Disrupt! - Will Page - E-Book

Disrupt! E-Book

Will Page

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Beschreibung

Vor einigen Jahren schien es, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis die Musikindustrie durch Online-Piraterie ihren endgültigen Niedergang erleben würde. Doch dann kam Spotify, mischte die Karten neu und schuf rentable digitale Erlösmodelle für die totgesagte Branche. Als Chefökonom von Spotify hat Will Page diese Entwicklung maßgeblich mitgeprägt und zeigt nun, dass nahezu alle Branchen von Spotifys Ansatz profitieren können. Wie Tarzan von Liane zu Liane durch den Dschungel schwingt, kommen Unternehmen unter Veränderungsdruck auf diese Weise elegant durch disruptive Zeiten. Aus Fallstudien zu Radiohead, Starbucks und Groucho Marx leitet Will Page acht Strategien ab, die deiner Unternehmung neuen Schwung geben.

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Will Page

DISRUPT!

Wie die Spotify-Strategie deiner Branche nutzt

Aus dem Englischen von Jordan T. A. Wegberg

Campus ▪ Frankfurt/New York

Über das Buch

Vor einigen Jahren schien es, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis die Musikindustrie durch Online-Piraterie ihren endgültigen Niedergang erleben würde. Doch dann kam Spotify, mischte die Karten neu und schuf rentable digitale Erlösmodelle für die totgesagte Branche.Als Chefökonom von Spotify hat Will Page diese Entwicklung maßgeblich mitgeprägt und zeigt nun, dass nahezu alle Branchen von Spotifys Ansatz profitieren können. Wie Tarzan von Liane zu Liane durch den Dschungel schwingt, kommen Unternehmen unter Veränderungsdruck auf diese Weise elegant durch disruptive Zeiten. Aus Fallstudien zu Radiohead, Starbucks und Groucho Marx leitet Will Page acht Strategien ab, die deiner Unternehmung neuen Schwung geben.

FÜR DAVID UND ISABEL PAGEDANKE FÜR EURE UNTERSTÜTZUNG.

MIT DANK AN DIE MITARBEITER UND LEITER DER BRITISH LIBRARY, DER LONDON SCHOOL OF ECONOMICS UND DES SCHWIMMBADS VON KENTISH TOWN, WO DIESES BUCH GESCHRIEBEN WURDE.

INHALT

PROLOG

UNS ALLEN STEHT EIN NAPSTER-MOMENT BEVOR: SIEHST DU DEINEN SCHON?

EINLEITUNG

MEINE AUFGABE IST ES, DICH UM DIE ECKE SEHEN LASSEN ZU KÖNNEN

1. DIE TARZAN-ÖKONOMIE

FEIERN WIE 1999

2. AUFMERKSAMKEIT

3. PUBLIKUMSMAGNETE

4. MAKE OR BUY?

5. EIGENNUTZ VERSUS GEMEINWOHL

6. PIVOTALES DENKEN

7. UNSEREN GEGENWÄRTIGEN ZUSTAND BEURTEILEN

8. BIG DATA UND GROSSE FEHLER

FAZIT: BAUHERREN UND BAUERN

MACH EINFACH, DIE KOMMEN DANN SCHON

SPEZIALISIEREN ODER OPTIMIEREN

QUALITÄT ODER QUANTITÄT

MUT ZUM ALLEINGANG

»KOMMUNISMUS MIT EINEM HAUCH KAPITALISMUS«

WARUM WIR ZWEI WETTBEWERBSBEHÖRDEN BRAUCHEN

DAS WICHTIGSTE WIRD ZULETZT ERFASST

SPEKULATIONEN UND GEGENARGUMENTE

ANHANG

DIE MATHEMATIK DES GROUCHO-MARXISMUS

SKYSCANNER WENDET DIE MARXISMUS-MATHEMATIK AN, UM DEN GESAMTEN HIMMEL ZU SCANNEN

QUELLENVERZEICHNIS

LITERATUR

DOKUMENTATIONEN UND FILME

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

EINLEITUNG

DIE TARZAN-ÖKONOMIE

AUFMERKSAMKEIT

PUBLIKUMSMAGNETE

MAKE OR BUY?

EIGENNUTZ VERSUS GEMEINWOHL

PIVOTALES DENKEN

UNSEREN GEGENWÄRTIGEN ZUSTAND BEURTEILEN

BIG DATA UND GROSSE FEHLER

FAZIT: BAUHERREN UND BAUERN

ÜBER DEN AUTOR

PROLOG

UNS ALLEN STEHT EIN NAPSTER-MOMENT BEVOR: SIEHST DU DEINEN SCHON?

Im Sommer 2012 während der Olympischen Spiele in London fing ich bei Spotify an, und gleich an meinem ersten Arbeitstag sollte ich etwas zum Jahrbuch der weltweiten Musikindustrie beisteuern. Also grübelte ich, womit ich die Fantasie der Leser anregen könnte. Damals war das Narrativ der Branche wie eine kaputte Schallplatte (das Wortspiel ist beabsichtigt): CDs verkauften sich nicht mehr, die Piraterie nahm zu, Downloads konnten die Lücke nicht schließen, und Streaming war nichts als ein »Rundungsfehler« auf dem Konto der globalen Plattenlabel.

Mir wollte einfach nichts einfallen. Dann stellte ein Freund mir den Kollegen Chris Tynan vor, der damals einer unserer einsamen Datenwissenschaftler war. Er hatte an einigen der allerersten Datenauswertungen des Unternehmens mitgewirkt, durch die Spotify-Mitarbeiter die Hörgewohnheiten der Hörer visualisieren konnten. Tynan erteilte uns immer eine Lektion, wenn er Daten aus der Maschine zog; er guckte einem geradewegs ins Gesicht und fragte: »Was machst du damit, wenn ich sie dir gebe?« Er wollte uns beibringen, gesunden Menschenverstand walten zu lassen, ehe wir uns von der Vielfalt überrollen ließen – eine Lektion, die ich auf die nächsten rund dreihundert Seiten übertragen möchte.

Wir brüteten gemeinsam eine wirklich simple Idee aus – und analysierten Daten, um eine Hitliste der auf unserer Streaming-Plattform meistgehörten Alben des Jahres zu erstellen. Die Abhängigkeit der Musikindustrie von Charts ist einzigartig, denn sie machen das Beliebte sichtbar und das Sichtbare noch beliebter; und diese Hitliste sollte den Massen gefallen.

Auf Platz eins unserer Liste stand das Album Making Mirrors des belgisch-australischen Popstars Gotye. Berühmt geworden war er im Jahr zuvor dank des Erfolgs seiner Single »Somebody That I Used to Know«. Ich bin sicher, dieser Song mit seinem dumpfen Klang war so produziert worden, dass er sich auf Apple-Mac-Laptops gut anhörte. Weit abgeschlagen in der Liste auf Platz acht stand Lana Del Reys Album Born to Die.

Da erkannten wir, was wir mit diesen Daten zu machen hatten. Wir alle haben uns seit frühester Jugend Alben angehört. Manche davon verehren wir als Meisterwerke, andere gelten als Eintagsfliegen. Wir wussten, dass es auf jedem Album ein paar Knaller, aber auch ein paar Lückenfüller gab. Da das Streaming die Hörgewohnheiten erfasst – anders als der Plattenverkauf, bei dem nur die Absatzzahlen ausgewertet werden –, konnten wir dieses Wissen nutzen, um eine präzisere Liste zu erstellen.

Meine statistikaffinen Kollegen fanden das anhand eines einfachen Tricks heraus. Wir wendeten das Konzept des Medians an – des Mittelwertes eines Datensatzes –, um die Album-Charts aufgrund des Median-Tracks neu zu sortieren. Wenn es also elf Songs auf jedem Album gibt, ordneten wir die Alben nach der Beliebtheit des sechstbeliebtesten Tracks. So konnten wir ungeachtet der Verkaufszahlen herausfinden, wie viel von dem Album gehört wurde. Das verringerte die Beeinflussung durch Hitsingles und enthüllte, wie dieses »Meisterwerk« tatsächlich konsumiert wurde. Es war unsere Methode herauszufinden, ob das Album ausschließlich aus Knallern oder aus Lückenfüllern bestand.

Wie sich herausstellte, wurde Gotyes Album nicht nur von der Spitzenposition vertrieben, sondern verschwand aus den Top Ten, als wäre es von einer Klippe gestürzt. Dafür schoss Lana Del Reys Platte vom achten Platz auf die Nummer eins. Weil das Streaming die Verbrauchergewohnheiten offenlegte, erkannten wir, dass Gotye eine Eintagsfliege war – jeder kannte und mochte »Somebody That I Used to Know«, aber bis heute bin ich niemandem begegnet, der noch einen zweiten Titel von Gotye kennt. Was Lana Del Rey angeht, hatte sie nicht nur die Hits »Video Games« und »Born to Die«. Ihre Fans betrachteten ihr Album als Meisterwerk – eine ähnliche Aufmerksamkeit wurde auch »Blue Jeans« oder »Off to the Races« und vielen anderen Titeln zuteil.

