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Manchmal beginnt das Leben mit dem Tod. Als Emilias Großvater 1918 stirbt, weiß Chicago wenig mit weiblicher Initiative anzufangen. Doch genau darauf ist Emilia angewiesen, um die Hinweise aus dem Testament zu entschlüsseln. Ihre Suche führt tief in die Vergangenheit. Tief genug, um selbst Teil der Geschichte zu werden. Während es Emilia mit jedem Stück des Puzzles schwerer fällt an Zufall zu glauben, wird Henry Holdsworth auf sie aufmerksam. Der Erzfeind ihres Großvaters will das Vermächtnis seines alten Rivalen für sich - koste es, was es wolle!
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Prolog
Geld gegen Exotik
Transfer mit Chique
Biskuites und Kakadu
Asphalt gegen Eisen
Aussicht mit Risiko
Last im Heiligtum
Pakt am Tisch
Absage nach Plan
Geschichte mit Perspektive
Wild gegen unbeugsam
Fortschritt mit Hast
Langsam und unwegbar
Finder mit Lohn
Zufall trotz Hindernissen
Parcours unter Risiken
Suche ohne Ergebnis
Sprung übers Nass
Um- oder Absturz
Fortschritt durch Furt
Bär an Donnerwetter
Aus- neben Rückblick
Kraftakt ohne Dampf
Brühe in Sicherheit
Austausch nach Rettung
Geheimnis an Funkspruch
Technologie fürs Miteinander
Suche nach Schwäche
Draisine durch Morgenluft
Zug um Zug
Erwachen in Hauptstadt
Wissen ist Macht
Überraschung im Dunkeln
Masterplan in Spe
Pyramide aus Bedürfnis
Exekutiv bei Nacht
Volldampf nach Sumpf
Zusammen für Erfolg
Dreck an Reputation
Vergangenheit für Zukunft
Schlagzeile mit Schlagkraft
Thermik mit Abwind
Hebel um Hebel
Verzweiflung am Abgrund
Offenbarung ohne Eid
Aufruhr am Berg
Fund durch Glas
Stein ohne Weisheit
Archiv unter Grund
Ausgespielt nach Liebestaumel
Hydroponik aus Stein
Aufbruch mit Folgen
Verschwunden am Morgen
Dampf und Vortrieb
Arrangement vor Ankunft
Leben auf Pump
Post in Fahrt
Brief mit Anleitung
Mitgehört unter Druck
Theorie an Kater
Nachrichten bei Eintopf
Salz und Ruß
Intrige gegen Bau
Röhre in Fels
Bucht hinter Bergen
Beratung statt Unterhaltung
Küste zu Küste
Schöpfergeist und Frauenpower
Dusche in Erinnerung
Vertrauen unter Freunden
Zug um Zug
Hotel del Monte
Expedition folgt Show
Butterweich ohne Federblatt
Fortschritt ohne Straße
Feuer und Zitrone
Schlüssel unter Deck
Geld wie Gold
Abschied und Erkenntnis
Irreführung auf Schienen
Mitten im Nirgendwo
Kreuz und Wilderer
Abreise ohne Spuk
Strategie mit Ansage
Besiegelt und beurkundet
Land über Stil
Einführung ins Ungewisse
Eingeschworen mit Agenda
Alles außer Ordnung
Verhört statt angehört
Ausgespuckt und abserviert
Fall nach Höhenflug
Ausweg unter Druck
Dinner an Amoral
Mann und Maus
Gehauen aus Stein
Aus und weg
Licht und Schatten
Gewinn und Niederlage
Ball um Ball
Deutlich und unklar
Direktive unter Druck
Aktion bei Auktion
Werte gegen Niedertracht
Teufel als Vorspeise
Abgeholt und aufgetischt
Raub an Geisteseigentum
Salz aus Wunden
Zahlen unter Beobachtung
Größer mal zwei
Rot im Untergrund
Überraschung vor Abendessen
Stein im Geröllhaufen
Zeit und Wunden
Aufgewogen mit Gold
Vorbild macht Schule
Linie nach Dalí
Anfang im Ende
Weisung zum Ziel
Epilog
Es war ein Zeitalter der Angst und der Befreiung gleichermaßen. Gefühlt lag das dunkelste Kapitel menschlicher Unzivilisiertheit nur Tage zurück. Einige wollten das Leben schon wieder in vollen Zügen genießen. Wieder andere hielten sich weiterhin zurückgezogen. Nur das Nötigste und natürlich die Arbeit lockte sie ins Freie. Hinzu kam ein Aggressor, der unsichtbar sein Unwesen trieb, zuschlug, wenn man es am wenigsten erwartete: die Grippe. Seit Jahrzehnten tauchte sie zyklisch zu Beginn des Winters auf und schwoll mit den länger werdenden Tagen wieder ab. Man wusste, dass Viren diese Krankheit auslösten. Die Alten und die Schwachen suchte sie besonders heim, wies ihnen nicht selten den Weg ins Jenseits. Zunächst waren es immer Symptome, die man einer einfachen Erkältung zumessen mochte. Rapide wurden daraus stärkere körperliche Reaktionen bis hin zu Fieber, Schüttelfrost oder akuter Atemnot.
Seit etwa einem Jahr hielt eine weitere Episode große Teile des Globus in Schach. Diesmal hatte der Sommer die Krankheit nicht vertreiben können. Wie ein Tiger aus dem Hinterhalt hervorspringt, hatte sie begonnen, auch die Jungen und Starken zu reißen, sogar bevorzugt diese. Noch während viele sich über sie lustig machten, war die Grippe in rasender Geschwindigkeit zu einem globalen Killer geworden. Unzählige auf der ganzen Welt waren ihr zum Opfer gefallen. Bis es zur staatlich verordneten Pflicht wurde, hatten sich die Bürger auch in Kalifornien gewehrt, Masken über Mund und Nase zu tragen. Dann waren die meist selbstgenähten weißen und schwarzen Gesichtsbedeckungen zum Normalbild geworden. Auch Schutzleute trugen sie als Teil ihrer Uniform. Erst viel später begannen sich einige Menschen zu sträuben. Sie setzen die Masken ab, wenn auch meist nur temporär. Sie wollten Freiheit, fühlten sich eingeengt, bevormundet. Der Grippe war das nur recht. Sie begann, wieder mehr Menschen dahinzuraffen. Und so bestimmten gegensätzliche Meinungs- und Erscheinungsbilder die Öffentlichkeit.
Neben der Krankheit selbst gab es nur noch eine weitere Gewinnerin: die Angst. Eine Emotion zu der die menschliche Geschichte zu allen Zeiten die richtigen Zutaten bereithielt. Fügte man eine Prise Unglück hinzu, konnten sich auch die schrecklichsten Geschehen jederzeit wiederholen. Auch deshalb, weil Verdrängung einer der beliebtesten menschlichen Mechanismen war. Das Gegenteil zu tun, also die Zutaten des Schicksals zu einem reichen Nährboden im Interesse der Gemeinschaft zu wandeln und auf ein wenig Glück für diese Melange zu hoffen, war das Mutigste, was man tun konnte, um den Teufelskreis zu durchbrechen. Befähigt dazu waren alle Zeitgenossen. Dazu aufgerufen, es zu tun, fühlte sich niemand. Nun, zumindest fast niemand.
»Aufgepasst!« Jäh aus ihren Gedanken gerissen, machte Emilia einen intuitiven Satz. Nur einen Moment später blickte sie in die griesgrämige Miene eines mittelalten Mannes. Scheppernd zog der einen hölzernen Handkarren an ihr vorüber. Dabei platschte eines der großen Räder in ein schlammiges Schlagloch. Den eben noch blütenweißen Saum ihres Kleids zierte nun ein asymmetrisches Muster aus kleinen und großen Spritzern. Emilia blickte kurz an sich herab, aber sofort drifteten ihre Gedanken wieder ab. Hätte man sie wenige Minuten später gefragt, was mit ihrem Saum geschehen war, hätte sie es nicht beantworten können.
Ihre Gedanken drehten sich um Statik. Gedanken, die ihr wohl in die Wiege gelegt worden waren. William von Faber, Emilias Großvater, hatte dazu beigetragen, dass Chicago innerhalb von nur wenigen Jahren kaum wiederzuerkennen war. Eine ganze Reihe von Hochhäusern hatte er geplant und deren Bau begleitet, sodass er heute ein stattliches Unternehmen führte.
William von Faber beschäftigte Hunderte Arbeiter, eine Handvoll weiterer Architekten und noch einmal so viele Statiker. Wenn man Emilias Großvater Glauben schenken mochte, waren diese mindestens genauso wichtig wie die Architekten. Obwohl er selbst Architekt war, bezeichnete er sie meist als Schöngeister. Als Kompliment war das nicht gemeint. William von Faber suchte permanent nach Architekten mit eher praktischen Ansichten. Solche, die Gebäude aus Sicht der späteren Nutzer planten. So hatte er auch seinen Sohn, Emilias Vater, erzogen. Ungünstig nur, dass Jonas von Faber definitiv zu den Schöngeistern gehörte. Seine Entwürfe waren für Emilia noch heute mehr Kunst als Bau. Nicht selten stöberte sie in ihrem fotografischen Gedächtnis durch einige seiner statischen Blaupausen.
So auch gerade. Das geschäftige Treiben auf dem Maxwell Street Market nahm sie gar nicht war. Bis jetzt. Plötzlich kitzelte eine verführerische Mischung aus Orangen und Nelken ihre Nase. Ein unwiderstehlicher Duft. In Emilias Kopf fest verbunden mit Weihnachten und ihrer Familie.
Vollends in der Gegenwart angekommen, reckte sie den Kopf mit den in einem Dutt streng zurückgebundenen braunen Haaren. Der Maxwell Street Market an der Desplaines South Street war eine Institution. Bodenständige Chicagoer kauften hier Lebensmittel genauso wie Werkzeug oder Haushaltsartikel. Exklusive Südfrüchte passten hierher wie Frauen, die Hosen trugen.
