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Der zweite Band der neuen Dark-Ascension-Serie! Hier dreht sich alles um die Figuren, die mit den Charakteren aus der Bestseller-Reihe "Villains" von Serena Valentino in Zusammenhang stehen! James Hook und seine Zwillingsschwester Marlene haben sich in ihrem eintönigen Fischerdorf schon immer fehl am Platz gefühlt und sehnen sich danach, dem ruhigen Leben zu entkommen, das ihre Eltern für sie vorgesehen haben. Als Marlenes Geburtstagswunsch die beiden in ein beunruhigendes, magisches Paradies namens Nimmerland bringt, entdecken sie eine unerwartete Alternative: die Chance, für immer bei dem charismatischen Peter Pan und seinen Verlorenen Jungs zu bleiben. Doch als sie weiter die geheimnisvollen Geheimnisse der Insel eintauchen, zahlen sie einen hohen Preis für ihre Freiheit ...
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Prolog
James kam als Erster zur Welt, Marlene drei Minuten später, ein völlig unerwarteter weiterer Mund, der gestopft werden musste.
„Zwillinge?“, murmelte Mutter benommen und erschöpft.
„Zwillinge“, bestätigte der Arzt. Er klang äußerst selbstzufrieden. Es waren die ersten Zwillinge, die er zur Welt brachte – und damit auch die ersten Zwillinge, die die Stadt seit Jahrzehnten gesehen hatte.
Bevor sie in einen traumlosen Schlaf fiel, starrte ihre Mutter auf das Regenwasser, das von einem deutlichen Riss in der Schlafzimmerdecke heruntertropfte, und verfluchte ihr Glück. Es gab nur Platz für ein Kind. Ein selbst gebautes Kinderbett im bescheidenen Kinderzimmer. Ein kleines Fenster, das zur Nordsee hinauszeigte, und kaum genug Geld für das Dach über dem Kopf dieses einen Kindes.
„Was soll ich mit zweien anfangen?“
Wie sich herausstellen sollte, war alles an den Zwillingen unerwartet. James erbte zwar die ruhige und nachdenkliche Art seines Vaters, jedoch nicht die Liebe zum Meer. Als sein Vater James zum ersten Mal auf sein Fischerboot mitnahm – James war gerade eine Woche alt –, weinte dieser, als die kühle salzige Luft sein Gesicht streifte. Er weinte, als die sanften Wellen ihn schaukelten, und er zuckte zusammen, als die Möwen über ihnen kreisten.
Marlene war nicht die vornehme junge Dame, die sich ihre Mutter erhofft hatte. Sie besaß zwar zarte Gesichtszüge und die blauen Augen einer feinen Porzellanpuppe, war aber ein unruhiges und zappeliges Ding. Während ihr Zwillingsbruder einfach nur in seinem Bettchen liegen und die Welt mit den Augen erkunden wollte, trieb es Marlene hinaus in die Welt. Sie zog an den Schnürsenkeln, die ihre Mutter an ihre Schlafanzüge genäht hatte, wand sich unruhig in ihrem Stubenwagen und griff nach Dingen, für die sie noch keine Worte kannte.
Doch von Anfang an verstanden sich James und Marlene auf eine Weise, die ihre eigenen Eltern nie erreichten. Marlene lernte zuerst krabbeln, blieb aber immer an James’ Seite und wartete darauf, dass er mit ihr mithielt. Und James – der Aufmerksame – beschützte seine Schwester, indem er ihr den Weg versperrte, wenn sie furchtlos nach dem Feuer im Holzofen greifen wollte, oder verhinderte, dass sie – geblendet vom glitzernden Wasser – versuchte, ins Meer zu watscheln.
Dieser Zusammenhalt entsprach einer Verbindung, die selten Worte erforderte. Einem Instinkt, als ob jeder Zwilling eine Hälfte einer effizienten Maschine bildete.
„Marlene, kannst du dich nicht wie eine Dame benehmen?“, seufzte ihre Mutter und schrubbte ihrer Tochter nach dem Klettern im Baum den Dreck von den Händen, Knien und Wangen.
„Schau, mein Sohn, schau, wie weit das Meer ist“, freute sich ihr Vater und hievte James auf seine Schultern. James tat sein Bestes, um nicht so grün zu werden wie das Wasser, das vor ihm hin und her schaukelte.
Ihre Eltern liebten sie, das wussten die Zwillinge. Trotz ihrer Unsicherheit über die zusätzliche finanzielle Belastung, die ein weiteres Kind mit sich gebracht hatte, liebten sie ihre beiden Kinder abgöttisch und arbeiteten hart, um ihnen das bestmögliche Leben zu bieten. Doch sie wussten nicht, was sie mit ihnen anfangen sollten.
Und während sie heranwuchsen, trugen sowohl Marlene als auch James eine Reihe unausgesprochener Sorgen mit sich herum. Marlene sorgte sich um die ruhige, sensible Art ihres Bruders. Sie wehrte die Raufbolde auf dem Schulhof ab, nahm seine Hand und zog ihn mit, damit er bei ihren Ausflügen in die Stadt nicht von der Menge verschluckt wurde. Er war auf die feineren Details der Dinge fixiert, weshalb er oft nicht sah, was direkt vor ihm lag.
James wiederum fürchtete sich vor dem unerbittlichen Entdeckergeist seiner Schwester. Er machte sich Sorgen, dass sie eines Tages nicht mehr auf ihn warten würde, wenn sie wie immer vorauslief. Sorgte sich, dass ihre Schwimmerbeine und ihre grenzenlose Energie sie eines Tages zu weit tragen könnten, an einen Ort, zu dem er ihr nicht folgen konnte, auf eine Gefahr zu, die er nicht aufhalten konnte.
1
James und Marlene wurden am Tag der Wintersonnenwende Ende Dezember fünfzehn. Es war der dunkelste Tag des Jahres und zufälligerweise auch der kälteste. James spürte es in seinen Knochen, als er an diesem Morgen aufwachte. Das Fenster klapperte in seinem Rahmen.
Wie üblich war Marlenes Bett leer, als James die Augen öffnete. Sie würde bereits voll angezogen und in Stiefeln unten am Frühstückstisch auf ihn warten. James war gern pünktlich, doch seine Schwester machte es sich zur Kunst, immer zu früh zu sein.
