Disney Villains 5: Das verzauberte Haar - Walt Disney - E-Book
SONDERANGEBOT

Disney Villains 5: Das verzauberte Haar E-Book

Walt Disney

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Märchen von Rapunzel ist so magisch wie das lange, glänzende Haar seiner Heldin. Ein junges Mädchen wird seinen Eltern von einer Hexe weggenommen und dazu verdammt, in einem hohen, düsteren Turm zu leben. Die alte Hexe bemuttert sie wie eine wachsame Glucke, die am besten weiß, was gut für ihr Küken ist. Aber wie ist die alte Gothel so geworden? Dieser Roman taucht tief in ihre Vergangenheit, um zu ergründen, warum die alte Zauberin so überzeugt davon ist, dass sie alles am besten weiß.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Eric Russell, Sarah Cook, Chrys Lear,Linda Seaquist-Klein, Joshua Archerund Darick Robertson – für eure beständige Liebe und Unterstützung in den letzten Jahren

KAPITEL I

Königin der Toten

Sorgfältig verborgen in den Tiefen des Waldes der Toten lebte eine Familie von Hexen. Ihr Anwesen aus schroffem grauem Gestein thronte auf dem höchsten Hügel und überblickte eine weitläufige Landschaft voll abgestorbener Bäume, deren morsche Äste sich wie verkrümmte, knochige Finger gen Himmel streckten.

Den Wald umschloss ein undurchdringliches Dickicht aus Rosenbüschen, an deren Zweigen noch immer winzige, wunderschön erhaltene Knospen hingen, obwohl die Büsche länger tot waren, als sich irgendeine lebendige Seele erinnern konnte. Dies war die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Wald der Toten, und die Hexen, die in diesem Wald lebten, überschritten sie nur selten, um jenen auf der anderen Seite zu schaden. Im Gegenzug verlangten sie von den Lebenden nur eine einzige Sache: ihre Toten.

Denn der Wald der Hexen bestand nicht nur aus leblosen Bäumen. Es war der Ort, an dem die Toten ihre letzte Ruhe fanden – das zumindest erzählten sich die Bewohner der nahe gelegenen Dörfer. Sie zogen es vor, den Wald wie einen Friedhof zu betrachten, zu dem ihnen der Zutritt verboten war, und in den Hexen sahen sie seine Wächter. Doch tief in ihren Herzen wussten sie, dass ihren geliebten Verstorbenen an dem Ort, der ihre letzte Ruhestätte hätte sein sollen, nur wenig Frieden vergönnt war.

Aber mit diesem Teil der Geschichte wollen wir uns jetzt noch nicht befassen. Für den Moment liegt unser Augenmerk auf der Geschichte von drei Hexenschwestern – Hazel, Gothel und Primrose – und ihrer Mutter Manea, der sagenumwobenen Königin der Toten, einer der mächtigsten und gefürchtetsten Hexen aller Zeiten.

Manea machte keinen Hehl daraus, was für eine Enttäuschung ihre Töchter für sie waren, und betonte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass die drei, obwohl am selben Tag geboren, keine eineiigen Drillinge waren. Eineiige Hexentöchter galten in allen magischen Reichen als große Ehre. Sie waren die Lieblinge der Götter, denn sie besaßen größere Macht und mehr magisches Potenzial als jede gewöhnliche Hexe. Und obwohl Gothel und ihre Schwestern streng genommen Drillinge waren, hätten sie nicht unterschiedlicher sein können.

Lasst uns mit Gothel beginnen, der jüngsten Schwester, wenn auch nur um einige wenige Stunden. Sie hatte rabenschwarzes Haar und dunkle Züge mit großen, ausdrucksstarken grauen Augen. Ihre wilde Mähne widerspenstiger Locken war häufig voller kleiner Äste oder trockener Blätter aus dem Unterholz, durch das sie ihren Schwestern im Toten Wald folgte, wenn die drei in der Landschaft aus Friedhöfen herumtollten. Wenn Gothel sich einmal entschied, lange genug von einem ihrer geliebten Bücher aufzuschauen, um ihre Umgebung wahrzunehmen, war sie eine charismatische Persönlichkeit, die die Aufmerksamkeit von jedem im Raum auf sich zog. Sie war eine nachdenkliche, pragmatische junge Frau, die sich nur selten von ihren Gefühlen beherrschen ließ und gänzlich darauf fokussiert war, eines Tages den Platz ihrer Mutter im Wald der Toten einzunehmen. Nur eine einzige Sache war ihr noch wichtiger: ihre Schwestern.

Hazel, die älteste Schwester, war schlaksig und schüchtern, mit großen hellblauen Augen. Ihr Haar war von einem glänzenden Silber und fiel ihr wie ein Leichentuch über die schmalen Schultern. Sie bewegte sich lautlos wie eine geisterhafte Göttin, was seltsam passend war, wenn man bedachte, wo sie und ihre Schwestern lebten. Hazel war eine stille und über alle Maßen einfühlsame junge Frau, die stets ein offenes Ohr für die Sorgen ihrer Schwestern hatte und sie in allem unterstützte.

Somit fehlt uns nur noch Primrose. Nun, sie war ein atemberaubender Rotschopf mit leuchtend grünen Augen und einer Haut wie Pfirsich und Rosen, auf deren Nase sich ein paar helle Sommersprossen tummelten. Sie hatte ein ausgelassenes, fröhliches Wesen, war immerzu auf der Suche nach Abenteuern und dazu verdammt, vollständig von ihren Gefühlen beherrscht zu werden. Hin und wieder ging sie ihren Schwestern damit so auf die Nerven, dass die drei sich stritten.

