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Band 12 der Bestseller-Reihe "Villains" von Serena Valentino! Sie vermisste die Tage des Staunens. Aber diese Tage waren längst vorbei. Alles, was blieb, war der Zorn. Sie denken vielleicht, Sie kennen die Geschichte der Herzkönigin, der blutrünstigen Tyrannin, die dafür bekannt ist, dass sie rot sieht. Sicherlich haben Sie schon von dem jungen Mädchen Alice gehört, das durch den Kaninchenbau in ein Land namens Wunderland fiel, und wie sie dessen bösartige Herrscherin besiegte, um wieder nach Hause zu gelangen. Aber haben Sie sich jemals gefragt, wie der erste Tag der Königin im Wunderland war? Hat sie die gleichen Wunder - und Schrecken - erlebt wie Alice? Sind die Gesetze des Landes ihr königlicher Erlass - oder ein verzweifelter Versuch, Ordnung in einen Ort zu bringen, der sich weigert, Sinn zu machen? Und warum ist sie so wütend? Es mag schwer sein, Fragen über eine Welt, die aus den Scherben anderer erschaffen wurde, mit Gewissheit zu beantworten. Am Ende geht es um eine Frau, die gegen die Dunkelheit in ihrem Inneren kämpft, und um ihre unwahrscheinliche Freundschaft mit einem kleinen weißen Kaninchen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Dieses Buch ist für meine Mama.
Wie das Weiße Kaninchen habe ich gelernt, dass Zeit einerseits nichts bedeutet und gleichzeitig alles bedeutet. Und dass es unmöglich ist, jemanden zu seinem Glück zu zwingen. Wir können nur versuchen, glücklich zu leben, und hoffen, dass die Menschen, die wir lieben, das ebenfalls und mit uns gemeinsam tun können.
Aus dem Buch der Märchen
Durch den Spiegel
Es gibt viele Arten von Spiegeln. Einige dienen lediglich dazu, unser eigenes Gesicht zu betrachten, während andere uns die Gesichter unserer Lieben zeigen, selbst wenn diese weit weg sind. Es gibt Spiegel, in denen gefangene Seelen spuken, Spiegel, die uns die Wahrheit sagen, und Spiegel, die lügen. Spiegel, die uns Einblicke in andere Welten gewähren. Und wenn die Sterne günstig stehen, können wir uns sogar in diese Welten hineinwagen.
Jetzt, da wir mit unserem geliebten Hades in der Unterwelt leben, sind wir mehr denn je auf Zauberspiegel angewiesen, um mit unserer Tochter Circe zu sprechen. Wer wir sind? Wir sind die Verdrehten Schwestern, meine Lieben – Lucinda, Ruby und Martha –, die größten Hexen unserer Zeit. Doch leider ist unsere Zeit im Reich der Lebenden vorüber.
Man könnte meinen, dass Circe, deren Mütter sicher in der Unterwelt versteckt sind, zusammen mit Primrose und Hazel ein friedliches Leben als Königin im Wald der Toten führen würde. Doch die Königinnen des Lichts spüren die Schwingungen einer immer chaotischeren und zunehmenden magischen Veränderung, die nicht nur in den Vielen Königreichen, sondern auch in anderen Ländern zu spüren ist.
Falls ihr das Buch der Märchen in der von uns vorgesehenen Reihenfolge gelesen habt, habt ihr diese Veränderungen vielleicht auch bemerkt. Es sei denn, ihr seid zufällig auf diesen Band gestoßen, ohne die vorherigen Geschichten zu kennen. In diesem Fall werdet ihr wahrscheinlich etwas verwirrt sein.
Ob ihr euch nun erst weiterbilden möchtet, bevor ihr weiterlest, oder euch ohne Vorwissen auf einen gefährlichen und verwirrenden Weg begebt – in jedem Fall müsst ihr verstehen, dass Zeit nichts und gleichzeitig doch alles bedeutet. Fragt einfach das Weiße Kaninchen. Wie wir selbst weiß auch das Kaninchen jetzt, dass alle Zeit gleichzeitig existiert – die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Wie ihr vielleicht wisst, zerbrachen die Welten, als Hades Circe aus dem Ort zwischen den Lebenden und den Toten riss. Und er ließ sie noch weiter zerbrechen, als er uns in die Unterwelt brachte. Das hatte eine unbeabsichtigte Wirkung: Die zerbrochenen Scherben der Welten fügten sich zu einer neuen Realität zusammen, einem erschreckend schönen Ort namens Wunderland.
Wie wir bald erfahren sollten, ist das Wunderland eine verrückte Welt, die zusammengesetzt wurde, als wäre sie der wilden Fantasie eines Kindes entsprungen. Ein Ort, an dem nichts einen Sinn ergibt. Ein Ort, an dem Zeit nichts bedeutet und doch wiederum alles bedeutet. Ein Königreich, in dem ein Weißes Kaninchen immer zu spät kommt, weil die Zeit simultan abläuft. Und ein Land, in dem eine einst ruhige und glückliche Königin wahnsinnig wurde, weil ihre Existenz buchstäblich auf den Kopf gestellt wurde.
