Divine - H. D. Klein - E-Book

Divine E-Book

H. D. Klein

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Beschreibung

Divine ist ein Weltstar. Sängerin, Schauspielerin, Buchautorin. Grammy- und Oscar-Preisträgerin, für den Friedensnobelpreis nominiert. Ein Vorbild für viele Menschen, für die sie mit ihrem ehrlichen Charakter und ihrem reinen, fast schon puritanischen Auftreten ein Sinnbild für die Zukunft darstellt. Ihre Karriere ist ohne Makel und frei von Skandalen. Vernon van Trekh ist ein erfolgreicher Werbefotograf, der sich auf digitale Bildbearbeitung spezialisiert hat und das Auge meisterhaft zu täuschen vermag. Als sich ihre Wege kreuzen, bahnt sich eine schicksalhafte Wende an, die die gottgleiche Divine vor den Augen der Öffentlichkeit und ihrer sie verehrenden Fans zu Fall bringen und alles auf ewig verändern könnte.

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Wirklichkeiten

H. D. Klein

Divine

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg März 2018 Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-574-4 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-577-8 Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

Kapitel 1

Ende August

Vor vier Wochen hatte ihn Christine mit einer Ankündigung überrascht.

Nein, es war eigentlich keine Ankündigung gewesen, vielmehr war es ein zögerlich vorgebrachtes Darlegen über ein berufliches Angebot, mit dem sie sich anscheinend schon länger beschäftigte.

Die Art und Weise, mit der sie ihm die Informationen vortrug und diese anschließend kommentierte, deutete darauf hin, dass ihr Vorhaben bereits weit über ein Planungsstadium hinaus gediehen war.

»Vernon, ich habe ein Angebot von Vega International«, begann sie eines Abends unvermittelt nach dem Abendessen. Ihre Hände hielten das große, dünnwandige Weinglas fest umschlossen.

Christine trank ihren Rotwein grundsätzlich aus diesen empfindlichen und überdimensionierten Designerstücken.

Aus Gründen des Geschmacks und der Optik.

Er war sich nicht ganz sicher, welcher der beiden Gründe ihr wichtiger war. Er selbst war in solchen Dingen nicht so wählerisch. Ihm genügten einfache Weine in einfachen, standfesten Gläsern. Es hatte endlose Debatten gedauert, bis sie ihm seinen geradlinigen Landwein in primitiven Behältnissen zugestanden hatte.

Überrascht und erwartungsvoll lehnte er sich zurück.

»Es geht dabei um ein großes Projekt. Einen Spielfilm«, sagte sie kurz angebunden.

»Das ist doch fantastisch«, meinte er beeindruckt und wollte nach seinem gläsernen Behältnis greifen, doch dann überlege er es sich anders. Aus irgendeinem Grund schien die Situation mehr Eleganz und Würde zu verlangen. Unbewusst richtete er sich am Tisch gerade auf. Vielleicht lag es auch daran, wie Christine ihre Worte gewählt hatte. Fast wie eine Eröffnung beim Schach. Den weißen Bauern vor der Königin zwei Felder nach vorne. Im Grunde genommen kein dramatischer Zug, aber Christine hatte die Figur einen Hauch zu energisch bewegt.

»Nun ja, es ist so«, fuhr sie nach einer fahrigen Handbewegung durch ihre kurzen, blonden Haare fort. »Man hat mir angeboten, die Produktionsleitung zu übernehmen. Der Job wäre für die Dauer von einem halben Jahr. Und …« Sie zögerte einen Moment, fuhr sich wieder durch die Haare, stellte das Glas ab. Dann blickte sie ihn offen an.

»Der Film wird in L. A., sprich in den USA gedreht.«

Das war es also. Vernon sah seiner Frau regungslos ins Gesicht. Er suchte darin nach einer Frage, nach einem »Was meinst du dazu?«, aber er konnte nichts dergleichen entdecken. In ihren ungewöhnlichen graugrünen Augen lag eine feste Entschlossenheit und ihre Kopfhaltung signalisierte eine verborgene Aggression. In diesem Augenblick hatte Vernon für einen Moment den Eindruck, einer Fremden gegenüberzusitzen. Das war nicht seine Christine, die er seit mehr als fünfzehn Jahren liebte und die er zu kennen glaubte. Ihre von Natur aus weichen Gesichtszüge hatten plötzlich etwas Hartes, etwas Kantiges angenommen. Und … täuschte er sich oder bewegten sich da tatsächlich ihre Nasenflügel mit einem unscheinbaren, nervösen Zittern?

Christine war mit ihren 38 Jahren eine absolut attraktive Frau. Kurze blonde Haare, schlanke Figur mit einer verführerischen Schulterpartie. Wenn er an all die Jahre zurückdachte, waren es ihre Schultern gewesen, in die er sich damals zuerst verliebt hatte: sportlich geschwungene Linien, die von einem geraden Halsansatz in einem sanften Bogen nach außen verliefen und in ihm sofort Begehren hervorgerufen hatten.

Eigentlich hatte sich ihre Gestalt in der vergangenen Zeit kein bisschen verändert. Die Linien waren natürlich erwachsener geworden und nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Kay hatte Christines Figur leicht mütterliche Konturen angenommen, aber gerade diese unmerkliche Verwandlung hatte seiner Frau zu einem extravaganten Aussehen verholfen, von dem nicht nur Vernon immer wieder begeistert war.

Er setzte zu einer Frage an, hielt sie dann jedoch zurück.

Die Ausgangslage war offensichtlich.

Christine hatte Erfolg in ihrem Beruf. Trotzdem war ihr Betätigungsfeld im Wesentlichen auf nationale Produktionen beschränkt. Sie betreute vor allem Spielfilme, die im Inland mit positiven Ergebnissen liefen, im Ausland aber nur mäßige Beachtung fanden. Eine Tätigkeit bei einer großen internationalen Produktion würde ihr mit einem Schlag Anerkennung und Reputation einbringen. Einen Aufstieg in eine höhere Liga sozusagen.

Sogar einen Aufstieg um zwei Ligen, dachte Vernon. Hollywood war schließlich ein vollkommen anderes Terrain als die Bavaria Filmstudios hier in München. Es könnte der Beginn einer ziemlich steilen Karriere für Christine sein.

»Ich verstehe. Du meinst also damit, dass du für sechs Monate in Los Angeles arbeiten müsstest.«

Seine Erwiderung fiel ungewollt etwas bissig aus, denn er hasste das flapsige Kürzel für die kalifornische Stadt, mit dem die Filmleute ihre vermeintliche Kollegialität gegenüber der amerikanischen Filmindustrie zum Ausdruck brachten. Unmerklich biss er sich auf die Unterlippe. Er sollte in dem Moment etwas rücksichtsvoller sein. Es war jetzt nicht der Augenblick für kleine Scharmützel.

Christine schien seine Anspielung jedoch nicht bemerkt zu haben.

»Ja, genau, ich meine, vielleicht würde es auch für eine kürzere Zeit sein, aber nach dem, was ich bisher an Informationen habe, sieht es nicht danach aus.«

»Welche Informationen hast du denn?«, fragte er abwartend. Er war etwas ungehalten, weil ihm eine innere Stimme sagte, dass sie von alldem schon länger wissen musste. Früher wäre sie mit einer solchen Nachricht sofort zu ihm gekommen und sie hätten über die Sache gesprochen.

Sie stand abrupt auf und holte ihre Zigaretten aus der Handtasche.

»Vernon, die Details sind doch im Grunde jetzt unwichtig«, sagte sie gereizt und holte einen Aschenbecher aus dem Regal. »Es geht um zwei Punkte: die lange Zeit, in der wir mehr oder weniger getrennt sein würden, und natürlich die Frage, was wir mit Kay machen werden.«

Sie schob den Teller mit den Essensresten zur Seite und stellte den Aschenbecher vor sich hin.

»Es ist für mich die einmalige Chance, in meinem Beruf einen Riesenschritt weiterzukommen, deswegen möchte ich Vega Film unbedingt zusagen. Und Kay …« Sie zündete sich mit einem sanften Klicken ihres Porsche-Feuerzeugs die Zigarette an. »… und Kay würde ich gerne mitnehmen.«

Entschlossen blies sie den Rauch zur Seite und sah ihn abwartend an.