Jetzt, da der Erste Weltkrieg schon ein paar Monate vorüber war und eine neue Lässigkeit die Gesellschaft herausforderte, hatte sich auch Emilia getraut, den Rock gegen Hosen einzutauschen. Jedenfalls meistens. Für ihren Großvater war dies allerdings ein solcher Affront, dass er kürzlich »im Falle einer Wiederholung der unsittlichen Bekleidung« mit einer Absage des Weihnachtsfestes 1918 gedroht hatte. Davon ließ sich Emilia zwar nicht einschüchtern, dennoch war heute ein Kleid-Tag, was ihren schlanken Wuchs kaschierte.
Indes hatte Emilia den Fruchtstand ausgemacht. Wie gewöhnlich war die Auslage mit Äpfeln bedeckt. Etwas näher am Verkäufer lag ein gutes Dutzend Birnen. Die waren rar und damit teuer.
Äpfel ließen sich eben deutlich einfacher lagern. Für die meisten Leute waren sie die einzige Vitaminquelle des Winters. Und die waren harsch in Illinois. Oft sank die Temperatur wochenlang auf unter minus zwanzig Grad Celsius. Direkt am Ufer des Lake Michigan bissen dazu kalte und oft stürmische Winde in die Haut und durch die Kleidung. Die Innenstadt war davon nicht ausgenommen.
Emilia schaute sich am Stand um. Hatte ihre Nase sie betrogen? Ihre Augen erblickten jedenfalls nicht eine einzige Orange; und Nelken schon gar nicht.
Hinter dem Angebot inspizierte gerade ein gedrungener Inder mit feinen Gesichtszügen einen Apfel, nahm ihn schließlich in die Hand und polierte ihn an seiner Schürze. Zufrieden mit dem Ergebnis legte er ihn zurück in die Auslage.
»Woher sind die Äpfel?«, fragte Emilia.
Der Verkäufer blickte auf und entgegnete mit Stolz in den Augen: »Aus Kalifornien.«
»Mmmh, ah ja«, entgegnete sie wenig begeistert.
Zwar war es fast 70 Jahre her, dass Kalifornien zum 31. Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika geworden war, in Emilias Augen war die Westküste aber immer noch unterentwickeltes Niemandsland. Auf jeden Fall aber wenig attraktiv, um damit die Werbetrommel zu rühren.
»Haben Sie auch Orangen?«, fragte sie nach einem weiteren kritischen Blick auf die Auslage.
Der Mann richtete sich kerzengerade auf und betonte mit einer Miene, mit der andere einen Gewinn in der Lotterie aufgenommen hätten: »Ich habe eine Tante in Fresno.«
Emilia zog leicht die linke Augenbraue hoch und dachte: »Was soll das bitte mit Orangen zu tun haben?«
Strahlend fuhr der Mann fort. »Sie kauft dort Orangen direkt von den Farmen. Wenn sie geerntet werden, sind sie allerdings noch nicht reif. Das passiert dann ganz von selbst auf der Fahrt nach Chicago. Dafür braucht der Zug nur sechs Tage.«
»Atemberaubend«, dachte Emilia. So konnte man fast dreitausend Kilometer entfernt im Winter reife Südfrüchte genießen. Das musste seinen Preis haben. »Wie viel?«, fragte Emilia knapp.
»Drei Dollar«, lautete die ebenso knappe, aber freundliche Antwort.
Emilias Augen wurden groß: »Drei Dollar! Das ist Wucher!«
»Ich nenne das Angebot und Nachfrage«, entgegnete der Verkäufer ruhig. »Außerdem ist es mit extremen Kosten verbunden, am 21. Dezember Orangen in Chicago anbieten zu können.«
Emilia guckte finster.
»Wenn Ihnen das zu teuer ist«, fuhr der Händler fort, »verkaufe ich Ihnen gerne einen schönen rotbackigen Apfel«.
»Darf ich die Orangen mal sehen?«, fragte Emilia.
»Aber selbstverständlich!«
Behände griff er unter die sichtbare Auslage und produzierte einen Klumpen Zeitungspapier. Sachte faltete er das Papier auseinander, sodass es aus einem kleinen Loch orange heraus leuchtete. »Die müssen gut geschützt sein.« Und als wäre er gefragt worden, warum, antwortete er: »Gegen die Kälte. Die werden sonst schwarz.«
»Ich möchte die ganze Orange sehen. Vielleicht ist sie ja teilweise schon schwarz.«
Vorsichtig wickelte der Händler den leuchteten Fruchtkörper aus. Emilia inspizierte die Orange von allen Seiten, ohne danach zu greifen. Schroff sagte sie: »Ich gebe Ihnen zwei Dollar.«
»Das deckt nicht einmal die Kosten«, entgegnete der Händler, immer noch lächelnd.
Emilia wollte die Orange, koste es, was es wolle. Gleichzeitig wusste sie, dass sie für drei Dollar fast fünf Pfund Butter bekommen konnte. Sicher war der Preis angemessen. Aber Orangen waren definitiv ein unvorstellbarer Luxus. Denn die meisten Leute auf dem Straßenmarkt hatten nicht einmal genug für ihr täglich Brot.
»Okay«, sagte sie schließlich mit sinkenden Schultern. »Ich gebe Ihnen drei, aber ich möchte ein Dutzend Nelken dazu.«
Der Händler schaute überrascht. »Woher, ich meine, wie konnten Sie …?«
Weiter kam er nicht. Emilia tupfte sich zweimal mit dem Zeigefinger auf die große, aber ebenmäßige Nase und sagte schmunzelnd: »Feine Riechzellen!«
Vorsichtig beförderte der Händler ein fein gewebtes Jutesäckchen aus der Innentasche seiner Jacke. »Die habe ich meinen Kindern versprochen. Mein Bruder schickt sie mit dem Dampfboot aus Kalkutta.«
»Wie viele haben Sie da?«, fragte Emilia.
»Vierzehn.«
»Ich sage Ihnen was: Sie geben Ihren Kindern je zwei Nelken und kaufen ihnen hierfür ein feines Schaukelpferd.«
Triumphierend hielt sie eine Fünf–Dollar-Silbermünze empor. Wissend, dass dieses Geschäft Weihnachtsgeschenke für seine Familie tatsächlich in Reichweite brachte, zählte er zehn Nelken aus dem Säckchen ab und verpackte sie zusammen mit der Orange in Zeitungspapier. Zufrieden mit dem Geschäft, tauschten sie Dollars gegen Exotik. Die Nelken fanden einen Platz in der Innentasche ihres schweren Wollmantels.
Emilia versenkte gerade die kostbare Orange in ihrem Korb, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spührte.
»Emilia?«, hörte sie eine Frauenstimme hinter sich fragen.
Sie drehte sich um und erkannte ihre Freundin Geraldine Hastings. »Was machst Du denn hier?«, wollte sie wissen.
»Ich komme einfach gern hierher. Die Preise sind besser als im General Store, und manchmal findet man auch im Winter eine exotische Köstlichkeit. Und Du, hast Du schon was Interessantes entdeckt?«
Als Antwort griff Emilia in ihren Korb und ließ Geraldine durch eine kleine Öffnung im rund gewölbten Zeitungspapier blicken. Diese verstand sofort.
»Oh mein Gott, eine Orange!«, rief sie aus. »Wo hast Du die denn her?«.
Verhalten deutete Emilia mit dem Daumen hinter sich. Dem Händler war Geraldines Begeisterung nicht entgangen. Sie machte zwei ausladende Schritte auf ihn zu und fragte: »Wie viele haben Sie?«
Mit einiger Verblüffung sagte der Händler: »Elf. Warum?«
»Ich nehme alle.«
Und damit wuchtete sie ihren offenbar bereits schweren Korb auf eine freie Stelle in der Auslage.
»Aber …«, sagte der Mann vorsichtig, »… das macht dann dreiunddreißig Dollar.«
Geraldines Miene zeigte keinerlei Überraschung. Ganz im Gegenteil, sie hätte zufriedener kaum schauen können. Dreiunddreißig Dollar, kalkulierte Emilia. Das entsprach in etwa dem halben Monatseinkommen eines Lehrers. Geraldine überreichte dem jetzt sprachlosen Händler den enormen Betrag, drehte sich zu Emilia um und frage: »Tee?«
Die nickte sachte und rang sich ein höfliches Lächeln ab.
»Komm, pack an!«, forderte Geraldine salopp auf und bot der etwas kleineren Emilia die andere Seite des geflochtenen Korbbügels an.
Die griff ohne zu zögern zu. Jetzt zog neben ihrem eigenen Einkauf auch noch das Gewicht von elf Orangen an ihren Schultern. Doch sie hatten es nicht weit. An der Ecke Desplaines und Polk winkte Geraldine eine große Kraftdroschke heran. Zu opulent, um ein öffentliches Vehikel zu sein.
Ratternd kam die Motordroschkeauf dem unebenen Kopfsteinpflaster auf Emilia und Geraldine zu. Wenige Momente später sprang der Fahrer vom Bock und entfaltete eine dreistufige Treppe, die die beiden Damen bequem einsteigen ließ. Dabei bot er ihnen seine Hand zur Unterstützung. Sofort drang das Rattern, Klirren und Rufen des emsigen Markttreibens nur noch gedämpft zu ihnen herein. Die Wände der Droschke waren mit dunkelblauem Samt ausgeschlagen, gehalten von einem elaborierten System aus Kupfernägeln, jeder für sich ein kleines Kunstwerk. Sie nahmen auf einer Sitzbank Platz, die mit ihrem schwarzen Leder in Rautensteppung eher an das Sofa eines aristokratischen Gesellschaftsraums erinnerte, wenn auch deutlich schmaler. Die beiden blickten nicht, wie sonst üblich, in Fahrtrichtung durch ein Fenster an den Beinen des Fahrers vorbei. Stattdessen erkannten sie sich selbst in einem kupfergefassten überdimensionalen Spiegel. Emilia schaute sich selbst in das schmal geschnittene Gesicht mit den aufragenden Wangenknochen.