Es gab eine Zeit, in der wir dachten, das Schicksal sei unvermeidlich. Doch jetzt, da wir die Dinge aus einer neuen Perspektive – aus der Unterwelt – betrachten, wissen wir, dass sowohl die Zeit als auch das Schicksal fließend sind, weil es keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt. Schaut euch nur an, was Circe, Hazel und Primrose tun. Wie sie das Schicksal derjenigen im Buch der Märchen ändern wollen, denen durch unsere Einmischung unrecht getan wurde. Wir sind jedoch zu dem ernüchternden Schluss gekommen, dass dies unsere Verantwortung ist und nicht die unserer Tochter. Das wurde uns in dem Moment klar, als wir den Spiegelsaal betraten und die Folgen erblickten, die Hades verursacht hatte, indem er unser Schicksal verändert und uns in die Unterwelt gebracht hatte.
In Hades’ Spiegelsaal gibt es Spiegel, durch die man in jede Welt blicken kann – und wenn wir jede Welt sagen, dann meinen wir auch eure. Als Hades die Welten mit seiner Magie zerbrach, zerbrachen auch einige dieser Spiegel. Ihre Scherben verschmolzen wiederum zu einer neuen Welt. Das ist eine der vielen Arten, wie Welten entstehen. Manchmal entsteht etwas aus dem Nichts und manchmal aus allem. Das ist schon einmal geschehen und es wird wieder geschehen.
Wenn wir durch den Spiegelsaal gehen, sehen wir die fehlenden Teile. Wir sehen die Teile, die sich gelöst haben, um neue Welten zu erschaffen, und die Teile, die einfach verschwunden sind. Wir sehen die Scherbe, die einen skurrilen Wald zu enthalten scheint, tatsächlich aber eine dunkle und gefährliche Kreatur beherbergt. Einen winzigen Splitter aus einem Land, in dem ständig Nicht-Geburtstage gefeiert werden. Wir sehen die zerklüfteten Teile anderer Königreiche, die von der Weißen und der Roten Königin regiert werden – vielleicht sind dies dann Königinnenreiche –, und Teile aus Ländern, in denen es nicht ungewöhnlich ist, dass Mäuse, Raupen, Kaninchen und Katzen sprechen können. Und ein Land, in dem ein kleines Mädchen unter den Bäumen im Park einschläft, obwohl sie eigentlich lernen sollte.
In Hades’ Spiegelsaal finden sich nur zwei Spiegel, denen keine Teile fehlen oder nicht an der falschen Stelle sitzen: der Spiegel zu den Vielen Königreichen und der zur Unterwelt.
Aber wir befürchten, dass dies nicht immer so bleiben wird, insbesondere angesichts dessen, was noch kommen wird. Wenn die Reiche innerhalb der Vielen Königreiche Krieg gegeneinander führen sollten, befürchten wir eine weitere Zerstörung der Welten – und wir sind nicht sicher, ob die Vielen Königreiche dieses Mal verschont bleiben werden. Welches Land wird verloren gehen, wenn Teile der Vielen Königreiche wegbrechen? Wird es das Reich von Königin Schneewittchen sein, das von Königin Belle? Oder wird es den Wald der Toten treffen? Wir können es nicht sagen. Sicher ist nur, dass weitere Brüche entstehen werden, wenn Circe Tulip und ihre Armee aus Baumfürsten und Zyklopenriesen nicht davon abhalten kann, die Burg des Tierkönigs anzugreifen.
So wie es aussieht, sind Circe und die anderen Damen des Waldes der Toten durch einen Bluteid verpflichtet, ihren Verbündeten zu helfen, wenn sie um Hilfe rufen. Tulip wusste das, als sie die Königinnen der Toten rief. Der Wald der Toten hat eine lange Geschichte, die von Blut, Magie und Gewalt geprägt ist. Doch als Circe, Primrose und Hazel ihre Throne als Königinnen dieses einst so trostlosen und abscheulichen Ortes bestiegen, beschlossen sie, ihn mit Leben und Licht zu füllen. Sie wussten, dass sie die schrecklichen und unaussprechlichen Taten der Vergangenheit niemals ungeschehen machen konnten, doch sie waren entschlossen, das Unrecht, das die Königinnen, Hexen und Feen vor ihnen angerichtet hatten, wiedergutzumachen. Und ganz besonders das Leid, das wir verursacht haben.
***
Circe hätte nie gedacht, dass Königin Tulip dem Biest-König den Krieg erklären würde, auch wenn er Tulip unaussprechlichen Kummer bereitet hatte, bevor er sich durch seine Liebe zu Belle rehabilitierte. Doch bevor Belle in sein Leben trat, war er nicht der Mann oder König, der er heute ist. Er brach viele Herzen, darunter auch Tulips, die so untröstlich über seine Grausamkeit ihr und ihrem Königreich Morningstar gegenüber war, dass sie sich an der Küste ihres Vaters von den Klippen ins Meer stürzte. Dort schloss sie einen Pakt mit der Meerhexe Ursula, die Tulip ihr Leben zurückgab, im Austausch für ihre Schönheit und ihre Stimme. Seit diesen dunklen Tagen hat Tulip sich neu erfunden und ist eine starke Frau mit einem Ziel geworden.