Die Schwestern verbrachten den Großteil ihrer Zeit im Wald der Toten damit, die Mausoleen zu erkunden und die Namen von den unzähligen Grabsteinen abzulesen, die ihnen wie eine kleine Stadt der Toten vorkamen. Stundenlang wanderten sie die zahllosen Pfade entlang, die sich zwischen den wunderschönen und oft reich verzierten Gräbern, Statuen und Grüften hindurchschlängelten. Manchmal sprachen sie die Namen der Toten im Vorbeigehen auch laut aus, murmelten sie vor sich hin, bis sie beinahe zu einem Singsang verschmolzen.

Da es sonst nicht viel gab, womit sie sich die Zeit vertreiben konnten, suchten sich die Schwestern fröhliche Ablenkungen, mit denen sie sich beschäftigt hielten, während sie den Wald der Toten durchstreiften. Hazel liebte es, Kohle und hauchdünne Seiten empfindlichen Pergaments auf ihre Spaziergänge durch den Wald mitzunehmen, sodass sie Abdrücke von einigen der detailreicheren und kunstvolleren Grabsteine erstellen konnte. Sie nannte das abpausen. Manchmal fand sie den Namen auf einem Grabstein auch so interessant oder lustig, dass sie einen Abdruck erstellte, nur um einen Nachweis zu haben. Später suchte sie die Person dann aus dem großen ledergebundenen Register ihrer Mutter heraus, das die Namen und die Herkunft jedes einzelnen Menschen enthielt, der in ihrem Wald begraben war. Es gab ihr das Gefühl, nicht ganz so allein zu sein. Nicht, dass die Freundschaft ihrer Schwestern nicht ausgereicht hätte, aber Hazel gefiel der Gedanke, dass einige der Toten ihre Freunde waren. Sie und ihre Schwestern waren vollkommen allein im Wald der Toten, abgesehen von ihrer Mutter, die stets beschäftigt war und sich bei jeder Gelegenheit zurückzog, um ihre Magie zu praktizieren. So fand Hazel Trost und Gesellschaft darin, im Register ihrer Mutter über die Toten zu lesen. Es vermittelte ihr das Gefühl, die Menschen tatsächlich zu kennen, die ihr Leben nach dem Tod in ihrem Wald verbrachten.

Primrose hatte immer einen kleinen scharlachroten Beutel dabei, in dem sie eine Spule mit Band, ein kleines silbernes Messer und rote Pergamentstücke mit kleinen Botschaften aufbewahrte, die sie an die Zweige der toten Bäume hängte. Es war bezeichnend für Primrose’ Charakter, dass sie versuchte, etwas Farbe in ihre trostlose Welt zu bringen. Es schien beinahe, als wäre sie nur zu dem Zweck erschaffen worden, Schönheit in ihrer aller Leben zu bringen, denn sie folgte ihr auf Tritt und Schritt. Primrose glaubte fest daran, dass die Toten nachts, wenn sie und ihre Schwestern schliefen, aus ihren Gräbern stiegen und ihre guten Wünsche lasen. Sie hoffte inständig, dass ihr Leben nach dem Tod ihnen gefiel. Sie wünschte sich eine wunderschöne letzte Ruhestätte statt der deprimierenden grauen Landschaft.

Im Gegensatz zu ihren Schwestern war Gothel eher in der realen Welt verankert und hielt den Blick stets auf die Zukunft gerichtet. Meistens brachte sie eines von Mutters Büchern mit, wenn sie ihren Schwestern durch den Wald folgte – ein Buch, das sie unauffällig in ihrer Tasche hatte verschwinden lassen, als ihre Mutter nicht aufgepasst hatte. Wenn ihre Schwestern wieder einmal anhielten, um einen Abdruck anzufertigen oder Wünsche in die Bäume zu hängen, nutzte Gothel die Gelegenheit, um zu lesen. Manchmal las sie ihren Schwestern auch laut vor, aber meistens tauchte sie vollkommen in diese fremden Welten ab – Welten, die sie unbedingt selbst bewohnen wollte. Welten der Magie. Und der heutige Tag war da keine Ausnahme.

„Gothel! Rutsch mal! Du versperrst den Grabstein, den ich als Nächstes abpausen will!“ Gothel sah überrascht zu Hazel auf, die missbilligend auf sie herabstarrte. Die Sonne stand direkt hinter ihrer Schwester und umgab ihr geisterhaft blasses Gesicht wie ein leuchtender Heiligenschein.

„Aber ich sitze hier grade so bequem, Hazel. Kannst du nicht einen der anderen Steine abpausen?“, fragte Gothel und kniff die Augen zusammen, um ihre Schwester besser zu erkennen.

Hazel verdrehte die Augen und seufzte. „Na gut“, willigte sie ein.

