Seelenfreunde - Julie Barton - E-Book
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Seelenfreunde E-Book

Julie Barton

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Beschreibung

In ihrem bewegenden Memoir erzählt die Amerikanerin Julie Barton die Geschichte ihrer Depression. Sie ist Anfang Zwanzig, als sie nach der Trennung von ihrem Freund erkrankt. Verzweifelt sucht sie einen Ausweg aus der Krankheit, doch nichts hilft: Medikamente und Psycho-Therapie bleiben ohne Wirkung. Erst der Golden Retriever-Welpe Bunker kann sie aus der Traurigkeit befreien. Als sie mit seiner Hilfe gerade neuen Lebensmut schöpft, erhält sie die niederschmetternde Diagnose: Bunker leidet an einer angeborenen Hüftfehlstellung, ihm droht die Lähmung. Der Tierarzt rät, den Hund einschläfern zu lassen. Doch das ist für Julie keine Option, schließlich war es Bunker, der sie aus der Depression rettete. Und so beginnt nun sie, um das Leben ihres besten Freundes zu kämpfen. Die berührende und einzigartige Geschichte über die wunderbare Freundschaft zwischen einer Frau und ihrem Hund.

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Seitenzahl: 389

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Julie Barton

Seelenfreunde

Wie mein Hund mich aus der Depression rettete

Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Liebl

Knaur e-books

Über dieses Buch

In ihrem bewegenden Memoir erzählt die Amerikanerin Julie Barton die Geschichte ihrer Depression. Sie ist Anfang Zwanzig, als sie nach der Trennung von ihrem Freund erkrankt. Verzweifelt sucht sie einen Ausweg aus der Krankheit, doch nichts hilft: Medikamente und Psycho-Therapie bleiben ohne Wirkung. Erst der Golden Retriever-Welpe Bunker kann sie aus der Traurigkeit befreien. Als sie mit seiner Hilfe gerade neuen Lebensmut schöpft, erhält sie die niederschmetternde Diagnose: Bunker leidet an einer angeborenen Hüftfehlstellung, ihm droht die Lähmung. Der Tierarzt rät, den Hund einschläfern zu lassen. Doch das ist für Julie keine Option, schließlich war es Bunker, der sie aus der Depression rettete. Und so beginnt nun sie, um das Leben ihres besten Freundes zu kämpfen. Die berührende und einzigartige Geschichte über die wunderbare Freundschaft zwischen einer Frau und ihrem Hund.

Inhaltsübersicht

WidmungPrologTeil IAm Siedepunkt, New York CityIch höchstpersönlichPartielle Sonnenfinsternis, New York CityVorstadt-Graffiti, OhioPartielle Sonnenfinsternis, New York CityAbnehmender Zauber, OhioMänner, Kenyon College & New York CityTotale Sonnenfinsternis, Pennsylvania und OhioMitternacht, OhioSonnenuntergangDer falsche Hund, New York CityVersinkenBlarneyLake Beauchêne, QuébecRhythmus im BlutGanz untenBlutsbrüderschaftDie PsychiaterinBlassgelbe PillenBunker HillErster TagKein WunderHundeMedizinErste LektionIch kann nicht bleibenPro und Kontra – eine ListeTeil IIHeulenFall in Sun ValleyTante Auroras HausPflegekindBlind Date mit WG-Genossen1618 Taylor Avenue NorthArbeitFeuer und LuftErblühenSchneesturm in SeattleZwei gleichermaßen schlechte AlternativenSo viel wie ein GebrauchtwagenNeue Familie, wahrer FreundDie Bunker-PartyAuf TourGreg verlierenWenn er stirbt, sterbe ich auchWieder vereintAlles oder nichtsDie zweite HüfteMarymoor ParkNachwortDanksagung
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Für Greg, meine Mutter und meinen Vater,

und für immer und ewig: für Bunker.

Haustiere haben eine lebenswichtige Aufgabe, die bislang viel zu wenig gewürdigt wurde:

Sie bewahren Millionen Menschen vor dem Wahnsinn.