»Du hast Glück«, sagte Geraldine, die den Blick ihrer Freundin verfolgt hatte. »Du brauchst kein Rouge!«
Rechts und links unter dem Spiegel waren zwei Sessel fest installiert. Deren ebenfalls in schwarzem Leder abgesteppte Kissen ruhten auf einer filigranen Kupferstruktur. Dazwischen war eine weitere Struktur aus dem rosig-warmen Metall im Boden verankert, gekrönt von einer marmornen Tischplatte.
Emilia stand der Mund offen. Zufrieden mit Emilias Überraschung, klappte Geraldine den Tisch aus, griff in ein Fach neben sich und platzierte zwei kleine Gläser und eine Flasche Sherry vor ihnen. Während sie einschenkte, sagte sie: »Es ist schon wirklich kalt draußen. Wir müssen uns aufwärmen.«
»Vielen Dank«, sagte Emilia andächtig und griff nach dem Glas.
Und Geraldine triumphierte: »Cheers, frohe Weihnachten!«
Ratternd fuhr der Wagen die Polk Street in östlicher Richtung entlang und bog dann auf die Canal Street nach Norden ab, nur um gleich darauf via Harris Street den Chicago River zu überqueren.
»Das ist die Zukunft!«, freute sich Geraldine über das moderne Gefährt, in dem sie saßen.
Als die Kraftdroschke in genau diesem Moment rechts von einem Automobil überholt wurde, bezweifelte Emilia dies stark. Henry Fords neues Modell T Touring Car war gerade als effiziente und relativ bezahlbare Alternative in aller Munde. Doch sie sagte nichts und lächelte still in sich hinein.
An den Fenstern zogen Geschäfte, Büros und Apartments vorüber. Der Erste Weltkrieg hatte den Bauboom komplett ausgebremst. Doch seit gut einem Monat war diese wohl scheußlichste Episode der Menschheitsgeschichte vorüber, und das Vertrauen, vielleicht auch der Wunsch, zu einer stabilen Zukunft zurückzufinden, war groß. Entsprechend prosperierte die hiesige Wirtschaft, und überall wuchsen Gerüste an den Gebäuden empor.
Geraldine folge Emilias Blick. »Es geht aufwärts«, versuchte sie, Emilia aufzumuntern. »Wie läuft es denn eigentlich für Deinen Großvater? Es sollte doch gerade Bauaufträge hageln.«
»Nicht, ähm, nicht so gut«, entgegnete Emilia stockend. »Er ist krank.«
Zwar stand sie ihm emotional nicht besonders nahe, doch Blut war eben doch dicker als Wasser. Außerdem bewunderte sie ihn heimlich. Und eigentlich wollte sie genauso sein wie er: kreativ, durchsetzungsstark, passioniert. Doch war es genau er, der ihr diese Attribute nicht gestattete.
Ihr Großvater war so gutmütig wie konservativ. Seiner Meinung nach konnte eine Frau schlicht nichts mit dem Geschäft zu tun haben. Sie musste sich um die Familie kümmern, bis sie – natürlich standesgemäß – eine eigene gründete. Und bei William von Faber kam zu diesem traditionellen Denken noch chronische Knausrigkeit hinzu.
Zugegeben, der Krieg hatte der Firma einiges abverlangt. Dennoch war das Kapital nie knapp geworden. Im Gegenteil. Trotzdem fiel Emilias Unterhaltsgeld bescheiden aus.
»Tut mir leid, dass es ihm nicht gut geht«, sagte Geraldine.
»Danke«, sagte Emilia leise. Dann fragte sie: »Wohin fahren wir eigentlich?«
Geraldine blinzelte ihr zu und entgegnete: »Ins Blackstone.«
»Geraldine!«, empörte sich Emilia, als sie an das noble Hotel dachte, und stieß laut die Luft aus. »Das kann ich mir nicht leisten! Du weißt, dass mich mein Großvater an der kurzen Leine hält.«
»Ich will nichts hören, es ist schließlich Weihnachten! Tee und Biskuits gehen auf mich.«
Ganz offenbar hatte Geraldine keine Geldsorgen. Woher auch. Ihr Mann, Investmentbanker Jonathan Hastings, hatte alles auf eine Karte gesetzt und in Kriegsanleihen investiert. Vier Jahre Krieg hatten seinen Einsatz vervielfacht – insbesondere im letzten Jahr, als reguläre Banken weitgehend wegen zu hohen Risikos von zusätzlichen US-Anleihenkäufen abgesehen hatten.
Emilia nahm einen weiteren Schluck Sherry. Eigentlich machte sie sich nichts aus Geld. Aber es arbeiteten Hunderte von Männern für ihren Großvater. Wenn dieser aufgrund seiner Krankheit die Geschäfte nicht fortführen konnte, bedeutete das nicht nur für die Familie von Faber, sondern auch für alle Mitarbeiter ein finanzielles Desaster.
Die Kraftdroschke bog in südlicher Richtung auf die Michigan Avenue ab. Rechts reihte sich nun ein Hochhaus an das nächste. Für Emilia immer wieder ein aufregender Anblick. Auf der anderen Seite fand ihr Auge Ruhe im genauen Gegenteil. Dort bildeten Formal Gardens, Hutchison Field und Grand Park eine gewaltige innerstädtische Grünfläche. Nun ja, aktuell eher schneebedeckt und daher weiß. Auf einer Fläche im Upper Hutchison Field hatten wohlhabende Unternehmer eine Eisfläche gestiftet. Nicht nur Kinder nutzten diese Winterfreude, allerdings meist ohne Schlittschuhe, die für einen normalen Haushalt zu teuer waren.
Eisen auf Eisen quietschte sich der Wagen nun bis zum Stillstand. »Wir sind da!«, jauchzte Geraldine.
Rumpelnd stieg der Fahrer ab, entfaltete erneut die kleine Treppe und bot ihnen beim Aussteigen galant seinen Arm zur Unterstützung an.
Der eben noch gelangweilt dreinblickende Portier erkannte Geraldine und setzte sofort seinen unterwürfigsten Gesichtsausdruck auf. Das Trinkgeld von Frau Hastings könnte sein Weihnachtsfest entschieden versüßen. Geschwind eilte er, um die Körbe der zwei Frauen entgegenzunehmen. »Guten Tag, verehrte Damen, willkommen im Blackstone! Wohin darf ich Sie geleiten?«
»In den Salon«, antwortete Geraldine. »Wir müssen uns aufwärmen – und zwar bei Biskuits und Tee.«
Bevor sie das imposante Portal durchschritt, glitt Emilias Blick an der Front des ersten Hotels der Stadt empor. Und obwohl sie es eigentlich gar nicht wollte, schaute sie zum Gebäude rechts daneben, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Von dort oben, aus dem dreizehnten Stock, war ihr Vater in den Tod gestürzt.
Der Portier geleitete sie durch die doppelstöckige Empfangshalle. Schwere Lüster und tiefschwarzes Mahagoni dominierten den Raum. Ein knackendes Feuer im offenen Kamin stiftete wohltuende Wärme. Die Lobby war von unterschwelligem Gemurmel erfüllt. Dutzende Hotelgäste genossen den modernen Komfort ausladender Jugendstilmöbel. Durch die von schweren roten Vorhängen eingefassten kathedralenartigen Fenster beobachteten sie das Treiben auf der Straße.
Aber auch Emilia und Geraldine folgten einige Augenpaare, nachdem sie ihre Mäntel abgegeben hatten. Das lag sicher nicht an Emilias schlicht geschnittenem schwarzen Kleid mit Stehkragen, Puffärmeln und weißem – wenn auch matschbespritztem – Spitzensaum oder ihrem von einer Porzellanbrosche zusammengehaltenen weißen Halstuch, womit sie eine Art weibliche Uniform der gehobenen Mittelschicht trug. Vielmehr galten die Blicke Geraldine, die ein stark tailliertes Kleid trug, das ab der Hüfte wie ein Wasserfall in immer neuen Stoffbahnen bis zu ihren Knöcheln kaskadete – ein Kunstwerk aus feinster violetter Seide, das Geraldines Weiblichkeit vorteilhaft betonte.
Mit einer geschmeidigen Bewegung zog sie nun eine Hand aus dem Fuchsmuff. »Puh, ist das warm hier«, sagte sie und öffnete mit einer theatralischen Bewegung ihre passende kupferrote Fuchsstola. Darunter kamen mehrere Perlenketten auf einer schwarzen Rüschenbluse zum Vorschein. Ein leises Raunen ging durch die Empfangshalle, als ein Kellner mit Brokatschulterklappen auf sie zueilte.
»Mrs Hastings, Ihr Tisch ist hergerichtet. Folgen Sie mir, bitte!«
Geraldine machte eine einladende Kopfbewegung in Emilias Richtung. Einen Moment später erreichten die vier – denn der Portier trug noch immer die beiden Körbe – den einladend gedeckten Tisch. Weiße Spitze, Kristallkandelaber, Biskuitetagere.
»Fabelhaft!«, stieß Geraldine entzückt aus und zog aus ihrem Ärmel ein schwarzes Säckchen hervor. Aus einem Bündel Papiernoten löste sie einen Zehner und wandte sich an den Kellner. »Das sollte Ihren Aufwand kompensieren. Betrachten Sie den Rest als Dank für Ihre Dienste.« Der Kellner legte eine Hand auf seine Brust, verbeugte sich tief und eilte davon.
Eine derart offene Zurschaustellung von Wohlstand hätte Emilia vor dem Krieg als geradezu obszön betrachtet. Aber in nur vier Kriegsjahren hatte sich die Welt in einen anderen Ort verwandelt, der nicht wiederzuerkennen war. Trotzdem, warum war es heute normal, weniger Privilegierten den eigenen Reichtum so unter die Nase zu reiben? Dass man sie in Form von Trinkgeld oder Benefizveranstaltungen stärker als je zuvor daran teilhaben ließ, änderte nichts daran, dass ihr diese Art nicht gefiel. Und sie hatte ein vages Gefühl, dass das nur der Anfang einer neuen Selbstdarstellung sein würde.