Ob statistisch oder wirtschaftlich, ich dachte über eine kommerzielle Anwendung der Daten nach. Hätte ein Festivalveranstalter überlegt, beide Künstler für seine Hauptbühne zu engagieren und mich nach meinem Rat gefragt, so hätte ich ihm empfohlen, Gotye nur für vier Minuten und vier Sekunden zu buchen (so lange dauert es, seinen einen Hit zu streamen), während Lana Del Rey eine ganze Stunde haben sollte mit der Option, noch eine weitere Stunde für Zugaben zu nutzen – denn wir wussten, dass ihre Fans alle ihre Songs mochten.

Vom Showbusiness zum Business of Shows: Dieser Wandel vom Verkauf physischer Tonträger und Downloads zur Monetarisierung des Streaming-Verhaltens bewirkte, dass die Künstler sich den neuen Regeln fügen mussten. Da die Songs nur Geld brachten, wenn sie länger als 30 Sekunden gestreamt wurden und unabhängig von ihrer Länge vergütet wurden, fiel uns auf, dass Hits kürzer wurden und der Refrain sich nach vorne verschob. Die Hymnen der Vergangenheit wie etwa »Where the Streets Have No Name« von U2, wo der Gesang erst nach fast zwei Minuten einsetzt, waren in dieser neuen Welt Zeitverschwendung und verloren unsere Aufmerksamkeit.

Die Überlebensregel für Songschreiber war simpel: Langweil uns nicht, und führ uns zum Refrain. Kürzere Songs spiegeln kürzere Aufmerksamkeitsspannen wider. Früher war das Album der Höhepunkt, doch jetzt ist es der Abschluss; es teilt den Fans mit, dass es in den nächsten paar Jahren keine weiteren Veröffentlichungen gibt. Es verlangt keine weitere Aufmerksamkeit. Die Erwartung der Fans, die entstand, wenn eine Band »im Studio« war und ihr neues Meisterwerk vorbereitete, wurde ersetzt durch ein Achselzucken darüber, dass die Band offenbar im Sabbatical war und sich die Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten musste. Die Musikindustrie hat zwei Eigenschaften erlangt, mit denen keiner gerechnet und die keiner für möglich oder sinnvoll gehalten hat – sie ist wertvoller geworden, und sie ist weniger intim geworden. Wie David Bowie es schon im Jahr 2002 voraussagte: »Musik [ist geworden] wie fließendes Wasser«, das heißt, sie ist jederzeit und ohne großen Aufwand verfügbar.

Dieses Dilemma hat mit der Aufmerksamkeitsökonomie zu tun, die, wie du später sehen wirst, die erste »Weggabelung« ist, die wir alle meistern müssen. Fürs Erste ist der Wandel entscheidend: vom schlichten Wissen, wie man etwas verkauft, hin zum Verständnis dessen, wie es konsumiert wird. Schon damals und umso mehr heute scheint das weit verbreitet zu sein. Sogar allgegenwärtig. Es sind so viele Erkenntnisse zu gewinnen. Zu wissen, wie viele Menschen sich im Januar in einem Fitnessstudio anmelden, um sich die Feiertagspfunde abzutrainieren, sagt nichts darüber aus, wie viele Menschen tatsächlich ins Fitnessstudio gehen oder wie sie es nutzen. Zu wissen, wie viele Autos im letzten Quartal verkauft wurden, gibt keinerlei Aufschluss darüber, wie und zu welchem Zweck diese Autos tatsächlich genutzt werden. Zu wissen, dass der Immobilienmarkt sich aufheizt oder abkühlt, bietet keine Hinweise darauf, wer wie in diesen Immobilien wohnt. Zu wissen, wie viele Zeitungen an Zeitungsläden und Kioske geliefert wurden, gibt nur geringen Einblick darin, wie viele verkauft, und noch weniger darin, wie viele gelesen wurden – die Absatzzahlen von Zeitungen wurden immer schon danach bemessen, wie viele an das Auslieferungslager zurückgeschickt wurden, nicht danach, wie viele verkauft wurden.

Wir glauben vielleicht, dass wir über etablierte Märkte eine Menge wissen, aber Tatsache ist, dass wir nur sehr wenig wissen. Peter Drucker brachte es auf den Punkt: »Der Kunde kauft nur selten das, was das Unternehmen zu verkaufen glaubt.« Deshalb brauchst du dieses Buch – es gibt dir eine neue Sichtweise auf das, was du bereits zu wissen glaubst. Hast du erst mal ein klareres Bild, kannst du besser lernen, wie und wann du dich weiterbewegen und durch die Disruptionen schwingen musst, denen wir in diesen surrealen Zeiten alle gegenüberstehen. Solltest du gerade ein gedrucktes Exemplar von Disrupt! in den Händen halten, dann verfügst du über ein »Produkt«, das der Buchindustrie jahrhundertelang gute Dienste geleistet hat. Verlage wissen eine Menge darüber, wie Bücher verkauft werden, aber nur wenig darüber, ob und wie sie konsumiert werden. Die Buchindustrie weiß, wie man Bücher vermarktet, wie man durch Vorschauen und Zitate Qualität signalisiert, aber sie weiß nicht wirklich, wie diese Bücher gelesen werden – es sei denn, es handelt sich um E-Books, die über Kindle oder seine Mitbewerber verkauft wurden.

Und das ist das Entscheidende für Verlage: E-Books sagen dir, was traditionelle Bücher nicht sagen können. Traditionelle Verlage wissen nicht, ob der Leser jedes Wort gelesen oder wo er aufgehört hat. Schlimmer noch: Selbst wenn er es getan hat – nur zu lesen heißt noch lange nicht, dass es Spaß gemacht hat.

Diese Lektion wurde mir eingebläut, als ein erfahrener Verleger mir erzählte, sein erfolgreiches Geschäft arbeite nach der folgenden Faustregel: 80 Prozent der verkauften Bücher werden nicht vom Käufer gelesen. Er stellte sein Budget also alljährlich mit dem Wissen auf, dass acht von zehn ausgelieferten Büchern auf irgendeinem Glastisch oder in einem staubigen Bücherregal landen oder verschenkt werden würden. Ich forderte ihn auf, ein Business mit einer derart hohen Bruchrate zu rechtfertigen, und er antwortete: »Deshalb sagt man: Eine Plattensammlung zeigt, wer du bist, und eine Büchersammlung zeigt, wer du eigentlich sein möchtest.« Weise Worte.

Was wir aus dem Musikbusiness lernen, sagt uns sehr viel mehr darüber, wer wir eigentlich sind, als andere Medienbranchen. Musik ist nicht nur wichtig, weil sie als Erstes betroffen war und sich als Erstes erholt hat, sondern auch weil sie als Erstes entdeckt hat, wer wir wirklich sind. In diesem Buch steht die Musik als Beispiel für den Wandel im Vordergrund. Sie war schließlich ganz vorne – ein Kanarienvogel im digitalen Kohlenbergwerk.

Die Liste der Branchen, die nicht so einen einfachen statistischen Trick fertigbringen wie wir mit unseren Gotye- und Lana-Del-Rey-Charts, ist zwar endlos, aber die Zeiten ändern sich. Fitness-Apps geben uns Auskunft über unsere tatsächliche Leistung, nicht unsere Mitgliedschaft. Smart-Cars sagen, wohin sie gefahren werden, nicht nur wie sie verkauft werden. Geräte wie Alexa und Google Home decken auf, wie wir zu Hause leben, nicht nur wer sie für welchen Preis gekauft hat. Traditionelle Zeitungen werden im Internet heimisch, und neue Plattformen monetarisieren die Lesezeit. Selbst das Aufkommen von E-Books und Hörbüchern lässt die Verleger (oder Einzelhändler) endlich wissen, wie viel in welcher Geschwindigkeit konsumiert wird, statt wie viele Exemplare verkauft wurden.

Aber bei der Musik hinken sie alle hinterher. Die Musik hatte die Nase bei der digitalen Disruption ganz vorn – was ihr gegenüber allen anderen Teilen der Gesellschaft einen zwanzigjährigen Vorsprung verschaffte. Dank der Streaming-Technologie erzielt die Musikbranche nicht nur neue Höchststände in Sachen Umsatz und Reichweite – es sind mehr Smartphones im Umlauf, als jemals Walkman-CD-Player benutzt wurden –, sondern sie weiß auch noch, wie ihre Inhalte konsumiert werden. Streaming sagt uns, wie oft die Songs angehört wurden, die Quelle dieser Streams, die Speichervorgänge und Übersprünge und, was am wichtigsten ist, das Teilen. Musik erholt sich, und mehr als je zuvor wissen wir, warum. Es ist jetzt ein Business, das alles – und ich meine wirklich alles – darüber weiß, wie seine Kunst konsumiert, nicht wie oft sie verkauft wird. Es ist ein Paradigmenwechsel.