Vernon starrte einen Moment lang ins Leere. Irgendwo in seinem Innern suchten unterschiedliche Gefühle nach einem Halt. Es war nicht so, dass er von Christines Worten vollkommen überrascht war, denn in letzter Konsequenz hatte er angesichts ihrer sichtbaren Nervosität mit einer unangenehmen Mitteilung gerechnet, aber als sie die Fakten aussprach, musste er doch etwas schlucken. Und besonders nachhaltig traf ihn die Endgültigkeit der Pläne, mit der sie ihn konfrontierte. Das waren keine Entscheidungen, die sie aus dem Bauch heraus getroffen hatte. Sie musste schon länger davon wissen und alles nach und nach geplant haben.

Und er hatte von alldem nichts mitbekommen. Anscheinend kannte er seine Frau doch nicht so gut, wie er geglaubt hatte.

Nachdenklich drehte er sein Glas in der Hand.

»Erzähl mir doch bitte mal, seit wann du von dem Angebot weißt«, fragte er unverfänglich und bemühte sich dabei, möglichst ruhig zu bleiben.

»Hör mal, Vernon, ich habe dir doch eben gerade gesagt, dass das die Chance in meinem Leben ist«, sprudelte sie hervor, stand wieder auf und holte ihre überdimensionale Handtasche.

Auf seine Frage ging sie nicht ein.

»Bisher war immer nur deine Karriere wichtig. Du hast dir einen Namen als Fotograf in der Werbebranche geschaffen und ich habe dich dabei unterstützt, so gut ich konnte. Auch wenn ich deswegen manchmal Abstriche in meinem Beruf machen musste. Ich habe mich um den Haushalt gekümmert und dir Kay vom Hals gehalten, so weit es möglich war.«

Sie drückte ihre Zigarette aus und wedelte mit der Hand den restlichen Rauch weg.

»Und das war alles okay so. Es soll keine Beschwerde von mir sein, aber ich denke, dass ich nun einmal das Recht habe, an mich zu denken. Kay wird dieses Jahr dreizehn, sie ist aus dem Gröbsten raus. Außerdem hatten wir doch schon seit Längerem überlegt, sie einmal für eine Zeit lang auf eine Schule ins Ausland zu schicken. Das ist jetzt die Gelegenheit. Und sie wäre jetzt noch nicht einmal alleine. Ich wäre in ihrer Nähe und sie könnte mit Wendy in eine Klasse gehen …«

»Moment, ganz langsam«, unterbrach er sie und schüttelte verständnislos den Kopf. »Wer ist Wendy?«

»Wendy, die Tochter von Marias Mann aus der ersten Ehe. Sie ist in dem gleichen Alter wie Kay.«

Maria. Maria Schaeffler, ehemals Maria Schastok.

Daher also wehte der Wind.

Vernon glaubte zumindest, es zu wissen.

Er atmete tief durch und versuchte gleichzeitig, seinen aufkommenden Ärger zu verbergen. Maria war für ihn der Inbegriff von weiblicher Heimtücke. Sie war eine jener Frauen, denen jeder Mann sofort nach ihrem Anblick hoffnungslos verfallen war und kurz darauf sein letztes Hemd für sie gegeben hätte, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Maria Schaeffler schaffte es, innerhalb weniger Minuten ihrem männlichen Gegenüber den Eindruck zu vermitteln, der Einzige zu sein, dem ihr Interesse galt. Vernon war es vor Jahren nicht anders gegangen, als sie ihm von Christine vorgestellt wurde. Bis dahin hatte er sich nicht unbedingt für einen Typ von Mann gehalten, der von einem Moment zum anderen von einer Frau absolut begeistert war, aber dieses Weib – er sprach das Wort in Gedanken mit purer Verachtung aus – hatte ihn damals mit ihrer sinnlichen Augen- und Körpersprache regelrecht verführt. Diese zufälligen und sanften Berührungen mit ihrer Hand, dieses vertraute und im Nachhinein doch geheuchelte Interesse an seiner Person. All das hatte ihm ungemein geschmeichelt.

Schließlich war er nach dieser ersten Begegnung sogar so weit gegangen, sie unter einem fadenscheinigen Vorwand auf ihrem Handy anzurufen, um sich mit ihr zu verabreden.

Das Treffen kam wenige Tage später zustande und sie setzte ihr erotisches Spiel mit anfangs geschickt geführter langer Leine fort. Aber schon nach einem viertel Liter Merlot di Gudo rückte sie näher an ihn heran.

Greifbar nahe.

Vernon war ihr in diesem Moment verfallen, hätte alles dafür gegeben, sich diesem großen, einladenden Mund nähern zu dürfen, ihr eindeutige Dinge zuzuflüstern und auf den Augenblick zu warten, in dem sie nachgeben würde. Aber so weit ließ sie es nicht kommen. Sie ging rechtzeitig wieder auf Distanz und vertröstete ihn auf ein anderes Mal. Auf eine bessere Gelegenheit, wie sie es ausdrückte, und ließ ihn mit seinen dummen Träumen zurück.

Aufgewacht war er erst, als ihm Christine eines Abends berichtete, dass sich Maria bei ihr bitter über seine plumpen Annäherungsversuche beschwert hatte. Merkwürdigerweise ging sie mit keiner Andeutung auf sein heimliches Treffen mit Maria ein, sondern behandelte ihn wie einen fünfjährigen Jungen, dem die Mutter geduldig erklärte, dass er noch zu jung zum Autofahren sei.

»Mach dir keine Gedanken darüber«, hatte sie zu ihm gesagt. »Maria ist einige Nummern zu groß für dich. Sie ist auf der Suche nach einem ganz großen Fisch, du warst für sie nur eine Übung auf dem Weg dahin; und ich kann dir versichern, du bist nicht der Einzige, der auf ihre Masche hereinfällt.«

Nach Christines Worten war er wütend über seine eigene Dummheit und am meisten ärgerte er sich darüber, dass er sich jetzt genau wie ein Fünfjähriger vorkam, dem man gerade eben seine Unfähigkeit zum Autofahren erklärt hatte.

Maria hatte er seitdem nicht mehr wiedergesehen, aber er wusste aus Christines Erzählungen, dass sie im Laufe der Zeit einige große Fische gefangen hatte. Der letzte war Gerald M. Schaeffler, ein mit einem Oscar gekrönter deutscher Filmmusiker aus Los Angeles.

Wenn er bis dahin sprachlos über Christines Pläne war, so fiel ihm nach der Erwähnung von Marias Namen überhaupt nichts mehr dazu ein.

Die Freundschaft zwischen den beiden Frauen war ihm bisher immer unverständlich gewesen. Es musste an der Mystik dieser Frau liegen, von der auch Christine in irgendeiner Weise beherrscht wurde. Auf jeden Fall grenzte die Beziehung an eine Art Religion.

Und Maria war die unbestrittene Gottheit.

»Ich verstehe«, brachte er tonlos hervor. Er fragte sich, ob es überhaupt Zweck hatte, seine Gegenargumente darzulegen, denn Christine begann nun mit einer heftigen Leidenschaft, ihn mit weiteren Ausführungen über ihre Zukunftsperspektiven und beruflichen Möglichkeiten zuzuschütten.

Dann langte sie in ihre Handtasche und brachte einen großen wattierten Umschlang zum Vorschein.

»Hier, das ist das Drehbuch. Die Verfilmung des neuen Romans von Sabine Renner, ›Die Sandburg‹. Die Produktion ist ausschließlich in deutscher Hand, obwohl der Film in den USA gedreht wird. So etwas kommt selten vor. Stell dir doch mal vor, welche Möglichkeiten sich da bieten. Wenn das Projekt ein Erfolg wird, steht uns alles offen. Wir könnten uns dann finanziell mehr leisten, wir kommen vielleicht endlich mal aus dem muffigen München raus. Unser Denken wird viel globaler sein. Und wer weiß, vielleicht könnten wir eines Tages die Hütte hier verkaufen und ganz an die Westküste ziehen …«

Fassungslos blickte er sie mit ungläubigen Augen an.