Geraldine drehte sich zu Emilia um. »Sollen wir?«
»Ja, gern«, antwortete sie höflich. Und mit einem Blick auf den verlockend gedeckten Tisch: »Wie könnten wir diese sinnliche Inszenierung auch nur eine Sekunde länger unangetastet lassen?«
Als sie sich setzten, kam der freudig strahlende Kellner mit einem Silbertablett zurück und stellte eine dampfende Teekanne, Tassen und Untertassen vor ihnen ab. Auf separaten Tellerchen ruhten silberne Teeeier. Schließlich stellte er noch einen kleinen Porzellanvogel auf den Tisch.
»Ist der nicht bezaubernd? Und so exotisch!«, rief Geraldine begeistert. Fragend schaute sie zu Emilia. »Das ist ein Papagei, richtig?«
»Ein Kakadu, um präzise zu sein«, antwortete Emilia. Dann sah sie den Kellner an. »Woher haben Sie den?«
Der Kellner betrachtete das bunte Porzellanwesen ratlos, wurde aber in diesem Augenblick vom Direktor des Etablissements erlöst, der sich an ihm vorbei drängelte. Sein Status war dank schwarzem Nadelstreifenanzug, voluminös gebundener Krawatte und einem plakativen Schild am Revers unverkennbar. »Madam Hastings, ich freue mich sehr, dass Sie uns die Ehre erweisen!«, säuselte er.
Kaum merklich kräuselte Geraldine die Nase. Offenbar war dieses Getue selbst für sie ein wenig zu viel des Guten.
»Ich sehe, Sie mögen unseren gefiederten Freund hier«, katzbuckelte der Direktor weiter und wies auf den Kakadu.
»Guten Tag, Herr Direktor«, sagte Geraldine graziös.
»Meissen, nicht?«, platzte Emilia heraus.
»Wie bitte?« Der Direktor schaute sie fragend an.
»Der Kakadu, er ist Deutscher, aus Meissen.«
Ihr Gastgeber blickte erstaunt auf den Vogel.
»Ich würde tippen«, fuhr Emilia fort, »er wurde in den 1830ern in Sachsen, Deutschland, gefertigt. Diese Farben gab es bis dahin so nicht. Und danach waren sie nie wieder in Mode.«
Verblüfft blieb dem Direktor der Mund offen stehen. Als er sich wieder gefangen hatte, begann er leicht zu nicken. »Ich habe bis 1916 an der Westfront gedient.«
»Aaah, ein Veteran«, sagte Geraldine ehrfürchtig. »Vielen Dank für Ihren Dienst. Ich bin sicher, das amerikanische Volk erkennt Ihren Einsatz hoch an.«
Mit sichtbarem Schmerz hob er den linken Arm. Erst da wurde den beiden Damen klar, dass es sich bei seiner Hand um eine Prothese handelte.
Dann sagte er: »Wie Sie sich vorstellen können, war es nicht ganz leicht, wieder zu einem produktiven Teil der Gesellschaft zu werden.«
»In der Tat, das können wir,« antwortete Geraldine für sie beide.
»Nun, ich war fast zwei Jahre lang in Dury stationiert. Das ist in Nordfrankreich.«
»Oh, wie romantisch!«, stieß Geraldine aus.
Emilia sah sie angesichts dieses unpassenden Kommentars fassungslos an.
»Nein, leider nicht, Madam. Zwar war ich dort in den Stallungen eines kleinen Chateaus untergebracht, aber der Alltag hätte fürchterlicher nicht sein können. Ich habe dort als Teil der Alliierten den Nachschub organisiert. Während eines Krieges ist das eigentlich eine relativ sichere Aufgabe.« Sein Blick verlor sich in der Ferne, kehrte aber sofort an ihren Tisch zurück. »Aber ich will Ihren Nachmittag nicht mit Horrorgeschichten verderben.«
»Nein bitte, nur zu. Immerhin haben Sie diese Schlacht für uns alle geschlagen. Wir sind Ihnen zutiefst zu Dank verpflichtet«, sagte Emilia.
»Nun gut. Ich mache es kurz: Eines Abends schlich sich ein Sonderkommando der Deutschen über die Front. Das Ziel war klar: Wenn der Nachschub eingeschränkt ist, kommt die Verteidigung an der Front langsam zum Erliegen. Die Deutschen haben alle Stallungen in Brand gesetzt, einschließlich der Schlafplätze und des Munitionslagers, das wenig später explodierte. Das Feuer fraß sich durch den ganzen Bau, in dem noch ein einziges Pferd untergebracht war. Es wieherte herzzerreißend. Ein schwerer Balken war heruntergefallen und machte das Öffnen des Tors zu einer schweißtreibenden Angelegenheit. Als ich es endlich öffnen konnte, war die Feuerwalze schon fast über uns. Dann sah ich die Tochter der Familie, die ihren Besitz für unseren Einsatz zur Verfügung stellte. Schon stark vom Rauch geschwächt, konnte sie sich nicht mehr selbst befreien. Als ich schließlich bei ihr war, schleuderte mich ein Teil des Tragwerks auf den Boden. Trotzdem konnte ich mich und das Mädchen befreien. Bis zum Ellenbogen war von meinem linken Arm jedoch nicht mehr als Knochentrümmer und zerfetztes Fleisch geblieben. Die Schmerzen waren kaum auszuhalten, und letztlich amputierten die Militärärzte. Aus Dankbarkeit für die Rettung ihrer Tochter schenkte mir die Familie diesen Kakadu aus der Porzellan-Manufaktur Meissen. Dinge eben, die einen praktischen Nutzen hatten. Über dessen Wert bin ich mir erst viel später klar geworden.«
»Aber woher wissen Sie wo dieser Vogel herstammt?«, frage er, jetzt an Emilia gewandt.
»Darf ich vorstellen: Emilia von Faber«, mischte sich Geraldine ein.
Die Augen des Mannes wurden weit. »Oh, bitte entschuldigen Sie, Mrs von Faber. Ich habe Sie nicht gleich erkannt.«
Eine offensichtliche Lüge, dachte Emilia. Fast nie verkehrte sie in Häusern dieser Art. Das Einzige, was der Mann kannte, war ihr Name. Einer, den sie nicht benutzte, wenn nicht gerade ihr Großvater anwesend war. In der Regel stellte sie sich mit dem deutschen Mädchennamen ihrer Mutter als Emilia Mehl vor. Und weil den Amerikanern die Aussprache nicht ganz leichtfiel, übersetzte sie ihn stets mit Flour: Emilia Flour.
Laut sagte sie: »Bitte Ms von Faber.«
»Aber ja, natürlich«, sagte der Direktor, als würde er sich mit nichts anderem beschäftigen als mit ihrem Familienstammbaum. »Bitte sehen Sie es mir nach. Ich habe keinerlei Vorurteile gegen Sie und Ihre Familie, auch wenn ich im Krieg gegen die Deutschen und deren Hochadel gekämpft habe.«
Mit einer ausladenden Geste sagte er: »Meine Damen, genießen Sie die Annehmlichkeiten des Blackstone, und zögern Sie nicht, uns Ihre Wünsche wissen zu lassen.«
Damit drehte er sich um und verschwand.
»Ich weiß wirklich nicht, warum Du Dich für Deinen Namen schämst!«, sagte Geraldine tadelnd.
»Tue ich gar nicht«, entgegnete Emilia kurz. »Ich identifiziere mich einfach stärker mit der mütterlichen Seite meiner Familie. Und einen alten deutschen Adelstitel – noch dazu geringen Standes – brauche ich sicher nicht, um mein Ego zu beflügeln. Ich möchte, dass die Menschen mich um meinetwillen schätzen.«
Geraldine ließ den Kopf ein wenig sinken. Ob, weil die Botschaft angekommen war oder sie nach einem neuen Argument suchte, war nicht zu ergründen. Leise seufzend blickte sie wieder auf.
»Ich verstehe nur einfach nicht, warum Du Deinen Stand, Deine Herkunft und Dein Charisma nicht gewinnbringender einsetzt.«
»Wofür, Geraldine, wofür? Wenn ich damit Fassaden gestalten, Häuser bauen oder Städte planen dürfte – ja, verdammt, dann würde ich all das in die Waagschale werfen!«
Geraldine zuckte zusammen. Sie war zwar robust, aber öffentlich geäußerte Flüche hafteten einem lange an, wenn sie jemand vernahm. »Bitte, bitte, Emilia, mäßige Dich!«
»Ach, hast Du Angst, wir könnten nicht damenhaft genug erscheinen?«
Missbilligend runzelte Geraldine die Stirn.
»Tut mir leid, Geraldine, ich wollte Dich nicht verletzen. Es ist nur …«, sie ließ die Schultern sinken. »Ich möchte kreativ sein, etwas schaffen. Und egal, wie sehr sich diese Gesellschaft nach dem Krieg ändern mag, wir Frauen sind bloß dafür da, in Stille hübsch zu sein, Familien zu gründen und Mann und Kindern jeden Wunsch von den Lippen abzulesen.«
Geraldine nickte froh, als hätte Emilia ausnahmslos Positives beschrieben. »Wir müssen dringend einen Mann für Dich finden. Der wird Dich schon auf andere Gedanken bringen.« Verschmitzt blinzelte sie über den Tisch.