Wenn du einen Hund streichelst oder dem Schnurren einer Katze lauschst, kann der Verstand für einen Moment ausspannen, und in dir entsteht ein Raum der Stille – ein Tor in das Sein.

Eckart Tolle

 

Und nun lauscht mit den Ohren der Seele, denn das ist das Ziel dieser Geschichte.

Clarissa Pinkola Estés

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Prolog

Ich glaube, dass das Universum mir, als ich aus tiefster Seele litt, einen Heiler in Gestalt eines Hundes geschickt hat. Manche Leute finden diesen Gedanken kindisch, lächerlich und merkwürdig. Mag sein. Andere aber nicken und wissen genau, wovon ich rede.

Die letzten Jahre habe ich damit zugebracht, über meinen geliebten Bunker zu schreiben. Mit diesem Buch möchte ich etwas von seiner Weisheit weitergeben, weil sie mich tatsächlich geheilt hat.

Danke für das Vertrauen, das Sie mir entgegenbringen, indem Sie mich auf dieser Reise begleiten. Ob Hund oder Katze, ob Pferd oder anderer Vierbeiner, ich hoffe aus ganzem Herzen, dass Sie und Ihr geliebtes Tier sich in den nachfolgenden Seiten wiederfinden. Auch wenn diese Geschichte meine Geschichte ist, so vermute ich doch sehr, dass sie, da Sie zu diesem Buch gegriffen haben, viel mit der Ihren gemeinsam hat.

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Teil I

Am Siedepunkt, New York City

16. April 1996

Von der U-Bahn-Station zu meinem Apartment waren es nur sechs Blocks, doch ich war mir nicht sicher, ob ich das schaffen würde. Ich hielt meinen Blick fest nach unten gerichtet: auf den verschrammten Boden des Wagens der Linie 4, auf die kaugummiverklebten Stufen hinauf zur 86th Street, auf die schwarze Pfütze an der Ecke Lexington und 85th. Ich lebte jetzt fast schon ein ganzes Jahr in Manhattan, eine Woche nach meinem Collegeabschluss war ich von Ohio hierhergekommen. Dieses Jahr hatte ich als Lektoratsassistentin in einem Verlag in SoHo zugebracht. Mein Name wurde in den Danksagungen zweier Bücher genannt. Mein Chef sagte, ich sei die beste Assistentin, die er je gehabt habe. Ich hatte genug Geld zusammengekratzt, um meine Miete und meine Rechnungen pünktlich zahlen zu können. Ich hatte fürsorgliche Freunde und Eltern, die mich unterstützten und mir wünschten, dass ich im Leben Erfolg hatte. Außerdem stand ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

Ich hatte die U-Bahn-Station eben hinter mir gelassen, da fingen die schlimmen Gedanken an: Lauf doch vor dieses Taxi, das da die Lexington heraufrast. Oder vor den Bus, der gerade ankommt. Das waren keine Stimmen in meinem Kopf, nur fiese Gedanken, schlimme Gedanken, die ich nicht kontrollieren konnte.

Wären Sie mir damals auf der Straße begegnet, hätten Sie eine müde Frau von knapp über zwanzig gesehen. Vermutlich hätten Sie gedacht, ich sei verkatert oder habe seit Monaten nichts Vernünftiges mehr gegessen. Mit Letzterem hätten Sie sogar weitgehend recht gehabt. Ich war groß und trug ein schlabbriges T-Shirt über einem langen schwarzen Rock und dazu ausgetretene Dr.-Martens-Stahlkappenstiefel. Mein Haar, das einst blond den halben Rücken hinuntergeflossen war, hatte ich auf Ohrlänge absäbeln lassen, das Blond war zu einem Braun verschossen, das sich in den Schaufenstern eher grau spiegelte – das Ergebnis eines unbedachten Ausflugs in einen Drogeriemarkt und einer Flasche Haarfärbemittel zu drei Dollar.