Er zog sich in aller Ruhe seine graue Tunika an, die er am Abend zuvor gebügelt hatte. Er mochte Grau. Es war eine neutrale Farbe – weder überschwänglich noch trist – und sie verbarg den Ruß, der aus dem Kamin gespuckt wurde.
Wie erwartet lagen die Geschenke ihrer Eltern bereits in der Mitte des Tischs, als James die knarrenden Holzstufen hinunterging und die Küche betrat. Dort lagen ein kleines und daneben ein größeres Bündel. Beide waren in Sackleinen gewickelt und mit Bindfaden verschnürt. Beide rochen leicht nach dem Hafen.
Marlene sah zu ihm auf, während sie an ihrem Morgentee nippte. „Ich habe schon gefrühstückt“, erklärte sie, wobei der helle Ton ihrer Stimme nicht ganz zu der Ungeduld in ihrem Gesicht passte. Wohin auch immer James ging, Marlene schien immer als Erste dort anzukommen und hatte sogar noch Zeit übrig. „Du musst dir selbst etwas machen.“
„Mutter und Vater sind nicht hier?“, fragte James, obwohl er die Antwort bereits kannte.
„Sie waren schon weg, als ich aufgestanden bin“, antwortete sie. Ihr Blick fiel auf die Geschenke. „Sollen wir sie erst heute Abend auspacken?“
James schüttelte den Kopf. Wenn sie darauf warten würden, dass beide Elternteile gleichzeitig am Tisch zum Familienessen saßen, würden sie sich bis zu ihrem nächsten Geburtstag gedulden müssen.
„Das große Päckchen ist für mich“, sagte Marlene. „Sie sind beschriftet.“
James schenkte sich eine Tasse Tee ein. Er konnte die Ungeduld seiner Schwester spüren, doch er ließ sich nicht hetzen. Sie setzte sich bei so vielen Dingen durch – sie war selbstbewusst, sie hatte mehr Freunde, sie konnte singen – und er wollte wenigstens an seinem Geburtstag Zeit für das Frühstück haben, bevor er im eisigen Winterregen zur Schule gehen musste.
Marlene schob James sein Geschenk über den Tisch zu, sobald er sich gesetzt hatte. Er wusste nicht, warum sie so ungeduldig war. Ihr Geburtstag hatte noch nie etwas Großartiges hervorgebracht – und schon gar nicht so etwas wie den Geldsegen, den die Kinder, die ihre Mutter in London betreute, zu diesem Anlass wahrscheinlich erlebten.
„Wünsch dir was“, forderte Marlene James auf.
James seufzte. „Sind wir nicht ein bisschen zu alt dafür?“
„Das ist Tradition“, erwiderte sie völlig unerschütterlich.
James rollte mit den Augen. Ich wünschte, ihr würdet mich in Ruhe lassen, dachte er und griff nach der Schnur.
Im letzten Jahr hatte Marlene ein Herzmedaillon an einer dünnen Kette geschenkt bekommen. Die Glieder waren bereits angelaufen und grün geworden. Doch seine Schwester trug es trotzdem. Es war der einzige glänzende Gegenstand, den sie besaß. James hatte ein Messer bekommen, mit dem man Fische filetieren konnte. Es war scharf und sauber. Er verkaufte es für eine Handvoll Silber an einen Klassenkameraden und legte das Geld für seine Ausbildung in ein Glas unter seinem Bett.
James zog an der Schnur, die sein Geschenk zusammenhielt. Ein kleines Stück Metall löste sich aus den Jutefalten und fiel klappernd auf den Tisch. Bei diesem Geräusch stockte ihm der Atem. Er wusste bereits, was es war, bevor er es aufgehoben hatte.
Es war der einzige Luxus, den sein Vater sein Eigen nannte – eine kleine goldene Anstecknadel aus echtem Gold in Form eines Seebarschs mit weit aufgerissenem Maul inmitten aufsteigender Meereswellen. Das gleiche Bild zierte handgemalt die Seite des Fischerboots seines Vaters und die Vorderseite des kleinen Holzwagens, auf dem er seinen Fisch auf dem Markt verkaufte. Das Wappen des Familienunternehmens war von James’ Großvater an seinen Vater und nun an ihn weitergegeben worden.
Marlene blickte auf und lächelte ihren Bruder mitfühlend an. Dies war das Jahr, in dem ihr Vater wollte, dass James die Verantwortung für das Fischereiunternehmen der Familie übernahm. Ohne Widerrede. James müsste schwimmen und Fische ausnehmen lernen und genug Bizeps entwickeln, um das Netz aus dem Wasser zu ziehen.
Das ist kein Geschenk, dachte er trotzig. Es ist ein Vertrag.
Es war egal, dass er das Meer hasste. Als Sohn eines Fischers oblag ihm die Verantwortung, das Familienunternehmen weiterzuführen.
James hatte sein ganzes Leben lang eine Widerrede einstudiert. Er hatte zehn Versionen seiner „Ich möchte eine Ausbildung machen und werde dafür bezahlen“-Rede entworfen, sich aber noch nicht getraut, sie zu halten. Sosehr er die Pläne seines Vaters auch ablehnte, wusste James doch, dass sein Vater ihn liebte und dass sein Fischerboot das Einzige war, was er zu geben hatte. Der Gedanke, seinem Vater das Herz zu brechen, schmerzte James. Aber nicht so wie der Gedanke, ein Leben zu führen, das er nicht wollte.
Ihr Vater hatte gehofft, dass sein Sohn das Fischereigeschäft erben würde. Ein Sohn, der die salzige Luft und das offene Wasser genauso liebte wie er.
Doch dieser Wunsch sollte ihm verwehrt bleiben. James hatte von Anfang an Angst vor dem Wasser gehabt. Die ganze tiefe dunkle Weite machte ihm Angst – als müsste das Meer nur gähnen, um ihn bei lebendigem Leib zu verschlucken.
James war ein scheues und doch autarkes Kind. Er mochte es ordentlich und aufgeräumt. Sein Bett war immer gemacht und seine einzigen wertvollen Besitztümer – ein Abakus und ein Skizzenbuch – standen stolz auf seinem Regal. Wenn er aus dem Schlafzimmerfenster schaute, sah er nicht auf die Nordsee im Osten, sondern nach Westen über die Dächer seiner kleinen Hafenstadt, um einen Blick auf London zu erhaschen.