Was sollte das denn sein?

Es waren weniger ihre Worte, die ihn sprachlos machten, als vielmehr die ungeheuerliche Aufzählung, die soeben zutage gekommen war.

Möglichkeiten, Erfolg, mehr Geld, globales Denken, an die Westküste ziehen … Bisher hatten sie sehr zufrieden und mit vielen Möglichkeiten gelebt – und mit genügend Erfolg und Geld. Und so weit er zurückdenken konnte, hatte sich Christine bisher noch nie über eingeengtes Denken oder gar über ihr gemeinsames Heim beschwert. Was brachte seine Frau dazu, ein großzügig eingerichtetes und modernes Haus mit mehr als 2000 Quadratmeter Grund als Hütte zu bezeichnen, selbst wenn sie den Ausdruck mehr in einer burschikosen Leichtfertigkeit dahingesagt hatte?

Sein Blick schweifte über die exklusiven Designermöbel von Schmid und Sarkowski, die eigens für das Esszimmer angefertigt worden waren und einen schweren Kontrast zu der eleganten Benz-Schrankwand aus Glas bildeten. Lag es vielleicht daran, dass hauptsächlich er sich um die Ausstattung gekümmert hatte? Andererseits hatte sich Christine noch nie um die Auswahl der Möbel bemüht und laut ihrer eigenen Aussage hatte sie auch kein Gespür für Innenarchitektur, sofern man bei der über die Jahre gewachsenen Einrichtung der Zimmer überhaupt von einer Innenarchitektur sprechen konnte. Im Grunde genommen waren die Möbel Einzelstücke, von denen jedes einzelne eine Geschichte erzählen konnte.

Je länger er darüber nachdachte, desto mehr empfand Vernon den Ausdruck Hütte geradezu als Verrat.

Und überhaupt: muffiges München. Wer schwärmte ihm denn permanent vor, in welch herrlicher Gegend sie lebten? München, die Kulturstadt, die Oper, die Berge, die Seen, die Nähe zu Italien!

Offensichtlich hatte Maria Schaeffler ihren Einfluss auf Christine um mehr als nur einige Nuancen verstärkt, und das in relativ kurzer Zeit.

Was ihn jedoch am meisten daran erschreckte, war das unerwartete und anscheinend kompromisslose Infragestellen ihres bisherigen Lebens.

Er fühlte eine innerliche Verkrampfung und ermahnte sich zur Besonnenheit. Mit einer beiläufigen Bewegung nahm er den Umschlag in die Hand und blickte auf den Versandstempel: 19. Juni 2013. Das bedeutete, dass sie das Drehbuch schon vor zwei Monaten erhalten hatte. Nachdenklich schob er den braunen Umschlag zur Seite.

»Christine, bitte, einen Moment. Mir geht das alles zu schnell. Glaub mir, es ist nicht so, dass ich mich nicht für dich freue, aber ich komme mir so überrumpelt vor. Ich habe das Gefühl, vor vollendeten Tatsachen zu stehen, ohne dass meine Meinung dabei jemals gefragt war …«

»Das heißt also, du bist dagegen?«

Vernon versuchte, seinen aufkommenden Zorn im Zaum zu halten. Mit betonter Beherrschung lehnte er sich zurück. Eine Hand ließ er entspannt auf dem Umschlag liegen.

Ganz ruhig bleiben. Und vor allem sachlich.

»Es geht nicht darum, ob ich gegen oder für etwas bin. Ich möchte etwas in Ruhe diskutieren, das uns beide betrifft.« Er hob die Ecke des braunen Umschlages mit dem Poststempel leicht an. »Du hast das Drehbuch im Juni bekommen, das heißt, du weißt von dem Angebot schon seit über zwei Monaten. Warum hast du mir damals nichts davon erzählt?«

Mist, ein Fehler! Eben noch hatte er sich zu sachlichem Diskutieren ermahnt. Sein Hinweis auf den Poststempel war ein glatter Vorwurf.

Er sah am plötzlichen Funkeln in ihren Augen, dass er damit das eigentliche Problem angesprochen hatte.

Christines Kiefermuskeln traten sichtlich hervor.

»Dass ich vielleicht selbst mit mir erst einmal im Reinen sein wollte, kommt dir dabei nicht in den Sinn, oder?« Sie lehnte sich mit einer unpassend entspannten Haltung zurück und sah ihn beinahe verächtlich an. »Typisch Mann. Wenn Frauchen einmal nicht so reagiert, wie er es sich vorstellt, kommen sofort die Vorwürfe.«

Ein Pauschalurteil auf seine Frage. Sie wusste genau, wie lächerlich ihre Aussage war, aber das hatte sie nicht davon abgehalten, sie trotzdem auszusprechen.

Sie wollte seine Frage also nicht beantworten.

»Es war eine Frage, kein Vorwurf«, entgegnete er so ruhig wie möglich.

Er ärgerte sich über Christines plumpe Verteidigung und vor allem ärgerte er sich über seine Hand auf dem braunen Umschlag, die wie von alleine zur Faust geworden war.

Ihre Behauptung, zwei Monate über das Angebot nachgedacht zu haben, war ein reines Ausweichmanöver. Ganz abgesehen davon bedurfte die Idee mit Kay und der Schule einer längeren Vorbereitung. Und so, wie die Dinge lagen, war es bereits eine beschlossene Sache.

So konnte es nicht weitergehen.

»In Ordnung, vielleicht ist es am besten, wenn wir ganz von vorne anfangen«, meinte er beschwichtigend. »Du hast einen Job in Aussicht …« Er zögerte einen Moment. »… und ich gehe einmal davon aus, dass du ihn annehmen willst. Du wirst dich für ein halbes Jahr im Ausland aufhalten. Gut. Du willst Kay mitnehmen. Warum? Ich meine, sechs Monate sind keine so ungeheuer lange Zeit. Warum soll sie unbedingt mitkommen?«

»Weil sich jemand um sie kümmern muss. Wenn sie hierbleibt, passt sie sich nur deinem Lebensstil an. Was im Endeffekt heißt: Hamburger, Fritten, Computer und TV bis zum Abwinken. Kay ist in einem kritischen Alter und ich bin der Meinung, dass du alleine nicht die richtige Anlaufstelle für sie sein kannst. Du bist 24 Stunden am Tag mit deiner Fotografie und deiner Bildbearbeitung beschäftigt. Kay würde in der Zeit machen, was sie will, und dir auf der Nase herumtanzen. Auf der Schule in den USA dagegen steht sie unter meiner Aufsicht, zudem ist sie dort gefordert und hat keine Zeit für irgendwelchen Blödsinn.«

Lebensstil. Nicht die richtige Anlaufstelle! Vernon blieb bei diesen Worten die Spucke weg. Es klang fast so, als wäre er ein entfernter Onkel, den Kay ab und zu besuchte und der eigentlich nicht so ganz in ihr soziales Gefüge passte.

Hamburger und Fritten. Er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal mit Kay bei McDonald’s haltgemacht hatte. Des Weiteren war es eine absolute Ausnahme, wenn er mal »bis zum Abwinken vor dem Fernseher hockte«. Seine Tochter war viel zu quirlig und zu intelligent für solch eine tumbe Freizeitgestaltung. Außerdem hatte sie sehr früh alle möglichen Sportarten für sich entdeckt. Meistens fielen ihr schon beim Abendessen die Augen vor Müdigkeit zu.

Christine ging also immer noch eine harte Gangart.

Das Warum war ihm vollkommen rätselhaft.

Sie musste genau wissen, wie ungerechtfertigt ihre Argumente waren, und trotzdem tischte sie ihm einen Mist nach dem anderen auf.

»Ach, und übrigens«, fuhr sie eisern fort. »Natürlich wird Kay nicht nur sechs Monate auf der Schule bleiben. Sie muss schon ein ganzes Jahr absolvieren, besser noch zwei. Aber das ist kein Problem. Maria sagt, es wäre eine Freude für sie, sich ein wenig um ihre Erziehung zu kümmern. Und L. A. ist heutzutage direkt von München aus zu erreichen. Ein Katzensprung. Ich kann also nach dem halben Jahr zwischendurch immer wieder kurz zu ihr rüberfliegen und nach ihr sehen.«

Natürlich. Kurz rüberfliegen. Katzensprung.