Musik ist bedeutsam, weil sie das als Erstes geschafft hat, und deshalb haben wir alle eine Menge von der Musik zu lernen. Dieses Buch hilft dir, den Anschluss zu bekommen.

EINLEITUNG

MEINE AUFGABE IST ES, DICH UM DIE ECKE SEHEN LASSEN ZU KÖNNEN

Die Entscheidung, deine kostbare Aufmerksamkeit auf dieses Buch zu richten, weist darauf hin, dass du für neue Ideen offen bist. Disruption beginnt mit einer Idee, zum Beispiel schneller und effizienter von A nach B zu gelangen als auf die althergebrachte Weise, eine recht geringfügige Disruption im Vergleich zu jenen, die uns wirklich Dinge tun lassen, die wir nie zuvor tun konnten.

Wir sind auf Disruptionen fokussiert, die kaum von Zauberei zu unterscheiden sind, so wie Radiowellen und die Elektrifizierung in den Zwanzigerjahren oder der digitale Vertrieb von Kunst in den Neunzigern. Das waren Gamechanger, die die Regeln neu geschrieben und Produkte zu weltweiten Dienstleistungen gemacht haben, zum Beispiel Fahrzeuge zu maßgeschneiderten globalen Beförderungsoptionen nach Bedarf.

Der Umgang mit Disruptionen braucht das Vertrauen zu wissen, wann alte Ideen losgelassen und neue aufgegriffen werden müssen. Das Schwingen vom Alten zum Neuen meinte auch der Branchentechnologe Jim Griffin 2009 bei seiner Rede auf der Supernova-Konferenz in San Francisco, als er von »Tarzan-Ökonomie« sprach. Er thematisierte die Reaktion der Musikindustrie auf die illegale Filesharing-Site Napster und ihre zahllosen späteren Nachfolger: »Wir klammern uns an diese alte Liane, die uns oberhalb des Dschungelbodens hält. Gleichzeitig schwingen wir uns zu einer neuen Liane hin, weil wir vorankommen wollen. Der Trick ist herauszufinden, wann – wann man die alte Liane loslassen und die neue ergreifen muss.«

Wie ein guter, im Sherryfass gereifter Speyside-Malt-Whisky ist Griffins Bemerkung gut gealtert. Vor zwanzig Jahren erlebte die Musikbranche eine gewaltige Disruption. Ein Jahrzehnt lang schraubte sie an ihrer Reaktion auf diese Disruption herum, doch dann hatte sie herausgefunden, wie sie sich verändern und gedeihen konnte. Heute blicken zahllose Branchen – sowohl online als auch offline – in den Lauf eines ähnlichen Disruptionsgewehrs, und dieses Buch soll dir zeigen, wie du die zehn Jahre des Herumschraubens überspringen und gleich zum Gedeihen übergehen kannst.

Sich zu verändern heißt zu wissen, wann du das Gewohnte loslassen musst, denn wenn du daran festhältst, macht das die Sache nur noch schlimmer. Der Griff nach der neuen Liane bedeutet, dass du erst einmal im Dunkeln tappst und dich mit der Angst vor dem Unbekannten konfrontiert siehst. Dieses Buch flößt dir das zum Loslassen notwendige Vertrauen ein.

Die Covid-19-Krise hat den disruptiven Wandel beschleunigt, der ohnehin schon im Gange war. Die Fußgängerzone war bereits veraltet, und wer vor der Krise noch nicht mit dem Online-Shopping experimentiert hatte, wird inzwischen dazu gezwungen gewesen sein – und viele werden nicht mehr in die Fußgängerzone zurückkehren, wenn der Alltag wieder eingekehrt ist. An einem Punkt der Krise hat die Nutzung von Videokonferenzen den Wert von Zoom höher steigen lassen als den der sieben größten Fluggesellschaften der Welt und sogar den des monumentalen General Electric. Der Samen dieses Wandels wurde schon vor Corona gesät – die Tarzan-Ökonomie schlich sich von überallher in unser Leben.

Denken Sie nur an die drei Berufsbereiche, die Schulabgänger früher anstrebten, um das fetteste Gehalt zu bekommen: Buchhaltung, Bankwesen und Jura, alle inzwischen ersetzt durch Datenwissenschaft, Programmierung und Produktmanagement.1 Buchhalter finden plötzlich Apps auf ihren Smartphones, die ihren Kunden besser, schneller und preiswerter von Nutzen sein können, als ihr Berufsstand es je vermochte. Unternehmen wie Stripe mit seiner Dienstleistung Stripe Atlas wollen die Buchführungs-Lieferkette nicht nur aufmischen, sondern verdrängen – indem sie mühsamen Papierkram, gesetzliche Irrgärten und zahlreiche Gebühren umgehen und es ermöglichen, ein Unternehmen binnen Tagen statt Monaten zu gründen.

Wenn du Rechnungswesen studierst, bedeutet Veränderung durch Disruption zu erkennen, dass dein Beruf sich bis zum Ende deines Studiums drastisch von dem unterscheiden wird, was er zu Beginn war. Es wäre sinnlos, sich wild entschlossen an der alten Liane festzuklammern in der Hoffnung, dass das Problem verschwindet oder nur die unwichtigsten Aufgaben ersetzt. Die Ambitionen der Disruptoren in diesem Bereich gehen weit über die Grundlagen der Buchhaltung hinaus.

Stehst du dagegen am anderen Ende der Karriereleiter und bist für eine Organisation mit Tausenden Beschäftigten verantwortlich, solltest du wissen, dass ein Ignorieren deines Napster-Moments und das Festklammern an der alten Liane, weil sie weiterhin deine Rechnungen bezahlt, es nur umso schwerer macht loszulassen, während die neue Liane zusehends außer Reichweite gelangt.

Auch Banker müssen ihrer Tarzan-Ökonomie jetzt ins Auge sehen, denn neue Marktteilnehmer futtern ihnen ihr Picknick weg wie digitale Ameisen. Trotz all der finanziellen Aufschwünge und Krisen der vergangenen Jahre haben wir hartnäckig ignoriert, wie Banken Geld verdienen und wie Geld überhaupt verdient wird. Studenten lernen nur selten etwas über Mindestreservedarlehen (wieso eine Bank nur einen Dollar besitzen, aber zehn verleihen kann), und nur selten hinterfragen Experten die Behauptung ihrer eigenen Finanzabteilung, dass ihre Wertanlage-Tools Millionen eingebracht hätten, indem sie eine Erklärung dafür verlangen, wer diese Millionen im Gegenzug verloren habe. Früher haben wir Banken dafür gefeiert, dass sie Profite machten, aber die Stimmung hat sich gewandelt – wir wollen wissen, wie diese Profite gemacht wurden.

Unternehmen wie Revolut und TransferWise haben sich explizit gegen die Gebührenstruktur gewendet, die solche vorhersagbaren Profite möglich gemacht hat. Diese unsichtbaren Gebühren auf Kundentransaktionen, zum Beispiel die Überweisung vom Dollar- auf das Sterling-Konto, bei der das Geld drei Prozent seines Wertes verliert, sorgten typischerweise für die Einkünfte, die alle anderen Tätigkeiten einer Bank subventionierten – einschließlich des Casinobesuchs mit ihrer Investmentabteilung.

Jura ist eine weitere Berufsrichtung, die früher auf den Wunschzetteln der Schulabgänger ganz oben stand, jetzt aber unter dem Druck der Disruptionen in die Knie geht. Während eines Großteils der letzten zwanzig Jahre versuchte die Technologie, die Rechtsberufe aufzumischen und zu »napsterisieren«, dennoch bleiben Anwaltskanzleien dem wahren Wandel gegenüber entweder blind oder abwehrend. Dazu brauchst du dir nur die typische Organisationsstruktur einer Rechtsabteilung anzusehen und zu zählen, wie viele Assistenten von Assistenten du ausmachen kannst. Es wird dich kaum überraschen, dass ein Drittel der gut verdienenden Beschäftigten einer Rechtsabteilung gar keine Anwälte sind, was bedeutet, wo Rauch ist, ist auch Feuer (oder organisatorisches Fett, das die Technologie wegschneiden kann).