Auf der East 82. Street bog ich um die Ecke, ging vorbei an rotbraunen Sandsteinhäusern mit Erkerfenstern und der P.S. 290, einer teuren Privatschule, in der man eines nie sah: Kinder. Ich stieg die Treppe hinauf zu meiner Wohnung im ersten Stock, schloss zwei Sicherheitstüren auf, sperrte drei weitere Schlösser auf, schlurfte nach drinnen und war endlich allein. Die Tür verriegelte ich fest. In meinem Apartment roch es nach saurer Milch und Staub. Für ein erstes Apartment nach dem College war die Unterkunft nicht übel: zwei übereinanderliegende Zimmerchen, die durch eine steile Holztreppe verbunden waren. Oben schaute ich von der winzigen Kochnische auf die unverputzte Ziegelwand im Wohnzimmer, unten war gerade genug Platz für ein kleines Bad und ein Schlafzimmer. Dort herrschte ewige klamme Dunkelheit. Das Fenster lag eineinhalb Meter über dem Fußboden und gab den Blick frei auf allerlei vorüberschlendernde Beine.

Im Wohnzimmer stand kein einziges Möbelstück, nur meine alte Stereoanlage, die ich schon seit Highschool-Tagen hatte. Daneben ein umgestürzter Stapel von CDs und Kassetten: Van Morrison, Ani DiFranco, Tori Amos, Big Star, Ella Fitzgerald, Metallica. Sie waren meine Gefährten in meinen dunkelsten Stunden, die Musik in meinen Ohren, denn in der Stille hörte ich nur die Gedanken in meinem Kopf. Es waren Gedanken, die ich weder bewusst registrierte noch in Frage stellte, Gedanken, die sagten, ich tauge nichts, sei dumm, hässlich und schwach. Unbrauchbar in jeder Hinsicht. Unbrauchbar fürs Leben.

Ich machte mich daran, Wasser zum Nudelkochen aufzusetzen. Ich stellte die Kochplatte an, füllte den Topf mit Wasser und setzte ihn auf die Platte. Kein großartiger Akt, so scheint es, doch ich hatte ein Gefühl, als hätte ich gerade einen Felsblock gestemmt. Selbst die einfachsten Verrichtungen fielen mir neuerdings ungeheuer schwer. Schuhe anziehen. Bluse zuknöpfen. Morgens wach werden. Ich schloss die Augen, während ich am Herd stand.

Dann setzte ich mich auf den Boden, den Kochlöffel noch in der Hand. Ich kann nicht sagen, ob mir bewusst war, was ich tat. Immerhin kann ich mich daran erinnern, falls das etwas besagt. Das Wasser begann zu kochen. Wassertropfen sprudelten aus dem Topf und zerplatzten zischend auf der heißen Platte. Ich blinzelte, legte eine Hand flach auf die staubigen Hartholzdielen und machte mich lang, bis ich ausgestreckt auf dem verkratzten Küchenboden lag. Mein linkes Augenlid zuckte.

Ich kam mir vor wie ein Roboter, dem der Saft ausging, wie eine Marionette mit durchtrennten Fäden. Ich musste es zum Telefon schaffen. Ich brauchte Hilfe. Irgendetwas stimmte ganz eindeutig nicht. Mir schoss noch durch den Kopf, dass der Küchenboden ein merkwürdiger Ort zum Schlafen sei. Dann bemerkte ich an der Kühlschranktür einen alten, braunen Soßenfleck, ein eingetrocknetes, erstarrtes Rinnsal. Ich betrachtete es aufmerksam, weil es nicht hierhergehörte. Ich gehörte nicht hierher. Mein Kopf lag auf meinem Arm, ein Zucken in der Wirbelsäule, und weg war ich.