Gothel beobachtete, wie Hazel kehrtmachte und direkt auf die strahlende Sonne zulief, die bereits tief am Himmel stand und ihre sonst so trostlose Umgebung in ein wundervoll sanftes pink- und orangefarbenes Licht tauchte. Dies war Gothels liebste Tageszeit, die magische Stunde. Sie hatte von einem Land gelesen, in dem ewige Dämmerung herrschte, und fragte sich, wie es sich anfühlen mochte, an so einem Ort zu leben. „Geh nicht zu weit weg, Hazel!“, rief Gothel ihrer Schwester hinterher. „Es wird bald dunkel, und Mutter wird uns zu Hause erwarten.“

Hazel erwiderte zwar nichts, aber Gothel wusste, dass ihre Schwester sie gehört hatte. Gothel hatte von Hexen gelesen, die die Gedanken ihrer Schwestern hören konnten, und auch wenn das bei ihr und ihren Schwestern eindeutig nicht der Fall war – zumindest nicht richtig –, teilten sie doch eine Art Verständnis. So hatte ihre Mutter es zumindest genannt: „ein Verständnis“. Schon als sie noch ganz klein gewesen waren, hatten sie immer gewusst, was die jeweils anderen beiden gerade fühlten. Sie konnten zwar nicht miteinander kommunizieren, ohne zu sprechen, also hörten sie auch keine genauen Worte, aber sie bekamen aufgrund der Emotionen, die sie wahrnahmen, ein Gespür dafür, was die anderen in dem Moment denken könnten. Gothel hatte die Bücher ihrer Mutter nach dem Begriff „Verständnis“ durchsucht und war zu dem Schluss gekommen, dass er eine Erfindung ihrer Mutter sein musste, denn sie hatte nicht einen einzigen Eintrag dazu gefunden. Sie fragte sich, ob sie und ihre Schwestern irgendwann wohl imstande sein würden, die Gedanken der andern zu lesen – eines Tages, wenn sie mehr von der Magie ihrer Mutter erlernt hätten.

„Woran denkst du gerade, Gothel?“

Gothel musste lachen und sah zu Primrose auf, die inmitten von wunderhübschen roten Herzen stand, die von den verdorrten schwarzen Ästen baumelten. Anscheinend war sie fleißig gewesen, während Gothel ihr Buch gelesen hatte. „Du wirkst so traurig, Gothel. Was ist los?“, fragte Primrose mit gerunzelter Stirn.

„Gar nichts, Prim.“ Gothel richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Buch in ihrem Schoß.

Primrose verstaute das restliche Band und das kleine Messer wieder in ihrem Beutel, ging zu ihrer Schwester und ließ sich neben ihr nieder. „Im Ernst, was ist los?“, fragte sie und legte ihre Hand auf die ihrer Schwester.

Gothel seufzte. „Es ist wegen Mutter. Ich verstehe nicht, warum sie sich weigert, uns ihre Magie beizubringen. In dieser Familie hat jede Generation ihre Magie mit der nächsten geteilt. Wie sollen wir die Familientradition aufrechterhalten, wenn wir keine Ahnung haben, wie man Magie praktiziert?“

Primrose drückte die Hand ihrer Schwester und lächelte. „Weil Mutter nicht vorhat, jemals zu sterben. Sie wird immer hier sein, um unsere Vorfahren zu ehren, also mach dir keine Sorgen.“

Gothel sprang abrupt auf die Füße und schüttelte die Blätter von ihrem rostroten Kleid.

„Bitte reg dich nicht auf, Gothel! Vergiss Mutters Magie und amüsiere dich mit mir und Hazel!“

Gothel war drauf und dran, die Geduld mit Primrose zu verlieren. „Aber verstehst du denn nicht? Es ist auch unsere Magie, die Mutter uns vorenthält! Mal angenommen, Mutter ist unsterblich, und wir sind es auch. Womit sollen wir den unendlichen Rest unserer Tage verbringen?“

Primrose’ grüne Augen blitzten im Licht der letzten Sonnenstrahlen. „Wir verbringen sie genau so, wie wir das immer getan haben. Wandern gemeinsam durch diese Wälder. Als Schwestern. Zusammen. Für immer.“ Gothel liebte ihre Schwestern von ganzem Herzen, aber sie waren naiv, besonders Primrose. Sie waren vollkommen zufrieden damit, ihr ganzes Leben in diesem Wald zu verbringen und die Magie ihrer Mutter zu überlassen, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie diese Magie überhaupt funktionierte. Wahrscheinlich glaubte Primrose sogar, dass die Dorfbewohner ihnen die Körper ihrer Verstorbenen gern überließen. Gothel war äußerst darauf bedacht, dieses Thema ihren Schwestern gegenüber nicht anzuschneiden, aus Angst, die selige Unwissenheit ihrer Schwestern zu zerstören und so ihr schwesterliches Gleichgewicht durcheinanderzubringen.

„Ich liebe es, meine Tage mit euch zu verbringen, Prim, ehrlich! Aber bist du denn gar nicht neugierig auf die Welt jenseits des Waldes? Willst du denn gar nicht dein eigenes Leben führen?“

„Wir leben doch unser eigenes Leben, Gothel! Sei nicht so komisch!“, entgegnete Primrose, als Hazel den Pfad entlanggehüpft kam, um sich wieder ihren Schwestern anzuschließen.

„Ich kann nicht fassen, dass du uns verlassen würdest!“, sagte Hazel, die die Unterhaltung ihrer Schwestern mit angehört hatte.

„Ich will euch doch nicht verlassen! Ich will, dass wir für immer zusammenbleiben. Ich könnte nicht ohne euch leben, aber wenn Mutter sich weigert, uns ihre Magie zu zeigen, dann will ich mit euch auf die andere Seite dieses Dickichts! Ich will die Welt mit euch entdecken.“ Gothel seufzte und fuhr fort: „Wenn Mutter mir ihre Magie nicht beibringen will, werde ich mir eben eine andere Hexe suchen, die mir ihre zeigt. Wir sind Hexen und haben nicht den blassesten Schimmer, wie wir unsere Kräfte einsetzen können. Stört euch das denn überhaupt nicht?“

„Pssst!“, zischte Hazel und legte einen Finger auf die Lippen, um ihrer Schwester zu bedeuten, nicht so laut zu sprechen, was Gothel nur noch mehr ärgerte.