Doch Circe hätte nie auch nur annähernd geahnt, was Tulips wahres Ziel war, während sie selbst ihre Zeit mit den Baumfürsten, den riesigen Bäumen der alten Wälder und den zyklopischen Felsriesen verbrachte. Sie hätte nie gedacht, dass Tulip sich auf einen Krieg und auf die Rache am Biest-König vorbereitete. Und niemals hätte sie sich vorstellen können, dass sie sich gezwungen sehen würde, eine eigene Armee von Untoten aufzustellen, um aus einem anderen Grund als der Selbstverteidigung zu kämpfen. Doch die neuen Königinnen der Toten, die sich nun Königinnen des Lichts nennen, hatten Königin Tulip vor Jahren ihre Treue geschworen – durch einen Eid, der mit sieben gebrochenen Herzen besiegelt wurde und somit magisch bindend ist. Für die Königinnen des Lichts war es damals ein leichtes Versprechen gewesen. Sie vertrauten Tulip. Schließlich gehörte sie zur Familie und war ihre Freundin. Circe war nie in den Sinn gekommen, dass Tulip gegen das Biest intrigierte – nach all den Jahren, die seit dem schrecklichen Vergehen des Biests vergangen waren. Diese Vergehen sind in ihren gemeinsamen Geschichten Das Biest in ihm und Fangt das Biest! in diesem Buch der Märchen aufgezeichnet.
Aber uns kam es schon in den Sinn. Wir sahen es kommen. Wir wussten, dass Königin Tulip von den Königinnen des Waldes der Toten erwarten würde, sich ihrer Armee anzuschließen und zum Schloss des Biestes zu marschieren. Um es und jeden, der sich ihr in den Weg stellte, zu vernichten – wenn nötig.
Wer das nicht erwartet hat, der hat nicht aufgepasst. Und wer sich fragt, warum es erst jetzt geschieht – nach all dieser Zeit –, der versteht immer noch nicht, dass Zeit nichts und gleichzeitig alles bedeutet.
Tulip weiß das sehr gut. Sie wusste es schon immer. Sie verbrachte Jahre mit dem großen Baumfürsten Oberon und seinesgleichen, erkundete die dunklen und hellen Wälder und lernte alte Magie, die nur den Wesen der Wälder bekannt war. Sie nutzte die Zeit, die ihr blieb, und stellte heimlich eine unvorstellbar große Armee von Baumfürsten und Zyklopen auf, ohne dass die Königinnen des Lichts davon etwas mitbekamen. Tulip schlich sich in die ältesten Wälder und weckte die Bäume, die seit mehr Jahren schliefen, als man sich vorstellen konnte. Mit einer uralten Magie, von deren Existenz selbst wir nichts wussten, scharte sie alle um sich.
Doch das war nicht die einzige Gefahr, die in den Vielen Königreichen im Verzug war. Nicht lange vor Tulips Kriegserklärung erhielten die Königinnen des Lichts einen Brief von Schneewittchen, in dem diese um ihre Hilfe bat. Sie schrieb nur, dass etwas mit dem alten verzauberten Spiegel ihrer Stiefmutter nicht stimme und sie bitte so schnell wie möglich zu ihr kommen sollten. Doch Circe und die anderen Königinnen des Waldes der Toten waren abgelenkt von einer scheinbar endlosen Reihe unglücklicher Ereignisse, der die jungen Königinnen kaum gewachsen waren.
Und was hat all das mit der Herzkönigin zu tun? Alles und nichts.
Wenn ihr die vorherigen Geschichten im Buch der Märchen gelesen habt, dann wisst ihr, dass alles miteinander verbunden ist und dass Tulips Krieg nicht das einzige Unheil war, das den Bewohnern der Vielen Königreiche drohte. Etwas noch Beunruhigenderes als Krieg und der Spuk von Schneewittchens Spiegel braute sich in einem fernen Land unserer eigenen Schöpfung zusammen und brachte alles und jeden in Gefahr. Und davon handelt diese Geschichte.
Ihre Geschichte. Die Geschichte der wütenden Königin.
Die Herzkönigin
Die Herzkönigin sinnierte oft darüber nach, ob es vielleicht besser gewesen wäre, wenn nicht alles auf einmal stattgefunden hätte. Dann wäre es vielleicht nicht so verrückt gewesen. Aber es passierte nun mal alles auf einmal, oder zumindest kam es der Königin so vor, als sie sich in einem so fremden, verwirrenden und überwältigenden Land wiederfand.
Im Wunderland war sie umgeben von Lärm, Chaos, Rätseln und Fremden. Und aus irgendeinem Grund nannten diese Fremden sie ihre Königin – eine Vorstellung, die sie zunächst ziemlich irritierte. Doch sie war ja immer eine Königin gewesen, oder etwa nicht? Und wenn nicht hier, dann sicherlich irgendwo anders. Je mehr sie jedoch darüber nachdachte, desto überzeugter wurde sie, dass sie nicht immer die Königin des Wunderlands gewesen war. Dieses verrückten, befremdlichen Königreichs, das sich für sie so rätselhaft und doch so seltsam vertraut anfühlte und in dem sie umgeben war von lästigen Bewohnern, die sich alle Mühe gaben, sie zu ärgern und durcheinanderzubringen. Von ihr schienen alle zu erwarten, dass sie ihre Königin war und die Beherrschung behielt. Was umgeben von so viel Wahnsinn jedoch unmöglich war.
Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wie ihr Leben gewesen war, bevor sie sich im Wunderland wiedergefunden hatte. Nur manchmal hatte sie das Gefühl, dass es einmal Glück und Sinn in ihrem Leben gegeben hatte. Sie war sicher, dass ihr Leben einst von Regeln und Ordnung bestimmt gewesen war. Jetzt allerdings herrschte nur noch Chaos. Nichts ergab einen Sinn, und sie war ständig wütend.
Obwohl schon viele Jahre vergangen waren, seit sie in diesem neuen Leben erwacht war, fühlte es sich immer noch wie ein schrecklicher Fehler an, als gehöre sie nicht hierher. Und Tatsache war, dass sie kein Verlangen danach hatte, sich anzupassen oder sich diesem wahnsinnigen Land zugehörig zu fühlen. Sie wollte einfach nur weg.
Anfangs kämpfte sie gegen dieses Verlangen an. Sie versuchte, die donnernde Wut in sich zu unterdrücken, doch nichts half – zumindest nicht für lange. Und nun schien es eh zu spät dafür zu sein. Der Lärm um sie herum und in ihrem Kopf war ohrenbetäubend laut, und die Wut war zu groß geworden. Es gab nur noch eine Möglichkeit. Sie musste alle im Wunderland töten. Vielleicht fand sie dann endlich Frieden.
Diese perfekte und erhabene Schlussfolgerung kam der Königin eines Morgens, als sie ihren Tee trank und gedankenverloren an ihren Lieblingskeksen knabberte. Die Erkenntnis machte sie benommen. Sie lachte wie eine Besessene, als sie zu ihrem Schreibtisch eilte, wo sie Briefpapier und Feder hervorholte, um die Einladungen zu schreiben. Sie würde eine Party veranstalten! Eine Party, bei der alle sterben würden.
Der Gedanke, allen den Kopf abzuschlagen, machte sie schwindlig. Das war doch das, was Könige und Königinnen taten, oder etwa nicht? Zumindest hatte das Weiße Kaninchen es ihr in einer seiner vielen Abhandlungen über die Gewohnheiten von Monarchen erzählt. Diese schlugen jemandem einfach den Kopf ab, wenn er oder sie ihnen missfiel. Für die Königin schienen einige ihrer Gründe ziemlich belanglos zu sein, doch sie wusste, dass sie im Recht war. Sie konnte es kaum erwarten, all die dummen Köpfe mit leeren, leblosen Gesichtern auf dem Boden liegen zu sehen. Dann – und nur dann – würde es keine Rätsel und keine langweiligen Geschichten mehr geben, keine Nicht-Geburtstagslieder, keine Lügengeschichten und kein kleinliches Gezanke. Das Einzige, was noch aus ihren Mündern fließen würde, wäre Blut. Sie war überrascht von der puren Wonne, die diese Bilder in ihr auslösten. Als sie den letzten Umschlag verschloss, seufzte sie erleichtert und verspürte zum ersten Mal seit ihrer Ankunft im Wunderland einen Hauch von Frieden. Bald würden alle Untertanen ihre Einladungen erhalten haben. Bald würden sie alle sterben.
Von Inspiration getrieben, griff sie nach der großen Messingglocke, die auf ihrem Schreibtisch stand, und läutete sie wütend, bis eine ihrer Zofen den Raum betrat. Es war eine zierliche, schüchterne junge Frau mit großen Augen und dunklen Haaren, die unter ihrer Zofenhaube hervorschauten. In ihrer schwarzen Uniform mit roten Herzverzierungen betrat sie den Raum. Der Königin fiel auf, wie ihre Hände zitterten und ihre Lippen bebten, und sie fragte sich, ob die Zofe ihr einen Vorwand liefern würde, sie enthaupten zu können. Die Zeit würde es zeigen.
„Bring diese Einladungen sofort zum Weißen Kaninchen! Sag ihm, es soll alle verteilen, bevor es heute zu unserer üblichen Zeit zu mir kommt. Und informiere das Personal, dass wir eine üppige Party für alle meine Untertanen veranstalten werden. Und sag ihnen, sie sollen sich gefälligst beeilen! Ich will, dass alles ohne Verzögerung erledigt wird! Kuchen, Kekse, Erfrischungen, Dekorationen, Spiele – keine Ausreden!“, befahl sie und warf der armen Magd die Glocke hinterher, als diese aus dem Raum eilte. Die Königin kümmerte es nicht, ob dies eine unmögliche Aufgabe für ihre ohnehin schon geplagten Bediensteten war. Was machte das schon? Bald würden sie ohnehin alle tot sein.