Alle Geräusche verschmolzen zu einem gewaltigen Echo: das Hupen der Autos draußen, der Flügelschlag der Tauben, die Stimmen und das Getrappel der Passanten, das Brummen des Kühlschranks. Ich lag da wie betäubt, und in meinem Kopf hämmerte es: Nervenzusammenbruch, Nervenzusammenbruch. Die Worte hallten in meinem Kopf wider wie ein Klagegesang, wie ein Seilhüpflied. Mach kein solches Theater, höhnten die Gedanken weiter. Du hast keinen Nervenzusammenbruch. Du bist nur ein verdammter Loser. Bring dich doch einfach um. Mach endlich irgendwo ein Seil fest, wickle es dir um den Hals und spring.

Vor New York hatte ich mein ganzes Leben in Ohio zugebracht. Ich war des Mittleren Westens mit seinen fernen Horizonten und dunklen, stillen Nächten überdrüssig geworden. Irgendetwas fühlte sich dort immer verkehrt an. Während eines Großteils meiner Highschool- und Collegezeit dachte ich, ich sei einfach am falschen Ort zur Welt gekommen. Ich sah viel fern und kam dabei zu dem Schluss, dass ich in die Großstadt gehörte und nicht nach Ohio. Da war einfach geographisch etwas schiefgelaufen. Meine glücklich verheirateten Eltern konnte ich nicht für mein Unglück verantwortlich machen. Nur mit meinem Bruder stritt ich heftig, aber ich dachte, das sei normal. Es musste erst dieser Nervenzusammenbruch erfolgen und anschließend mehrere Jahre Therapie, damit ich erkannte, dass es das nicht war.

Mein Leben in der Großstadt bekam einen ersten Knacks, als ich von einer Bekannten erfuhr, dass Will, der Junge, mit dem ich seit meinem dritten Collegejahr ging, mit anderen Mädchen herumgemacht hatte, während ich zu Hause auf meinen Abschluss hinarbeitete. Eigentlich hätte er ja auf mich warten sollen, denn der Plan war, dass ich nach New York nachkomme und wir unser Leben dort gemeinsam führen würden. Ich stellte ihn also zur Rede, wir stritten uns wochenlang, und schließlich trennten wir uns. Er spielte in einer Band und meinte, er müsse sich auf seine Musik konzentrieren. Ich wusste, dass das nur so dahingesagt war, und litt schwer unter dem Ende unserer Romanze. Will war mein Trost gewesen, und nun war er nicht mehr da. Ich war eine Frau, der es nur gut ging, wenn sie von einem Mann geliebt wurde, und es musste dieser Mann sein. Will. Und kein anderer. Andere Männer machten mir Angst. Ich streifte einsam durch die Straßen der Stadt im Gefühl, auf dieser Welt keinen sicheren Hafen mehr zu haben. Dann, nach drei Wochen Funkstille, fing Will an, mich um drei Uhr morgens anzurufen und zu fragen, ob er rüberkommen und reden könne. Ich sagte jedes Mal ja, und jedes Mal wieder landete ich mit ihm im Bett. Meine Sehnsucht nach ihm war so stark, dass ich sie wie eine magnetische Kraft auf meiner Haut spürte. Als unsere Beziehung endgültig in die Brüche ging und mir keinerlei emotionale Sicherheit mehr bot, implodierte ich förmlich.

Der Kulturschock der Großstadt und diese schwierige Trennung waren schon klare Hinweise, dass da bei mir noch etwas anderes im Busch war. Es lag nicht nur daran, dass ich jung, unsicher und naiv war und ein gebrochenes Herz hatte. Es war nicht bloß, dass mein Freund andere Frauen und seine Band mir vorzog. Irgendetwas Dunkles, Unerbittliches rumorte in mir.