Er konnte es nicht fassen.

Im Grunde genommen gab es jetzt nur zwei Möglichkeiten.

Die erste bestand darin, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, seinen ganzen aufgestauten Ärger herauszulassen und Christine wütend zu fragen, ob sie noch bei Verstand wäre.

Fragen zu stellen.

Unter anderem, ob Frau Maria Schaeffler vorhatte, seine Familie auseinanderzubringen. Oder ob gar Marias Hang zu mysteriösen Religionsvorstellungen und ihre Kontakte zu dieser geheimnisvollen Sekte mit im Spiel seien. Diese Befürchtungen waren ihm in den letzten Minuten in den Kopf geschossen – eine Befürchtung, die ihm Angst machte. Andererseits war Christine viel zu clever, um einer so gefährlichen Verführung zu erliegen. Er kannte ihre Einstellung. Niemals wäre sie einer unseriösen Gemeinde verfallen und schon gar nicht würde sie es zulassen, dass ihre Tochter damit in Verbindung gebracht wurde.

Als Nächstes wäre es wichtig, seine Reputation wiederherzustellen, von der er gar nicht gewusst hatte, dass sie ihm abhandengekommen war. Das Ruder wieder an sich reißen. Vorsichtig nach Hintergründen suchen, die Vergangenheit nach Fehlern abtasten. Wieder Vertrauen gewinnen.

Ihre Blicke trafen sich kurz und er erkannte, dass dies ein langwieriger Prozess werden würde.

Es gab noch eine zweite Möglichkeit.

Keine sehr elegante Lösung, aber sie schien ihm die einzig machbare zu sein.

Für einen Moment war er über sich selbst überrascht, als er sagte: »Na gut, wenn du meinst, dass es dich weiterbringt und es gut für Kay ist …«

Danach fühlte er sich wie betäubt.

Seitdem waren vier Wochen vergangen.

Christine war nach seiner überraschenden Zustimmung in ein tiefes Loch der Irritation gefallen. Sie hatte sich zunächst mit Eifer in ihre Arbeit und den anstehenden Vorbereitungen für das neue Projekt gestürzt, kam aber mit zunehmender Dauer ins Grübeln.

Vernon registrierte ihre Verwirrung mit einer gewissen Genugtuung. Gleichzeitig aber mit Enttäuschung, denn auch nach seiner kampflosen Kapitulation hatte sie es nicht für nötig befunden, ihn über den einen oder anderen Umstand näher aufzuklären. Damit war ihr Zusammenleben auf einen höflichen Austausch nichtiger Informationen reduziert, die mehr oder weniger das eigentliche Problem zukleisterten.

Ein unerträglicher Zustand, aber Vernon war von seiner Seite aus nicht bereit, auch nur den Versuch eines weiteren Abfragens nach den Hintergründen zu starten.

Er war neugierig darauf, wie lange seine Frau dieser Situation standhalten würde, und hielt sich zurück.

Das war unfair von ihm, besonders in dieser ernsten Lage, und er wusste das. Es hatte in den Jahren ihres Zusammenseins noch nie eine lange dauernde Missstimmung gegeben. Irgendwann hatte ein zaghaftes »Du blöder Hund« oder ein unwirsches »Dumme Gans« immer das Eis gebrochen.

Dieses Mal war jedoch alles anders.

Beide kreisten vorsichtig um die veränderten Positionen, nur mit dem Unterschied, dass Vernon nach wie vor keine Ahnung hatte, wie es dazu kommen konnte.

Nach einigen Tagen fragte er sich ernsthaft, ob es nicht seine Pflicht als Ehemann, Familienoberhaupt – oder was auch immer – wäre, dem Spiel ein Ende zu bereiten. Wenn er schon Christines Plänen zugestimmt hatte, musste er auch dazu stehen und sie unterstützen, so gut er konnte.

Dummerweise wurde er aber eines Tages unfreiwillig Zeuge eines Telefongesprächs, das sie mit Maria Schaeffler führte. Er konnte keine Zusammenhänge verstehen, aber ein in Abständen auftretendes glockenhelles Lachen wies auf ein verschwörerisches Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den beiden Frauen hin. Als Christine seine Anwesenheit im Haus bemerkte, beendete sie sehr schnell das Gespräch und erwähnte es später ihm gegenüber auch nicht.

Irgendwie war Krieg.

Mit Bitterkeit und Trotz beschloss er, den Status quo als billige Rache aufrechtzuerhalten.

Was ihm nicht schwerfiel, denn die Urlaubszeit war zu Ende gegangen und damit häuften sich die Besprechungen und Vorbereitungen für die nächsten Fotoproduktionen. Ganz bewusst verwendete er darauf den Großteil seiner Konzentration und Energie. So kam es nicht selten vor, dass er spätabends nach Hause kam und anschließend vollkommen erschöpft ins Bett fiel. In diesen Momenten wurde ihm klar, dass Christine in Bezug auf Kay recht gehabt hatte. Er lebte zwar nicht gerade in der Kulturwelt von Burgern und Cola, aber er hätte gar keine Zeit gehabt, sich um seine Tochter zu kümmern. Dabei war es nicht so, dass es unbedingt nötig gewesen wäre. Kay half schon seit jeher unaufgefordert im Haushalt. Für Vernon war es unverständlich, dass sie daran auch noch Spaß zu haben schien. Manchmal befürchtete er gar, ein künftiges Hausmütterchen herangezogen zu haben, war dann aber immer wieder beruhigt, wenn er den Elan und die Energie seiner Tochter im täglichen Leben beobachtete. Sie hatte keine Probleme in der Schule, war ein absolutes Bewegungstalent, spielte hervorragend Tennis und Fußball, schwamm die fünfzig Meter unter fünfzig Sekunden und fand Jungs ganz okay.

Trotzdem: Er würde einfach wenig Zeit für sie haben und er musste Christine zustimmen, wenn sie sagte, es sei ein schwieriges Alter, auch wenn er davon bisher nichts bemerkt hatte.

Ein fremdes Land in früher Jugend zu erleben, musste etwas Fantastisches sein. Und Kay war von der Aussicht begeistert. Keine Spur von Betrübnis gegenüber dem Zurücklassen des Gewohnten oder Angst vor der Fremde.

Vernon war ein wenig stolz auf seine Tochter.

Christine dagegen machte eine ernste Krise durch. Wegen der Zeitverschiebung von neun Stunden gegenüber der Westküste der USA hatte sie ihren Tagesrhythmus umgestellt und fing erst gegen Mittag an zu arbeiten. Sie saß fast ausschließlich in ihrem Arbeitszimmer am Telefon und surfte im Internet, nahm ihr Essen (Hamburger, Pizza und Cola) vor dem Computer ein und begann, Vernon zu beschuldigen, dass er sie nicht genügend unterstütze. Ihre Vorwürfe gipfelten darin, dass sie sich jeden Abend über sein Frühstücksgeschirr beschwerte, das er nachlässig in der Spüle zurückgelassen hatte. Eine Steigerung davon war, dass sie Brotreste auf dem Tisch beanstandete.

Es war einfach lächerlich.

Zusätzlich stand Kay in den Ferien erst gegen 11:00 Uhr auf und nervte sie mit Fragen über die USA und den üblichen kleinen Problemchen. Außerdem gab es anscheinend Schwierigkeiten mit den Formularen für die Ummeldung von der Schule in München zu der deutschen Schule in Los Angeles. Offenbar hatte Maria Schaeffler den Vorgang nicht rechtzeitig in die Wege geleitet und nun war es unsicher, ob für Kay noch ein Platz frei war. Als Christine ihn bat, einen Freund von ihm in Los Angeles anzurufen und um Hilfe zu bitten, lehnte er mit einem verständnislosen Kopfschütteln ab:

»Entschuldige, aber Rainer ist ein armes Schwein, das glaubt, unbedingt in Hollywood Karriere machen zu müssen. Er jobbt Tag und Nacht, um wenigstens dort überleben zu können. Maria hat einen einflussreichen Komponisten geheiratet, der nur mit dem Finger zu schnippen braucht, wenn er etwas möchte. Was soll also das Ganze?«

Zugegeben, seine Ablehnung war sehr brüsk gewesen, denn schließlich ging es auch um seine Tochter, aber Christine und Maria telefonierten jeden Tag miteinander, hatten die Planung für das Projekt USA übernommen und ihn mehr oder weniger ausgesperrt, warum sollte er also plötzlich als Nothelfer einspringen und einem verdrehten Möchtegernschauspieler langwierig erklären, worum es ginge und was er tun sollte?