Die Königin ließ ihre Köche und Bäcker bereits rund um die Uhr arbeiten, damit sie ihr alle erdenklichen Köstlichkeiten zubereiteten, für den Fall, dass sie oder der König plötzlich Lust darauf bekam. Jeder an ihrem Hof wusste, welche Strafe ihm drohte, wenn die Königin nicht genau das bekam, was sie wollte – und zwar genau dann, wenn sie es verlangte. Und es war ja nicht so, als hätte sie einen kleinen Haushalt. Mit ihr und dem König waren sie zweiundfünfzig – nun ja, eigentlich dreiundfünfzig, wenn man das Weiße Kaninchen mitzählte, abzüglich einiger Enthaupteter. Es durfte also keine Ausreden geben.
Als sie nun darüber nachdachte, kam ihr diese Zahl – zweiundfünfzig – seltsam vor. Sie kam ihr bekannt vor, lag aber so weit entfernt in ihren Erinnerungen, die mittlerweile von Dunkelheit umhüllt waren. Als die Königin sich zum ersten Mal im Wunderland wiedergefunden hatte, hatte sie versucht, in diese Dunkelheit zu greifen, um etwas aus ihrer früheren Zeit zu finden. Dadurch hatte sie sich nur noch verwirrter und ratloser als zuvor gefühlt. Also hatte sie es schließlich aufgegeben und hörte auf, sich erinnern zu wollen. Dennoch blieb alles in ihrem Leben – damals wie heute – ein unlösbares Rätsel.
Man könnte meinen, dass die sprechenden Katzen, Raupen und Kaninchen im Wunderland oder die Zahl 52 das drängende Rätsel wären. Doch das war nicht der Fall. Stattdessen bildete ihre überwältigende Wut das Rätsel. Seit dem Moment, als sie im Wunderland aufgewacht war, schwankte sie zwischen Kopflosigkeit und Wut. Und je verwirrter sie wurde, desto brutaler wurde die Wut. Mit der Zeit kam es ihr vor, als ob nicht nur die Wut einer, sondern dreier Frauen in ihr wohnte. Sie litt ständig darunter und stand dauerhaft kurz vor einem Zusammenbruch. Es war anstrengend, die Herzkönigin zu sein, die immer nur Wut verspürte und so viel Hass in sich trug. Sie hinterließ ein Chaos, das andere aufräumen mussten, damit sie sich nicht mit ihrem eigenen Elend auseinandersetzen musste.
Als die Herzkönigin sich in ihrem Morgenzimmer umsah, in dem sie die meisten Vormittage und Nachmittage verbrachte, wünschte sie, sie wäre glücklich. Sie fühlte sich egoistisch und gebrochen, als wüsste sie nicht, wie sie glücklich sein konnte, obwohl sie von schönen Dingen und von Bediensteten umgeben war, die ihr jeden Wunsch erfüllten. Doch sie konnte einfach kein Glück empfinden. Es spielte keine Rolle, wie schön oder komfortabel ihr Schloss war, wie wunderschön ihre Lieblingsblumen in ihrem Garten aussahen oder wie liebevoll ihr Ehemann war. Sie hasste ihr Leben, weil sie es hasste, im Wunderland zu sein.
Als sie auf den Teller mit ihren Lieblingskeksen hinunterblickte, auf die runden weißen mit roter Konfitüre in Herzform in der Mitte, war sie beleidigt, dass es kein Kuchen war. Sie sah sich nach ihrer Glocke um. Dann fiel ihr ein, dass sie sie nach der Zofe geworfen hatte, und beschloss, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als so laut zu brüllen, wie sie nur konnte.
„Bringt mir Kuchen! Und keinen dieser blöden Nicht-Geburtstagskuchen!“, schrie sie und bemerkte, dass sie eigentlich mehr als nur eine Glocke brauchte.
Ihre Stimme hallte durch den höhlenartigen Raum, sodass ihre Diener wild auseinanderstoben, miteinander zusammenstießen und von den Wänden abprallten, bevor sie in die Küche eilten, um Kuchen zu holen. Bei diesem Anblick hätte die Königin lachen sollen, aber sie konnte es nicht. Sie fühlte nur noch Wut in sich, und manchmal staunte sie, wie sehr sie sich seit ihrer Ankunft im Wunderland verändert hatte. Sie vermisste die Tage des Lachens und der Neugierde. Sie vermisste die Tage voller Wunder, als sie durch dieses fremde Land auf der Suche nach Antworten und Freunden gewandert war – als es für sie noch leicht gewesen war, ihre schlimmsten Impulse zu zügeln. Sie vermisste es, die Geheimnisse ihres Königreichs zu ergründen, und sie vermisste die Aufregung, ihre Untertanen kennenzulernen und ihre Geschichten zu erfahren. Doch diese Tage waren längst vergangen.
Was geblieben war, war die Wut.