Leah, meine Mitbewohnerin, war ein paar Wochen vor Beginn dieser Geschichte aus Manhattan weggezogen. Zu der Zeit war ich mir absolut sicher, dass ich der Grund für ihren eiligen Abgang war. Wir kannten uns vom College und bezogen in New York eine gemeinsame Wohnung – nicht etwa, weil wir dicke Freundinnen waren, sondern weil es gerade gepasst hatte. Sie war hübsch, zierlich, hatte blondes Haar und große himmelblaue Augen. Auch sie hatte einen Freund, der ein Jahr vor ihr seinen Abschluss gemacht hatte und nun in der Stadt lebte. Ein paar Wochen nach ihrer Ankunft in Manhattan hatten die beiden sich ebenfalls getrennt, aber sie schien gut damit klarzukommen. Sie ging danach ganz selbstverständlich zur Tagesordnung über, als wäre die Trennung sein Problem und nicht ihres. Als Will und ich uns trennten, verging ich fast vor Liebeskummer. Ich war total auf ihn fixiert und beschäftigte mich nur mit ihm, mit dem, was er tat, und mit wem er zusammen war. Das ließ mich zerstreut und fahrig werden, nicht gerade die Grundpfeiler für eine Freundschaft.

Als ich auf dem Boden wieder zu mir kam, war ich wie geblendet. Ich sah rundherum nur stumpfes Grau. Ich hielt mir die Hand vor die Augen, um zu testen, ob ich wirklich mein Sehvermögen verloren hatte. In dem dichten Nebel konnte ich meine Finger kaum ausmachen. Ich musste husten. Meine Lungen schienen wie mit heißer Watte ausgestopft. Es roch stechend, wie nach brennender Holzkohle. Ich bewegte meinen Arm und stieß mit den Knöcheln gegen den Kühlschrank. Da war der Soßenfleck, der da nicht hingehörte.

Ich roch Rauch. Keuchend tastete ich mich vom Kühlschrank zum Herd. Hätte es in meinem Apartment einen funktionierenden Rauchmelder gegeben, er hätte losgeheult. Ich drehte die Kochplatte ab und lauschte dem Knistern und Knacken des Topfes, ehe ich mich hinlegte und erneut in Dunkelheit versank.

Als ich aufwachte, schien die Sonne. Autos hupten. Es war Morgen.

Daheim. Ich muss daheim anrufen.

Durch den immer noch rauchigen Nebel wurde mir bewusst, dass ich schluchzte. Ich hatte die ganze Nacht auf dem Küchenboden gelegen. Ich hustete, keuchte. Biss die Zähne zusammen. Der Kummer hatte mich mit solcher Gewalt überfallen, dass ich das Gefühl hatte, er würde mich atomisieren, mich in Millionen kleinster Moleküle zerfetzen. Das schreckliche, einsame, unbeschreibliche Gefühl, das so lange unter meiner Haut gelauert hatte, war hervorgebrochen und hatte die Kontrolle übernommen. Während ich weinte, kamen wieder die schlimmen Gedanken: Du bist so dermaßen dämlich. Steh auf und geh zur Arbeit wie alle anderen Leute auch. Glaubst du vielleicht, du bist was Besonderes, dass du hier den ganzen Tag auf dem Fußboden rumliegen kannst?

Erneut wachte ich auf, konnte mich aber nicht erinnern, eingeschlafen zu sein. Ich robbte auf den Ellbogen über den Fußboden, hielt kurz inne, um zu husten und zu weinen, und verfiel dann abermals in tiefen Schlummer. Der Schlaf kam wie ein Segen. Ich war so unendlich müde.

Im Laufe des Vormittags, der Qualm hatte sich weitgehend verzogen, schaffte ich es endlich bis zum Telefon. Wieder schlief ich ein, den Apparat gegen die Brust gedrückt, und schreckte auf, als der Hörer aus der Schale rutschte. Ich drückte eine Taste, hörte den Wählton. Ich rief meine Mutter in der Arbeit an. Sie unterrichtete an der Highschool. Ich rief sie so gut wie nie in der Schule an, diesmal aber hinterließ ich eine Nachricht für sie im Sekretariat. »Bitte sagen Sie ihr, ihre Tochter habe angerufen. Es handelt sich um einen Notfall.«

Erschrocken fuhr ich aus dem Schlaf auf, als das Telefon läutete.

»Mom?«, sagte ich mit vom Rauch kratziger Stimme.