„Mutter ist nicht hier! Du bist so paranoid, Hazel!“ Doch dann hörten die Schwestern das Knacken eines Zweiges, das lauter als ein Donnerschlag durch den stillen Wald hallte. „Schh! Was war das?“

Die drei Schwestern standen vor Angst wie gelähmt da. Nichts lebte in ihrem Wald, abgesehen von den Hexen. Es war also entweder ihre Mutter oder die Toten. Beide Möglichkeiten waren furchteinflößend. „Falls Mutter dich gehört hat, wird sie außer sich sein, Gothel!“, flüsterte Hazel.

„Psst! Ich glaube nicht, dass sie das ist! Vielleicht hat jemand von der anderen Seite einen Weg über die Grenze gefunden!“, hauchte Primrose.

„Das ist unmöglich. In unserem ganzen Leben hat noch niemand diesen Wald betreten. Nicht ein einziges Mal!“, erwiderte Gothel leise.

„Zumindest will Mutter uns das glauben machen“, flüsterte Primrose. Gothel schnaubte verächtlich.

„Selbst wenn einer der Dorfbewohner sich trauen würde, unseren Wald zu betreten, könnte er es nicht. Das Dickicht ist verzaubert. Keine lebende Seele, die keine Hexe von unserem Blut ist, kann es durchqueren. Du weißt doch, wie das funktioniert, Prim! Ich habe dir diese Geschichte schon hundert Mal erzählt!“ Gothel dachte kurz über ihre nächsten Worte nach und fuhr dann fort: „Aber ich nehme an, wir wissen nicht wirklich, wie das alles funktioniert, nicht wahr?“

„Warum musst du immer so komisch sein, Gothel? Wovon redest du?“, fragte Primrose.

„Ich rede von Mutter! Sie erzählt uns gar nichts! Der einzige Grund, weshalb ich überhaupt etwas da-rüber weiß, ist, dass ich ihre Bücher gelesen habe!“

„Das liegt daran, dass Mutter mehr weiß!“

Die Stimme ihrer Mutter bohrte sich wie ein Messer in Gothels Eingeweide. Allein von dem Klang wurde ihr flau im Magen, und sie fühlte sich plötzlich zittrig. Ihre Knie drohten unter ihrem Gewicht nachzugeben. Primrose packte ihre Schwester am Arm und gab ihr Halt.

„Mutter! Lasst Gothel in Ruhe!“, rief Primrose und stellte sich schützend zwischen ihre Mutter und ihre Schwester.

Manea lachte ihr ins Gesicht. „Das bin nicht ich, Primrose. Gothel hat sich mal wieder in Rage geredet, wie üblich. Ihr zu schaden, wäre, wie mich selbst zu verletzen, und ich würde nicht mal im Traum daran denken, mich zu verletzen.“

Manea stand vollkommen reglos da und starrte ihre Töchter an. Ihr langes glattes schwarzes Haar umgab sie wie ein Umhang und legte die Furchen in ihrem verstörend ausgemergelten Gesicht in tiefe Schatten, sodass ihr Anblick an einen Totenschädel erinnerte, der zum Leben erwacht war. Ihre Augen waren übergroß und wölbten sich vor Zorn aus den tief liegenden Höhlen. Ihren Töchtern lief ein Schauer über den Rücken.

„Bitte beruhigt euch, Töchter. Ich bin nicht hier, um Gothel zu bestrafen. Glaubt ihr wirklich, dass ich nicht jeden eurer Gedanken und jede eurer Bewegungen kenne? Ich weiß seit Jahren, dass Gothel meine Bücher liest. Und was schert es mich? Dafür sind sie schließlich da, um gelesen zu werden!“ Sie lachte laut auf. „Schlaue Gothel. Verschlossene, boshafte Gothel. All die Zeit über Bücher in deinen Taschen verschwinden zu lassen und in den Wald zu schmuggeln, um sie dann heimlich zu lesen!“ Ihre Stimme enthielt eine Mischung aus Verachtung und Belustigung.

Mit langen, spindeldürren Fingern strich Manea sich das Haar aus dem zornigen Gesicht, was sie noch strenger wirken ließ. Die Hexenschwestern wussten, dass ihre Mutter kurz davorstand zu zaubern, denn bei den seltenen Gelegenheiten, da sie ihre Magie zur Schau gestellt hatte, war dem Zauber immer diese eine Geste vorausgegangen.

„Du willst also meine Magie sehen, Gothel? Willst sehen, was meine Mutter mir beigebracht hat? Willst meine Magie erlernen? Dann sieh!“

Manea hob ihre Hände gen Himmel, und plötzlich erstrahlte der dunkle Wald in dem Licht silberner Blitze, die aus Maneas Fingerspitzen hervorbrachen, krachend in die umstehenden Bäume einschlugen und sie in Brand setzten.

„Mutter, nicht!“, flehten ihre Töchter.

Die Macht der alten Götter rufe ich,

die mich so treu geführt.

Erweckt diesen Wald zum Leben

und gebt uns, was uns gebührt!

Manea schleuderte weitere Blitze in den Himmel, die über ihren Köpfen zu einem schrecklichen Sturm verschmolzen.

„Mutter, hört auf! Was tut Ihr da? Wir wissen, wie mächtig Ihr seid. Es tut mir leid, dass ich diese Dinge gesagt habe. Es tut mir leid!“, flehte Gothel ihre Mutter an, aber Manea lachte nur, während sie einen Wirbel aus goldenem Licht heraufbeschwor, der sich mit dem Sturm vermengte und auf sie herabregnete.