Während sie dort saß, die letzten Kekse mampfte und ungeduldig auf den Kuchen wartete, versuchte sie, sich an den genauen Moment zu erinnern, in dem die Wut ihre Welt erobert und dieses unstillbare Verlangen nach Kuchen sie überwältigt hatte. Es war seltsam, wie oft sie jetzt danach verlangte, wie das Essen die Wut zu lindern schien, wenn auch nur für einen Moment. Und sie fragte sich, warum sie nicht gleich morgens danach gefragt hatte. In diesem Moment erschien eine Dienerin mit einem frischen Teller ihrer Lieblingskekse im Zimmer – jedoch nicht mit dem Kuchen, den sie so dringend brauchte. Sie spürte, wie sie immer wütender wurde, wie die Hitze in ihre Wangen stieg und ihre Knöchel weiß wurden, als ihre Fingernägel sich in ihre Handflächen gruben. Sie musste sich mit aller Kraft zurückhalten, um die Dienerin nicht auf der Stelle zu töten. Obwohl sie eigentlich nicht verstand, warum sie es nicht tat.
„Ich sagte Kuchen! Ich will Kuchen! Bring mir Kuchen, oder ich lasse dich köpfen!“ Die Dienerin stellte die Kekse mit zitternden Händen auf den Beistelltisch, der Ausdruck in ihren Augen schwankte zwischen Angst und Verwirrung. Doch die Verwirrung der Dienerin war nichts im Vergleich zu der der Königin.
Sie selbst verstand es nicht, dieses Verlangen, dieses Bedürfnis nach Kuchen. Manchmal – wenn niemand hinsah – stopfte sie sich eine ganze Handvoll Kuchen in den Mund und aß, bis ihr schlecht wurde. Es war das Einzige, was ihr noch half, sich besser zu fühlen. Das Einzige, was ihre Wut dämpfte. Sie wusste, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Es war mehr als nur verrückt – es war erschreckend. Die flüchtigen Bilder ihres früheren Lebens schienen mit jedem Tag zu verblassen. Wenn sie sich jetzt zu erinnern versuchte, sah sie nur noch Dunkelheit. Und sie wagte es nicht, in diese Dunkelheit zu greifen, weil sie zu viel Angst vor dem hatte, was dort auf sie lauern könnte.
Noch beunruhigender waren jedoch die Stimmen in ihrem Kopf. Nicht nur ihre eigenen, sondern auch die anderer Frauen. Drei anderer Frauen, um genau zu sein. Das Schlimmste aber war die Überzeugung der Herzkönigin, dass die Wut in ihr nicht ihre eigene war, sondern diesen Frauen gehörte – und dass auch sie es waren, die den Kuchen verlangten.
Dieser Gedanke gab ihr das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Allein schon, so etwas zu denken, kam ihr töricht vor. Sie wagte nicht, jemandem von diesen Frauen zu erzählen – nicht einmal ihrem engsten Vertrauten, dem Weißen Kaninchen. Alle würden denken, sie sei durch die langen Jahre der Gefangenschaft verrückt geworden. Aber waren nicht alle im Wunderland verrückt? Vielleicht hörten auch sie die Stimmen dieser Frauen und deren kreischendes Lachen, das in ihren Köpfen widerhallte und sie alle in den Wahnsinn trieb.
Sie dachte schon viel zu lange über diese mysteriösen Frauen nach. Sie fragte sich, wie sie ihrem Wahnsinn entkommen konnte. Es schien jedoch kein Entkommen zu geben. Nicht vor den Frauen und nicht aus Wunderland. So blieb der Königin nur noch eines übrig. Vielleicht würde sie dann Frieden finden.
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie ihren Mann, den König, kaum bemerkte, als er den Raum betrat. Aber sie bemerkte ihn ohnehin meistens nicht. Wie klein und seltsam er immer wirkte, wie merkwürdig und fröhlich. In seiner übergroßen Königskleidung hatte er etwas Komisches an sich, fast wie ein Kind, das sich mit den Kleidern seines Vaters verkleidete. Seine Robe schleifte über den Boden und sammelte Kekskrümel auf, während er durch den Raum ging. Ob die Dienstmädchen wussten, wie viel leichter ihre Arbeit war, weil ihr kleiner König mit seiner Kleidung das Schloss fegte? Der König bemerkte die Glocke, die auf dem Boden lag, hob sie beiläufig auf und legte sie auf den Schreibtisch der Königin, als wäre es das Normalste der Welt.
„Ich sehe, die Zofe hat dich wohl wieder genervt“, sagte er und setzte sich auf den roten Zweisitzer. Die Königin bemerkte, dass er sie gern neben sich gehabt hätte, doch sie fühlte sich an ihrem Schreibtisch gerade am besten. Auch wenn man es ihm nicht anmerkte, wusste sie, dass es ihn verletzte. Er trug immer dasselbe Lächeln im Gesicht – egal was passierte. Je mehr sie ihn verabscheute, desto breiter wurde sein Lächeln. Nichts schien ihn jemals zu stören. Er war immun gegen den Wahnsinn im Wunderland, gegen die Wut der Königin, gegen die Stimmen. Das Schloss könnte um ihn herum einstürzen, und er würde immer noch lächeln.
