfernt von meiner gemütlichen Hütte im Wald.“

„Ich wurde zwischenzeitlich zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet“, erklärte Tregsburg.

„Ja, sicher, aber wenn ich rechtzeitig hier gewesen wäre, dann hätten Sie mir davon erzählt. Außerdem könnten Sie mir mit Ihrem Schwert flugs die Zunge aus dem Mund schneiden – also tun Sie einer alten Dame den Gefallen. Sie haben die Blume namens Sonnentropfen gefunden, die Königin hat sie verspeist, wurde gesund und hat einem Mädchen das Leben geschenkt. Und dann … was?“

Der Corporal seufzte und erzählte ihr, was geschehen war.

Die alte Frau runzelte die Stirn.

„Es hat die arme Magd getötet? Und das Baby hatte silberne Haare, sagen Sie? Das sieht mir aber ganz und gar nicht nach dem Sonnentropfen und seiner Magie aus. Entweder die Königin hat versehentlich einen giftigen Pilz gegessen oder, was wahrscheinlicher ist, die Blüte des Mondtropfens.“

Tregsburg schaute sie bestürzt an, seine Gedanken rasten. Diese Dame war nicht annähernd so hübsch wie Gothel, aber sie sprach offen und ehrlich und schien sich mit mystischen Dingen auszukennen. Gothel hingegen, das fiel ihm erst jetzt ein, hatte nichts über die Blume oder die eigenartige Situation gesagt. Sie hatte das Baby genommen und war verschwunden.

„Wo ist die Prinzessin jetzt?“, fragte die Frau neugierig und nippte an ihrer Suppe, als würde sie in einem Gasthaus sitzen und tratschen.

„Der König und die Königin fanden eine Dame, die pünktlich erschien und versprach, sich um die Sicherheit des Kindes zu kümmern.“

„Hm. Und anschließend haben Sie diesen Zinnober hier veranstaltet, um zu kaschieren, was tatsächlich passiert ist?“, fragte sie und deutete mit dem Löffel um sich. Es hingen immer noch schwarze Tücher überall im Schloss, auch wenn die Menschen im Land nach und nach den Trauerflor abnahmen und zu ihrem Alltag zurückkehrten. „Eigenartige Idee. Nicht unbedingt falsch, nur nicht das, was ich getan hätte. Aber ich lebe ja auch im Wald und rede mit den Pflanzen. Sagen Sie mal … das ist aber ein hübscher Löffel“, sagte sie und nahm ihn in Augenschein. „Gut ausbalanciert. Metall. Und wer ist nun also die Dame, die das Kind mitgenommen hat?“

Tregsburg zögerte kurz. Durfte er das Gelübde brechen? Aber die alte Dame wusste bereits das meiste und ahnte den Rest. Sie sah vielleicht aus wie eine närrische Einsiedlerin, aber sie hatte einen scharfen Verstand.

„Mutter Gothel“, sagte er darum.

„Nie von ihr gehört“, sagte die alte Frau schulterzuckend. „Es gab mal eine Familie Gothel, die lebten … ach, das ist aber schon lange her … auf der anderen Seite des Flusses. Aber eine Dame war nicht unter ihnen.“

Der Corporal bemühte sich, seine Bestürzung zu unterdrücken. Offenbar war ein schrecklicher Fehler gemacht worden. Aber was geschehen war, war geschehen, und er hatte nichts damit zu tun. Das Reich hatte genug Tragödien erlebt. Wenn Königin Arianna nun herausfand, dass sie eine falsche Wahl getroffen hatte, oder auch Frederic … diese Enthüllung würde sie beide umbringen. Und abgesehen davon schien diese Gothel doch eine gute Kinderschwester zu sein.