Aus ihrem Augenwinkel sah Emilia Bewegung. Sie drehte ihren Kopf und sah einen hochgewachsenen Mann in dickem Mantel und Zylinder. Ein bisschen aus der Zeit gefallen, dachte sie. Er steuerte genau in Richtung der dualen Teegesellschaft. Jetzt bemerkte ihn auch Geraldine. Nicht zuletzt, weil ihm zwei weitere Herren an den Fersen hafteten. Sie runzelte die Stirn. Ein klares Zeichen für Emilia, dass auch Geraldine die nahende Abordnung nicht kannte. Der Kellner indes hatte sich auf Abfangkurs begeben und ein freundliches Lächeln aufgesetzt. Mit dem Erfolg, dass er von einem der Männer süffisant weggewinkt wurde. Kurz vor ihrem Tisch machte das merkwürdige Trio halt. Der Herr an der Spitze zog seinen Hut und verbeugte sich nahezu unmerklich. »Fräulein von Faber«, eröffnete er, an Emilia gewandt. »Mein Name ist Elmar Sotto. Bitte kommen Sie mit uns.«
Emilia und Geraldine tauschten Blicke. Schließlich fragte Emilia forsch: »Und warum sollte ich das tun?«
Ihr Gegenüber reagierte kühl: »Es geht um Herrn von Faber.«
Emilia geriet in eine aufgebrachte Stimmung. Sie konnte es so gar nicht leiden, von Männern beordert zu werden. Also sagte sie ebenso frostig. »Dafür kommen Sie zu spät.«
Der Mann legte die Stirn in tiefe Falten.
»Herr von Faber ist tot, seit vielen Jahren. Glauben Sie mir, müsste ich dafür nicht selbst sterben, würde ich nichts lieber tun, als Ihnen zu ihm zu folgen.«
Vom Balkon seiner Lodge aus ging sein Blick über die Bergkuppen. Monumental. Und gut zu erkennen. Seit Tagen schoben sich eiskalte Luftmassen über das Land, knochentrocken. Nur wenig Schnee zuckerte die Gipfel. Doch seine Gedanken fokussierten etwas anderes. Die physische Welt um ihn herum nahm er kaum wahr. Ein Bote hatte ihm am frühen Morgen zusammen mit der Tageszeitung die neuesten Bekanntmachungen der Regierung gebracht. Pünktlich um sieben hatte er vor der schroffen Ahorntüre gestanden. Sein Tag musste früh begonnen haben. Denn man musste etwas mehr als eine Stunde Aufstieg rechnen, um das Anwesen aus der Stadt am Fuß des Berges zu erreichen. Autos gab es nur wenige, denn sie waren teuer und den Wohlhabenden vorbehalten.
Henry Holdsworth strich sich durch den struppigen Bart und sog tief die klare Luft ein. Jetzt sollte also doch passieren, was vor dem Krieg vermieden worden war. Eine Straße durch Kalifornien. Sacramento musste wahnsinnig geworden sein, den Vorschlag im Senat erneut zur Abstimmung zu bringen. Und das schon in sechs Wochen. Der Bundesstaat würde die Mittel nie und nimmer aufbringen können. Er selbst hingegen hatte schon vor über fünf Jahren eine Alternative vorgestellt. Eine Nord-Süd-Trasse sollte den Golden State durchqueren. Allerdings keine Straße. Wenn man wirtschaftliches Wachstum schaffen wollte, brauchte man eine leistungsfähige und vor allem verlässliche Infrastruktur. Eine Eisenbahn.
Schon vor dem Krieg hatte die Bundesregierung dieser Idee kritisch gegenübergestanden. Dann wurden die Vereinigten Staaten von Amerika offiziell Teil der Alliierten im Kampf gegen das Deutsche Reich. Damit waren alle Pläne vom Tisch, inklusive seinem eigenen. Nachdem der Krieg gewonnen worden war, hatte er keine Zeit verloren und seinen Vorschlag erneut eingebracht. Man war ihm mit gerümpften Nasen und hochgezogenen Augenbrauen begegnet. Doch er hatte es verstanden, die Kriegsjahre für sich zu nutzen. Kalifornien hatte wichtige Schlüsselindustrien. Vor allem Rüstungsunternehmen, die in Friedenszeiten dringend auf neue Absatzmärkte angewiesen waren. Sie waren bereit, zu investieren. Und das Kapital war da. Er hatte sie an einen Tisch gebracht, hatte ihnen die strategische Bedeutung einer ökonomischen Lebensader aus Eisen nähergebracht. Hauptsächlich natürlich für Güter. Personentransport war eher sein persönliches Ziel. Dank Henry Ford würden wohl sowieso bald Autos für deutlich mehr Menschen erschwinglich sein. Das änderte aber nichts daran, dass sie langsam, reichweitenarm und ohne nennenswerte Nutzlast waren. Gut genug, um sich in Ballungszentren zu bewegen, aber nicht gut genug für wirklich weite Strecken.
Wenn er vor seinen Mitstreitern, vor Amtsträgern oder Bürgern sprach, klangen seine Pläne selbstlos. Tatsächlich aber ging es ihm in erster Linie um Profit.
Mit Siedlern und Glückssuchenden war seine Familie nach Kalifornien gekommen. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts starben in Irland Tausende an Unterernährung. Seine Familie hatte entschieden, nicht in der Heimat auf den sicheren Tod zu warten. Und so waren sie losgezogen. Zuerst mit dem Schiff nach New York, und von dort direkt weiter durch Nebraska, Wyoming, Idaho und Nevada nach Jamestown, Kalifornien. Das Leben dort, in den Bergen des Yosemite, war hart gewesen. Doch die jahrelangen Entbehrungen hatten sich für seine Vorfahren ausgezahlt. Gold – sie hatten es gefunden! Auch nachdem der Goldrausch vorüber war, fanden sie immer mal wieder mittelgroße Nuggets in ihrem Claim. Und so war das Familienprojekt zügig zu einem mittelständischen Unternehmen geworden. Komplett selbstversorgt, züchteten sie Vieh, pflanzten Getreide, bauten Nutz- und Wohnraum genauso wie Werkzeuge. Außerdem förderten sie Kupfer in einer Reihe von Stollen. Später gehörten sogar einige Wasserkraftturbinen zum Portfolio, um den Strombedarf in der Wildnis zu decken. Seither hatte sich jeder dieser ursprünglich lebensnotwendigen Bereiche weiterentwickelt. Sie waren zu eigenständigen Unternehmen geworden. Die Land- und später auch Stadtbevölkerung nahm das dankend an. Der Staat spielte bei der Versorgung in Kalifornien eine eher zurückhaltende Rolle. Menschen und Wirtschaft waren im Wesentlichen sich selbst überlassen. Sein Vater hatte das daraus entstandene Vermögen verwaltet. Er hingegen hatte ein Imperium daraus gemacht.
Jetzt sollte Mobilität dazu kommen. Hauptsächlich, weil er hektarweise Bauland in und um Bakersfield, zufällig ein geplanter Halt der neuen Eisenbahnlinie, entwickeln wollte.
Urplötzlich klärte sich sein Blick, und er nahm die Berge, den Wald zu seinen Füßen und die martialische Bauart seiner Lodge gestochen scharf war. Er musste handeln, jetzt. Ein Vorschlag der Bundesregierung, eine Straße durch ganz Kalifornien zu bauen, war noch lange kein Beschluss des Senats. Wenn Demokratie einen entschiedenen Vorteil hatte, dann war es die Geschwindigkeit, mit der sie arbeitete.
Gierig leerte er die grobschlächtige Kaffeetasse, die er dampfend in den Händen gehalten hatte, und stellte sie auf das Geländer. Mit ausladenden Schritten verließ er den gewaltigen Balkon und schritt durch den Raum, in dem die massiven Baumstämme des Blockhauses genauso sichtbar waren wie von außen. Eine Burg aus Holz. Der Eindruck verstärkte sich durch schwere moosgrüne Vorhänge und dunkles Ahornmobiliar.
Er setzte sich an den Schreibtisch. Auf der Arbeitsfläche lag die Bekanntmachung der Regierung. Dann griff er nach dem Messinghörer des Telefons. In dieser Abgeschiedenheit ein geradezu unermesslicher Luxus.
»Ja, Operator! Hier spricht Henry Holdsworth. Verbinden Sie mich mit Charles Preston, Sacramento.«
Er horchte und sagte dann schroff: »Ich warte.«
Eine ganze Weile knackte es in der Leitung. Es folgte ein schabendes Geräusch und dann ein schriller Pfeifton. Holdsworth hielt den Hörer einige Zentimeter entfernt von seinem Ohr. Dann hörte er eine Stimme rufen und brachte das Gerät wieder näher.
»Wer spricht da?«, meldete sich knarzend eine Stimme.
»Henry hier. Was zur Hölle läuft da in der Hauptstadt?«, polterte er, ohne mit Sicherheit zu wissen, wer auf der anderen Seite das Gespräch beantwortet hatte.
»Henry, guten Tag«, reagierte sein Gegenüber umso höflicher. »Wir müssen jetzt die Nerven behalten.«
»Die Nerven behalten?«, schrie Holdsworth mit hervortretenden Augen. »Muss ich Dich daran erinnern, welche Summe wir bereits in dem Projekt versenkt haben? Ich bin den Partnern gegenüber Rechenschaft schuldig!«
»Henry, Henry, Henry«, versuchte Preston in aller Milde, auf ihn einzuwirken. »Wir wissen beide, dass Beschluss eine schwammige Vokabel ist. Die Finanzierung einer Straße als Nord-Süd-Achse ist ein vollkommen anderes Thema. Der Senat weiß doch selbst noch nicht, wie er es stemmen soll.«
»Natürlich nicht«, unterbrach ihn Holdsworth. »Die Jungs mussten auch noch nie arbeiten für das Geld, das sie mit vollen Händen ausgeben.«
»Henry, im Ernst!«, wurde auch Prestons Ton rauer. »Ich bin einer von diesen Jungs. Die meisten von uns stellen ihre Energie in den Dienst der Gemeinschaft, ohne persönlich Kapital daraus zu schlagen.«
Der Hieb ging direkt gegen Holdsworths offensichtliche Profitgier. Der stieß lautstark die Luft aus und lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Einen letzten Kommentar dazu konnte er sich aber doch nicht verkneifen: »Ich wusste nicht, dass Du meine Schecks an die Heilsarmee weitergibst.« Er grinste breit.