Tatsache war, dass sie den Anblick des Königs nicht ertrug, ebenso wenig wie den Klang seiner Stimme, mit der er ihr von den absurden Vorgängen in ihrem Königreich vorschwärmte. Es war ihr egal, dass die Mock Turtle wieder ihre Geschichte erzählte oder dass diese albernen Diedel-Brüder Reisende auf der Straße mit ihren unmöglichen Rätseln und Plattitüden aufhielten. Was kümmerte es sie, dass die Raupe wieder einmal unhöflich gewesen war, dass der Verrückte Hutmacher ständig dachte, es sei Teezeit, oder dass einige Austern immer wieder dazu gebracht wurden, gegessen zu werden, ohne jemals aus ihren Fehlern zu lernen? In all den Jahren ihrer Gefangenschaft hatte sich nichts geändert. Alles war beim Alten geblieben, und aus irgendeinem Grund war es unerträglicher denn je geworden. Das Einzige, was ihr Frieden schenkte, war das Wissen, dass sie all ihre Köpfe bekommen würde. Alle. Jeden einzelnen von ihnen. Vielleicht sogar den des Königs.
„Meine Liebe, hörst du mir zu?“, fragte der König, nahm einen Keks vom Teller und aß ihn. Sie ekelte sich vor den Krümeln, die auf sein Gewand fielen, und der Marmelade, die an seinen Zähnen klebte, als er sich über die Lippen leckte. Wie hatte sie nur so einen albernen Trottel heiraten können? In welcher Welt, unter welchen Umständen hätte sie jemals zugestimmt, dies zu tun? Sie konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern, diese Entscheidung selbst getroffen zu haben. Sie saß da und sah ihn an – und begriff es nicht. Und als sie in ihrem Kopf nach möglichen Gründen suchte, trieb sie das nur noch mehr in den Wahnsinn. Also stellte sie sich stattdessen vor, wie sein Kopf leblos auf dem Boden lag, sein Blut sich um ihn herum sammelte und sein Gesicht in einem ewigen Lächeln erstarrte.
„Natürlich höre ich dir nicht zu, mein Lieber. Was gibt es denn jetzt schon wieder? Lass mich raten, ein tanzendes Walross? Oder vielleicht dachte der Verrückte Hutmacher, er hätte seine Haselmaus wieder verloren, nur um sie dann schlafend in einer Teekanne zu finden? Oder die Katze der Herzogin treibt wieder ihre Späße?“ Sie stellte sich immer noch seinen abgetrennten Kopf vor, und es brachte sie fast zum Lachen.
„Nein, nein, nein! Es geht um das kleine Mädchen! Alle im Wunderland reden von ihr.“
Das war neu. Das erste neue Ereignis im Wunderland, an das sie sich erinnern konnte. Die Königin setzte sich aufrecht hin. Sie wirkte sogar interessiert.
„Was für ein kleines Mädchen? Wir haben kein kleines Mädchen! Ich habe in ganz Wunderland kein einziges kleines Mädchen gesehen oder von einem gehört!“
„Jetzt haben wir eins. Sie läuft durch das ganze Königreich und stellt sich jedem vor, dem sie begegnet. Ihr Name ist Alice.“
„Alice? Was für ein grotesker Name. Sie stellt sich allen im Königreich vor, bevor sie die Königin begrüßt? Was für eine Unverschämtheit! Wie kann sie es wagen?“
„Nun, um fair zu sein … ich habe gehört, dass sie sich nicht sofort den Diedels vorgestellt hat …“, begann der König, doch die Königin hörte nicht zu. Stattdessen schaute sie auf die Uhr, deren Zeiger sich der vollen Stunde näherte. Die Stunde, in der das Weiße Kaninchen zurückerwartet wurde. Die Königin lächelte, als sie die Sekundenzeiger beobachtete. Sie genoss die Vorstellung, wie das Kaninchen in Panik und völlig außer Atem durch das Schloss hoppelte und „Ich bin zu spät“ murmelte, während es an den hektischen Bediensteten vorbeieilte. Pünktlich – genau zum erwarteten Zeitpunkt – erschien es dann immer, keuchend und vor Nervosität zitternd. Sie hatte ihre Freude daran, es in diesem Zustand zu sehen – wie es mit seiner Pünktlichkeit versuchte, ihr eine Freude zu machen. Von all ihren Untertanen war das Weiße Kaninchen das einzige Wesen in ihrem Königreich, das sie gelegentlich mochte. Das Kaninchen stellte sie sich nicht kopflos vor. Sie fragte sich, ob sie es verschonen sollte. Schließlich musste ja jemand das Blut aufwischen.
„Hast du alle Einladungen zugestellt, Kaninchen? Wirklich jede einzelne?“ Sie sah es nicht an, sondern hielt ihren Blick auf die Tür gerichtet und wartete ungeduldig auf die Diener mit ihrem Kuchen. Hätte sie das Weiße Kaninchen angesehen, hätte sie erkannt, dass es nervöser war als je zuvor. Doch sie musste gar nicht hinschauen. Sie hörte sein schweres Atmen und die Nervosität bereits in seiner Stimme. Es hätte ihr fast ein wenig leidgetan.