„Nun, dann gibt es für mich hier wohl nichts mehr zu tun“, sagte die Alte. Sie hatte ihre Suppe aufgegessen und schaute sich unbehaglich um. „Irgendwie hatte ich … wissen Sie, irgendwie hatte ich mich darauf gefreut, mich um ein Baby zu kümmern. Ich hatte mal eines – vor langer Zeit. Ich hätte mich über ein Paar leuchtende Augen und fröhliches Lachen im Haus gefreut. Ich habe auf dem ganzen Weg hierher darüber nachgedacht, wo ich ihr Bettchen aufgestellt hätte, welche Kräuter ich verwendet hätte, um sie vor den Pocken zu bewahren, wie ich mir die Hilfe der Flussgeister gesichert hätte …“

„Das tut mir wirklich leid, gute Frau“, sagte Tregsburg und meinte es auch so. „Es tut mir leid, was geschehen ist. Aber es ist nicht mehr zu ändern. Soll ich jemanden rufen lassen, der Euch in einem Wagen zurückbringt, so weit wie Ihr möchtet? Braucht Ihr Verpflegung?“

„O, Sie sind wirklich sehr nett“, sagte sie lächelnd und mit einem Augenzwinkern. „Nett und gut gebaut. Wenn ich noch jünger wäre, mein Lieber … Aber ich denke, ich werde noch eine Weile in der Hauptstadt bleiben, wo ich schon mal den weiten Weg gekommen bin. Ich schaue mir die Sehenswürdigkeiten an, besuche ein paar alte Bäume, kaufe mir ein paar Karaffen. Könnte ich diesen Löffel vielleicht behalten?“

Der Corporal war verdutzt angesichts des abrupten Themenwechsels.

„Wie bitte? Ich denke schon. Wenn Ihr unbedingt wollt. Als Geschenk des Königs, weil Ihr ihm Eure Zeit geschenkt habt.“

„Sehr hübsch, wirklich sehr hübsch“, sagte sie seufzend und starrte die Löffelschale an. „Gute Handarbeit. Sehr solide. Nun gut, junger Mann, bringen Sie mich zur Tür, dann mache ich mich wieder auf den Weg.“

„Sehr gern, gute Frau“, erwiderte er und verbeugte sich.

Die alte Frau stand vorsichtig auf, ihre neueste Errungenschaft fest umklammert, und schlurfte Richtung Ausgang.

„Sie sollten der Person, die sich um die hübschen Glockenblumen dort auf dem Fenstersims kümmert, mitteilen, dass in drei Tagen ein eisiger Wind kommt – viel zu kalt für die Jahreszeit“, sagte sie im Weggehen. „Sie sollten hereingebracht werden.“

„Aber es ist Juni!“, widersprach Tregsburg.

Das war das Letzte, was sie sagte. Er sollte sie viele Jahre nicht mehr wiedersehen.

Aber drei Tage später waren die Glockenblumen verwelkt, ihre blassen Blüten erfroren und verblichen und vom Regen zerdrückt.

Krebs-Zentrum New York City

„Warte mal einen Moment.“ Daniella bewegte nur ihre Lippen. Sie öffnete nicht einmal die Augen, ihr war viel zu kalt und sie war zu erschöpft, um mehr als sprechen zu können. Aber ihre Stimme war unerbittlich und fordernd und hallte kratzend durch Brendans Schädel wie ein Nagel, der über eine Schiefertafel gezogen wird. Dafür war er extrem dankbar.

„Was ist mit der Königin?“, fragte sie.

„Die Königin?“, fragte Brendan verwirrt. „Sie war doch traurig, wegen dem, was sie hatte tun müssen. Sie regiert nun wieder ihr Land, zusammen mit ihrem Ehemann, stoisch, aber zutiefst betrübt …“

„Aha. Und nein!“ Daniella schüttelte leicht den Kopf. „Es ist eine Sache, wenn einem das Baby weggenommen wird und man nicht weiß, wo es ist. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man selbst die Entscheidung gefällt hat, es wegzugeben. Die Königin weiß, wer ihr Kind hat, und vielleicht sogar, wo es ist. Du kannst mir nicht erzählen, dass sie nicht alles in Bewegung setzen würde, um herauszufinden, wie es ihrem einzigen Kind geht!“

„Okay, das klingt plausibel“, gab Brendan zu und dachte darüber nach. Hätte er auch so rasch eingelenkt, wenn sie nicht krank gewesen wäre? Hätte er sich überhaupt die Mühe gemacht, ihren Einwand zu berücksichtigen? Er würde gern glauben, dass er es getan hätte.