Eines Tages würde James dort leben, inmitten dieser geschäftigen Stadt. Er wusste, dass es so sein würde. Er würde einen maßgeschneiderten Anzug mit eleganten Falten tragen, eine Aktentasche bei sich haben und in einem sehr hohen Gebäude arbeiten, wo er neue Maschinen erfand. Er würde nie wieder einen toten Fisch anfassen oder sich die Druckerschwärze von den Fingern schrubben müssen, solange er lebte.
Auf der anderen Seite des Tischs schien Marlene über ihr eigenes Geschenk ebenso unglücklich zu sein wie er über die Anstecknadel. Sie hielt ihr neues Kleid an den Schultern hoch und verzog das Gesicht, als bestünde der Stoff aus stinkendem Unrat.
Es war ein hübsches, praktisches Kleid und das tiefe Violett sollte zweifellos Marlenes schwarze Locken hervorheben. Es hatte sicher mehr gekostet, als sie sich leisten konnten. Wie viele Stunden hatte ihre Mutter sich um die Kinder einer wohlhabenden Familie gekümmert, um es kaufen zu können? Wie oft war sie erst nach Hause gekommen, als ihre Familie schon schlief, nur um bereits vor Sonnenaufgang wieder aufzustehen und den Zug nach London für einen weiteren Arbeitstag zu nehmen?
„Du hasst es“, riet James.
„Es ist in Ordnung. Es passt einfach nicht zu mir. Das ist alles.“
James konnte ihre Gefühle nachvollziehen.
Sie schien es zu bedauern, als Letzte geboren worden zu sein, als lästiges zusätzliches Kind in einer Familie, die sich kein zweites Kind leisten konnte. Sie war nicht der Sohn, den sich ihr Vater gewünscht hatte. Und sie war viel zu unruhig für die Versuche ihrer Mutter, eine Dame aus ihr zu machen.
Die unglücklichen Umstände von Marlenes Geburt machten sie nur noch entschlossener, ihren Wert zu beweisen. Wenn ihr Bruder pünktlich war, würde sie früher sein. Wenn ihr Bruder zügig ging, rannte sie voraus. Wenn James Angst vor Wasser hatte, tauchte sie kopfüber hinein. Wenn er der Ruhige war, war sie die Großmütige. Andere Kinder scharten sich um sie. Sie füllte jeden Winkel jeden Raums mit ihrer Anwesenheit und war nie zu übersehen. Ihr Lachen war noch auf der anderen Seite des Meers zu hören.
Marlene konkurrierte nicht mit ihrem Bruder, sondern kämpfte gegen die Meinungen derer, die davon ausgingen, dass ihr Bruder aufgrund seines Geschlechts und seines Alters der Schnellere und Klügere sein musste.
James hingegen sah sie beide eher als ein Team an. Da er oft in Gedanken versunken war, brauchte er Marlene manchmal, um ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Er fand ihren Ehrgeiz ziemlich albern, sprach sie aber nicht darauf an. Er erinnerte sie nur vorsichtig daran, dass die einzige Meinung, die für sie zählen sollte, ihre eigene war. Und das tat er auch nur, wenn er annahm, dass sie gerade offen für Argumente war.
Bevor sie zur Schule gingen, hängte Marlene ihr Kleid ordentlich in den Schrank neben James’ Jacketts und James befestigte seine neue Nadel an seinem Hemd.
Der Himmel war bewölkt, als sie losgingen. Ausnahmsweise schleppte Marlene sich an diesem Tag langsam voran. Etwas schien sie zu belasten und sie zupfte an ihrem Mantel, um sich vor der rauen Seeluft zu schützen. Die Wellen brandeten nur wenige Meter von ihnen entfernt ans Ufer und ihre Kälte fühlte sich an diesem Morgen besonders beißend an.
„James“, sagte Marlene mit belegter Stimme. „Hast du dich jemals gefragt, ob wir vielleicht in die falsche Familie hineingeboren wurden?“
„Wovon redest du?“, wollte James wissen. „Wir ähneln Mutter doch unglaublich.“ Und das taten sie. Mit ihren schwarzen Haaren, der hellen Haut und den blauen Augen sahen sie ganz anders aus als ihr Vater mit seinem sonnengebleichten Haar und der Haut, die durch die endlosen Stunden auf dem Wasser wie Leder wirkte.
„So meine ich das nicht“, winkte Marlene ungeduldig mit einer Hand ab. „Ich weiß, dass sie unsere Eltern sind. Doch manchmal fühlt es sich einfach so an, als wären wir für einen anderen Ort bestimmt.“
James schaute über seine Schulter. In der Ferne konnte er gerade noch die blasse Silhouette hoher Gebäude hinter dem englischen Smog erkennen. Er mochte es nicht, wenn seine Schwester über Dinge nachdachte, die sie nicht ändern konnte. Das machte ihn nervös. Es war besser, die Umstände zu akzeptieren, wie sie waren, und einen soliden und logischen Plan zu schmieden.
„Nun, wenn wir erwachsen sind, können wir überall hingehen“, warf er ein.
Das schien seine Schwester ein wenig aufzuheitern. Sie lächelte und trat gegen einen Kieselstein. „Stimmt. Doch ich wünschte, wir müssten nicht erst erwachsen werden, um dorthin zu gelangen.“
James freute sich darauf, erwachsen zu werden. Doch Marlene fehlte seine Geduld. Für sie erstreckte sich die Zeit noch endlos, bis sie da sein würden, wohin sie sich wünschten. Er nahm an, dass Marlene mit einem Zirkus davonziehen und eine berühmte Sängerin werden würde. Vielleicht könnte er seine mathematischen Fähigkeiten einsetzen, um ihre Finanzen zu verwalten. So oder so – alles, was sie tun mussten, war, die Schule zu beenden. Danach hätten sie die Kontrolle darüber, was als Nächstes geschah.
Am Himmel grollte lauter Donner und plötzlich öffneten die Wolken ihre Tore und Sturzfluten aus Regen ergossen sich aus ihnen. Blendender, kalter, peitschender Regen. Für diese Jahreszeit überhaupt nicht ungewöhnlich, aber dennoch völlig unerwünscht.
„Beeil dich, James!“ Marlene packte ihn am Handgelenk und rannte los.