„Ja, meine Königin, ich habe alle Einladungen zugestellt. Alle bis auf eine“, sagte das zitternde Kaninchen. Die Königin drehte wütend ihren Kopf in seine Richtung. „Welche? Wer hat seine Einladung nicht erhalten? Wie kannst du es wagen, nicht alle Einladungen zuzustellen? Jeder einzelne Mensch, jedes Tier, jedes Schweinebaby, jede wandelnde Schachfigur und jedes andere kindische Wesen in diesem höllischen Königreich muss erscheinen! Jedes einzelne! Verstehst du?“ Die Königin war wütend und würde keine Ruhe finden, bis alle tot waren. Der Gedanke, dass auch nur eines dieser verrückten Wesen im Wunderland weiterhin herumlaufen könnte, ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Nein, sie mussten alle sterben. Alle. Vielleicht sogar das Weiße Kaninchen.
„Die für das kleine Mädchen. Ich habe erfahren, dass sie Alice heißt, Eure Majestät. Sie ist mir überallhin gefolgt. Zuerst dachte ich, sie sei meine Magd Mary-Ann. Aber Mary-Ann würde niemals unmöglich groß werden und mein Haus zerstören oder die Haselmaus erschrecken oder den Hutmacher und den Märzhasen mit Rätseln über einen Raben verwirren.“
„Hör sofort auf mit diesem sinnlosen Geschwätz, Kaninchen! Ich weigere mich, mir diesen Unsinn aus dem Wunderland anzuhören!“, erwiderte die Königin.
„Natürlich, Eure Majestät. Der Punkt ist, ich habe keine Einladung für Alice gefunden.“
„Natürlich nicht – sie wohnt hier nicht, du dummes Tier! Wo im Wunderland solltest du die Einladung denn hinbringen? Egal – sorge dafür, dass sie heute hierherfindet. SORGEDAFÜR, DASSSIEALLEHEUTEHIERHERFINDEN.“ Sie verachtete ihre eigene dröhnende Stimme und ärgerte sich, dass sie ihre Wut nicht unter Kontrolle hatte.
„Ich wage zu behaupten, dass es eine Herausforderung sein könnte, alle so kurzfristig hierherzubringen. Eure Untertanen können ziemlich exzentrisch und temperamentvoll sein –“
„Und tot.“
Erschrocken durch die Worte der Königin sprang das Kaninchen auf.
„Das heißt, sie werden tot sein, wenn sie nicht erscheinen“, korrigierte sie sich, bevor es etwas sagen konnte. „Teile ihnen mit, dass es ohne ihre Köpfe keine albernen Spielchen, Hüpfsprünge, dummen Tänze und kein absurdes Rätselraten mehr geben wird. Sage ihnen, dass sie ohne ihre Köpfe keinen Tee mehr trinken, keinen Kuchen essen und keine unhöflichen Fragen mehr stellen können. Denn, liebes Kaninchen, das wird die Strafe für alle sein, die heute nicht zu meiner Party kommen. Stelle sicher, dass sie das wissen.“
„Ich glaube, das stand auch so in der Einladung, Eure Majestät“, erwiderte das Weiße Kaninchen. „Jeder im Königreich weiß es.“
„Sehr gut, sehr gut … Doch wird das meine unsinnigen Untertanen auch dazu bringen herzukommen? Sie müssen alle kommen!“ Sie grub ihre Fingernägel wieder in ihre Handflächen – diesmal so fest, dass Blut floss. Ein Tropfen Blut fiel auf den Boden, und ein angenehmes Gefühl überkam sie, als sie sich vorstellte, wie der Kopf der Weißen Königin in einer Lache derselben Farbe lag. Sie lachte laut auf, und das Weiße Kaninchen zuckte zusammen. Es war an diesem Tag besonders nervös. So wie ein Kaninchen eben.
„Eure Untertanen sind – wie gesagt – exzentrisch, Eure Majestät“, wiederholte es und warf ihr einen genervten Blick zu.
Exzentrisch war eine Untertreibung. Alle im Wunderland waren verrückt. Und das brachte die Königin dazu, sich zu fragen, ob alles ihre Schuld war. Sie konnte sich nicht erinnern, was zuerst da gewesen war: all diese wahnsinnigen Verwirrungen oder ihre Wut? Sicher war ihre Wut eine Folge dieser zunehmenden Manie, die ihr Königreich zu erfassen schien. Aber verschlimmerte ihre Wut die Lage noch, veranlasste sie ihre Untertanen, sich noch unberechenbarer und nervtötender zu verhalten? Es war ein Kreislauf, den sie nicht durchbrechen konnte. Ihr blieb nur eine Lösung.
Ab mit ihren Köpfen!
„Sie wird bald hier sein, meine Königin.“ Das Weiße Kaninchen unterbrach ihre Gedanken so plötzlich, dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, worüber sie gerade gesprochen hatten.
„Wer? Wer ist bald da? Wovon redest du?“ Die Königin versuchte, das manische Lachen aus ihren Gedanken zu verbannen. Es war so laut und überwältigend geworden, dass sie überzeugt war, alle müssten es hören. Soweit sie wusste, waren alle anderen normal, und sie war die Verrückte. Sie hatten alle ähnliche Charaktere, auch wenn ihre jeweiligen Eigenarten recht unterschiedlich waren. Das Einzige, was sie vereinte, war ihre Vorliebe für Unsinn.
„Das kleine Mädchen, meine Königin. Alice. Sie wird gleich hier sein.“