Die Macht der alten Götter rufe ich,

die mich so treu geführt.

Erweckt diesen Wald zum Leben

und gebt uns, was uns gebührt!

Als das goldene Licht zusammen mit den Regentropfen auf sie herabfiel und die Erde zu ihren Füßen tränkte, erweckte es die Seelen, die die Stadt der Toten bewohnten, und ließ sie aus ihren Grüften und dem Erdreich aufsteigen. Die meisten von ihnen waren skelettartige Kreaturen, erschöpft und verärgert darüber, aus ihrem Schlummer gerissen zu werden, während andere noch über verrottende Muskelstränge und Fetzen fauliger Haut verfügten. Gothel bemerkte den Ausdruck von Abscheu auf den Gesichtern ihrer Schwestern, als sie beobachteten, wie sich die Kreaturen still, mit schlackernden oder gänzlich fehlenden Gliedern auf den Weg zu Manea machten. Sie selbst empfand bei dem Anblick einen Anflug von Macht, denn sie verstand, dass all diese Kreaturen eines Tages ihr gehören und ihren Befehlen gehorchen würden.

„Verzeiht, dass ich euch störe, meine Lieben“, wandte Manea sich an ihre Kreaturen. „Aber ich brauche euch. Eines der nahe gelegenen Dörfer hortet seine Toten. Geht hin und bringt sie alle zu mir.“

Hazel und Primrose schnappten entsetzt nach Luft, aber Gothel bewunderte still die majestätische Gestalt ihrer Mutter. Sie hatte noch nie gesehen, wie Manea ihren Kreaturen Befehle erteilte, und der Anblick verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie hätte nie gedacht, dass eines der nahen Dörfer die Dreistigkeit besitzen könnte, seine Toten zu behalten. Seit Jahrhunderten wurden die Toten an die Hexen übergeben. Sicher, es hatte Vorfälle gegeben, bei denen ein Dorfbewohner aufbegehrt und versucht hatte, den Hexen zu trotzen, aber diesen Vorkommnissen war stets mit einer solchen Gewalt begegnet worden, dass Gothel nie vermutet hätte, zu ihren Lebzeiten Zeugin einer solchen Auseinandersetzung zu werden. Gothel sah, wie eine große, groteske Kreatur den Worten ihrer Mutter mit gespannter Konzentration lauschte.

„Lasst niemanden am Leben, bis auf die Kinder und eine einzige erwachsene Frau. Nehmt ihr erneut den alten Schwur ab. Sie muss die Geschichte dieser Nacht an kommende Generationen weitergeben und sie davor warnen, jemals wieder ihre Toten für sich zu beanspruchen!“

„Ja, meine Königin“, sagte die ungewöhnlich große Kreatur, deren ledrige Haut sich fest über ihr Gesicht spannte.

„Klopft auf eurem Weg an jede Gruft und weckt all meine Kinder. Auch die jüngsten. Nehmt sie mit und zeigt ihnen den Weg. Zeigt ihnen, wie man die Lebenden dafür bestraft, wenn sie ihre Toten behalten.“

„Wie Ihr wünscht, meine Königin“, erwiderte die Kreatur. Währenddessen hatten die restlichen Geschöpfe still und reglos dagestanden und auf ihre Anweisungen gewartet, darauf, dass die Königin der Toten ihre Magie ausübte und sie die Lebenden in ihren Rängen willkommen heißen konnten. Die einzige Kreatur, die etwas sagte, war diese Abscheulichkeit, die zu Lebzeiten ein sehr großer Mann gewesen sein musste. Er trug noch immer einen schwarzen Zylinder, einen langen schwarzen Mantel und ein Paar Hosen, die so zerlumpt waren, dass sie beinahe vor aller Augen zu Staub zerfielen. Die Kreatur blickte auf ihre Hände hinab und betrachtete sie mit einem missbilligenden Ausdruck auf dem Gesicht, als wäre sie überrascht, wie wenig von ihren Fingern übrig geblieben war, seit sie zuletzt aus ihrem Schlaf erweckt worden war.

„Du siehst großartig aus, mein Liebster“, sagte Manea leise. „Stattlich wie eh und je. Ich sehe noch immer den Mann vor mir, der du einmal warst. Kannst du ihn in meinen Gedanken sehen? Behalte dieses Bild vor Augen, während du diese Armee in meinem Namen anführst. Sei dir meiner Liebe sicher und wisse, dass ich auf deine Rückkehr warten werde.“ Gerade als sie ihren liebsten Untertanen entlassen wollte, fiel ihr noch ein Detail ein. „Oh, und mein Liebster, bring die kürzlich Verstorbenen zu mir, damit ich ihre Namen notieren kann.“

„Ja, meine Königin. Und wenn die Frau die Bedingungen ablehnen sollte?“

„Dann töte sie und die Kinder, Liebster. Und bring sie alle zu mir.“

Die Schreie von Hazel und Primrose hallten Gothel in den Ohren. Sie konnte ihre Stimmen nicht voneinander unterscheiden, als beide ihre Mutter anflehten aufzuhören.