James stöhnte, als er hinter ihr herhinkte und an die sorgfältige Arbeit dachte, die er am Abend zuvor an seiner Tunika verrichtet hatte. Die Schule war noch zwei Häuserblocks entfernt. Selbst wenn er mit Marlene Schritt hielt, würde er völlig durchnässt dort ankommen. Marlene bewegte sich schneller als jeder andere Mensch, den er kannte. Sie war wie ein Lichtblitz, wenn sie wollte. James tat sein Bestes, um ihr zu folgen, stolperte jedoch über eine Lücke im Kopfsteinpflaster und fiel direkt in eine Pfütze.
Der Geschmack von Blut breitete sich in seinem Mund aus. Seine Handflächen schmerzten, da er sie sich auf der Straße aufgeschrammt hatte.
„Oh, James!“ Marlene hockte sich neben ihn und reichte ihm eine Hand. „Entschuldige bitte! Es ist meine Schuld. Ich habe dich gehetzt.“
„Wir wären immer noch pünktlich gewesen, wenn wir nach Hause zurückgekehrt wären, um einen Regenschirm zu holen“, murmelte James gereizt. Er hatte den unheilvollen Himmel bemerkt, als sie sich auf den Weg zur Schule gemacht hatten, doch Marlene hatte sich geweigert zurückzugehen und behauptet, dass sie es in die Schule schaffen würden, bevor der Regen einsetzte.
James stand auf und spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Es fehlte nur ein winziges bisschen Gewicht – etwas, das da gewesen und nun weg war.
Die Nadel seines Vaters saß nicht mehr an der Stelle seines Hemds, an der er sie befestigt hatte. Ihm stockte der Atem. Sein Vater würde am Boden zerstört sein. James hatte die Nadel zwar nie tragen wollen, war aber bereit, es seinem Vater zuliebe zu tun.
Auf einmal sah er sie – ein winziger metallischer Schimmer, nur zwei Meter vom Meer entfernt. Sie musste bei seinem Sturz über das Kopfsteinpflaster gerutscht sein. Er rannte los, um sie zu holen, und nahm dabei nur vage das laute Donnern über sich wahr. So viel Regen auf einmal.
„James!“ Er hörte, wie Marlene nach ihm rief – spürte, wie sie seinen Arm packte.
„Könntest du dich einmal gedulden?“, brummte er.
Doch bevor er sich umdrehen und sie ansehen konnte, wurde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen.
Alles ging rasend schnell. Zu schnell, als dass er sofort hätte begreifen können, dass er unter Wasser geraten war. Das Meer war kalt, dunkel, endlos. Eine Welle hatte ihn mitgerissen und blindlings in die unendliche Leere gestürzt.
Einen wahnsinnigen Moment lang, während seine Lungen sich mit Wasser füllten, wusste James nicht, dass er zu ertrinken drohte. Seine Gedanken versetzten ihn an einen seiner Lieblingsorte: seinen Schreibtisch in der Schule. Er war stolz auf seinen Schreibtisch. Das Holz war wie bei allen anderen Tischen alt und zerkratzt. Darum hatte er ihn eines Tages nach dem Unterricht mit dem Beizmittel bearbeitet, das sein Vater für sein Boot verwendete.
Irgendwo vorn im Klassenzimmer hüpften Marlenes dunkle Locken, als sie sich vorbeugte, um einer Freundin etwas zuzuflüstern. James hob die Klappe seines Schreibtischs an und war verwirrt über das Durcheinander. Wo seine Papiere und sein Lineal hätten sein sollen, entdeckte er stattdessen ein Gewirr aus Seetang, dessen Geruch einen unerklärlichen Schmerz in seiner Brust auslöste. Wasser sickerte an den Seiten heraus, floss herunter und ergoss sich überall um ihn herum. Niemand außer ihm bemerkte es. Er dachte, dass er schreien sollte, doch als er es versuchte, kam nur Wasser heraus.
Da ballte er eine Hand zur Faust und spürte die Anstecknadel zwischen seinen Fingern. Das Klassenzimmer, die gesichtslosen Klassenkameraden und Marlenes Locken, die beim Kichern wie Glöckchen schaukelten, verschwammen und wurden dunkel. Die Nadel war das Einzige, woran er sich festhalten konnte. Panik überkam James, als er die Augen öffnete und feststellte, dass er im Meer war. Er schlug blind um sich und wusste nicht, in welcher Richtung es nach oben ging.
Das ergibt keinen Sinn, dachte James, als er im Sterben lag. Sicher, er war in der Nähe des Wassers entlanggelaufen. Doch er kannte die Parameter und war immer vorsichtig gewesen, da er um seine große Schwäche wusste. Doch diesmal war es, als hätte das Wasser nach ihm gegriffen. Als wäre es an Land gekommen, um ihn zu jagen. Um ihn sich zu holen.
Etwas schlang sich um seinen Arm. Marlene. Er sah ihre schweren dunklen Locken, die selbst durch die Dunkelheit des Wassers um ihren Kopf herum sichtbar waren. Sie zog an ihm und versuchte, sie beide an die Oberfläche zu bringen. Wie sie die Oberfläche überhaupt fand, verstand James nicht. Später würde er auf diesen Moment zurückblicken und verstehen, dass er nicht für einen kurzen Moment in sein Klassenzimmer versetzt worden war, sondern dass seine Analyse all dieser alltäglichen Details eine Form von Schock gewesen war. Und dass er tot wäre, wenn er allein gewesen und Marlene vor ihm zur Schule gegangen oder wenn sie gar nicht erst geboren worden wäre.
Beide kamen prustend an die Wasseroberfläche. James hob seine Faust mit der Nadel wie eine weiße Friedensfahne hoch über seinen Kopf.
Keuchend und hustend krochen sie ans Ufer. Erst da bemerkten sie, dass sie nicht auf der vertrauten Kopfsteinpflasterstraße wieder aufgetaucht waren, von der aus sie weggespült worden waren. Es donnerte auch nicht mehr. Der englische Winterwind blies nicht mehr tosend und wütend, riss und zerrte nicht mehr an ihnen.
Stattdessen lagen sie auf einem weichen Bett aus warmem Sand. Die Sonne schien und ein seltsamer Vogel stieß einen Ruf aus, den keiner von ihnen je zuvor gehört hatte. Es klang fast wie das Krähen eines Hahns, andererseits wiederum nicht ganz. Irgendetwas stimmte nicht.