Es gibt Anzeichen für eine beginnende Veränderung. Der erste austretende Blutstropfen ist die rasche Akzeptanz von Produkten wie DocuSign und Fastcase. Auf einer grundlegenden Ebene ist das »Produkt« der Rechtsberufe das Vertrauen. DocuSign digitalisiert das Vertrauen. Fastcase macht ebenfalls Fortschritte, genau wie sein Rechtsdatenservice, der Beweise aufgrund von Ergebnisanalysen liest und schreibt. Sie werden viel mehr erreichen, als Anwälte von ihrer geheiligten Aktenobsession zu befreien.

Die Tarzan-Ökonomie nimmt ihren Lauf, während Anwälte sich vergeblich an der alten Liane festklammern. Doch die Disruptoren, die dieses Berufsbild »napsterisieren«, sind in ihrer Gestaltung viral; wenn ich DocuSign verwende, müssen auch all meine Kunden es nutzen (oder gegenzeichnen). Dieser »Netzwerkeffekt« bedeutet, dass die Akzeptanz mit der Disruption Schritt hält. Personen, Organisationen und Institutionen, die sich dieser neuen Technologie verweigern, tun sich schwer mit der Skalierung ihrer Ideen. Bei einem typischen Start-up mit vier Beschäftigten, das auf vierhundert und dann viertausend anwächst, ist es keine Überraschung, wenn die Rechtsabteilung übergroß wird und ein Zehntel der Belegschaft ausmacht. Wer dagegen in der Lage ist, nach der neuen Liane der Rechtstechnologie zu greifen, sollte das Verhältnis – und die damit einhergehenden Kosten – um die Hälfte verringern können.

Die Angst vor dem Unbekannten hat immer schon zu Widerstand geführt, nach der neuen Liane zu greifen, und wird das weiterhin tun, doch diese Angst ist fehl am Platze. Die Technologie ist eine Disruption für das Rechtsgeschäft, nicht für die Anwälte selbst. Anwälte werden immer gebraucht: Menschen sind fehlbar, unvollkommen und bauen Mist.

Recht, Bankwesen und Buchhaltung sind nur drei Berufsbereiche, die dieses Buch brauchen; ich könnte mühelos noch hundert weitere aufzählen. Es könnten die Partner sein, die solche Organisationen leiten, oder die Studenten, die gern von ihnen eingestellt werden möchten. Wer lernen will, sich durch den Disruptionsdschungel zu schwingen, muss zuverlässig wissen, wann es an der Zeit ist voranzukommen: wann das Festhalten an der alten Liane unhaltbar und das Greifen nach der neuen Liane unerlässlich ist.

MUSIK ZÄHLT, WEIL SIE ALS ERSTES DORT WAR

Deshalb hilft dir die Geschichte, wie die Musikbranche das Alte losließ und nach dem Neuen griff, dieses Buch zu nutzen, um dich selbst durch den Disruptionsdschungel zu manövrieren. Die Musik war als Erstes dort. Die Musik hat als Erstes unter den Wirkungen einer einschneidenden technologischen Disruption gelitten und sich als Erstes davon erholt. Daraus können wir alle lernen.

Gehen wir mal zwanzig Jahre zurück, um zu betrachten, wie enorm das Ausmaß der Disruption war, das die Branche erlebte. Im Juni 2000 erschien in The Economist ein Artikel mit der Überschrift »Napster’s wake-up call« (Napsters Weckruf) und der Unterzeile »Es ist an der Zeit, dass die Plattenlabel das Internet aus ganzem Herzen akzeptieren«. Der Erfolg illegaler Musikpiraterie-Seiten wie Napster war »eine Antwort auf und eine Anklage gegen« das zögerliche Vorgehen der Branche im Hinblick auf die Wendung zu einer digitalen Zukunft. In den folgenden zehn Jahren steckte die Musikindustrie Millionen in die Bekämpfung des Wandels und verzeichnete zugleich Umsatzverluste in Milliardenhöhe. Wie wir in späteren Kapiteln erfahren werden, galt in diesem ersten Jahrzehnt der Umwälzung für die Branche die traurige Wahrheit, dass es für ihre Kunden leichter war, Musik zu rippen, als sie zu erwerben.

Zehn Jahre lang starrte die Branche in einen finanziellen Abgrund, ehe sie endlich das Zögern einstellte und sich zu verändern begann – also sich von dem Eigentum an CDs und Downloads verabschiedete und stattdessen das Abonnement- und Streaming-Modell akzeptierte. Spotify ging mit einer einzigen klaren Mission an den Start: Schaff etwas, das besser ist als Klauen, und die Leute werden es annehmen. Inzwischen berichtete die International Federation of the Phonographic Industry in ihrem Global Music Report von 2020, dass über 340 Millionen Menschen eine Monatsgebühr entrichten, um legal auf Musik zugreifen zu können, genau wie der Artikel im The Economist es zur Jahrtausendwende angeregt hatte.

Ich hatte das Glück, in die Musikbranche einzusteigen, als ihre revolutionäre Wandlung soeben begann. In meiner Heimatstadt Edinburgh führte ich ein Leben nach Batman-Art. Tagsüber war ich Wirtschaftswissenschaftler in Regierungsdiensten (mit dem vorschriftsmäßigen schwarzen Anzug, blauem Hemd und roter Krawatte), nachts DJ-Journalist, der für das Meinungsmacher-Magazin Straight No Chaser über Hip-Hop in Philadelphia und Funk in Brasilien schrieb.

Der Ursprung meines Wegs zur Musik lag in einem jugendlichen Schlenker vom passiven Hörer zum aktiven Förderer und verdankt sich dem Text des Songs »In Dayz 2 Come« der New Yorker Hip-Hop-Band Jungle Brothers, veröffentlicht auf ihrem Album Done by the Forces of Nature von 1989. In den Lyrics geht es darum, wie wichtig es für sie ist, mit ihrer Musik und ihre Botschaft ein möglichst großes Publikum zu erreichen, ohne dadurch ihre Integrität zu gefährden oder sich in den Mainstream einreihen zu müssen. Der Rapper Mike Gee (Michael Small), der den Text vor über dreißig Jahren schrieb, dachte über seine tiefere Bedeutung nach:

»Ich wollte mich auf die bescheidenste Weise präsentieren und die Wahrheit meines Herzens zum Ausdruck bringen, damit die Leute es verstehen, fühlen, nachvollziehen konnten. Damals sprach jeder über die Musikindustrie als System; der Rap hatte sich entwickelt, es ging nicht mehr allein um die Show, sondern stärker um das Business, er wurde von der Kunstform zu einem Spiel. Klar, wenn wir im Spiel bleiben wollten, mussten unsere Platten sich verkaufen, aber ich will nicht meine Seele verkaufen, nur um Platten zu verkaufen.«

Diese Worte brachten mich und meine musikalische Reise weg von der Haupt- und in eine Seitenstraße, weg vom Zentrum und nach links von der Mitte. Die Rolle eines DJ bestand darin, Musik zu vermitteln, ohne ihre künstlerische Integrität zu übergehen und zu schwächen. Die Tanzfläche in Bewegung zu bringen, ohne auf inhaltsleere Mainstream-Musik zurückgreifen zu müssen. Die Rolle eines »Rockonomist« war ähnlich – die zu lernenden Lektionen vermitteln, ohne ihre Botschaft zu verwässern oder die Anhängerschaft zu verlieren.

Auf meiner Suche nach einer brauchbaren Stellenbeschreibung im Jahr 2006 war ich ein Möchtegern-Rockonomist, bereit, alles zu tun, um einen Fuß in die Tür zu bekommen und das geliebte Business zu verändern. Zu jener Zeit gab es keinen Bedarf für Ökonomie in der Musikbranche. Es wurde nicht mal viel darüber geschrieben. Ich hatte nichts weiter in der Hand als eine wunderbare »Bibel« von Don Passmann (All You Need to Know About the Music Business), die mir half, mich im Wirrwarr der branchenüblichen Abkürzungen und auf den verschlungenen Pfaden der hin und her fließenden Tantiemen zurechtzufinden.

Ich schickte Bewerbungen an zahllose Organisationen, und wenn ich Glück hatte, bekam ich eine schriftliche Absage. Meine Hand schmerzte vom Klopfen an all diese Türen, und mein Kopf schmerzte, weil sich keine davon öffnete.

Am 16. März 2006 verließ ich das Büro nach einem grenzenlos öden Arbeitstag, an dem ich die Details der lokalen Einkommensteuer erörtert hatte, und beschloss, mit der Buslinie 35 nach Hause zu fahren. Dort fand ich ein weggeworfenes Exemplar der Financial Times. Normalerweise hebe ich weggeworfene Zeitungen in Edinburgher Bussen nicht auf, aber im Falle der FT überwog der Nutzen die Nachteile. Schon blieb ich an einer Stellungnahme auf der vorletzten Seite hängen, betitelt »Digital Ants Wreck the Music Industry’s Picnic« und geschrieben von Adam Singer, dem damaligen CEO der Performing Right Society.