Die Reaktion auf seine Ablehnung folgte in einem heftigen Weinkrampf von Christine, der ihn wiederum fast zur Verzweiflung trieb. Er konnte nicht mehr mit ansehen, wie sich seine Frau aufrieb. Als er sie jedoch vorsichtig fragte, ob es denn das alles wert sei, sah sie ihn nur mit tränennassen Augen an und stand wortlos auf.

Der Krieg ging also weiter.

Christine war immer noch stark.

Sie wurde sogar immer stärker.

Sie schlief nur noch vier bis fünf Stunden, telefonierte tagsüber mit Castingagenturen, verhandelte mit den Agenten, traf Vorentscheidungen über Drehorte, sondierte Firmen für das technische Equipment und versuchte, den Wunschkandidaten für die Kamera davon zu überzeugen, dass er für dieses Projekt der Richtige sei. Nebenbei schränkte sie den Aktionsradius von Kay ein und lenkte die Energie ihrer Tochter auf Tätigkeiten in Haus und Garten, vornehmlich auf die Küche und die täglichen unangenehmen Arbeiten wie Geschirr spülen, Wäsche waschen und Staub saugen.

Kay sah ihre Bürde als Vorbereitung auf den Aufenthalt in den USA und fügte sich widerspruchslos.

Vernon war von alldem ausgeschlossen und kam sich wie ein Fremdkörper vor. Er fühlte, dass der Zugang zu seiner Frau im Augenblick verschlossen war.

Einige Tage später eine Glättung der Wogen.

Als er nach Hause kam, wehte ihm von der Küche her ein verräterischer Duft entgegen, warm und umschmeichelnd. Es roch einfach nach richtigem Essen.

Wie in alten Zeiten.

Misstrauisch deponierte er behutsam die Tasche mit dem Laptop auf einen Stuhl, legte leise die Schlüssel darauf und schnupperte sich vorsichtig ins Esszimmer hinein.

Dort erwartete ihn ein liebevoll gedeckter Tisch. Ganz kurz kam ihm der Gedanke, dass Christine vielleicht jemanden zum Abendessen eingeladen hatte, ein Arbeitsessen mit einem Produzenten oder so etwas Ähnliches, doch es waren drei Gedecke aufgelegt und an seinem gewohnten Platz stand ein einfaches Glas. Es wirkte auf ihn wie eine gehisste weiße Friedensfahne.

»Hi, Daddy! Setz dich, alles gleich fertig. Heute ist Italian angesagt.«

Kay trug eine weiße Schüssel mit einem Haufen Spaghetti vor sich her. Ihr dünner, schlanker Körper bildete einen sehnigen Kontrast zu der großen bauchigen Schüssel. Botticelli meets Streetkid. Auf ihrem blonden Schopf saß eine violette Baseballmütze der Los Angeles Lakers. Das Schild der Mütze zeigte seitlich verschoben nach vorne.

»Hallo, Kay. Ich dachte, es ist unmodern, wenn man diese Mützen richtig aufsetzt. Müsste das Schild nicht nach hinten zeigen?«

»Hey, Mann, das ist megaout. P. c. wäre es, wenn ich sie seitlich aufsetze, aber ich mach das nicht mit. Ich trage sie richtig rum, mit einem kleinen Tick nach links.«

»Ich verstehe. Äh … p. c.?«

»Political correct. Mom hat mich auch deswegen gefragt. Was macht ihr eigentlich den ganzen Tag, dass ihr das nicht wisst?«

»Das Wort kannte ich schon, mir war nur die Abkürzung entfallen.«

»Verstehe«, äffte sie ihn mit tiefer Stimme nach und verschwand quiekend in die Küche, als er nach der Mütze greifen wollte.

Vernon stützte sich auf die Lehnen zweier Stühle.

Daddy und Mom. Vielleicht gab es ja auch schon ein Home in L. A., das Christine ohne sein Wissen gekauft hatte und in dem ein Lehnstuhl für ihn bereitstand.

Anyway.

Jetzt war er gespannt auf den weiteren Verlauf des Abends. Gerade als er in die Küche gehen wollte, kam ihm Christine mit einer weiteren Schüssel entgegen.

»Hallo, Schatz«, begrüßte sie ihn fröhlich. »Nimmst du mir mal die Sauce ab, dann hol ich noch den Salat.«

»Hallo. Ja klar. Woher hast du gewusst, dass ich um die Uhrzeit nach Hause komme?«

Sie küsste ihn flüchtig auf die Wange.

»Ich habe im Studio angerufen. Sonja war am Telefon und hat mir gesagt, dass du schon unterwegs bist.«

Sie rauschte in die Küche und rief über die Schulter: »Machst du bitte den Wein auf?«

Als sie kurz darauf wieder erschien, meinte sie: »Weißt du, ich dachte mir, wir hätten alle einmal eine Pause verdient. Deswegen der Aufwand mit dem Essen.«

Er nickte abwesend.

Eine Pause. Ein kleiner Waffenstillstand also.

Sie hatte ein schlechtes Gewissen.

Andererseits war die Bemerkung bezüglich des Aufwandes schon fast wieder eine Kriegserklärung. Spaghetti mit einer einfachen Fleischsoße waren nun wirklich kein Aufwand. Früher hätte sie das als schnell zusammengebasteltes Notessen bezeichnet.

Unbewusst nahm er den beigelegten Holzlöffel in die Hand und rührte mit gespielter Neugier in der Sauce herum.

»Weißt du, es läuft einfach fantastisch«, fuhr sie mit einem unsicheren Blick zu ihm hin fort. »Wir haben tatsächlich Bruce als Kameramann buchen können, Heather für die Kostüme und John und sein Team für die Maske …«

Die Namen sagten ihm nichts. »Ich dachte, es handele sich um eine rein deutsche Produktion?«

Klein geschnittene Perlzwiebeln und Spuren von griechischem Thymian.

»Ja schon, aber gewisse Konzessionen müssen wir machen, wegen der amerikanischen Gewerkschaften; trotzdem, es sind absolute Spitzenleute.«

Grüne Paprikaschoten vom Feinkostladen nebenan. Eine halbe sehr scharfe Peperoni, ebenfalls grün.

»Und wer führt die Regie?«

»Wenn ich dir das sage, wirst du es mir nicht glauben!« Sie hielt beide Hände in die Höhe wie ein Dirigent kurz vor der Ouvertüre.

Er hob leicht die Schultern und sah sie abwartend an.

»Daniel Liebermann!«

Respekt! Daniel Liebermann war nach seinen ersten Erfolgen hier in Deutschland gleich nach Hollywood gegangen, um dort seine steile Karriere fortzusetzen. Hauptsächlich mit Psychothrillern und technisch aufwendigen Produktionen aus dem politischen Milieu. Kein Flop darunter, also eine sichere Bank. Vernon kannte Daniel persönlich aus der Zeit von der Filmhochschule hier in München, als er selbst noch Assistent bei einem Modefotografen war.

Filme machen war eine teure Angelegenheit, die nur mit einem entsprechenden Hintergrund und Beziehungen zu finanzieren war.

Und mit einem eisenharten Selbstbewusstsein.

Mit alldem war Daniel reich ausgestattet, im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Vater war der allein regierende Modezar Anfang der neunziger Jahre gewesen. Vernon hatte ihn und sein Gefolge einige Male am Set erlebt. Es war keine angenehme Erinnerung. Permanente Spannung. Ständig unter Strom. Viel Geschrei …

Sein Sohn stand ihm in nichts nach.

Wie auch immer.

Mit Daniel Liebermann hatte die Produktion auf jeden Fall einen Garanten für die Finanzierung des Filmes verpflichtet. Die potenziellen Investoren würden sich darum reißen, ihr Geld in den großen Topf zu werfen.