Als er wieder zu Atem kam, setzte sich James aufrecht hin und war vor Verwirrung ganz benommen. Sie waren bis auf die Knochen durchnässt und tropften auf den Sand hinunter.
Waren sie ertrunken? James war ziemlich sicher, dass das nicht der Fall war. Marlene war neben ihn gekrochen und atmete schwer. Er legte die Finger an seinen Hals und fühlte seinen Puls.
„Wo sind wir?“, krächzte er. Sicher nicht in England. Es war heiß und die Sonne brannte so stark, dass ihre Kleidung bereits zu trocknen begann. „Ist das ein Traum?“
Marlene schüttelte den Kopf, als versuchte sie, sich selbst aus einer Art Trance zu erwecken. Sie stand auf und zog James am Handgelenk hoch. Diesmal war James dankbar für ihre Durchsetzungskraft.
„Wir müssen …“, begann sie, doch dann versagte ihre Stimme. Sie hielt James immer noch am Handgelenk fest und sah in alle vier Himmelsrichtungen, um ihre Umgebung zu betrachten. Auf der einen Seite lag offenes, glitzerndes Wasser und auf der anderen eine dichte Wildnis vor ihnen.
Marlene runzelte die Stirn. Sie hatte keine Angst – die hatte sie selten –, doch sie war verwirrt. „Vielleicht träumen wir“, sagte sie langsam. „Ich habe schon einmal von diesem Ort geträumt.“
„Du hast von hier geträumt?“ James blinzelte.
„Ja, hin und wieder. Aber normalerweise war es dann eher … neblig. Als könnte ich es nicht so deutlich sehen wie jetzt.“
Obwohl sie Zwillinge waren, hatten sie nie die Vorteile genossen, die man von Zwillingen erwartete. Sie konnten nicht die Gedanken des anderen lesen. Und sie hatten nie die gleichen Dinge geträumt.
Dennoch liebten sie einander auf eine Art, die nie ausgesprochen werden musste – und nie ausgesprochen wurde. Während Marlene leicht Freunde fand, hatte James keinen einzigen. Seine Klassenkameraden hielten ihn für seltsam, stur und hochnäsig und vielleicht hatten sie in einigen dieser Punkte recht.
Doch James und Marlene wären auch Freunde geworden, wenn sie keine Zwillinge gewesen wären. Aus irgendeinem Grund wussten beide das. Wenn sie nicht dieselben Eltern gehabt hätten, wenn sie nicht dieselben Augen und dasselbe Grübchen auf der rechten Wange gehabt hätten, hätten sie sich trotzdem gefunden und wären schnell Freunde geworden. Es gab etwas in ihrem Kern, das sie verband. Sie brauchten einander. So sollte es einfach sein
Der Vogel stieß erneut seinen ungewöhnlichen Schrei aus und Marlenes Griff um James’ Handgelenk verstärkte sich.
„Das habe ich schon einmal gehört“, flüsterte sie ihm zu.
Wie als Antwort darauf bewegten sich die Äste eines Baums. Das Geräusch wurde lauter – ein scharfer, krächzender Ruf. Und dann stürzte die Gestalt eines Jungen aus dem Laub und schoss in den Himmel hinauf. James wartete darauf, dass er wieder herunterfiel, doch das tat er nicht.
Wie ein Vogel flog der Junge direkt auf sie zu.
2
Der Junge flog.
Er flog.
Jetzt war James sicher, dass sie träumten. Doch Marlene ließ sich davon nicht beirren. Sie trat einen Schritt vor und beschützte ihn.
James hasste es, wie nutzlos er sich in diesen Situationen fühlte. Letztes Jahr war sie mehr gewachsen als er. Als ob sie nicht schon herrisch genug gewesen wäre, kam es ihm jetzt so vor, als versuchte sie außerdem, ihn wie ein Haustier zu führen.
Er schob sich an ihr vorbei und ignorierte die Tatsache, dass er ziemlich verängstigt war. Jemanden wie diesen Jungen hatte er noch nie gesehen. Er war von Kopf bis Fuß in Grün gekleidet und trug eine grüne Mütze auf dem Kopf, die perfekt zu seinen sandbraunen Haaren passte. Noch seltsamer jedoch waren seine Ohren – sie liefen an den Enden spitz zu wie die eines Elfen in einem Kinderbuch.
„Was bist du?“, fragte James, während Marlene herausplatzte: „Wo sind wir?“
Beides berechtigte Fragen, dachte James.
Der Junge warf den Kopf in den Nacken und das Geräusch seines Lachens wirbelte eine Windbrise auf und ließ den Wald rascheln und sich regen. Zwischen den Bäumen schwebten helle Lichtpunkte. James überlegte neugierig, ob es sich dabei um eine bizarre Art von Insekten handelte.
In den Bäumen versteckte sich noch jemand anders. James sah, wie ein Augenpaar ihn anblinzelte und dann im Schatten verschwand.
„Ihr braucht keine Angst zu haben“, beruhigte der Junge sie. „Ihr habt euch verlaufen, aber das ist in Ordnung. Das haben wir alle.“
„Uns verlaufen?“ Marlene musterte den Jungen skeptisch. „Wir können uns nicht verlaufen. Ich habe mich noch nie in meinem Leben verlaufen.“
Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust und zuckte mit den Schultern. „Doch, das hast du. Jeder in Nimmerland hat sich verlaufen.“
„Nimmerland?“, murmelte James mehr zu sich selbst als zu jemand anders. Er war sicher, dass er diesen Namen noch nie gehört hatte. Er kannte alle Städte und Ortschaften in England und alle Stadtviertel in London. Er hatte die Karten so intensiv studiert, dass er sicher war, jede Straße zu finden, selbst wenn er noch nie dort gewesen war. Aber auf keiner seiner Karten war ihm jemals ein Ort namens Nimmerland begegnet.
James drehte sich um, blickte aufs Meer und dann auf die seltsame Insel. Es war unmöglich. Sein Herz pochte rasend schnell in seiner Brust und er zwang sich, tief und ruhig zu atmen. Panik würde ihnen jetzt nicht helfen. Es musste eine logische Erklärung geben. Man fiel nicht in seiner Heimatstadt ins Meer und tauchte auf einer fremden Insel wieder auf. Das konnte nur ein Traum oder eine Halluzination sein. Genau. Das war es. Er hatte zu viel Meerwasser geschluckt. Bald würde er mit klarem Kopf aufwachen und alles würde genauso sein wie immer.