Aber Manea schien ihre Töchter nicht zu hören, und falls doch, so kümmerte es sie nicht. Den Blick fest auf das Dickicht gerichtet, streckte sie eine klauenartige Hand aus, wand ihre Finger um nichts als dünne Luft und festigte plötzlich ihren Griff, als hätte sie ein unsichtbares Opfer an der Kehle gepackt. Mit einer abrupten Bewegung aus dem Handgelenk schleuderte sie einen rot glühenden Ball von sich, der durch die Luft schoss und sich in einen rotierenden Wirbel verwandelte, der ihren abstoßenden Untertanen den Weg bereitete, um die Grenze zum Reich der Lebenden zu überqueren. Die Schwestern hatten noch nie gesehen, dass Manea ihre Magie so einsetzte, und es ließ sie vor Angst erzittern.

„Geh jetzt, mein Liebster! Zeige den Lebenden, was passiert, wenn sie sich meinem Willen widersetzen! Sie sollen mich fürchten wie schon ihre Vorfahren vor ihnen. Sei brutal und ohne Gnade! Erfülle sie mit einem Schrecken, der auf ewig in ihren Erinnerungen weiterlebt. Verbreite in ihren Herzen eine Angst, so groß, dass sie niemals vergessen, was es heißt, den Hexen des Toten Waldes in die Quere zu kommen!“

„Mutter, bitte nicht!“

Gothel war in Ehrfurcht erstarrt. Gemeinsam mit ihren angsterfüllten Schwestern sah sie zu, wie die Toten durch den roten Wirbel marschierten. Aber noch viel verstörender als dieser Anblick war das selige Lächeln, das die Züge ihrer Mutter erhellte. Sie hatten Manea noch nie so glücklich gesehen, so selbstzufrieden wie in diesem Moment – während die Schwestern bei dem Gedanken daran erschauerten, was diese Monster den Dorfbewohnern antun würden.

„Mutter! Bitte tut das nicht! Könnt Ihr sie nicht mit einer Warnung davonkommen lassen? Und ihnen eine Chance geben, ihren Fehler zu korrigieren, bevor Ihr das tut?“, flehte Primrose.

Manea lachte verächtlich in ihre Richtung. „Du bist erbärmlich! Wenn ihr meine Magie erlernen wollt, wenn ihr unsere Vorfahren ehren wollt, dann wird das hier eine eurer Verpflichtungen sein. Glaubst du etwa, ich tue das leichtfertig, Prim? Glaubst du, es macht mir Spaß, Frauen und Kinder abzuschlachten? Ich tue das zu unserem Schutz. Für unsere Familie!“

Auf Primrose’ Gesicht stand der blanke Abscheu. „Ich glaube, es macht Euch sehr wohl Spaß, Mutter! Ich spüre es! Also macht mir nichts vor!“

Manea musterte ihre Tochter aus zu Schlitzen verengten Augen. „Eines Tages wird es an euch sein, diese Verantwortung zu tragen. Es ist ein ernsthaftes Unterfangen, das Mut und Entschlossenheit erfordert, und ich fürchte, dass ihr zu schwach seid, meinen Platz einzunehmen, wenn dieser Tag gekommen ist!“

Primrose stand stockstill und klammerte sich an Hazel fest. Es war Gothel, die schließlich das Wort ergriff. Sie nahm einen tiefen Atemzug, hob das Kinn, um dem Blick ihrer Mutter zu begegnen, und sagte: „Ich habe vor, Euch zu ehren, Mutter, und jene, die vor Euch gekommen sind. Ich will Eure Magie erlernen. Ich werde die Verantwortung auf mich nehmen.“

Manea packte Gothel bei der Kehle und hob ihre Tochter vom Boden. Gothels Füße baumelten nutzlos in der Luft wie die einer Stoffpuppe, während ihr die Schreie ihrer Schwestern in den Ohren hallten. „Und was macht dich würdig, Gothel, an meiner Stelle zu stehen und als Königin über dieses Land zu herrschen?“

„Ich weiß es nicht“, keuchte Gothel und schnappte zitternd nach Luft. Sie wusste, dass sie würdig war. In ihrem Innern spürte sie einen Teil ihrer Mutter, der nur darauf wartete, ans Licht zu kommen. Sie wusste, dass dies ihr rechtmäßiger Platz war, aber sie konnte dieses Gefühl nicht in Worte fassen.

„Was hättest du an meiner Stelle getan? Was würdest du tun, wenn ein nahes Dorf seine Toten nicht hergibt?“, fragte ihre Mutter und erwiderte Gothels Blick.

„Ich würde genau dasselbe tun wie Ihr, Mutter“, entgegnete Gothel.

„Gut. Ich habe immer gehofft, dass du eines Tages meinen Platz einnehmen wirst, wenn ich mich dazu entschließe, in den Nebel zu gehen, Gothel“, sagte Manea und löste sanft ihre Finger von Gothels Hals. „Aber diese Zeit ist noch nicht gekommen, mein Schatz.“ Sie strich ihrer Tochter über das wilde Haar. „Meine Magie lebt nicht in diesen Büchern, die du gelesen hast, zumindest nicht vollständig. Sie lebt in meinem Blut, und davon kann ich nur sehr wenig auf einmal entbehren.“ Gothel lauschte ihrer Mutter mit weit aufgerissenen Augen, und sie wusste, dass Manea ihre Gedanken und die Fragen darin lesen konnte. „Ja, mein Liebling, meine Gothel, jetzt verstehst du mich. Ich bin nicht selbstsüchtig mit meinen Kräften. Sobald ich dir alles gegeben habe, was du wissen musst, wird nichts mehr von mir übrig sein. Du hingegen wirst alles besitzen, einschließlich meines Lebens und meines Platzes als Königin. Die Verantwortung, unsere Vorfahren zu ehren, wird bei dir liegen. Es ist von höchster Bedeutung, dass du unsere Traditionen aufrechterhältst und unsere Geheimnisse vor der Welt der Lebenden verbirgst, Gothel.“ Manea sah ihrer Tochter fest in die Augen. „Bist du bereit, mehr von meinem Blut zu erhalten, Tochter? Den nächsten Schritt zu gehen?“