»Glückwunsch! Dann kann ja nichts mehr schiefgehen«, meinte er beeindruckt.

Eine Prise Knoblauch. Gerade richtig. Ein Schuss roter italienischer Landwein, wahrscheinlich der einfache Merlot Cavit vom Gardasee.

»Es … ist … einfach … super!«

Sie deutete eine energische Geste mit kraftvoll gebeugten Ellenbogen und geschlossenen Fäusten an. Leicht obszön angehaucht, aber bei modernen und erfolgreichen Frauen zur Zeit sehr in. Ein kraftvoller Hüftschwung noch und dann schrubbte sie mit einem Juchzer ab in die Küche.

Vernon setzte sich ergeben an den Tisch.

Ein Waffenstillstand war das jedenfalls nicht.

Eher ein bisschen Winken mit der weißen Flagge und ein anschließendes Rollkommando.

Er schmeckte noch einen halben Würfel Kraftbrühe heraus, aber das war okay. Klein geschnittene Cocktailtomaten …

Aus der Küche klangen zwei helle Stimmen, die versuchsweise die amerikanische Nationalhymne intonierten. Vernon stützte den Kopf in beide Hände und rieb sich anschließend seine müden Augen.

Es schien nicht so, dass sich der Rest seiner kleinen Familie große Gedanken über die Trennung machte.

Oder war er derjenige, der das Ganze zu dramatisch sah?

Auf jeden Fall fühlte er sich sehr einsam.

Kapitel 2

Mitte September, Samstagmorgen

Sie waren auf dem Weg zum Flughafen.

Vernon hatte am Abend zuvor vorsorglich schon mal den geräumigen Renault Vel Satis aus der Tiefgarage des Studios geholt, nachdem Christine in den letzten Tagen sämtliche Schränke auf den Kopf gestellt hatte.

Seine Sorge war jedoch unbegründet. Schon vor dem Frühstück standen lediglich zwei Koffer und zwei geschlossene Taschen neben der Tür zum Esszimmer.

»Alles, was wir brauchen, ist da drin«, hatte sie gesagt. »Den Rest kaufen wir uns drüben neu.«

Es war für ihn kaum zu glauben, aber seine Frau hatte anscheinend auf ihre gesamte europäische Kollektion verzichtet, obwohl sie doch ganz nebenbei bestimmt auch einen kleinen Modekrieg gegen ihre Busenfreundin Maria Schaeffler führen musste.

Kay dagegen hatte das alte Europa schon lange hinter sich gelassen. Sie lümmelte neben ihm in ihrer Baseballkluft auf dem Beifahrersitz, die Mütze tief in die Stirn gezogen, die Beine weit von sich gestreckt, die Schuhe auf der Ablage, die labbrige Hose hochgekrempelt.

Hinter ihm ging Christine mit lauter Stimme noch einmal ihre Checkliste durch.

»Ich habe hier in der beigen Tasche unsere Pässe, die Flugtickets und genügend Bargeld«, beruhigte sie sich selbst. »Und Kreditkarten. Und Dollars in kleinen Scheinen. Meine Unterlagen sind bereits bei Maria angekommen. Das hat sie mir per Mail bestätigt …«

Vernon hörte nicht weiter zu. Christines Litanei war nicht für ihn bestimmt. Sie schaukelte sich mit ihren eigenen Ritualen für das große Abenteuer ein.

Der Verkehr auf dem Mittleren Ring war sehr dicht. Die Schulferien waren zu Ende und die Stadt war voll von Touristen, die das spätsommerliche warme Wetter genossen und sich gleichzeitig auf den Beginn des Oktoberfestes freuten.

Vernon schaute auf die Uhr. Sie hatten noch drei Stunden Zeit bis zum Abflug. LH 0452, 11:15 Uhr, Ankunft in Los Angeles 14:30 Uhr Ortszeit. Neun Stunden Zeitunterschied.

Ein Katzensprung.

Stau am Olympiagelände. Unverständlich, denn ab hier gab es dank des Petueltunnels für die nächsten 20 Kilometer bis zum Flughafen keine Ampeln mehr.

Prompt kam von Christine der Vorwurf, dass sie zu spät losgefahren seien. Vernon sagte nichts dazu. Auch Kay neben ihm schwieg.

Er spürte förmlich die Erleichterung, als er den Wagen wieder in Bewegung setzen konnte.

Auf der A 9 in Höhe der Allianz Arena ging es flott voran, trotz dichtem Verkehr. Kay war immer noch sehr still.

Vernon stieß seine Tochter aufmunternd an. »Hey, du Frosch, von dir hör ich ja gar nichts mehr!« Frosch war so ziemlich die größte Beleidigung für seine Tochter, die er nur dann benutzte, um ihre Gemütslage zu ergründen.

Als er ihre flackernden Augenlider und ihre nassen Wangen bemerkte, wäre er vor Schreck beinahe auf den Vordermann aufgefahren.

Er öffnete ihren Gurt, streckte seinen rechten Arm nach ihr aus und zog sie zu sich heran.

»Mensch, Maus, was ist denn? Komm, sag mir, was dich bedrückt!«

Augenblicklich brachen sämtliche Dämme. Ihr schlanker Körper erbebte mit einem klagenden Ton und der nachfolgende Tränenschwall schwemmte ihre Stimme weg.

Jetzt musste auch Vernon kräftig schlucken. Er reihte sich in die rechte Spur ein und hielt einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu einem Biertransporter aus Freising.

»Papa, ich … will … nicht … weg!« Die Worte kamen schluchzend und heiser zugleich. »Kannst du nicht wenigstens am Anfang mitkommen?«

Vernon war tief gerührt. In Kays Bewusstsein war er also doch noch unter der alten Bezeichnung Papa vorhanden. Abgesehen davon spürte er eine Erleichterung, ja sogar eine Befriedigung. So ganz einfach ließen sich Menschen doch nicht von heute auf morgen in eine andere Umgebung verpflanzen, trotz globaler Erweiterungen, wie Christine die Reise in den letzten Wochen zu bezeichnen pflegte.

Er fragte sich, ob sie ähnlich empfand, aber von hinten kam nur Schweigen. Im Rückspiegel sah er ihren Kopf im Profil. Sie blickte nach draußen.

»Schau, Maus …« Er suchte nach Worten. »… machen wir es doch so: Du fährst schon mal rüber und suchst nach ein paar Sachen, die wir uns später zusammen ansehen können, wenn ich nachkomme. Eine Disco zum Beispiel, in der richtig was abgeht …«

Ein ziemlich blöder Trost. Soweit er sich erinnern konnte, war es lange her, dass er mit Kay etwas unternommen hatte. Letzten Sommer waren sie beide mit dem Katamaran auf den Starnberger See hinausgefahren und hatten das Boot bei starkem Wind zum Spaß immer wieder kentern lassen. Danach waren sie zum Eisessen in Ambach an Land gegangen und später in einer lauen Abendbrise wieder zurück in den Heimathafen nach Tutzing gesegelt.

Sie schniefte unter einem angedeuteten Lachen. Dann wand sie sich aus seinen Armen.

»So’n Quatsch, ey, ich geh doch nicht mit ’nem Grufti in die Disco!«

»Dort kennt uns doch niemand. Du sagst halt, du willst deinem Opa aus Germany mal zeigen, was richtige Musik ist.«

Sie lachte ihn mit nassen Wangen an.

»Und ich darf wirklich sagen, dass du mein Opa bist?«

»Klar, könnte doch sein, oder?«

»Das wäre cool. Dann wäre senil angesagt. Und du zahlst alles.«

»Natürlich.«

Er hielt ihr die Hand hin und sie klatschte ab.

»Abgemacht.«

Ein kleiner Frieden.

Kurze Zeit später verließen sie an der Ausfahrt Franz Josef Strauß Airport die Autobahn.

Franz Josef Strauß Airport. Seiner Meinung nach ein völlig unpassender Name für den Flughafen.

Aber wer fragt mich schon nach meiner Meinung?, dachte er in einer allgemeinen Verbitterung.