Der Junge musterte Marlene mit großem Interesse. Seine braunen Augen waren auf sie gerichtet, während er in einem Kreis um die Zwillinge herumging. „Was sagt man dazu?“, wandte er sich an sie. „Ein menschliches Mädchen.“
„Im Gegensatz zu was?“, gab Marlene zurück. „Einem weiblichen Dalmatiner?“
Der Junge lachte erneut. Doch es klang jetzt wärmer und sanfter. „Feen. Meerjungfrauen. Viele von ihnen sind Mädchen. Doch mal ein menschliches Mädchen zu sehen, ist interessant.“
Das Meer streckte seine Arme aus und umspülte ihre Knöchel. Es fühlte sich echt an – die Wärme des Wassers, die nasse Kleidung, die an seinen Beinen klebte. Und doch konnte James sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass er an diesem ungewöhnlichen Ort wirklich wach war.
„Ich glaube …“ Die Stimme des Jungen verstummte. Er flog in die Luft, so hoch, dass seine Silhouette im blendenden Sonnenlicht verschwand. Dann kehrte er auf den Boden zurück. Seine Nase kam Marlenes plötzlich ganz nah, was sie zusammenzucken ließ. „Du warst es. Du hast dich entschieden hierherzukommen. Du hast es dir gewünscht.“ Sein Gesichtsausdruck erhellte sich.
„Wie hätte ich mir das wünschen können, wenn ich nicht einmal weiß, wo wir sind?“, entgegnete Marlene gereizt. „Soweit ich weiß, bist du nur eine Ausgeburt unserer Fantasie.“
James stieß seine Schwester mit dem Ellenbogen in die Seite. Halluzination oder nicht, ihr freches Mundwerk würde sie noch in Schwierigkeiten bringen. Der Junge konnte jeder sein. Absolut jeder. Und sie waren ihm völlig ausgeliefert.
„Ausgeburt …“, wiederholte der Junge. Er schien darüber nachzudenken. „Was ist eine Ausgeburt?“
„Nicht real“, erklärte Marlene.
Der Junge streckte die Hand aus und gab Marlene einen Nasenstupser. Sie zuckte zusammen. Ihre Wut war spürbar. James legte eine Hand auf ihre geballte Faust. Die goldene Nadel, die er in seiner Hand spürte, sagte ihm, dass dies alles nur allzu real war – im Gegensatz zu dem, was Marlene vielleicht dachte.
„Ich bin real“, erklärte der Junge. „Ich bin Peter.“
Peter. Ein so vernünftiger Name für eine so absurde Situation, dachte James. Er hätte nicht erwartet, dass der Junge überhaupt einen Namen hatte, sondern eher, dass er auf die Takte einer Melodie oder den Klang von Vögeln reagierte.
Hinter ihm begannen die Bäume am Ende des Strands zu rascheln. Wieder war James sicher, dass er eine Haarkrone und ein Paar Augen sah, die ihn hinter einem großen grünen Blatt anblinzelten.
„Ein Mädchen?“, hörte er jemanden aus dem Wald rufen.
Wäre James mutiger gewesen, wäre er in den Wald gestürmt und hätte sich der flüsternden Stimme gestellt. Er hätte seine Schwester und sich selbst beschützt. Doch stattdessen stand er wie angewurzelt da und hoffte immer noch, dass das alles nur ein Traum war. Er hoffte, in seinem eigenen Bett aufzuwachen. Nicht zum ersten Mal wünschte sich James, er besäße mehr Mut.
Marlene stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „James, sieh mal.“
Wie auf ihr Stichwort begannen sich Schatten zu bewegen und tauchten zwischen den Bäumen auf. Es waren Jungen, die sich vor Angst aneinanderkauerten, als wären James und Marlene die Gefährlichen. Vielleicht, überlegte James, sind wir das auch. Er und seine Schwester waren wie Seetang an Land gespült worden, ohne jede Erklärung. Hinter ihnen war nichts als Wasser. Kein Boot, nicht einmal ein Schatten von Land in der Ferne.
„Kommt her, Jungs, seid nicht so schüchtern!“, rief Peter ihnen zu.
Peter ist der Anführer, dachte James. Wenn er sich einmal etwas gemerkt hatte, würde er sich daran erinnern. Er hatte ein gutes Gedächtnis. Das fanden alle.
Auf Peters Aufforderung hin traten die Jungen langsam aus dem Schatten in die Sonne hinaus. Es war schwer, ihr Alter zu bestimmen. Der Jüngste von ihnen – ein kleiner Junge mit einer verfilzten Stinktiermütze – war eindeutig noch ein Kind. Die anderen beiden schienen irgendwo zwischen Peters Alter und dem von James und Marlene zu liegen – das heute natürlich genau bei fünfzehn lag.
„Slightly, Tootles, Sam – das sind die Außenseiter“, stellte Peter sie vor.
„Wir sind keine Außenseiter“, schoss Marlene zurück, obwohl sie es ja durchaus waren.
James nahm den Anblick der Jungen in sich auf. Er erkannte sofort, welcher von ihnen Sam war – der Junge mit den sandblonden Haaren, die ordentlich auf eine Seite gescheitelt waren. Obwohl die Meeresbrise sein Haar zerzaust ins Gesicht wehen ließ, sah er ganz vernünftig aus. Wie jemand, der einen praktischen Namen wie Sam tragen würde.
Die Jungen stellten sich in einer Reihe auf und der Jüngste, Tootles, kroch auf allen vieren auf sie zu. Er beschnupperte Marlene und James wie ein Welpe.
„Bist du wirklich ein Mädchen?“, fragte Tootles mit leiser Stimme.
Marlene lachte. „Das bin ich tatsächlich.“
„Warum bist du hier?“, fragte der Junge. Seine großen Augen leuchteten auf. „Bist du hier, um unsere Mutter zu sein?“
„Sei nicht albern, Tootles“, fuhr Slightly dazwischen. „Du würdest eine Mutter nicht einmal erkennen, selbst wenn sie dir auf den Kopf fiele.“
„Das würde ich schon!“, protestierte Tootles, verzog dann aber nachdenklich das Gesicht. Er sah aus, als hätte er noch mehr zu sagen, aber Probleme, es auszudrücken. „Was macht eine Mutter noch mal?“
Marlene stieß den Jungen mit ihrem Fuß an die Schulter und schob ihn zur Seite. „Nein, ich bin nicht hier, um eure Mutter zu spielen.“ Sie hob das Kinn. „Ich bin Marlene. Das ist James. Und wenn wir jetzt nicht sofort wieder von hier wegkommen, werden wir sehr spät in der Schule sein.“
Instinktiv griff James nach der Schultasche mit seinen Schulsachen, doch sie war weg, genau wie Marlenes. Sie müssen beim Fallen ins Wasser verloren gegangen sein, dachte er und bedauerte, dass nun all ihre Hausaufgaben dahin waren.