»Okay, lass uns wieder auf die Herausforderung konzentrieren«, sagte Preston versöhnlich. »Die Regierung hat nur mit knapp über fünfzig Prozent für das Projekt gestimmt. Und, wie gesagt, die Finanzierung steht auf tönernen Füßen. Die ersten fünf Prozent kommen aus dem Haushalt für 1919. Dafür bekommt man aber nicht mehr als ein paar Meter zwischen Monterey und Santa Cruz gebaut. Deshalb ist die Regierung auf Spenden angewiesen. Erst ab fünfzehn Prozent Projektdeckung geht es los mit dem ersten Spatenstich.«
Holdsworth grunzte.
»Genau«, fuhr Preston fort, »Personen und Organisationen mit so tiefen Taschen sind rar, besonders jetzt nach dem Krieg.«
»Mmh, und die meisten von den Geldsäcken sind sowieso auf unserer Seite«, freute sich Holdsworth. »Gut gedacht, Charles, gut gedacht. Ich weiß schon, warum ich Dich bei Deiner Kandidatur unterstütze.«
Senator Preston zuckte mit den Achseln. Gegen Süffisanz musste er als Politiker immun sein.
»Was empfiehlst Du – was ist unser nächster Schritt?«, setzte Holdsworth nach.
»So simpel, wie es klingt, die größten Aussichten auf Erfolg haben wir im Moment, wenn wir keine öffentliche Position beziehen …«
»Was heißt das?«, unterbrach ihn Holdsworth rüde.
»Das heißt, wir warten einfach ab. Ich gehe nicht davon aus, dass die fünfzehn Prozent Deckungsbeitrag zusammenkommen.«
»Und wenn doch?«, wollte Holdsworth wissen.
»Du hast die Antwort schon gegeben: Dann reicht der Betrag bestenfalls für ein paar Meilen ab Monterey nach Norden oder Süden«, erklärte Preston. »Von einer State Route, wie dieses blödsinnige Projekt auch genannt wird, kann da kaum die Rede sein.«
»Einverstanden. Dann tun wir nichts. Ich informiere die Partner, und Du hältst mich auf dem Laufenden.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, warf er den Hörer zurück auf die Messinggabel. Das Glöckchen im Innern des Apparates meldete sich geräuschvoll.
Holdsworth massierte sich die Nasenwurzel. Dann schrie er: »Toby!«
Nicht einmal dreißig Sekunden später trat ein schlanker Mann mittleren Alters durch das Portal am anderen Ende des Salons. In seinen Händen hielt er Stift und Notizbuch.
»Toby, wir müssen den Partnern schreiben«, sagte Holdsworth. »Korrektur, Sie müssen.«
»Selbstverständlich«, entgegnete der Angesprochene steif. »Was muss ich wissen?«
Holdsworth ließ ihn stichpunktartig alle Informationen notieren. Er schloss das Briefing mit den Worten: »Ergänzen Sie das übliche BlaBla vor und nach den wesentlichen Punkten. Danach unterschreibe ich, und Sie bringen alle Umschläge noch vor 13 Uhr runter nach Oakhurst. Mit ein bisschen Glück schafft es die Post, das Schreiben noch diese Woche zuzustellen.«
Als der Butler die Tür schon fast wieder hinter sich geschlossen hatte, rief Holdsworth: »Und informieren Sie Rutter!«
»Milton & Foster« stand auf dem Zifferblatt. Die Uhr mit Bahnhofsausmaßen hing an der Stirnseite des lang gestreckten Konferenzraumes. Von den fünfundzwanzig Stühlen im Raum waren nur zwei mit den Männern besetzt, die genau diese Namen trugen. Der Stuhl vor Kopf und der zu seiner Rechten. Dort saß ein Mann, in dessen Gesicht es nicht eine einzige gerade Linie zu geben schien. Selbst die Falten folgten den deutlichen Rundungen des voluminösen Körpers. »Glaube mir, ich würde ja gern. Aber wir haben dafür weder die Erfahrung noch die richtigen Werkzeuge«, gab Milton schließlich zu bedenken.
»Was hält uns denn davon ab, genau diese Zutaten zu besorgen?«, fragte der Mann vor Kopf mit goldener Milde in der Stimme.
»Der Tisch auf dem Arbeitsmarkt war selten so sparsam gedeckt. Und damit meine ich Ingenieure genauso wie erfahrene Arbeiter.«
»Vielleicht. Trotzdem fehlt uns eine Vision. Schließlich sind wir keine Architekten«, argumentierte Foster, der selbst sitzend eine imposante Größe erreichte.
»Ja, wir sind Bauunternehmer. Wir machen das Unmögliche möglich!«, trompetete Milton im Werbejargon.
»Gilt das auch für eine Statik, die so noch niemand berechnet hat?«
Abrupt richtete sich Foster mit seinen tiefschwarzen langen Haaren zur vollen Größe auf. Der Ledersessel gab ein knarzendes Seufzen von sich. »Du warst schon immer ein Pessimist. So kommen wir sicher nie vom Fleck!«
»Besser pessimistisch als mit einem Fuß im Knast! Wenn dieses Ding schiefgeht, wird man keine Sekunde zögern, uns für immer wegzusperren. Am Ende geht es schließlich um Menschenleben!«
Abwehrend verschränkte Milton die Arme vor der Brust. »Du klingst, als ob wir sie vorsätzlich um die Ecke bringen wollten!«
»Nein, ich bin mir nur unserer Verantwortung bewusst. Du offenbar nicht!«
»Doch, das bin ich absolut! Nur haben wir diese Verantwortung genauso gegenüber unseren Mitarbeitern. Du vergisst, dass es da draußen einen Haufen hungrige Mäuler zu stopfen gibt. Der Krieg ist gerade erst aus. Nicht einmal alle Truppen sind wieder zurück.«
Das war ein Totschlagargument.
»Schau, ich bin auf Deine Expertise angewiesen.« Er wies auf das Zifferblatt über seinem Kopf. »Niemals hätte Foster diese Firma ohne Milton aufbauen können. Und vermutlich hättest Du es ohne mich auch nicht gekonnt. Wir sind erfolgreich«, er räusperte sich vielsagend und fuhr fort, »na ja, waren erfolgreich, weil wir uns ergänzen. Weiß der Teufel, wie oft Du mir schon zu erklären versucht hast, wie Kräfte durch Säulen, Wände, Fundamente in den Boden abgeleitet werden. Ich versteh‘s nicht, egal wie. Und Dich könnte man mit doppelter Buchführung und Kundenbesprechungen in den Wahnsinn treiben.«
Milton nickte wortlos, und Foster redete weiter. »Wir brauchen diesen Auftrag. Es geht nicht nur darum, unser aller wirtschaftliches Überleben sicherzustellen. Es geht auch darum, Werte am Beginn einer neuen Zeit zu säen. Unseren Kindern wollen wir schließlich keine Welt überlassen, in der jeder nur an sich denkt.«
Milton schaute lange zum Fenster hinaus. Foster beobachtete ihn dabei. Beide schwiegen. Es war alles gesagt. Jetzt galt es, eine Entscheidung zu treffen. Milton seufzte.
»Du hast recht.«
Foster blickte ihn stumm an, konnte die Überraschung in seinen Augen aber nicht verbergen. Seit achtzehn Jahren waren sie nun gemeinsam in diesem Geschäft. Und immer hatte sich sein Partner von starrem Konservatismus leiten lassen. Und obwohl er nicht aktiv daran teilgenommen hatte, schien der Krieg auch mit ihm etwas gemacht zu haben.
Schließlich sagte Milton: »Wir haben praktisch keine Vorlaufzeit. Die Entwürfe müssen Ende nächsten Monats vorgelegt werden.«
»Das sind über sechs Wochen.«
»Ja, aber es ist Arbeit für mindestens zwölf«, mahnte Milton und ergänzte: »Außerdem haben wir niemanden, der es machen kann.«
Mit einem Lächeln fragte Foster: »Und wenn Du es ganz einfach mal probierst?«
»Nathan …«, so Fosters Taufname, »… Du stellst Dir das zu leicht vor. Es geht nicht nur darum, eine Brücke über ein Rinnsal im Garten zu bauen. Wir müssen die Geologie des Gesteins bestimmen, die genaue Spannweite berechnen, den Wind und schwere Stürme genauso berücksichtigen wie den Einfluss des Salzwassers auf Zeit. Und darüber hinaus muss die Konstruktion auch noch was hermachen. Vielleicht ist das sogar der wichtigste Aspekt. Und genau dafür haben wir niemanden.«
»Entschuldige, aber nichts davon ist wirklich neu für uns.«
»Stimmt, aber alles auf einmal geht weit über unsere verfügbaren Personalressourcen hinaus.«
Foster hob triumphierend den Zeigefinger. »Subunternehmen!«
»Ja, ja, lass mich kurz meinen Punkt machen, Nathan.«
Der setzte sich wieder knarzend auf den Ledersessel am Ende des Tisches.
»Ich stimme Dir voll zu. Subunternehmen könnten uns helfen. Ich glaube nur nicht, dass uns eines oder zwei Kleine reichen würden. Außerdem müssten wir wohl in Vorleistung für deren Arbeit treten, ohne dass wir sicher sein können, den Auftrag am Ende überhaupt selbst zu bekommen. Wir brauchen einen größeren Marktteilnehmer. Ein Unternehmen, für das delikater Hochbau nichts Neues ist und das als gleichberechtigter Partner mit uns arbeitet.«
»George«, sagte Foster erstaunt. »Du denkst nicht an denselben Mann wie ich, oder?«
Der Liftjunge hatte sie keines Blickes gewürdigt, sondern nur murmelnd gegrüßt. Selbst Geraldine stakste wortlos hinter ihnen in die kleine Kabine, als sei sie ein dressierter Pudel. Elmar Sotto, der stolze Herr, der Emilia aus dem Blackstone hierher eskortiert hatte, war der vierte in dem reich dekorierten Aufzug. Seine Zweier-Entourage hatte er in der Lobby zurückgelassen.