Die auf 80 km/h beschränkte Anfahrt zum Flughafen erinnerte ihn immer an die Anfahrt nach Disney World in Florida. Fast jeder hielt sich in gespannter Erwartung eines Abfluges oder einer Ankunft an die Geschwindigkeitsbegrenzung.

»Terminal 2«, sagte Christine hinter ihm. »Lufthansa. Fahr am besten gleich oben in die Kurzparkzone, da kannst du bestimmt stehen bleiben.«

Ich will aber nicht stehen bleiben, ich will euch zum Abflug begleiten, dachte er bei sich, sagte es jedoch nicht.

Trotzdem bog er wie geheißen in die obere Einfahrt ein. Weit kam er nicht, denn in der engen Zufahrt gab es einen Stau. Eine kleine Menschenmasse strömte hektisch über die Zebrastreifen zu den Eingängen.

»Mein Gott, was ist denn hier los!«, jammerte Christine aufgebracht.

Vernon beugte sich über das Lenkrad und stützte einen Arm auf.

»Wahrscheinlich ist die Maschine nach L. A. ausgefallen und die prügeln sich gleich alle um einen Sitzplatz für den nächsten Flug«, meinte er scherzhaft.

»Rede nicht so einen Blödsinn, Vernon!«

»Das stimmt doch nicht, oder?«, fragte Kay und sah ihn ängstlich an.

Als sie sein grinsendes Gesicht sah, klatschte sie wieder seine dargebotene Hand ab.

»Joke ist angesagt, sehr gut!«

Minuten später schob er sich vorsichtig an einem weiß- und türkisfarbenen Übertragungswagen des Bayerischen Rundfunks vorbei.

»Vermutlich ist irgendein wichtiger Politiker angekommen«, meinte er. »Hier krieg ich jedenfalls keinen Parkplatz. Wir müssen runter in die Tiefgarage.«

Aber auch auf der Rampe nach unten ging es nur im Schritttempo vorwärts.

»Keine Angst, wir kommen noch rechtzeitig«, sagte er beruhigend, als er die Reihen der geparkten Fahrzeuge abfuhr.

Endlich ein freier Platz. Kein Gepäckwagen in Sicht.

Christine schnappte sich mit beleidigtem Gesicht die zwei schweren Koffer und zog sie auf ihren Rollen in Richtung der Lifte.

»Hey, warte, wir helfen dir …!«

Keinerlei Reaktion. Vernon zuckte verständnislos die Schultern und schlug heftig den Kofferraumdeckel zu.

»Was hat Mama denn?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich der Stress. Also ganz ruhig bleiben. Wir haben alles im Griff.«

Christine wartete ungeduldig in der offenen Aufzugtür.

Nach einer schweigenden Fahrt im Aufzug kamen sie wenig später in der oberen Etage an. Als sich die Tür öffnete, standen sie vor einer wogenden Menschenmasse.

»Cool. Hier ist Terror angesagt.«

»Kay, bitte, mal den Teufel nicht an die Wand!«

»Scheiße, was ist denn hier los?« Vernon packte einen Koffer und schob sich immer wieder entschuldigend an Leuten vorbei, die mit hochgereckten Hälsen in eine bestimmte Richtung blickten.

»Vernon!«

»Ich kenne mich aus. Die Lufthansaschalter sind dort drüben!«

»Vernon, wir sind auf dem falschen Level. Das hier ist die Ankunftshalle!«

Er blieb stehen und suchte nach den Hinweistafeln.

Ankunft stand da. Tatsächlich.

»In Ordnung, kein Problem, alles zurück«, beruhigte er sich selbst. Er versuchte, die Menge zu ignorieren, und konzentrierte sich auf den Rückweg zum Aufzug. Oder zur Rolltreppe. Hauptsache, weg von hier.

»Divine! Das ist Divine!«, kreischte Kay plötzlich neben ihm. Sie kletterte auf den wackligen Samsonite, um besser über die Menge sehen zu können. »Halt mich fest! Halt mich fest, schnell!«

Divine?

Vernon umfasste seine Tochter an der Hüfte und stellte sich auf die Zehenspitzen, um etwas sehen zu können.

Es war unglaublich.

Keine zwanzig Meter vor ihm existierte eine Lichtung in dem Menschenwald, in der sich eine einzelne Person langsam nach vorne bewegte. Die Abgrenzung um sie herum besorgten dunkel gekleidete Männer mit ernster Miene. Das Erstaunliche war, dass die Bodyguards lediglich ihre Hände ausbreiten mussten, um die Leute zurückzuhalten. Niemand machte Anstalten, den imaginären Ring auch nur andeutungsweise zu durchbrechen.

In der Mitte besagte Divine.

Der deutsche weibliche Superstar des 21. Jahrhunderts.

Eine Inkarnation der jungen Marlene Dietrich.

Sängerin, Schauspielerin, Schriftstellerin.

Einen Oscar für die Hauptrolle in dem Film Sensity, einen Oscar für die beste Nebenrolle in Soundcheck.

Botschafterin des Fonds für Human Beings, Preisträgerin des Deutschen Buchhandels. Mit unendlich viel Platin, teils sogar mit Diamant für ihre CDs ausgezeichnet. Das Popidol der neuen Generation. Ihr Konzert im Madison Square Garden in New York vor drei Jahren war Legende, im Bekanntheitsgrad nur mit Woodstock zu vergleichen. Vor Wochen wurde ihr Name ernsthaft mit dem diesjährigen Friedensnobelpreis in Verbindung gebracht.

Vernon versuchte, die Gestalt zwischen den Köpfen vor ihm genauer zu fixieren. War das die echte Divine? Oder handelte es sich um ein Double? Soweit er es beurteilen konnte, schien es tatsächlich der Megastar zu sein. Die typischen kurzen dunklen Fransen, der leicht mitleidige Blick, die übliche schwarze Kleidung, hochgeschlossen bis zum Halsansatz.

»Komm, schnell, gib mir was zum Schreiben, ich hol mir ein Autogramm!« Kay fingerte in der Innentasche von seinem Jackett herum, zog flink einen Kugelschreiber und eine helle Karte heraus und sprang vom Koffer.

»Kay, verflucht, bleib hier! Die lassen dich doch nie …!«

Er wollte noch nach ihr greifen, aber sie war schon in der dunklen Menschenmauer verschwunden.

»Vernon, du spinnst wohl! Wie kannst du zulassen, dass … ach, verdammt! Los, hol Kay zurück!«

»Das ist Divine«, erklärte er.

»Ist mir wurscht. Hol Kay und mach schnell, bevor ihr was passiert. Wir müssen zum Abflug.«

Er blickte hilflos über die Köpfe hinweg. Schließlich schob er den Samsonite näher an seine Frau heran und drängte sich unter den Protesten der Umstehenden nach vorne.

Er kam nicht weit, denn die Masse schob sich plötzlich dicht an ihn heran und drückte ihn an die Informationsschalter hinter ihm.

Leise vor sich hin fluchend probierte er den Weg um die Schalter herum, mit dem Ergebnis, dass er erneut hinter einer Menschenansammlung stand, die schaulustig zu dem Auflauf hinüberblickte.

Von dort ertönte jetzt lautes Gejohle. Dann ein zögerndes Händeklatschen. Schließlich brandete sogar Beifall auf.

Vernon wurde unruhig. Hier war kein Durchkommen.

Mittlerweile strömten immer mehr Menschen in die Halle herein.

Eine Horde Teenager kam kreischend und mit wild fuchtelnden Armen von der oberen Rolltreppe herunter und schlug rücksichtslos eine Gasse zwischen die Reisenden.

Es hatte keinen Sinn, nach Kay zu suchen. Am besten war es, zum Ausgangspunkt zurückzukehren und darauf zu hoffen, dass sie bald auftauchen würde.

Der Weg zurück durch die sich nun auflösende Menge war einfach. Trotzdem kam er nur langsam voran, denn er musste begierigen Entgegenkommenden ausweichen, die noch einen letzten Rest von Divine mitbekommen wollten.

Kay war natürlich längst wieder zurück. Als sie ihn entdeckte, schoss sie auf ihn zu und hielt ihm voller Stolz die Karte unter die Nase.

»Ich habe es! Ich habe es!«

Erst jetzt bemerkte er, dass die Karte das Ticket für die Tiefgarage war.