Bingo! Ich war zufällig über jemanden gestolpert, der sich mit denselben Problemen beschäftigte wie ich. Mein Vater hat mich dazu erzogen, andere Menschen ohne Scheu anzusprechen (denn das Schlimmste, was sie antworten können, ist sinngemäß so etwas wie »Hau ab«), also schrieb ich Singer einen Brief und nahm Bezug auf den Inhalt seines Artikels. Binnen weniger Tage rief er mich an: »Schicken Sie mir ein Memo mit maximal tausend Wörtern darüber, was Sie für das Problem halten, und ich lasse Sie von Edinburgh nach London kommen, damit wir uns persönlich treffen und Sie mir Ihre Lösung erklären können.«

Ich hatte das Gefühl, endlich an eine Tür zu klopfen, die bereits offen stand. Den Abend verbrachte ich auf einem Barhocker im Sandy Bell’s, einer für Folkmusik bekannten Edinburgher Bar, in der der Komödiant Billy Connolly seinerzeit als einer der beiden Humblebums aufgetreten war, fest entschlossen, Singer meine Antwort am nächsten Tag zukommen zu lassen. Mein Memo trug den Titel »Warum das Papier nicht zusammen mit der Schreibmaschine ausgestorben ist«. So wie heute mehr Papier verbraucht wird als je zuvor, obwohl wir keine Schreibmaschinen mehr nutzen, war mein Gedankenansatz, wäre es auch in der Musik nicht anders, wenn die CD rasch überflüssig würde. Ich musste Adam Singer erklären, dass das Medium (Schreibmaschine) von der Botschaft (Text auf Papier) zu trennen war, wenn ich eine Chance auf ein persönliches Treffen haben wollte. Ich wollte den vielen Schwarzsehern, die ein Ende des Musikbusiness voraussagten, eine Lösung entgegenhalten, die einen Wandel der Vertriebswege von Musik bedeutete. Wir mussten aus der Piraterie lernen, statt sie zu bekämpfen.

Binnen vierzehn Tagen nachdem ich im Bus diese Zeitung gelesen hatte, saß ich in einem Zug zum Londoner Bahnhof King’s Cross, um Adam Singer in seinem Chefbüro bei der Performing Right Society aufzusuchen. Am Tag vor meinem Aufbruch hatte ich erneut Glück, denn ich stolperte über ein Arbeitspapier des verstorbenen Alan Krueger, verfasst mit Marie Connolly, das den Titel »Rockonomics« trug und die Ökonomie der Schwarzmarkthändler von Eintrittskarten behandelte. Das war ein Segensfall, und bis der Zug in London einfuhr, hatte ich mit meinen Notizen zwei Textmarker leer geschrieben.

Singer saß mitten zwischen seinem Führungsteam in einem Büro, das aussah und sich anfühlte wie ein Treibhaus, und löcherte mich stundenlang mit der Frage, wie die digitalen Ameisen davon abhalten könne, seiner Musikindustrie das Picknick wegzufuttern. In unserem Gespräch konnte ich meine beiden Leidenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Musik, miteinander verbinden. Ich grub nach Erinnerungen an meine fünf Studienjahre, um die in der Vergangenheit gelernten Lektionen auf ein Business anzuwenden, das ich jetzt in Ordnung bringen wollte.

Das reichte von Auktionen zur Preisgestaltung von Musikkatalogen – etwas, das die Branche während ihres hundertjährigen Bestehens noch nie ausprobiert hatte – bis zu der Frage, wie man die »Bündelung« zurückerobern konnte. Denn die Ameisen schnappten sich nur die Kirschen von der Torte in Form einiger Hits aus dem iTunes-Picknick für jeweils 79 Pence, statt ganze Alben für 10 Pfund zu verschlingen.

Während wir das leidige Thema Piraterie erörterten, wies ich darauf hin, dass viele der bis jetzt ergriffenen Maßnahmen, zum Beispiel die Kunden gerichtlich zu belangen oder ihnen den Internetzugang zu sperren, kontraproduktiv seien: gegen die Kunden vorzugehen würde die digitalen Umsätze nicht steigern. Warum nicht? Weil sie nicht ins Internet konnten, natürlich. Singer steigerte den Veränderungsgedanken noch durch eine scharfsinnige Beobachtung: »Wenn es keine Piraterie gibt, heißt das, niemand will Ihr Produkt haben.«

Wir versicherten einander unser Befremden darüber, dass die Branche in Anti-Piraterie-Werbespots investierte, die in Kinos gezeigt wurden, denn das grenzte an Dummheit. Diejenigen mit negativen Botschaften anzusprechen, die bereit waren, für eine Kinokarte zu bezahlen, war ein Eigentor, weil es sie (a) vom Wiederkommen abhielt und sie (b) sowieso nicht diejenigen waren, die Filme klauten. Er stimmte dieser unangenehmen Wahrheit zu, wusste aber auch, dass es nicht leicht sein würde, sein Umfeld davon zu überzeugen.

Ich nahm den Fünf-Uhr-Zug zurück nach Edinburgh und konnte an nichts anderes denken als an Probleme, die gelöst werden mussten. Am nächsten Tag rief Singer mich zurück und bot mir an, der allererste Chefökonom der Performing Right Society zu werden. Nachdem ich an so viele Türen geklopft hatte, war eine endlich weiter aufgeschwungen, als ich mir je vorgestellt hatte. Die Leute von der Veränderung zu überzeugen würde allerdings heißen, ihnen (a) eine Menge unangenehme Wahrheiten zu vermitteln und (b) dabei zu vermeiden, gefeuert zu werden.

Ich hatte Glück! Ich behielt meinen Job und konnte eine neue Denkweise etablieren, die die Copyright-Branche durch alle Turbulenzen und hin zur Erholung steuerte. Nun möchte ich mich an alle wenden, in deren Leben digitale Disruptionen stattfinden, und ihnen zu neuen Lösungen verhelfen oder neue Denkanstöße geben.

DIE WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT GAB ES SCHON LANGE VOR DEN WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTLERN

Vielleicht gehst du davon aus, dass du eine wirtschaftliche Vorbildung benötigst, um dich in diesem Buch zurechtzufinden. Aber das ist keineswegs der Fall: Ökonomische Vorkenntnisse sind für die Lektüre dieses Buches nicht nötig. Auch wenn ich das von Berufs wegen wirklich nur sehr ungern sage, aber die perfekt rationale Wirtschaftswissenschaft existiert völlig unabhängig von Wirtschaftswissenschaftlern. Du weißt mehr über Wirtschaft, als dir bewusst ist.

Meine Einführung in die Ökonomie erfolgte noch vor dem Teenageralter auf dem Football-Platz – nicht Fußball, wo man mit Rucksäcken die Torpfosten markiert, sondern American Football. Der Grund dafür war, dass das britische Fernsehen sich zu dem kühnen Schritt entschieden hatte, sonntagabends die Highlights des American Football der zurückliegenden Woche auszustrahlen, und zwar früh genug, dass meine Eltern mir erlaubten zuzusehen. Ich war gebannt.

Plötzlich hatte ich einen völlig neuen Sport entdeckt. Ganz unbewusst fing ich an, mich mit Statistiken auseinanderzusetzen. Das lag an dem Stop-Start-Charakter des Spiels, der leicht zählbare Momente hervorbrachte, wie man sie beim Fußball oder beim Rugby nicht erlebt. Dadurch wurde ich zum Wirtschaftswissenschaftler. Wenn ich auf diese frühen Jahre zurückblicke, so kannte ich zwar nicht die Wahrscheinlichkeitstheorie, aber ich berechnete emsig die Optionen, einen Quarterback am dritten Down und acht anzutreffen. Ich hatte keine Ahnung, was ein Key Performance Indicator (KPI) war, aber ich fragte mich, warum die Coaches einen Gewinn von sechs Yard durch einen Runningback höher bewerteten als denselben Gewinn durch einen Wide Receiver.

Es wäre mir nicht gelungen, das Wort »Asymmetrien« korrekt zu schreiben, aber das Wissen, dass ein durchschnittlicher Quarterback mit einer zusätzlichen Sekunde Zeit mehr wert war als ein Superstar-Quarterback ohne, lehrte mich, warum der Offensive Tackle (dessen Aufgabe es war, dem Quarterback mehr Zeit zu verschaffen) der am zweitbesten bezahlte Spieler auf dem Feld war.

Ich machte es mir zur Aufgabe herauszufinden, welches American-Football-Team die besten Fans hatte, und mein ungeschulter wirtschaftswissenschaftlicher Verstand durchstöberte Tabellen mit Stadionkapazitäten, Bevölkerungszahlen, Teams pro Stadt und sogar Stadien pro Team.