Surrend und ratternd setzte sich der Lift in Bewegung. Noch immer hatte Emilia keine Ahnung, worum es eigentlich ging. Herr Sotto hatte nichts gesagt. Auch nicht, nachdem Emilia mehrfach insistiert hatte. Erst, als sie damit gedroht hatte, sich nicht vom Fleck zu rühren, hatte er ein Schreiben aus der Aktentasche seines Mitarbeiters gezogen und es Emilia überreicht. Fragend hatte sie ihn angeschaut und dann das Kuvert in ihren Händen gewendet. Handgeschöpftes Papier, schwarzes Wachssiegel, der Absender ihres Großvaters. Sofort hatte Emilia nach einem unbenutzten Buttermesser gegriffen und den Umschlag aufgeschlitzt. Mit spitzen Fingern hatte sie eine Karte herausgezogen. Darauf stand in der Handschrift ihres Großvaters:
»Emilia, ich vertraue Elmar Sotto mit meinem Leben. Bitte tu Du es auch.«
Verwundert hatte Emilia aufgeblickt, unmittelbar in die beinahe schwarzen Augen von Mr Sotto. Der hatte ihr zugenickt, offensichtlich wusste er um den Inhalt der Nachricht.
Rappelnd kam der Aufzug in diesem Moment zum Stehen, und Emilia wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen. Sie blickte auf den bronzenen Etagenzeiger, der bis auf die Dreizehn geklettert war – eine Etage, die es in ganz Nordamerika eigentlich gar nicht gab. Normalerweise waren die Menschen hier so abergläubisch, dass auf den zwölften Stock unmittelbar der vierzehnte folgte. William von Faber jedoch machte sich darüber lustig, seit Emilia ein Kind war. Und so hatte er wahrscheinlich nur, um andere zu ärgern, die Vorstandsetage seines Architekturbüros in die Dreizehn gelegt. Auch das war komplett untypisch. Normalerweise wollten die Präsidenten, CEOs oder Eigentümer so hoch wie möglich residieren, und das Gebäude hätte noch X weitere Etagen geboten. Nicht, dass von Faber sich aus Stellung nichts machte. Aber seine Werte folgten auch nach all den Jahrzehnten in Chicago noch immer denen der Alten Welt: Nämlich denen des Deutschen Kaiserreichs, in dem er einst als Kind sozialisiert worden war.
Die drei waren mittlerweile aus dem Aufzug und auf einen langen Gang getreten. Von diesem gingen zwei doppelflügelige Türen ab, die bis unter die Decke reichten, komplett identisch waren und einander gegenüber lagen.
Sotto wandte sich nach links. Emilia und Geraldine folgten ihm. Und während Geraldine die den Gang säumenden Lüster in luftiger Höhe bestaunte, kreisten Emilias Gedanken noch immer um die eigentümliche Botschaft ihres Großvaters.
William von Faber war ein besonderer Mann. Einer, dem immer alles zu gelingen schien. Wenn man ihn genauer kannte, wusste man, dass eiserner Wille das Rezept für seinen Erfolg war. Dabei war er zu sich selbst nie milder als zu anderen. Seine größte Schwäche war, dass er einfach nicht verstehen konnte, dass andere Personen womöglich nicht seine eigenen Fähigkeiten besaßen, etwaiges Unvermögen interpretierte er als Faulheit. Diese Einstellung brachte ihm einen recht ungnädigen Ruf ein im ohnehin schon robusten Baugeschäft.
Emilia schüttelte leicht den Kopf bei den Gedanken an den Charakter ihres Großvaters. Trotzdem, er war wahrscheinlich der beste Architekt im gesamten Mittleren Westen und vielleicht sogar im ganzen Land. Emilia liebte ihn. Nicht für das, was er repräsentierte oder erreicht hatte. Nein, er war für sie da gewesen, als es ihr Vater nicht mehr sein konnte. Nach dessen Tod hatte er zwar keine Vaterrolle eingenommen, war aber immer ihr Unterstützer gewesen – hatte ihr zugehört, hatte sie gefördert und ihr so was Ähnliches wie Zuneigung gezeigt. Um Letztere zu erkennen, hatte Emilia etwas älter werden müssen. William von Faber war kein sehr emotionaler Mensch. Er war ein Stratege. Manchmal hatte Emilia den Eindruck, er bereitete sie auf etwas vor, das nur in seinem Kopf existierte. Und manchmal war er einfach ein wenig wunderlich.
Als die Abordnung das Ende des Ganges erreichte, klopfte Sotto leise an die Tür. Nach einem kurzen Moment wurden die beiden Flügel wie von Geisterhand nach innen geöffnet. Vor ihnen stand eine gedrungene Chinesin. Zum Gruß neigte sie leicht den Kopf, sagte aber nichts. Elmar Sotto bedankte sich mit einem angedeuteten Nicken und bedeutete den Damen, einzutreten.
Der Raum war von mittlerer Größe. Fenster gab es keine. Entsprechend schwach war das Licht, das von den Kerzen eines Kronleuchters im Zentrum des Raums ausging. Mit dem darunter stehenden kreisrunden samtroten Sofa erinnerte das Zimmer an den Gesellschaftsraum eines vornehmen Theaters oder gar eines blaublütigen Vorzimmers.
Geraldine schaute sich staunend um. Emilia waren sowohl die Umgebung als auch das Prozedere vertraut. Sie setzte sich auf das Sofa. Die Chinesin kam hinter einem ebenfalls roten Paravent hervor, hinter dem sie Sekunden zuvor verschwunden war. Nun hielt sie eine Kristallkaraffe mit Wasser und Fruchtstücken und zwei Gläser in den Händen.
Emilia winkte ab. Geraldine freute sich über die unerwartete Erfrischung. Mit ihrem Glas in der Hand lief sie weiter herum und inspizierte neugierig den Raum. Elmar Sotto war ohne weitere Erklärung gleich nach Betreten des Zimmers durch eine der anderen Türen verschwunden. Emilia beobachtete die Chinesin und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen. Irgendwas stimmte hier nicht!
»Bailong«, rief sie. Mit unbewegten Zügen kam die kleine Frau mit Pagenschnitt und schwarzer Dienstmädchenuniform auf sie zu. »Bailong«, wiederholte Emilia. Das bedeutete so viel wie Weißer Drache. Sie hatte das immer faszinierend gefunden. »Verzeih, aber wann wird mein Großvater für uns Zeit haben? Meine Mutter weiß nicht, dass ich hier bin.«
»Das kann ich nicht sagen. Sie wissen doch, wie er ist, Ms von Faber«, antwortete Bailong in makellosem Englisch. »Wenn Sie wünschen, kann ich Ihre Mutter aber darüber informieren, dass Sie hier sind.«
»Ja«, antwortete Emilia, »das wäre reizend. Dann macht sie sich keine Sorgen.«
Fast unmerklich zwinkerte Bailong und verließ den Raum. Geraldine hatte inzwischen eine volle Runde um das zentrierte Sofa gedreht und ließ sich jetzt neben Emilia nieder.
»Wie aufregend!«, kommentierte sie und machte eine Geste, die den gesamten Raum einschloss.
»Mmh, ich weiß nur nicht, ob positiv oder negativ«, entgegnete Emilia.
Da senkte sich quietschend der Griff der Tür, durch die Elmar Sotto verschwunden war. Doch statt Sotto erschien da nun ein Mann mit offenbar deutlich erhöhtem Blutdruck. Sein Gesicht war so stark gerötet, dass Geraldine sofort an einen Hummer denken musste. Sein ungewöhnliches Äußeres wurde von einem Monokel verstärkt, das eines seiner Augen grotesk vergrößerte.
Wahrscheinlich informiert durch das mechanische Geräusch der Tür, erschien Bailong mit Mantel und Schal über dem Arm sowie einer schwarzen Melone in der Hand. Sie knickste vor dem Hummermann und reichte ihm die Garderobe. Der zog sich an, setzte die Melone auf und fasste sich zum Gruß an die Krempe. Dann verschwand er durch die nächste Tür in Richtung Aufzug.
Bailong brach die Stille und sagte an Emilia gewandt: »Ich habe Ihre Mutter über Ihren Aufenthaltsort informiert.«
»Danke, Bailong«, sagte Emilia, immer noch erstaunt über die vorhergegangene Situation.
Nun erschien Mr Sotto auf der Türschwelle und machte eine einladende Geste. Die beiden Besucherinnen erhoben sich und folgten der Einladung. Emilia passierte die Tür, während Elmar Sotto Geraldine bedeutete, nicht weiterzugehen. Die schaute ihn ratlos an. Gab es doch keinen Grund, warum sie Wilhelm von Faber nicht treffen sollte. Schließlich war sie ein vitales Mitglied der höchsten Gesellschaftsschicht Chicagos.
Mit unbewegter Miene erklärte Sotto: »Es handelt sich um eine private Angelegenheit.«
Das schien Geraldine nicht zu beeindrucken, und sie machte Anstalten, weiterzugehen.
»Eine reine Familiensache!«, formulierte Sotto jetzt vollkommen unmissverständlich.
»Natürlich«, gab Geraldine zurück, schaute aber noch immer verständnislos. Ein bisschen, als wollte sie sagen: »Stellt Euch nicht so an – ich gehöre ja fast zur Familie.«
Dann aber setzte sie sich gehorsam zurück auf das rote Sofa, während Sotto die Flügeltüren schloss.