„Dein männlicher Blick beeinflusst die ganze Geschichte“, sagte Daniella mit einem süffisanten Lächeln. Sie durchschaute ihn sogar noch im Halbschlaf. „Der große Patriarch hier interessiert sich nur für die Handlung und die Spannungselemente in der Geschichte. Er versteht nicht, wie Ereignisse auf jene wirken, die nicht als Held im Mittelpunkt stehen. Der Mann mit den tausend Gesichtern …“

„Alles klar, du hast deinen Punkt gemacht!“

„Stell dir einfach vor, es wäre unsere Mom.“

„Ich sagte doch, alles klar“, sagte Brendan und unterdrückte ein Lachen. „Okay, es geht weiter, wenn du mir noch einmal vergeben kannst, große Göttin und Hüterin des Weltgeschehens und aller relevanten Subtexte.

Königin Arianna, aller Hoffnung beraubt …

Königin Arianna

… aller Hoffnung beraubt, trauerte so lange und intensiv um den Verlust ihrer erstgeborenen Tochter, ihres einzigen Kindes, wie das Land es von ihr erwartete.

Selbstverständlich kannte niemand bis auf den König und seine engsten Berater die Wahrheit. Die Königin trauerte, aber ihre Trauer unterschied sich deutlich von der einer Frau, deren Baby tatsächlich gestorben war. Denn sie hatte die Entscheidung getroffen, Rapunzel wegzugeben. Die Prinzessin wurde nun von einer anderen Person gebadet. Ihre Haare wurden von einer anderen Person gebürstet, eine andere Person lehrte sie Laufen, Singen, Sprechen. Eine andere Mutter. Diese Mutter würde sie streicheln, füttern, kleiden, ihr kleine Blumen auf das Kleidchen sticken, ihr Schlafliedchen singen.

Die Königin verließ nur selten das Bett, so krank war sie vor Sehnsucht und Trauer.

Signore Dottore Alzi schlug vor, Arianna zu ermuntern, sich ein Hobby zu suchen, um sich abzulenken. Vielleicht einen Hund anzuschaffen, einen hübschen kleinen fluffigen Hund.

Der König sagte Nein.

Der Priester schlug vor, die Königin solle sich wohltätigen Dingen widmen und viel beten. Vielleicht würde eine Spende für einen neuen schönen Flügel für die zweitgrößte Kirche des Landes ihr Erfüllung schenken.

Die alte Nanna Bess gab zu bedenken, dass es nichts gab, das einer Mutter über diesen Verlust hinweghelfen könnte. Selbst jene, die ihre Kinder wegen einer Hungersnot, einer Seuche oder eines Kriegs verloren, erholten sich nie von dem tiefen Schmerz des Verlustes.

Der König sagte abermals Nein, das könne nicht sein … bitte. Er ertrug den Gedanken nicht.

Arianna hingegen erkannte, dass sie ihren Verlust niemals verwinden würde. Darum bat sie Corporal Tregsburg, sie heimlich dorthin zu bringen, wo sie ihr Kind sehen konnte.

Er versuchte, sie davon abzubringen, soweit seine Position Widerspruch erlaubte. Er hatte einen hübschen zehnjährigen Neffen und eine kluge fünfzehnjährige Nichte, aber eine andere Nichte war tot zur Welt gekommen. Seine Schwester legte immer noch heimlich Blumen an der Stelle ab, wo sie das verstorbene Baby begraben hatten.

„Eure Majestät, das kann nicht gutgehen“, sagte er und bemühte sich, es so auszudrücken, wie seine Schwester es vorgeschlagen hatte. „Ihr werdet Euch nicht besser fühlen – sondern schlechter.“

„Ich danke für den Rat, aber es muss sein“, sagte Arianna großmütig, wie sie immer war, trotz des tiefen Schmerzes, den sie in ihrem Herzen spürte und der sich auf ihrem Gesicht abzeichnete.