»Julie? Was ist los?«, fragte sie. Sie wartete. »Julie?«, sagte sie noch einmal, der Panik nahe. Der Klang ihrer Stimme war ein Wundermittel für mich. Da war jemand, der sich um mich kümmerte. Gott sei Dank kümmerte sich jemand um mich.

»Es ist was passiert«, sagte ich und unterdrückte ein Schluchzen. »Ich glaube, ich habe einen Zusammenbruch oder so was gehabt.« Ich lag in meinem mehr oder weniger leeren Apartment mit sicher wirrem Haar, dunklen Augenringen und Beinen, die so schwach waren, dass ich nicht darauf stehen konnte. Ich spürte einen enormen Druck in der Brust. Ich wollte meinem Leben ein Ende setzen.

»Ich komme und hole dich«, sagte sie. »Ich steige sofort ins Auto. In genau neun Stunden bin ich da. Du kommst mit mir nach Hause.« Ich ließ das Telefon los, und es schlitterte über den Boden.

»Danke, Mom«, flüsterte ich und versank in Schlaf.

Meine Mutter hat mir später erzählt, sie sei sofort zum Direktor gegangen und habe gesagt: »Ich muss sofort weg. Es gibt einen Notfall in der Familie.«

Sie eilte nach Hause, packte eine Reisetasche und machte sich auf die neunstündige Fahrt von Columbus, Ohio, nach Manhattan. Die Sorge hielt sie wach, bis sie halb Pennsylvania durchquert hatte. Aber als sie am Steuer fast eingeschlafen wäre, fuhr sie vom Highway ab und ging in ein Motel. Sie schlief in ihren Kleidern und rief mich um sieben Uhr morgens an, um mir zu sagen, dass sie vor Mittag in meinem Apartment sein würde. »Du kommst mit mir heim«, sagte sie noch einmal. Ende der Diskussion.

Ich war zweiundzwanzig, ein Jahr raus aus dem College, vielversprechend, aber leider dysfunktional. Mittlerweile weiß ich, dass dieses Gefühl als Depression bezeichnet wird, aber damals hatte ich dafür keinen Namen. Es war ein Phantom, ein Spuk, und es hatte die Kontrolle über mich übernommen. Es hockte auf meiner Brust, befahl mir, allen einen Gefallen zu tun und mich vom Acker zu machen.

 

Soweit wir das aufgrund von Aufzeichnungen des American Kennel Club, einem Verband von Rassehundezüchtern, und alten Zeitungen sagen können, war der Tag, an dem ich unter der Last meines Kummers zusammenbrach, derselbe Frühlingstag, an dem Bunker Hill das Licht der Welt erblickte. Er war ein Golden-Retriever-Welpe, geboren auf einer kleinen Farm, einem Familienbetrieb im mittleren Ohio. Er stammte aus einem Wurf von sieben Welpen, war nicht der Größte, aber auch kein Kümmerling. Er kam in einer Waschküche zur Welt, auf einem Haufen alter Handtücher, die nach Waschpulver und nassem Hund rochen. Eine Frau war dabei, als er geboren wurde, auch wenn er sie nicht sehen oder hören, sondern nur ihre Haut riechen konnte. Bunker kam hilflos und nahezu reglos zur Welt, bis seine Mama – groß, rötlich, sanft und fürsorglich – ihn sauber leckte und er seinen ersten Atemzug tat. Er war der zweite gesunde Rüde, ein pelziges Etwas voller Sehnsucht und Bedürfnissen. Er war blind, taub und zahnlos, unfähig, seine Körpertemperatur zu regulieren, und unfähig, sich ohne das stimulierende Bauchlecken seiner Mama zu erleichtern. Ein wackelnder Wurm von einem Welpen, dessen Augen noch geschlossen waren und dessen Ohren erst noch wachsen mussten. Er suchte ständig verzweifelt nach seiner Mutter, damit sie ihn nährte, liebkoste, wärmte und umsorgte.

Genau wie ich.