Die LA Raiders hatten vielleicht eins der größten Stadien, aber es war die größte Stadt Amerikas, die außerdem ein zweites Team ihr Eigen nannte, und das musste ich mit einkalkulieren. Mein Forschungsdrang führte dazu, dass in einer führenden Sportzeitschrift ein Brief von mir abgedruckt wurde, in dem ich forderte, dass sie alle notwendigen Zahlenangaben lieferten (Bevölkerungszahl der Stadt, Teams pro Stadt, Stadionkapazität), um mir meine Frage zu beantworten.

So wie man heute die Größe zweier verschiedener Wirtschaftsräume vergleicht, indem man durch die Zahl der Bewohner teilt, um einen »Pro-Kopf«-Vergleich zu erzielen, nahm ich Datenauswertungen vor, lange bevor ich wusste, was das überhaupt ist.

Dieses Buch erfordert bloß, dass du deinen gesunden Menschenverstand einsetzt. Gesunder Menschenverstand stand im Mittelpunkt dessen, wie mir die Wirtschaftswissenschaften vermittelt wurden. Mein Vater, Mathematiklehrer von Beruf, brachte mir seit meinem elften Lebensjahr bei, wie man Ökonomie unterrichtet – lange bevor ich die Möglichkeit hatte, sie zu studieren. »Guck dir deine Zuhörer an«, sagte er oft, »und such dir die am wenigsten interessierte Person aus. Konzentrier dich darauf, dieser Person Ökonomie beizubringen; alles andere ergibt sich von selbst.« Seine grundlegende Überzeugung: Diejenigen Menschen, die am dringendsten Wirtschaftswissenschaften erlernen müssen, sind jene, die

nicht glauben, dass sie es verstehen können;

es nicht verstehen wollen, aber

es verstehen müssen.

Dies ist kein Wirtschaftswissenschaftsbuch für Wirtschaftswissenschaftler, und es ist ebenso wenig ein Musikbusinessbuch für Branchenprofis. Denen wird es aber sicherlich auch gefallen. Dies ist ein Buch für jeden, der den Eindruck hat, dass sein Business vor Herausforderungen steht, und der eine neue Methode entdecken will, um Lösungen zu finden. Aufgrund von Covid-19 bedeutet jeder, leider tatsächlich jeder – wir stecken alle in derselben Zwangslage.

DURCHLESEN STATT QUERLESEN

Als ich noch mit Schlips und Kragen für die Regierung arbeitete, hatten wir diese Bibel, die wir das Grüne Buch nannten und die uns beibrachte zu denken – im wörtlichen Sinne! Sie erteilte uns klare, gebieterische Anweisungen, wie eine Kosten-Nutzen-Analyse zu erstellen ist, und gab sogar bestimmte Werte vor, um die Berechnung zu vervollständigen. Wenn es um große Investitionsentscheidungen ging, sagte sie dir, ob du weitermachen oder Abstand halten solltest. Das Grüne Buch war nicht nur ein Schema, es war ein Gedankenraster. Es war mehr als strukturiertes Denken; es war eine Zwangsjacke. Aber es lehrte mich eine wertvolle Lektion.

Beispielsweise überschlugen wir die Kosten und Nutzen der Investition in ein neues öffentliches Schwimmbad. Das Schema dirigierte uns durch die Berechnung der Vorab- und der Betriebskosten und legte das Augenmerk dann auf die Vorteile – die Steuereinnahmen, die neu geschaffenen Arbeitsplätze und die wirtschaftliche Aktivität, die durch die Errichtung entstand. Wenn wir die Aufgabe hatten, anhand einer Tabelle ein Modell zu schaffen, gingen wir die Zahlenspalten durch, um herauszufinden, ob der Nutzen die Kosten überwog, und der Bau konnte losgehen.

Damals erkannte ich, wie wichtig es ist, die Fragestellung zu ändern, um die umfassenderen damit verknüpften Probleme aufzugreifen und eine bessere Antwort zu erhalten. Der Vorteil der Investition in ein Schwimmbad ist, dass die Menschen gesünder werden, was wiederum weitaus größeren Nutzen hat als nur die für den Betrieb geschaffenen Arbeitsplätze und die Steuererträge. Eine sportlichere Bevölkerung verringert die potenziellen Kosten des National Health Service (NHS). Mehr Geld für ein Schwimmbad auszugeben (eine Zahlenspalte) verringert also die Kosten des NHS (eine andere Zahlenspalte). Doch weil das Ministerium für Gesundheit und Soziales nicht über das Sportbudget entscheidet, fließt das nicht in die Fragestellung ein. Und da das Ministerium für Digitalisierung, Kultur, Medien und Sport nicht über das Gesundheitsbudget entscheidet, muss es die Antwort nicht berücksichtigen.

Zwei Ministerien oder zwei Spalten wie in der Nacht vorüberziehende Schiffe. Diese Lektion ist hängengeblieben, weil ich das überall sehe – besonders im Bereich der Kunst, die sich lange Zeit schwergetan hat, den Erbsenzählern der Regierungsbehörden ihren Wert zu erläutern. Warum in ein Museum investieren? Weil es uns zum Lernen inspirieren kann, nicht weil es seine Erstellungskosten durch Besucherzahlen decken kann. Warum in Musikerziehung für Grundschüler investieren? Weil sie die mathematischen Leistungen verbessern kann, wenn die Kinder auf die weiterführende Schule gehen. Warum in Kunst investieren? Weil sie die demokratische Teilhabe erhöhen kann, nicht nur Hintern auf die Stuhlreihen eines öffentlich finanzierten Theaters platzieren. Je genauer man hinschaut, desto stärker sind all die nebeneinanderliegenden Spalten miteinander verknüpft.

Dieses Buch beginnt damit zu zeigen, wie die Musikbranche sich ein desaströses Jahrzehnt lang an der alten Liane festhielt, dann nach der neuen Liane griff und sich in ein erfolgreiches zweites Jahrzehnt schwang, was den Neid all jener erweckt, die gerade ihrem eigenen Napster-Moment ins Angesicht starren. Es bereitet dich darauf vor, das Schwingen vom Alten zum Neuen zu erlernen.

Disrupt! ist eine Abkehr von reißerischen Titeln wie »Die eine Regel, die dein komplettes Leben verändert« und erkennt an, dass es diese eine Regel nicht gibt und wir alle verschieden sind. Stattdessen stellt es acht übertragbare Regeln (oder Prinzipien) vor und berücksichtigt, dass unterschiedliche Menschen sie unterschiedlich anwenden werden. Wir schließen mit einem Ausdruck, den ich geprägt habe, als Spotify sich auf den Börsengang vorbereitete – »Baumeister und Bauern« –, um zu zeigen, dass dieses Buch für unterschiedliche Menschen etwas Unterschiedliches bedeutet. Baumeister schaffen, was die Bauern nicht können, und Bauern lassen wachsen, was die Baumeister nicht können. Am Ende des Buches verstehst du besser, wer du bist, wenn du die acht Prinzipien des Schwingens durch die Disruption beherzigst, und du wirst dich schneller voranschwingen können als jedes Individuum, jede Organisation und jede Institution, die du unterstützen möchtest.

Als ich an diesem Buch schrieb, waren viele potenzielle Verleger der Meinung, dass jedes der acht Prinzipien auch ein eigenes Buch wert wäre. Das ist ein bekannter Trick: Nimm eine Idee und blas sie auf 200 Seiten auf. Aber das zog bei mir nicht, weil es bei dir nicht ziehen würde. Ich wandte die Lektion an, die ich von der Eintagsfliege Gotye und von der beständigen Hitproduzentin Lana Del Rey gelernt hatte – fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass du alle Kapitel lesen würdest, nicht nur eins! Wie wir später noch sehen werden, ist Aufmerksamkeit rar, und die Leser merken schnell, wenn ein Autor ihre Zeit vergeudet, indem er immer wieder auf demselben Thema herumreitet. Und da Aufmerksamkeit immer rarer wird, sind solche Bücher zunehmend für den Ramschtisch bestimmt. Stattdessen findest du hier acht nützliche Prinzipien, von denen jedes auch für sich allein stehen kann, verknüpft zu einem Weg, der dir dabei helfen soll, sie mit Leben zu füllen – jedes davon ein Knaller und keines ein Lückenfüller.

Dieses Buch unterstützt dich dabei, deine Situation einzuschätzen, lehrt dich, die richtigen Fragen über dein Leben, deine Organisation und deine Regierung zu stellen, hebt die Herausforderungen hervor und bietet Lösungen, damit du weißt, wann du auf die nächste Liane springen und, was ebenso wichtig ist, dabei nicht vergisst, die alte loszulassen. Wenn du am anderen Ende der folgenden dreihundert Seiten angelangt bist, wirst du nicht nur erkennen, wie schnell die technologische Disruption vonstattengeht, sondern auch, wie instabil der Status quo ist – wie bei einem Fahrrad, das umkippt, wenn es nicht weiterbewegt wird.