„Mehr von Eurem Blut?“

Manea lachte. „Ja, mein düsteres Kind, mehr. Was glaubst du, wie du und deine Schwestern die Gefühle der anderen spüren könnt? Wie hat Primrose meine erkannt? Es ist mein Blut, das durch eure Adern fließt. Als ihr geboren wurdet, habe ich mit jeder von euch eine kleine Menge meines Blutes geteilt, und ich beabsichtige, das zu wiederholen. Je mehr ich mit euch teile, desto mächtiger werdet ihr. Bist du bereit, mehr von meinem Blut zu erhalten, meine Tochter?“

„Gothel, nein! Tu es nicht!“, flüsterte Primrose. Gothel wünschte sich nichts sehnlicher, als ihren Schwestern die Angst zu nehmen und ihnen begreiflich zu machen, dass sie das für sie alle tat, aber ihr fehlten die Worte, um auch nur eine von beiden zu trösten. In Hazels blauen Augen standen Tränen, und Primrose schüttelte panisch den Kopf, während Gothel über das Angebot ihrer Mutter nachdachte. „Gothel, bitte nicht!“

Manea lachte verächtlich. „Ihr beide wart schon immer so schwach. So rein. Ganz und gar nicht wie Hexen. Nicht so wie Gothel hier. Ihr Herz ist beinahe so schwarz wie meines.“

„Sagt das nicht!“, schrie Hazel. „Wenn Ihr Euch bei Gothel so sicher seid, dann gebt ihr eine Nacht, um darüber nachzudenken. Lasst ihr Zeit bis morgen, um sich zu entscheiden.“

Wieder lachte Manea. „Einverstanden. Geht zurück ins Haus, allesamt! Gothel kann mir ihre Entscheidung mitteilen, bis die Sonne morgen untergeht. Jetzt verschwindet, bevor ich meine Meinung ändere!“

„Komm schon, Gothel“, murmelte Primrose und zog ihre Schwester von ihrer Mutter fort, aber Gothel schien ihre Glieder nicht auffordern zu können, sich zu bewegen. Sie fühlte sich taub, wie in Trance, und zugleich auf seltsame Art an ihre Mutter gebunden. Gothels Schwestern nahmen sie in die Mitte, hielten sie an den Händen und führten sie den Pfad entlang, der sie zu ihrem Haus auf dem Hügel bringen würde. Ihre Mutter blieb allein im Toten Wald zurück, um ihre Magie auszuführen, die sich in hellen Blitzen in die umstehenden Bäume entlud und schreckliche Schatten auf die Umgebung warf. Gothel musste ihre Beine zu jedem einzelnen Schritt zwingen. Irgendeine unsichtbare Macht schien sie dazu zu drängen, bei ihrer Mutter zu bleiben.

„Sieh nicht zu ihr zurück, Gothel!“, flüsterte Hazel. „Konzentrier dich auf uns.“ Gothel blinzelte, versuchte, ihre Schwestern klar zu sehen. Sie fühlte sich, als würde sie aus einem dichten Nebel hinaustreten, je weiter sie sich von ihrer Mutter entfernten.

„Geht es dir gut?“, fragte Primrose und suchte den Blick ihrer Schwester. Darin spiegelte sich das Licht von der Magie ihrer Mutter wider, das in der Ferne leuchtete, und Gothels Augen wirkten, als würden sie nicht zur Gänze ihr selbst gehören. „Gothel?“ Primrose hielt mitten im Schritt inne, legte ihrer Schwester die Hände auf die Schultern und blickte ihr fest in die großen grauen Augen. „Gothel! Sieh mich an! Geht es dir gut?“

„Ja, Prim, es geht mir gut. Lasst uns nach Hause gehen. Ich muss über einiges nachdenken.“

KAPITEL II

Die Hexen auf dem Hügel

Die drei Schwestern standen auf dem Balkon, der von Gothels Gemach abging, und beobachteten, wie das Licht von der Magie ihrer Mutter über den Wald der Toten tanzte. Hinter ihnen warfen die steinernen Gestalten riesiger Harpyien geheimnisvolle Schatten an die Wand und erweckten die geflügelten Schönheiten zum Leben.

„Was glaubt ihr, wie lange Mutter dort draußen bleiben wird?“, fragte Hazel. Ihre Stimme zitterte.

„Hab keine Angst, Hazel. Alles wird gut, ich verspreche es“, murmelte Gothel mit einem seltsam abwesenden Blick.

„Wie kannst du das sagen? Nichts wird wieder gut! Unsere Mutter tötet gerade jede lebendige Seele in diesem Dorf!“ Primrose bebte vor Zorn.

„Unsere Mutter führt die Familientradition fort, Prim. So ist es schon seit Jahrhunderten gewesen.“

Primrose sah Gothel an, als wäre sie etwas Abstoßendes, eine monsterartige Spezies, die sie nicht wiedererkannte.

„Sieh mich nicht so an!“, schnappte Gothel verletzt. Sie spürte den Ekel ihrer Schwester, aber es gab nichts, was sie sagen konnte, um ihr begreiflich zu machen, weshalb sie die Taten ihrer Mutter verstand und billigte. Und erst recht keine Möglichkeit zu erklären, warum sie an ihrer Stelle genauso gehandelt hätte.