»Kay, die Karte brauche ich für die Tiefgarage.«

»Ich habe es, ich habe ein Autogramm von Divine. Und sie hat richtig viel draufgeschrieben, nicht nur den Namen, siehst du?«

Er nahm ihr die Karte aus der Hand und kniff die Augen zu.

»Ohne Brille kann ich kein Wort von dem Gekritzel lesen.«

»Die Leute waren begeistert von mir, Daddy, weil ich die Einzige war, die sich getraut hat, an den Gorillas vorbeizugehen. Alle haben geklatscht. Und … und zuletzt hat mir Divine sogar die Hand gegeben.« Sie holte tief Luft. »Ich bin einfach die Größte!«

»Ja, toll. Aber das Ticket kannst du nicht mitnehmen. Das brauche ich, um aus der Tiefgarage rauszukommen.«

»Na gut. Kein Problem. Dann hebst du es einfach für mich auf. Aber nicht verlieren!«

Er steckte die Karte ein. Hoffentlich war sie durch die Schreiberei nicht unbrauchbar geworden.

Christine wartete voller Ungeduld.

»Können wir jetzt bitte endlich zum Abflug gehen? Ich habe keine Lust, alles über den Haufen zu schmeißen, nur weil meine Familie unbedingt Autogramme von Popstars sammeln möchte.«

»Natürlich, Liebes, sofort.«

Der Abschied war kurz. Obwohl noch viel Zeit übrig war, wollte Christine nach dem Einchecken so schnell wie möglich durch die Passkontrolle.

Vernon nahm Kay an der Hand.

»Okay, Frosch, L. A. ist angesagt.«

Er zog sie an sich.

Nachdem sie den Augenblick tapfer überwunden hatte, meinte sie mit fester Stimme: »Na gut. L. A. ist angesagt. Ich seh mal nach, was da drüben so abgeht.« Sie brachte ihre verrutschte Baseballmütze wieder in die richtige Position und schulterte ihre Tasche.

»Machen wir es kurz, ich will hier nicht rumheulen«, sagte Christine mit zittrigen Augen. »Außerdem werde ich in ein paar Wochen wieder hier sein, um einiges mit der Produktion zu besprechen.«

Sie küsste ihn flüchtig auf den Mund und umarmte ihn.

Zwischen ihnen stand der Samsonite.

Vernon ließ es gut sein.

Er wusste nicht, wohin mit seinen Händen, als er wie ein verlegener Pennäler zusah, wie die beiden in der Reihe vor der Passabfertigung warteten.

Ein dumpfes Gefühl von Inhaltslosigkeit stellte sich bei ihm ein. In spätestens fünf Minuten, wenn er den beiden noch einmal zugewunken hatte, konnte er frei entscheiden, ob er nach links oder rechts gehen wollte.

Oder einen Kaffee trinken gehen.

Oder die Gelegenheit nutzen, um ein Taschenbuch zu kaufen.

Merkwürdigerweise war man als Nichtreisender ein Fremder auf einem Flughafen. Er wusste schon jetzt, dass der Kaffee ihm ein Gefühl von Ablehnung vermitteln würde und der Chrombuchladen weiter vorne an der Ecke bestimmt kein Buch hätte, das ihn auch nur annähernd interessieren würde.

Kay hatte die Kontrollen schon passiert. Sie blieb stehen, nahm die Mütze ab und warf ihm ein Kusshändchen zu. Es war erstaunlich. Wäre er damals mit 13 Jahren in die USA geflogen, hätte ihm wahrscheinlich das Herz in den Hosen gehangen.

Er winkte mit einem blöden Grinsen zurück.

Christine debattierte noch mit einem Zollbeamten, raffte dann ihre Sachen zusammen und stopfte sie hastig in ihre große Tasche. Nach einer undefinierbaren Handbewegung in seine Richtung war sie dann auch verschwunden.

Er sah sich um.

Links oder rechts?

Kaffee oder Buch?

Alles Blödsinn. Natürlich würde er nach Hause fahren. Oder besser noch ins Studio. Dort konnte er in Ruhe die Vorbereitungen für die nächste Woche überprüfen.

Und einen Kaffee genießen, der ihn nicht ablehnend ansah.

Kapitel 3

Immer noch Samstag

Im Studio hing eine Feuchtigkeit wie in einem Schwimmbad.

Sie kam von dem riesigen flachen Glasbecken, das Kulissenbauer vor ein paar Tagen hier aufgebaut hatten.

Gefüllt mit 6000 Litern Wasser.

Dahinter war eine Bühne errichtet, die den Beckenrand eines Pools simulierte. Der Boden bestand aus violetten Kacheln. An den Wänden ebenfalls Kacheln, dunkelgrün mit gelben geschwungenen Streifen.

Ein wirres Muster.

An den Seiten große Palmen aus Plastik, die schräg und sinnlos in den Aufbau hineinragten.

In der Mitte stand der Star, für den der ganze Aufwand inszeniert war: das berühmte Zebrasofa der Designer Schmid und Sarkowski.

Die beiden wollten unbedingt eine Poolszene für ihr gutes Stück haben. Mit einem Licht, das von Scheinwerfern unter Wasser eine neokapitalistische Unruhe (Originalton Schmid) auf das unbequeme, dafür jedoch sündhaft teure Möbelstück warf.

Vernon hatte vorgeschlagen, die Aufnahme in einem Schwimmbad zu machen, aber es hatte sich keine passende Location gefunden. Ganz abgesehen davon hätten wohl jedem Schwimmbadbesitzer die Haare zu Berge gestanden, wenn man ihm die Farbkombination der Kacheln an seine Wände geklebt hätte.

Im Endeffekt eine Kostenfrage. Es war billiger gewesen, den kostspieligen Aufbau hier im Studio zu installieren, als vor Ort zu fotografieren und die Nerven eines stolzen Poolinhabers mit barem Geld zu beruhigen.

Das Sofa selbst stand auf einem zehn Zentimeter hohen Sockel aus senfgelben Kacheln. »Die Farbe symbolisiert die Savanne«, hatte ihm Schmid erklärt. (Aha!) Sein Kollege Sarkowski hatte dazu ernst genickt. Das Designerstück war aus einem einzigen Fell eines Zebras aus Südafrika gefertigt, einschließlich Schwanz und Brusthaar. »Das zottige Fell des Brusthaares steht für die Geilheit des Tieres. (Hört, hört!) Vergiss bitte nicht, es kurz vor der Aufnahme noch einmal aufzubürsten!«

Vernon stieg vorsichtig auf die Bühne. Das Zebrasofa war nicht sehr groß. Es hatte eine geschwungene Rückenlehne und eine einzige, winzige Seitenlehne. Liegen konnte man nicht darauf. Sitzen eigentlich auch nicht richtig. Im Grunde genommen war es ein Kunstwerk, das einen großen Raum brauchte, um zur Geltung zu gelangen. Ein Einzelstück. Kostenpunkt: 25 000 Euro.

Mehr Werbung als Möbel.

Der Aufbau stand in der hinteren Ecke des Studios, um nicht den ganzen Raum zu blockieren. Dort würde er auch in der nächsten Woche bleiben, denn nach den Fotoaufnahmen sollte ein Filmteam das Sofa mit verschiedenen Einstellungen in Szene setzen.

Ein eigener Werbefilm für die Designer. Für Messen, Ausstellungen und Galerien.

Außerdem wollte Schmid noch ein paar andere Ideen umsetzen. Vernon hatte keine Ahnung, was da zusätzlich auf ihn zukam, aber ihm konnte es nur recht sein. Jeder Tag war bares Geld. Schmid und Sarkowski hatten reichlich davon.

Er stieg auf die Bühne und setzte sich vorsichtig auf das Sofa. Es musste zu einem kleinen Tier gehört haben, denn die Sitzfläche war sehr schmal. Angeblich gab es sogar ein Zertifikat, das die Ausfuhr des Fells bescheinigte. Er fuhr mit der Hand über die Borsten. Sie waren hart und kratzig. Kopfschüttelnd strich er das Fell wieder glatt. Das Ding taugte wirklich nur zum Ansehen.