Steig in den Sattel.

1. DIE TARZAN-ÖKONOMIE

FEIERN WIE 1999

Vor zwanzig Jahren, als die Verkaufszahlen von Compact Discs neue Höhen erklommen (und das zu immer höheren Preisen), konnten die Chefs der Plattenindustrie ihre Profite auf der Waage messen. Das ist nicht im übertragenen Sinne gemeint – die Labelchefs kauften und verkauften regelmäßig stapelweise CDs nach Gewicht, statt nach ihrem musikalischen Inhalt. Der unersättliche Appetit auf Scheiben in Plastikhüllen war so berechenbar, dass sich jede verkaufte Palette CDs in eine vorhersagbare Summe übertragen ließ, um ihre Gewinne zu berechnen.

Paletten von CDs enthielten überhaupt keine Daten. Den Labels war es ganz egal, ob es die Stones oder die Killers waren, sie interessierte nur, ob in »stone«1 oder in Kilo abgerechnet wurde. Nun ist es zwar leicht, sich darüber lustig zu machen, wie damals Geschäfte gemacht wurden, aber die Musikbranche hat im CD-Zeitalter jedenfalls mehr Geschäfte gemacht als jemals danach. Im Jahr 2000 lag der globale Wert der Musikindustrie fast bei 25 Milliarden Dollar. Zwanzig Jahre später beträgt der Wert der Musikaufzeichnungsbranche nur etwas mehr als ein Zehntel dieses Höchststands – und dann müsste man ihn noch inflationsbereinigen.

Der großartige 2008 erschienene Roman Kill Your Friends gibt Einblick in die Köpfe egozentrischer Talentscouts während der Neunzigerjahre, also auf dem Gipfel der CD-Ära. Er erzählt, wie der A&R-Manager eines Major Labels die Frage »Welche Musik magst du?« beantwortet. Der Autor vergleich das damit, »einen Arbitrageur zu fragen, welche Rohstoffe er mag. Oder zu einem Investmentbanker zu sagen: ›Hey, was ist eigentlich deine Lieblingswährung?‹« Die Musikbranche erreichte ihren Gipfelpunkt und sollte bald herausfinden, wie tief sie fallen konnte. Sie wusste vielleicht, was sie wert war (oder wenigstens, wie viel sie wog), aber sie hatte keine Ahnung, wie viel sie verlieren konnte.

Um zu begreifen, warum die alte Liane so schwer loszulassen war (und warum manche Menschen immer noch mit Wehmut daran zurückdenken), müssen wir zur Kenntnis nehmen, wie exzessiv verrückt diese guten Zeiten waren, mit der Betonung auf »exzessiv«. Die Labelchefs ließen sich mit Helikoptern zu ihren Privatjets fliegen. Wie man mir einmal freiheraus erzählte, wurden Analysen damals unter Verwendung eines simplen Balkendiagramms vorgenommen: »Zeig mir einen Balken, der größer ist als ein anderer Balken, und ich mache damit einen Monstergewinn.« Die Exzesse entstanden durch eine Kombination aus Knappheit der physischen CD-Produkte (im Gegensatz zu digitalen Dateien kann es nur eine gewisse Menge davon geben), der Hebelwirkung durch die Fähigkeit, ihren Vertrieb zu kontrollieren, sowie einem Spritzer Angst und Gier, garniert mit vielen Lines Kokain. Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal den Ausdruck »vor lauter Verbogenheit gerade« hörte, mit dem beschrieben wurde, wie die alte Liane beschaffen war. Ich verrate dir meine drei größten Hits, damit du erkennst, dass solche Exzesse nicht nur für Musik gelten.

PAYOLA WAR VOR LAUTER VERBOGENHEIT GERADE

Der erste Schwindel ist »Payola«, wobei Plattenfirmen einen »unabhängigen Radio-Promoter« dafür bezahlten, dass ihre neuen Songs in Radiosendern gespielt wurden, damit sie Fans gewannen und sich gut verkauften. Entscheidend ist das Wort »unabhängig« in der Berufsbezeichnung unabhängiger Radio-Promoter. Er (und es war immer ein Er) war weder bei der Plattenfirma noch beim Radiosender angestellt und konnte sich den ersten Partner seiner zweiseitigen Verhandlung frei aussuchen. Anders als Payola oft verstanden wird, wählte er grundsätzlich erst den Radiosender aus und fragte, ob er beabsichtige, eine künftige Hitschallplatte in die Heavy Rotation zu nehmen. Wenn der Sender antwortete: »Klar, tolle Platte, die spielen wir den ganzen Tag, sobald sie erschienen ist«, brauchte er weiter nichts zu wissen.

Als Nächstes ging er dann zu dem Label und handelte den Deal aus, etwa so: »Wenn ihr zwanzigtausend Dollar rüberwachsen lasst, denke ich, wir könnten diese Platte beim größten lokalen Radiosender in die Heavy Rotation bringen.« Der Song wäre auch gespielt worden, wenn der Promoter gar nicht vermittelt hätte, aber sein Wissen über die Absichten der einen Seite ermöglichte es ihm, sich die Naivität der anderen zunutze zu machen. Das Geld wurde dem unabhängigen Promoter ausgehändigt, der Sender erhielt eine hübsche Provision, weil er mit Insiderwissen gehandelt hatte, und die Musik wurde ohne jegliche Verzerrung der Markteinflüsse gespielt, für die Payola so oft verantwortlich gemacht wird. Das Label zahlte dafür, dass gespielt wurde, was sowieso gespielt worden wäre.

IN ANBETRACHT DER REGELN WAREN DIE CHARTS VOR LAUTER VERBOGENHEIT GERADE

Der zweite Schwindel ist als Chart-Hyping bekannt – von den Plattenfirmen genutzte Werbemethoden, um die Hitparade zu beeinflussen und einen Song in die Top 40 zu bekommen, denn der Abstand zwischen 41 und 40 ist größer als der zwischen 40 und 39. Warst du erst mal in den Charts, trug die Schwungkraft dich nach oben. Ein Labelchef erklärte bekanntlich, das wichtigste Transportmittel sei das Trittbrett, denn darauf wolle jeder mitfahren. Charts machten das Trittbrett besser sichtbar und somit beliebter.

Ehe elektronische Bezahlsysteme universelle Daten darüber lieferten, welche Songs das Publikum kaufte, mussten die Chartunternehmen mit mangelhaften Informationen umgehen – sie baten ein paar ausgewählte Läden, ihnen ihre Verkaufszahlen zu berichten, und nahmen Hochrechnungen aufgrund von Umfragen vor. (Beschämenderweise bedienen sich Fernsehen und Radio bei der Berechnung ihrer Einschaltquoten noch heute solcher Hochrechnungstechniken.)

Damit ein Plattenlabel seinen Song in die Charts manövrieren konnte, musste es nur wissen, welche Läden das Chartunternehmen befragte, und dann falsche Käufer losschicken, um größere Mengen der Platte zu kaufen, um die Nachfrage zu steigern. Oft pflegten diese raffinierten Promoter sogar freundschaftliche Beziehungen zu den wenigen ausgewählten einflussreichen Händlern und boten ihnen alles Mögliche von kostenloser Ware bis zu Ferienreisen an, damit sie kooperierten. Ein Strich im Terminkalender, um einen Verkauf zu kennzeichnen, war alles, was für ein Ausschlagen der Nadel benötigt wurde. Hatte es ein Song erst mal in die Charts geschafft, erhielt er die erforderliche Werbeunterstützung, um Gewinne abzuwerfen.

DIE ZERTIFIZIERUNGSREGELN WAREN VOR LAUTER VERBOGENHEIT GERADE

Das dritte Beispiel für unlauteres Vorgehen sind die Zertfizierungen, bei denen Alben mit dem Gold- und Platinstatus ausgezeichnet wurden, wenn sie die Verkaufszahlen von 500 000 beziehungsweise 1 Million überschritten. Um zu begreifen, wie sich dieser Prozess verformte, müssen wir unterscheiden zwischen Auslieferungen (was die Plattenfirmen an den Einzelhandel lieferten) und Verkäufen (was die Käufer erwarben). Die Zertifizierungen beruhten auf dem Ersteren, nicht auf dem Letzteren. Was unverkauft blieb, wurde ohne Nachteile für die Einzelhändler in die Lager der Labels zurückgeschickt. Der zugrunde liegende Gedanke, der zu solchen Lieferüberschüssen führte, war die »Verkaufen-oder-zurückschicken«-Haltung der Einzelhändler: Wenn das Plattenlabel den Händler fragte: »Wie viele Alben der Guns N‹ Roses willst du?«, dann sagte der Händler: »Wie viele könnt ihr mir denn geben?« Je mehr, desto besser.