„Schule!“, lachte Peter. Er flog wieder in den Himmel hinauf und verschwand fast gänzlich in der Helligkeit der Sonne.
„Was ist Schule?“, fragte Tootles.
„Du weißt auch nicht, was eine Schule ist?“ James war für einen Moment so schockiert, dass er seine Ängste vergaß und etwas sagte. „Es ist ein Ort zum Lernen. Dort gibt es Lehrer, Bücher, Zahlen – all das.“
„Ich glaube, ich habe schon einmal ein Buch gesehen“, meinte Sam. Er sprach leise. „Vielleicht. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern.“
Das verstärkte nur James’ Sorgen. „Wir müssen hier weg“, flüsterte er seiner Schwester zu. „Sie haben noch nie von Büchern gehört. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.“
Wenn sie nicht lasen und nicht zur Schule gingen, was kam dann noch? James konnte es sich nicht vorstellen. Die Jungen wirkten sauber, hatten jedoch etwas Wildes an sich, das er nicht einordnen konnte. Die ganze Insel war wild – leuchtende Blumen und dichte grüne Blätter bildeten den Wald hinter dem Ufer. Alles fühlte sich an wie eine Illusion.
Als James klein gewesen war, hatte sein Vater ihm beigebracht, wie man einen Angelhaken mit Ködern bestückt. Die Würmer waren ein Leckerbissen, dem die Fische nicht widerstehen konnten. Und James konnte es ihnen nicht verübeln. Ein köstlicher Leckerbissen tauchte einfach so mitten im Wasser auf – sie wären dumm, ihn nicht zu nehmen. Doch genau das war es ja: Köstliche Leckereien und magische Dinge tauchten nicht einfach so auf. Nicht ohne einen Haken. An der Sache.
„Marlene“, flüsterte James, diesmal mit dringlicherer Stimme. Sie bedeutete ihm, leise zu sein, doch es entsprang nicht ihrer üblichen Ungeduld, das wusste James. Sie war praktisch genug veranlagt, um zu erkennen, dass etwas an diesem Ort nicht stimmte. Oder etwa nicht?
„Na gut“, sagte Peter. Er kreiste wie ein Papierflieger in der Luft über ihnen. „Folgt mir. Ich zeige euch, wie ihr hier herauskommt.“
Der seltsame Junge flog los, bevor noch ein weiteres Wort gesagt werden konnte. Marlene rannte ihm hinterher und James stolperte wie immer, um mit seiner Schwester Schritt zu halten.
„Warte!“, rief Marlene, obwohl sie hauptsächlich mit Peters Schatten sprach, der zwischen den Bäumen hindurchschoss und von Zeit zu Zeit auf den schattigen Moosflecken wieder auftauchte.
„Wir verlaufen uns doch nur!“, keuchte James hinter ihr.
„Wir haben uns schon verlaufen!“, rief sie zurück.
Die Jungen jagten ihnen hinterher. Sie jubelten und schrien, als wäre dies eine Art Spiel. Wohin auch immer Peter sie führte, die Jungen kannten den Weg bereits. Sie schwangen sich von Ast zu Ast und glitten mit Leichtigkeit durchs Gestrüpp. Ihre Schüchternheit war vergessen.
Die Landschaft zog so schnell an ihnen vorbei, dass James beinahe die Spritzer aus dem Teich übersah, an dem sie vorbeikamen. Eine Gestalt erregte seine Aufmerksamkeit, er kam ins Schleudern und blieb stehen.
„James!“ Marlene hielt ebenfalls an, als sie merkte, dass er nicht mehr neben ihr war. „Was machst du …?“
„Pst.“ Er hob eine Hand. „Da drin ist jemand.“
Wie auf sein Zeichen tauchte ein Kopf aus der Wasseroberfläche des Teichs auf. Es war eine Frau mit großen glitzernden Augen und goldenem Haar. Sie kicherte sie an und verschwand gleich darauf wieder. Eine rote Flosse spritzte Wasser auf sie.
„Was in aller Welt …?“ James blinzelte und rieb sich die Augen.
„Habt ihr noch nie eine Meerjungfrau gesehen?“, fragte Slightly verwirrt. Er hing kopfüber an einem Ast über ihm.
„Meerjungfrauen gibt es nicht“, erwiderte Marlene, doch ausnahmsweise klang sie unsicher.
„Ich hätte auch nicht gedacht, dass es Menschenmädchen gibt“, konterte Slightly.
James starrte auf den Teich. Das Wasser war ruhig, doch er glaubte, Schatten unter der Oberfläche schwimmen zu sehen.
„Wo ist Peter hin?“, fragte Marlene und sah sich um. Von dem Jungen in Grün fehlte jede Spur.
James wirbelte herum. Jetzt waren sie nur noch von Wald umgeben. Sein Herzschlag beschleunigte sich.
Marlene nahm seine Hand. Es war eine Geste des Trosts, die sie oft als Kinder ausgetauscht hatten – jetzt, wo sie älter waren, jedoch seltener. „Mach dir keine Sorgen“, sagte sie. „Er muss irgendwo sein.“
„Hier oben!“ Peter war wieder über ihnen und sprang von einem Ast zum nächsten.
Die Zwillinge nahmen die Verfolgung auf und jagten seinem Schatten auf dem Boden hinterher. Er führte sie durch den Wald, bis die Bäume ganz verschwanden und sie sich am Rand einer zerklüfteten Klippe wiederfanden. Marlene wäre fast über den Rand gestolpert, so sehr war sie darauf konzentriert, Peter zu verfolgen. Doch James hielt sie fest.
Sie standen hoch über dem Meer. Das Wasser schlug schäumend weiß und blau glitzernd unter ihnen gegen die Felsen.