So führte er sie widerstrebend tief in den Wald hinein.

An der Stelle, wo der Pfad sich verzweigte, wurden sie von Gothel erwartet. Sie macht einen Knicks und benahm sich halbwegs respektvoll, schien aber merkwürdig viel Spaß daran zu haben, der Königin die Augen zu verbinden.

„Ist das wirklich nötig?“, fragte Tregsburg. Er wusste nicht, warum, aber etwas an dieser Frau ließ ihm die Haare zu Berge stehen.

„Es ist gut für das Königreich“, erinnerte Gothel ihn in einem Tonfall, den er ebenfalls nicht mochte.

„Es ist gut so“, versicherte Arianna mit dem Anflug eines Lächelns angesichts seiner Fürsorge.

Und dann ließ sie sich von der weisen Frau an der Hand über einen Pfad führen, den sie nicht sehen konnte, damit sie nicht herausfand, wo ihr Kind versteckt wurde. Tregsburg blieb an der Weggabelung stehen, um aufzupassen, was im Grunde überflüssig war. Niemand kam hier vorbei, nur ein Pilzsammler, der angesichts des bewaffneten Corporals ängstlich den Hut zog und das Weite suchte.

Arianna wurde währenddessen schweigend durch den Wald geführt und in etwas hinein, das feucht und steinig zu sein schien. Ein Tunnel? Eine Höhle? Ihr Baby lebte doch nicht etwa in einer Höhle? Aber dann traten sie hinaus in einen weitläufigeren Bereich, wo Töne anders widerhallten und ihr eine kühle, nach Wiesenblumen duftende Brise ins Gesicht schlug. Die Frauen gingen über weiches Gras und passierten eine Holztür … dann ging es nach oben. Weiter und weiter und weiter hinauf über eine schmale Wendeltreppe. Da ein Geländer fehlte, musste man sich an einem herabhängenden Seil festhalten. Obwohl sie von Traurigkeit und sehnsüchtiger Erwartung erfüllt war, erfasste Arianna doch auch eine unbändige Neugier. Wo genau waren sie hier?

Aber jedes Mal, wenn sie den Mund öffnete, brachte die Hexe sie mit einem Zischeln zum Schweigen oder legte ihr einen Finger auf die Lippen. Eine Geste, die bei einer Königin ganz und gar nicht angemessen war. Aber der Finger war weich und duftete nach kostbaren Ölen, also war es nicht weiter schlimm.

Schließlich erreichten sie eine Stelle, an der die engen Wände sich öffneten, wenn auch nicht ins Freie. Gothel nahm der Königin die Augenbinde ab, und einen Moment lang war Arianna schwindelig und verwirrt, denn alles war immer noch schwarz. Dann hörte sie, wie etwas beiseitegeschoben wurde. Vor ihr erschien ein rechteckiger heller Fleck, der sich als Guckloch entpuppte.

Sie blickte in einen großen, gut ausgestatteten, sonnigen Raum mit all den teuren Teppichen und Möbelstücken, die das Königspaar zur Verfügung gestellt hatte. Hinter einem Fenster waren der blaue Himmel und weiße Wolken zu sehen – sonst nichts. So weit oben befanden sie sich!

In der Mitte des Zimmers stand eine Wiege. Darin lag Rapunzel. Ihr silbernes Haar schimmerte im Sonnenlicht, ihre Augen funkelten, als sie versuchte, nach einem Mobile aus bunt glänzenden Dingen zu greifen, das direkt über ihr hing.

Gothel trat ins Bild, nahm Königin Ariannas Kind auf den Arm und herzte es. Sie ging zu der Stelle, hinter der die Königin sich versteckte, und hielt ihr das fröhliche Kind hin, aber so, dass Rapunzel nicht durch das Guckloch schauen konnte.