Die Boni der Labelchefs beruhten inzwischen auf den Versand-, nicht auf den Verkaufszahlen. Wenn das Label 1 Million Exemplare einer neuen Platte pressen ließ und vertrieb, qualifizierte diese sich für Platin, und der Vorstand hatte den Jackpot geknackt. Falls diese Platte sich nicht verkaufte (was dann als »Flop« bezeichnet wurde) und der Einzelhandel eine halbe Million Exemplare zurückschickte, hatte das zwar natürlich Auswirkungen auf die Finanzlage des Labels, aber nicht auf die Platin-Zertifizierung oder die Boni der Firmenleitung. Daher kommt der Ausdruck »Platin verschicken, Gold zurückbekommen«.

Das sind drei meiner größten Hits in der langen Liste von Gaunereien des Musikbusiness, und ich könnte noch hundert weitere aufzählen – aber so was beschränkt sich nicht auf Musik. Politische Lobbyisten hatten immer schon ihre eigene Version von Payola, bei der sie Geld von reichen Spendern annehmen und ihnen im Gegenzug exklusiven Kontakt zu Politikern verschaffen, die sie sowieso kennengelernt hätten. Börsentrader spielen schon seit Langem ihre eigene Variante des Chart-Hyping, denn sie wissen, wann sie mit einer Aktie long gehen müssen, die innerhalb eines Marktes wie dem FTSE 100 oder dem Dow Jones Industrial Average vor dem Markteintritt steht, und wann sie short gehen müssen, kurz bevor sie herausfällt. Und Firmendirektoren, die sich ausschließlich auf Quartalsergebnisse fokussieren, gestalten sich oft ihre eigenen Zertifizierungssysteme zur Festlegung der Vorstandsbezüge, indem sie kurzfristige Ziele setzen, die zwar leicht erreichbar sind, aber lang anhaltende Schäden verursachen können, nachdem die Boni ausgezahlt sind.

Das Musikbusiness ist ein Mikrokosmos für gutes (und schlechtes) Verhalten allerorten. Der Grund dafür, dass die Branche ihr eigenes System entwickeln konnte, war die Kontrolle über einen Markt, die Kontrolle über eine Zielgruppe und (in erster Linie) das Copyright. Sowohl in rechtlicher Hinsicht als auch in Bezug auf konventionelle Ökonomie kommt es auf die Satzstellung an. Copyright steht für das Recht, das Kopieren zu kontrollieren.

Dieses Recht kam zu einem schlagartigen und besorgniserregenden Ende, als die Musikbranche und ihre Kunden im Juni 1999 mit Napster erwachten. Über Nacht sahen sich Millionen Fans in der Lage, mithilfe des neuartigen MP3-Formats Musikdateien zu tauschen und zu teilen. Wenn man eine ausreichend schnelle Internetverbindung hatte, konnte man auf Napster binnen Sekunden jeden beliebigen Popsong herunterladen, ohne einen Cent dafür zu bezahlen. Binnen zehn Monaten nach seiner Einführung hatte Napster über 10 Millionen User und eine Reihe von Nachahmern.

Statt »das Internet aus ganzem Herzen zu akzeptieren« (wie The Economist vorschlug), begaben sich die Plattenlabel auf eine zehn Jahre lange Reise der Versuche, den von ihnen eingeleiteten Wandel abzuwenden. Dadurch verpassten sie auch die Chancen, die das Internet bieten konnte. Statt beliebten digitalen Modellen wie Napster eine Lizenz zu geben, um sie rechtmäßig zu machen, nutzen die Labels den Rechtsweg, um sie zu bekämpfen, aus Angst, dass die immer noch von den CD-Paletten hereinströmenden Umsätze einbrechen könnten.

Ende 1999 verklagte die Recording Industry Association of America (RIAA), welche die Plattenlabel der Vereinigten Staaten repräsentierte, Napster erfolgreich wegen Musikpiraterie in beispiellosem Ausmaß. Im Jahr 2002 verklagte die RIAA die illegale Filesharing-Seite Madster (früher Aimster), und die Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc. (MGM) verklagte Grokster, eine andere Filesharing-Plattform, im Jahr darauf. Wenig später verklagten die RIAA-Label die Entwickler von LimeWire. Es war eine endlose Reihe von Prozessen, und immer neue Piraten segelten heran. Die Energie (ganz zu schweigen von dem Geld), die Anwälte und Lobbyisten zu ihrer Bekämpfung aufwendeten, sorgte für einen unerwünschten Nebeneffekt: eine zunehmende Aufmerksamkeit der Verbraucher für die unglaublichen kostenlosen Dienste der Filesharing-Plattformen. Als die Motion Picture Association of America (MPAA) im Jahr 2006 in dessen Heimatland Schweden gegen den BitTorrent-Tracker The Pirate Bay vorging, war der Medienrummel so groß, dass daraus sogar ein Spielfilm mit dem passenden Titel TPB AFK: The Pirate Bay Away From Keyboard entstand.

Während dieses Räuber-und-Gendarm-Spiels mit den illegalen Streaming-Anbietern nahm die RIAA 2004 zudem ihre kontroverseste Strategie auf: das Verklagen individueller Verbraucher. Bis zum Frühjahr 2007 räumte die RIAA ein, dass über 18 000 Personen von ihren Mitgliedsunternehmen gerichtlich belangt worden waren, und neue Berichte ergaben, dass die Zahl im Oktober 2007 bei mindestens 30 000 lag. Wenn die Prozesse schon schlechte Dienste dabei leisteten, diese aussichtslose Schlacht zu gewinnen, sollte die Public-Relations-Offensive noch viel schlimmer werden.

Im Jahr 2004 unternahm die amerikanische Plattenindustrie eine Wendung. Statt Teenager zu verklagen, wurden sie jetzt ins Boot geholt. Im Rahmen einer Partnerschaft mit Apple und dem Softdrink-Riesen Pepsi wurde für 100 Millionen kostenlose Download-Codes des florierenden iTunes-Dienstes geworben – ein kostenloser Download bei jeder gekauften Gewinn-Flasche. Für die Fernsehwerbung wurde die megahippe Coverversion des Songs »I Fought the Law« von Green Day verwendet, ursprünglich geschrieben von Sonny Curtis und gespielt von seiner Band The Crickets. Der Titel wurde von vielen Bands gecovert, darunter The Clash, und es wurden Nahaufnahmen von nachdenklichen Jugendlichen gezeigt, die wegen illegalen Filesharings angezeigt worden waren. Darüber zogen sich Textfelder mit Wörtern wie »beschuldigt«, »angeklagt« und »erwischt« im Gefängnis-Stil. Das sollte den durstigen Teenagern eine Lehre sein: Diese Kids hatten gegen das Gesetz verstoßen, und sie hatten nicht gewonnen.

Am Schluss des Werbespots wurde eine Teenagerin hinter ihrem Apple-Laptop gezeigt, die sich selbst als eine der Jugendlichen beschrieb, die wegen des Downloads von Musik aus dem Internet verurteilt worden war. Sie lehnt sich selbstbewusst zurück und sagt: »Ich möchte hier in aller Öffentlichkeit erklären, dass wir weiterhin kostenlos Musik aus dem Internet herunterladen werden«, ehe sie hinzufügt: »Und es gibt nichts, was man dagegen tun kann«, woraufhin sie bis zum Ende des Spots kichert. Der Unterschied: Diese ehemalige Musikdiebin würde hiermit ihre Musik legal herunterladen.

Der Grundgedanke war, kostenlos mit kostenlos zu kontern. Pepsi verschenkte die Songs legal aus dem iTunes-Store. Doch der Handel mit Download-Codes hatte einen Haken: Die Musik mochte gratis sein, die Pepsi allerdings nicht. Gezuckerte Limonade war der Lockvogel, um das Copyright vor den Dieben zu schützen, die es belauerten. Doch die Werbung kurbelte den Verkauf von Pepsi nicht an. Nicht weil die Kids keine kostenlose Musik wollten – sie brauchten bloß keine Flasche Pepsi zu kaufen, um welche zu bekommen.

Diese Jugendlichen waren clever: Sie gingen einfach in einen Lebensmittelladen, nahmen sich eine Flasche aus dem Kühlschrank und hielten sie in einem bestimmten Winkel unter das Licht, dann konnten sie den Code unter dem Deckel lesen, ihn sich aufschreiben und die Musik tatsächlich kostenlos bekommen. Nicht nötig, Geld für eine Pepsi auszugeben oder deinen Zähnen noch mehr zu schaden. Wie der Teenager-Star des Werbespots vorhergesagt hatte, würden sie weiterhin Musik kostenlos herunterladen, und es gab nichts, was dagegen getan werden konnte – nicht mal durch die Softdrink-Industrie.