Ich höchstpersönlich

Herbst 1982

Ich besitze heute noch das Tagebuch, das meine Eltern mir zum neunten Geburtstag geschenkt haben. Es wurde zu einem der ersten Anläufe, die ich unternahm, um Zugang zu meiner Kindheit zu finden, nachdem ich in New York auf dem Küchenboden zusammengebrochen war. Das Tagebuch trug den Titel Ich höchstpersönlich. Ein Buch über mich von Kopf bis Fuß. Vom hellgelben Einband strahlte ein Unisex-Kind mit einem Pinsel in der Hand. Sobald der letzte Gast meiner Geburtstagsparty gegangen war, rannte ich auf mein Zimmer, um meine Bitte-die-leeren-Felder-ausfüllen-Biographie zu beginnen. Ich kuschelte mich in mein Bett und schrieb, dass mein Haar strohblond und meine Augen wie Brownies seien. Ich schrieb, meine Lieblingsfarbe sei Grün. Meine Lieblingsserien waren Fame – Der Weg zum Ruhm und Die Schlümpfe. Meine Lieblingsbücher waren Wilbur und Charlotte und Der Wind in den Weiden. Ich schrieb, dass ich an verregneten Tagen am liebsten schrieb und schlief.

Auf der Seite über Gefühle hieß es: »Ich habe viele verschiedene Gefühle …« Ich füllte die leeren Felder aus.

Ich bin echt glücklich, wenn mein Dad glücklich ist.

Ich bin echt traurig, wenn ich allein bin.

Ich bin zornig, wenn mich mein Bruder aufzieht.

Und es tut echt weh, wenn mein Bruder mir weh tut.

Ich zeichnete ein kleines Gesicht mit gerunzelter Stirn und zwei schwarzen Augen, und aus jedem Auge kullerten zwei Tränen. Ich schrieb: Ich kann bis acht zählen, ohne zu blinzeln, und: Mein Hund ist so schön. Und: Blaue Flecke sind hässlich.

Mit zehn hatte ich eine Menge blauer Flecken. Die meisten an meinen Armen. Am liebsten schlug mein Bruder mich auf die Oberarme, aber ich hatte solche Male auch an den Schienbeinen. Sie stammten von seinen Tritten oder den Stühlen, die er mir zwischen die Füße warf. Seine Prügelattacken traten nur sporadisch auf und meist dann, wenn wir allein waren. Waren meine Eltern nicht in der Nähe, zischte er mir zu: »Loser. Guck dich doch an mit deiner hässlichen Visage.« Dann tat er so, als würde er mir einen Schlag versetzen, und lachte, wenn ich zusammenzuckte. Nach solchen Aktionen war ich immer fix und fertig.

Viele größere Brüder sind gemein und irgendwie unglücklich. Ich hielt es daher für normal, dass meiner mir Schimpfworte an den Kopf warf wie: Schlampe, Hure, Loser, Schwachkopf, Schreckschraube, Psycho, Arschgesicht. Und mich verprügelte. Brutal. Er spuckte mir ins Gesicht. Er stieß mich zu Boden. Er trat mich mit Füßen. Er riss mich an den Haaren. Er jagte mich mit Messern. Ich begriff nicht, dass Clay massive Probleme hatte. Ich dachte, das sei einfach die Art und Weise, wie größere Brüder sich benehmen. Ich wusste nicht, dass er darunter litt, dass unser Vater so viele Stunden im Büro verbrachte und dass die emotionale Distanz unserer Mutter ihm den notwendigen Halt raubte. Mir war nur klar, dass er mich hasste und ich ihm nichts recht machen konnte. Ich fühlte mich zu Hause nicht sicher, wenn er da war. Dass ich ein sehr sensibles Kind war, machte es nicht eben leichter. Ich glaubte, dass meine Stofftiere Gefühle hätten, deshalb las ich ihnen aus Beatrix-Potter-Büchern vor und bettete sie dann sanft zum Schlafen.