„Na?“ Peter landete federleicht neben ihnen. „Schaut euch um. Könnt ihr euer Zuhause sehen?“
Nichts außer Meer und Himmel war zu sehen. James betrachtete Peter, als würde er ihnen einen Streich spielen. Vielleicht tat er das ja auch.
„Natürlich können wir unser Zuhause von hier aus nicht sehen“, antwortete er mit mürrischer Stimme. „Da draußen ist nichts.“
„Wirklich? Das ist schade“, erwiderte Peter. „Von hier hat man die beste Aussicht in ganz Nimmerland. Es sei denn, man ist eine Fee. Sie können höher fliegen als alle anderen. Wenn man sein Zuhause von hier aus nicht sehen kann, dann existiert es nicht.“
„Natürlich existiert es“, wehrte James sich, während Marlene fragte: „Feen?“
„Oh ja“, meldete sich Slightly auf James’ anderer Seite. „Sie können gemein sein, wenn sie ihren Willen nicht bekommen. Doch wenn du freundlich bist, besprenkeln sie dich mit Staub, damit du fliegen kannst.“
Wie Peter hatten diese Jungen die Angewohnheit, plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen. James presste eine Hand an seine Schläfe und versuchte nachzudenken. Es war noch Morgen und die Sonne stand im Osten, gegenüber von London. Das bedeutete, dass die Fenster der Stadt glitzern mussten, wenn sie das Licht reflektierten. James blinzelte angestrengt in die entgegengesetzte Richtung, doch auch dort entdeckte er keine Gebäude. Und auch keine Stadt, sondern nur das scharfe Rauschen des Wassers, das gegen die Felsen schlug.
„Es muss doch noch andere Inseln geben“, überlegte er laut. „Einen Hafen. Einen Zug. Irgendetwas.“
„Nicht in Nimmerland“, erklärte Peter. „Das ist die einzige Insel, die es hier gibt.“
Marlene näherte sich der Klippe und knabberte nachdenklich an ihrer Lippe.
Peter beobachtete sie. Das schelmische Glitzern war aus seinen braunen Augen verschwunden und er wurde seltsam ernst. „Du hörst es.“
„Was hören?“, wollte James wissen. Doch Marlene antwortete nicht. Er folgte ihrem Blick, doch was auch immer das Interesse seiner Schwester geweckt hatte, war für ihn nicht erkennbar.
„Es ist dieser Ort“, fuhr Peter fort. „Er heißt euch beide willkommen.“
James lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er mochte diesen Ausdruck in den Augen seiner Schwester nicht und zerrte an ihrem Arm. „Marlene. Marlene.“
Sie zuckte zusammen und schreckte auf, als würde sie aus einem Traum erwachen. „Hm?“
„Wir müssen nach Hause“, sagte James.
„Oh.“ Sie sah ihn an. Etwas an ihrem Gesichtsausdruck hatte sich verändert, doch James konnte nicht benennen, was es war. „Ich denke, wir können noch eine Weile bleiben.“ Sie breitete die Arme aus, als würde sie sich dem Ruf des Meers ergeben. „Das wird uns nicht schaden.“
3
Nimmerland war weitaus größer, als Marlene es sich hatte vorstellen können. Jeder neue Teil davon schien erst bei ihrer Ankunft sichtbar zu werden. Es gab weinende Bäume, die von Blumen und Tau trieften, tiefe dunkle Wasserstellen, in denen Kreaturen lebten, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, und auf den Lichtungen zwischen den Wäldern einen Himmel, der unheimlich blau war.
Als Peter sie über die Insel führte, wurden sie von weiteren Jungen begrüßt, die neugierig hinter Bäumen und aus Höhlen an den Klippen hervorlugten. Einer nach dem anderen stellte sich vor: Cubby, Nibs, die Zwillinge und andere. Alle waren von diesen Außenseitern fasziniert – und besonders von Marlene. Sie waren Mädchen einfach nicht gewohnt, geschweige denn jemanden, der so selbstbewusst und voller Energie war.
„Mal ehrlich …“, sagte Marlene, als die Jungs begannen, sie zu bedrängen. „Hat keiner von euch eine Mutter? Schwestern?“ Doch sie lachte dabei und war weniger genervt als entzückt von ihrer Neugier.
„Wie ist es dort, wo du herkommst?“, wollte Slightly wissen und umkreiste sie gehend.
„Regnet es dort?“, fragte Cubby.
„Wo findet man dort Dinge wie Fingerhüte und Knöpfe?“, setzte Sam hinzu.
„Jungs, lasst sie mal in Ruhe ankommen“, bat Peter. Er schüttelte einen Baum und Äpfel regneten von den Ästen. Die Jungen strömten fröhlich auf sie zu. „Ihr werdet später noch viel Zeit haben, all eure Fragen zu stellen.“
Eine Weile lang hatten sie sich von der Parade der Jungen durch den Wald führen lassen. Sie redeten durcheinander und stritten darüber, wer von ihnen an der Reihe war, zu erklären, welche Blumen wie Süßigkeiten schmeckten und welche Bäume die besten Aussichtspunkte boten, um die anderen auszuspionieren.
Je mehr Marlene von Nimmerland sah, desto mehr verblassten ihre Gedanken an die Rückkehr nach Hause – als hätte ihr Leben nie existiert. Als die Sonne langsam unterging, hatte Marlene fünf der süßesten und saftigsten Birnen gegessen, die ihr je über den Weg gelaufen waren. Sie hatte ein halbes Dutzend Meerjungfrauen getroffen – von denen einige nicht sehr freundlich gewesen waren – und erfahren, dass die leuchtend gelben Kugeln am Himmel Feen und keine Glühwürmchen waren.
Und Peter … er war besonders stolz auf diesen Ort. Obwohl er fliegen konnte, ging er geduldig neben ihr her und ermahnte die Jungen, wenn sie zu aufgedreht wurden.
Marlene konnte sich nicht daran erinnern, von James getrennt worden zu sein. Sie bemerkte nur ganz plötzlich, dass er schon seit einiger Zeit nicht mehr da war. Zeit. Wie viele Stunden waren vergangen?
„Komm“, forderte Peter sie auf und nahm ihre Hand.
Bald saßen sie auf einem riesigen Felsbrocken mit Blick auf einen ruhigen Teich. Marlene war in einer Hafenstadt aufgewachsen, doch so blaues Wasser hatte sie noch nie gesehen.