Das Baby seufzte und vergrub seinen Kopf in Gothels Schulter, so glücklich war es darüber, dass es aus der Wiege gehoben wurde.

„Ja, du bist ein liebes Mädchen“, murmelte Gothel.

Arianna streckte eine Hand aus, konnte aber nur die kalte Holzwand berühren. Alle Energie, alle Lebenskraft verließ sie, und ihre Knie zitterten. Nur der unbändige Drang, ihr Kind zu betrachten, verhinderte, dass sie zusammenbrach.

Nachdem Gothel die kleine Prinzessin wieder in die Wiege gelegt hatte und zurück in den geheimen Raum kam, sagte Arianna nichts. Sie schwieg auch, während sie die endlosen Stufen nach unten stiegen und über den Pfad zu dem Wächter zurückgingen. Als sie die Augenbinde abnahm, war diese ganz durchnässt von ihren Tränen.

„Nie wieder“, sagte Arianna laut zu sich selbst und ließ sich ohne ein weiteres Wort wegführen.

Tregsburg warf Gothel einen Sack Gold zu, den sie mit einem ironischen Lächeln auffing.

Auch wenn die anderen Schlossbewohner nicht über den Besuch informiert wurden, ahnten einige etwas, ohne dass sie extra fragen mussten. Der König sagte nichts, sondern hielt Arianna bis tief in die Nacht eng umschlungen. Der Arzt und der Priester spielten eine lange Partie Schach, während die Stunden vergingen, und warfen nervöse Blicke zu den königlichen Gemächern.

Einen Monat später hatte Nanna Bess die Nase voll.

Sie ertappte Königin Arianna dabei, wie sie aus dem Fenster schaute und mit einem gequälten Gesichtsausdruck den Kindern der Bediensteten beim Spielen im Schlosshof zuschaute. Die alte Magd wusste von den Qualen der Königin, und sie wusste auch, dass etwas dagegen unternommen werden musste.

„Eure Majestät, es gibt viele kleine Kinder, die den Verlust einer Mutter zu beklagen haben – genauso wie es viele Mütter gibt, die den Verlust ihres Kindes beklagen. Warum besucht Ihr nicht einmal das Armenhaus und tut jenen etwas Gutes, die einen viel schwereren Schicksalsschlag erlitten haben als Ihr? Oder wie wäre es mit dem Waisenhaus? Die Nonnen können es kaum noch führen angesichts der mageren Ausstattung, die ihnen zur Verfügung steht.“

„Das Waisenhaus?“, fragte die Königin überrascht. „Aber wir schicken doch Nahrungsmittel …“

„Glaubt Ihr, Nahrungsmittel sind das Einzige, was ein armes elternloses Kind benötigt?“ Die Hebamme verschränkte zornig die Arme. Ihr war klar, dass sie sich viel herausnahm. Aber sie liebte ihre Königin und das Land, und dies war ein wichtiger Moment. Alle wussten schließlich, was mit der Gräfin Báthory geschehen war, der niemand zu widersprechen gewagt hatte.

„Bring mich dorthin“, befahl die Königin. Was ihre Charakterstärke bezeugte und die Güte, die sie im Herzen trug: Sie war nicht so stark mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt, dass sie die Probleme an anderen Orten in ihrem Land ignoriert hätte.

Im Waisenhaus hob sie ein Kind hoch, das an einer schlimmen Krankheit litt, und drückte es gegen ihre Brust – trotz der Schreckensrufe der Nonnen und Krankenschwestern. Sie schaute sich in dem düsteren, stickigen Raum um, wo die Babys und Säuglinge untergebracht waren, und auch in dem danebenliegenden Saal, wo ältere, ungewollte Kinder apathisch vor sich hinstarrten. Diese Jugendlichen wurden gelegentlich zu den Bauern geschickt, wenn Arbeitskräfte fehlten, oder zu wohlhabenden Familien, die Diener brauchten.

Das Elend, das sie hier sah, öffnete der Königin die Augen und auch das Herz.

„Das ist meine Angelegenheit“, murmelte sie.

Und so sollte es sein.