„Was ist bloß mit dir los, Gothel? Wie kannst du das alles in Ordnung finden?“

Gothel konnte nicht antworten.

Aber Primrose glaubte den Grund ohnehin zu kennen. Sie spürte Gothels Emotionen, die wie ein Sturm unbändiger Vorfreude in ihrem Inneren wüteten. „Du sehnst dich nach Mutters Macht!“, stieß Primrose hervor.

Gothel dachte einen Augenblick darüber nach und sagte: „Ja, zum Teil. Aber ich bin nicht egoistisch, Prim. Ich will ihre Macht, damit ich dich und Hazel beschützen kann! Mutter wird nicht für immer hier sein, und irgendjemand muss dafür sorgen, dass wir in Sicherheit sind. Was, wenn Mutter etwas zustößt? Wenn die Dorfbewohner sich gegen uns auflehnen und uns angreifen? Wie sollte ich euch dann ohne Mutters Magie beschützen?“

Aber Primrose ließ nicht locker. „Vorhin hast du gesagt, dass du die Welt jenseits des Dickichts kennenlernen willst, Gothel. Du hast gesagt, dass du nicht für immer hier gefangen sein willst, und jetzt denkst du ernsthaft darüber nach, eine Verantwortung auf dich zu nehmen, die dich für den Rest deines Lebens an diesen Ort binden wird!“ Primrose schien ihrer Schwester direkt in die Seele zu blicken und entdeckte dort einen Wesenszug, den sie an ihrer Schwester noch nie zuvor gesehen hatte. „Etwas an dir hat sich verändert! Liegt es daran, dass Mutter ihre Magie endlich mit dir teilen will? Glaubst du das wirklich?“

Gothel wünschte sich verzweifelt, ihre Schwester würde verstehen, warum sie diesen Schritt gehen wollte. „Natürlich glaube ich ihr! Sie ist unsere Mutter!“

Primrose schnaubte verächtlich. „Was zum Hades ist los mit dir? Sie ermordet jeden Menschen in diesem Dorf! Versuchst du, mir ernsthaft weiszumachen, dass dir das nichts ausmacht? In welchem Universum ist das denn nicht der blanke Wahnsinn?“

Tatsächlich in mehr, als du denkst, dachte Gothel. Sie wollte ihre Schwester nicht mit der Wahrheit belasten, aber sie sah einfach keinen anderen Weg. „So wurde das schon immer gemacht, Prim. Immer. Lange vor Mutter und lange vor ihrer Mutter! Mutter hat es nur noch nie zu unseren Lebzeiten tun müssen – und wird es wahrscheinlich auch für die nächsten hundert Jahre nicht wieder tun. Ich bin sicher, dass die Dorfbewohner ihre Lektion lernen werden und sich an den Pakt halten, den ihre Vorfahren mit unseren geschlossen haben.“ Gothel zögerte nur kurz, bevor sie fortfuhr. „Wenn nicht, werden wir gezwungen sein, es wieder zu tun, bis sie die Konsequenzen verstanden haben. Wir müssen deutlich machen, dass wir ihnen nicht gestatten, den Pakt zu brechen, dass wir weder schwach sind noch sie uns ausnutzen können.“ Gothel spürte, dass Primrose mit jedem ihrer Worte zorniger wurde, aber sie ließ sich nicht beirren. „Die Geschehnisse von heute Nacht werden sich zu unserem Vorteil erweisen, Prim. Manche aus unserer Horde beginnen zu zerfallen, unsere Reihen lichten sich. Wir benötigen mehr Tote, sollten wir jemals auf sie angewiesen sein.“

Gothels Worte trafen Primrose wie ein Blitzschlag. „Auf sie angewiesen sein? Um was zu tun? Unschuldige Menschen zu ermorden, weil sie uns ihre Toten nicht geben wollen? Oh, richtig, ich spreche ja mit Gothel! Immer so logisch! Die Klügste aus dem Trio! Aber du klingst gar nicht so intelligent, Gothel! Du klingst wie eine Soziopathin! Du klingst wie Mutter!“

Gothel schenkte ihrer Schwester ein trauriges Lächeln. „Lies unsere Geschichte, Prim. So ist es schon immer gewesen, seit mehr Generationen, als du dir überhaupt vorstellen kannst!“

„Dann haben unsere Ururururgroßmütter eben unschuldige Menschen umgebracht, und wennschon! Das heißt doch noch lange nicht, dass wir das auch tun müssen! Wir können von hier fortgehen, wir können uns weigern! Das muss nicht unser Leben sein, Gothel! Bitte lass uns einfach verschwinden, wie wir es vorhin besprochen haben. Wir können Mutter zurücklassen, um zu tun, was immer ihr beliebt, aber ich will damit nichts zu tun haben!“

„Wir dürfen nicht gehen, Prim. Nicht jetzt. Wir müssen hierbleiben! Hazel, sag ihr, dass wir nicht gehen können“, wandte Gothel sich der schweigenden Hazel an ihrer Seite zu.

„Willst du das wirklich tun, Gothel? Bitte sag mir, dass du das nicht ernst meinst!“, flehte Primrose ihre Schwester an.

Währenddessen verfolgte Hazel den Streit ihrer beiden Schwestern wie so oft still, bis der passende Moment gekommen war, um ihre Gefühle mit Gothel und Primrose zu teilen.

„Das tue ich, Prim, und wenn Mutter mir ihr Blut anbietet, dann will ich, dass du und Hazel es gemeinsam mit mir nehmt.“

„Bist du verrückt geworden?“