Der Nachbarraum war deutlich finsterer als sonst, fand Emilia. Sie hatte Schwierigkeiten, sich in dem saalartigen Arbeitszimmer zu orientieren. Denn eigentlich war das Allerheiligste ihres Großvaters immer lichtdurchflutet. Selbst dann, wenn eine trübe Wolkenschicht über der Metropole hing. Möglich machten das die zwei Außenwände, die Wilhelm von Faber fast vollständig aus Glas hatte errichten lassen. Eine ausgeklügelte Konstruktion aus stählernen Doppel-T-Trägern und darin eingelassenen Fensterrahmen aus Gusseisen stemmten sich gegen die vertikal auftretenden Kräfte.
»Nicht möglich«, hatte das damalige Bauunternehmen gesagt. »Stahl und Guss können nicht miteinander verbunden werden«. In seiner besonderen Art hatte Emilias Großvater entgegnet – sie hatte bei vielen Bauabschnitten anwesend sein dürfen: »Verbinden? Wer redet denn von verbinden? Das Einzige, was die Rahmen halten müssen, ist sich selbst und die Glasfassade. Und irgendwie müssen sie in Position gehalten werden. Ich würde sogar tunlichst davon abraten, die vertikalen Kräfte der Struktur über die Fensterrahmen abzuleiten.«
Sein Gegenüber hatte hilfesuchend seinen Partner angeschaut, bis auch der mit den Schultern zuckte.
»Meine Herren, liegt die Lösung denn nicht auf der Hand?« Wieder hatten die Männer hilflose Blicke ausgetauscht. Dann sagte einer wie ein schuldig befundener Schulknabe: »Bitte verzeihen Sie, Herr von Faber, wir machen alles möglich. Aber das ist uns zu riskant. So baut man einfach nicht. Und wenn etwas schiefgeht …«
»Schief!«, hatte von Faber ausgerufen. »Für gerade Sachen sind nun wirklich Sie verantwortlich. Wenn es sein muss, kümmere ich mich um den Rest.«
Wieder tauschten die Männer Blicke aus.
»Denken Sie mal an Reifen. Die passen sich auch ganz großartig Formen oder Temperaturen an.«
Voller freudiger Erwartung hatte er die beiden Bauunternehmer angeschaut, als müssten die jeden Augenblick verstehen, was er meinte. Doch nichts hatte sich getan. Entnervt hatte von Faber nur noch ein weiteres Wort gesagt: »Kautschuk!«
Das leichte Klirren von Geschirr holte Emilia in die Gegenwart zurück. Bailong brachte dampfenden Tee – grün, wenn Emilias Nase sie nicht trog. Und nun erkannte sie auch, was den Raum so veränderte. Das Fenster zu ihrer Rechten schien durch eine Wand ersetzt worden zu sein. Und auch unmittelbar vor ihr war das ehemals imposante Fenster hinter dem Schreibtisch ihres Großvaters auf eine vergleichsweise lukenartike Öffnung zusammengeschrumpft. Wegen des Kontrasts von hell und dunkel hatte sie Probleme, Details auszumachen. Sie konzentrierte sich auf den Schatten ihres Großvaters, der hinter seinem Schreibtisch und vor dem einzigen Spalt natürlichen Lichts saß. Es dauerte einige Momente, bis sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.
»Ms von Faber, nehmen Sie doch bitte Platz.« Elmar Sotto wies auf den Besucherstuhl.
Die Beziehung zu ihrem Großvater war losgelöst von jeder Form emotionaler Riten. Insofern dachte Emilia nicht einmal daran, um den Tisch herumzugehen und ihn mit einer Umarmung zu begrüßen. Nüchtern sagte sie: »Hallo William. Ist alles in Ordnung? Mr Sotto hat mir Deine Nachricht überbracht und mich hierher geleitet.«
An ihren Großvater gewandt fuhr sie fort: »Also, warum bin ich hier? Zugegeben, das Ganze macht mich etwas nervös.«
Unruhig rutschte sie auf der Sitzfläche umher und blickte sich erneut um. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an das schummrige Licht gewöhnt. Tatsächlich handelte es sich nicht um neue Wände, die das Sonnenlicht auf Abstand hielten. Vielmehr waren es Vorhänge von der Webart und dem Stil von Gobelins. Zwischen zwei Bücherregalen erspähte sie ein Bett. Bettwäsche und Matratze fehlten. Daneben stand ein Nachttisch, auf dem unzählige Manuskripte wahllos übereinandergestapelt waren.
»Was …?«, begann Emilia und blickte zurück zum Schreibtisch. »Warum …?«, setzte sie erneut an.
Ihr vermeintlicher Großvater beugte sich langsam nach vorn. Dabei kam sein Gesicht in den Lichtkegel der Tischleuchte.
Emilia erschrak, als sie in ein unbekanntes Gesicht blickte, und erstarrte auf Ihrem Stuhl. »Wer sind Sie, und was tun Sie hier?«, fragte sie nervös. Seit sie ein kleines Mädchen war, stellte sie sich ihren Großvater immer in diesem Raum, immer an diesem Tisch, immer mit derselben strengen Miene vor. Doch der Mann, der da jetzt vor ihr saß, war ein völlig Fremder! Dieser hob nun beruhigend die Arme.
Hysterisch sprang Emilia auf: »Wo ist William von Faber? Ich erwarte eine sofortige Erklärung!«, forderte sie mir ihrer glockenhellen Stimme.
»Und genau die will ich Ihnen geben«, sagte der Fremde.
Sotto legte beruhigend die Hand auf Emilias Schulter. Sie erschrak. Eine Geste, die doch reichlich intim war, für jemanden, den sie erst vor weniger als einer Stunde kennengelernt hatte.
Sie blickte Sotto in die Augen, der ihren Blick ruhig erwiderte. Überraschenderweise vermittelte ihr dieser Austausch augenblickliche Ruhe. Sie setzte sich wieder.
Der Mann hinter dem Schreibtisch hatte sich indes erhoben. »Ms von Faber, ich handle – genauso wie Herr Sotto – zu einhundert Prozent im Auftrag Ihres Großvaters. Ich weiß, es ist nicht leicht, sich das von völlig Fremden sagen zu lassen. Aber von uns geht keinerlei Gefahr aus. Im Gegenteil. Unser gesamtes Tun und Handeln ist darauf ausgelegt, Schaden von Ihnen abzuwenden und Sie zu unterstützen.«
Emilia setzte sich in Schneckengeschwindigkeit zurück auf den ledernen Besucherstuhl, entgegnete aber nichts.
»Bitte geben Sie mir Gelegenheit, die Situation zu erklären und unsere Intention zu belegen.«
Kaum hörbar sagte Emilia: »Wo ist mein Großvater?«
Der Mann hinter dem Schreibtisch sog geräuschvoll die Luft ein. Dann ging er um das schwere Möbel herum und blieb vor einem Sideboard stehen. Umständlich hob er ein aufgeschlagenes Buch hoch. Es hatte ein merkwürdiges Format. Die Seiten waren etwa dreimal so breit wie die eines durchschnittlichen Buches, aber nicht höher. Vorsichtig kam der Mann auf sie zu, während Elmar Sotto eine Art Servierwagen vor Emilia abstellte. Darauf legte der Mann jetzt vorsichtig das in rotes Leinen gebundene Buch. Dann zog er den zweiten Besucherstuhl heran und setzte sich. Sotto machte sich daran, die steifen Vorhänge zurückzuziehen. Nach und nach wurde der Raum regelrecht von der Wintersonne geflutet.
Ihre Augen gewöhnten sich an die neuen Lichtverhältnisse und sie erkannte die gemeißelten Züge ihres Gegenübers. Die weiche Stimme schien nicht recht dazu zu passen. Wahrscheinlich war er einer der attraktivsten Männer, die Emilia je gesehen hatte – wären da nicht unzählige Pockennarben in seinem Gesicht.
»Nun«, hob er jetzt an. »Darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Jonathan Franklin. Und, nein, mit der Familie von Benjamin habe ich nichts zu tun.« Er schmunzelte.
»Das hier …«, mit einer elegant fließenden Bewegung wies er auf das Buch zwischen ihnen, »… ist das wichtigste Werk von William von Faber.«
Emilia zuckte zusammen. Ihr interessierter Blick war einem Starren gewichen.
Ruhig fuhr Jonathan Franklin fort. »Hierin hat er bereits verwirklichte wie auch zukünftige Pläne festgehalten. Das Spektrum reicht von Grundrissen, Fassadenansichten und statischen Berechnungen über Finanzzahlen und Investitionen bis hin zu professionellen und privaten Strategien. Teils gehen die Aufzeichnungen Jahrzehnte zurück, wurden aber immer um den jeweiligen aktuellen Status ergänzt.«
»Warum erzählen Sie mir das?«, unterbrach Emilia. »Wo ist mein Großvater?«
Franklin hatte kurz gestockt, fuhr jetzt aber fort, als hätte er die Frage nicht vernommen. »Der letzte Eintrag …«, vorsichtig blätterte er in der wuchtigen Kladde, »… stammt von 10:17 Uhr.« Dann fügte er hinzu: »Gestern.«
Damit drehte er das Buch so, dass William von Fabers Handschrift in ihre Richtung wies. Sie kniff die Augen zusammen. Doch trotz der nun idealen Lichtverhältnisse fiel es ihr schwer, das Schriftbild zu entziffern.
Elmar Sotto trat neben Franklin und reichte ihm einen purpurnen Samtbeutel. Emilia bemühte sich noch immer um die Entzifferung des Eintrags. Herr Franklin hatte indes den Inhalt des Beutels zutage gefördert und reichte ihn jetzt Emilia. Die schaute zunächst verdutzt, griff dann aber zu. Ihr Arm sank ein ganz klein wenig nach unten. So schwer hatte sie den Gegenstand nicht eingeschätzt. Pures Messing fasste ein Glasprisma. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schob sie das reich verzierte Vergrößerungsglas über die Schrift ihres Großvaters und las. »Ich vertraute Jonathan Franklin mit meinem Leben und Elmar Sotto im Tode«, stand da in zittriger Schrift, die kaum mehr an die gestochen scharfe Handschrift ihres Großvaters erinnerte.