Einmal stieß Clay mich derart heftig, dass ich von der Wand zurückprallte und mit dem Kopf voran gegen eine Angel der Waschküchentür fiel. Er stieß mich, weil ich einmal zu oft gefragt hatte, welches der Mädchen der 1983er-Badeanzüge-Sondernummer von Sports Illustrated (auf dem Cover Cheryl Tiegs, die sich in einem fast transparenten weißen Einteiler in einen Wasserfall lehnt) er und sein Freund am hübschesten fänden.

Mein Vater hatte den Krach gehört. Er stürmte aus seinem Arbeitszimmer und fand mich bewusstlos in einer Blutlache liegend. Ich kam wieder zu mir, war aber völlig desorientiert. Mein Vater geriet in Panik und fing zu schreien an. Er trug mich zum Auto und raste zur nächsten Notaufnahme, wo eine allerliebste Krankenschwester meine Hand hielt, während eine Ärztin mit braunem Pferdeschwanz meine Kopfwunde mit ein paar Stichen nähte. Ich weiß noch, wie ich damals dachte, diese Frauen würden wie Engel strahlen. Als wir wieder zu Hause waren, stauchte mein Vater Clay hinter verschlossener Tür zusammen, ich aber war tatsächlich der Meinung, das sei meine Schuld. Ich hätte ihn und seinen Freund nicht nerven sollen. Ich wollte, dass mein Vater aufhörte zu schreien, denn bald, so viel war klar, würde er wieder im Büro sein und ich wäre meinem Feind schutzlos ausgeliefert. Nur dass dieser dann noch wütender auf mich wäre.

Die Wunde verheilte zu einer rosafarbenen Mondsichel an meiner rechten Schläfe, durch deren offene Seite wie durch ein Leck all meine Hoffnung, mein Selbstwertgefühl und mein Vertrauen versickerten. Ich habe unzählige Stunden darauf verwandt, die Beziehung zu meinem Bruder mit therapeutischer Hilfe schreibend aufzuarbeiten. Ich habe zu verstehen versucht, wo meine Eltern während dieser wütenden Attacken waren und warum sie mir nicht beistanden.

Mein Vater arbeitete als Anwalt für eine Kanzlei in Columbus und machte immens viele Überstunden. Irgendwie schien das Geld nie zu reichen, und so ging die Arbeit für ihn stets vor. Die Stimmung bei uns zu Hause schwankte mit dem Ausmaß seiner Arbeitsbelastung. Bereitete er einen wichtigen Prozess vor, durften wir ihn nicht stören. Hatte er gerade einen Fall verloren, so durften wir ihn gleichfalls nicht stören. Er hatte keine Zeit, um seine Aufmerksamkeit an das zu verschwenden, was in seinen Augen nur belanglose Zänkereien zwischen Bruder und Schwester waren. Vater war ein Einzelkind und als solchem fehlten ihm Vergleichsmöglichkeiten, um die Kämpfe zwischen seinen Kindern richtig einzuschätzen. Als ich ihn später als Erwachsene fragte, warum er uns nicht geholfen habe, sagte er, dass er zu wenig zu Hause gewesen sei, um viel von dem Drama mitzubekommen, und er nicht gewusst habe, dass die Rivalitäten zwischen uns so schlimm waren.

Meine Mutter wurde nicht mit uns fertig. Sie erzählte, dass sie und ihre zwei Schwestern als Heranwachsende auch gestritten hätten, doch da sei es um so Sachen wie Lockenstäbe gegangen, aber die Hand gegeneinander erhoben hätten sie so gut wie nie. Diese Situation war auch für sie Neuland. Ihr Rezept für unsere gestörte Beziehung war, darauf zu hoffen, dass sich irgendwann schon alles einrenken würde. Sie versuchte, so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Dann würde, so dachte sie, schon alles gut werden. Manchmal verließ sie einfach das Zimmer, wenn wir aufeinander losgingen. Später, als ich schon erwachsen war, gestand sie mir, dass sie sich einmal unter ihrem Bett versteckt hatte, als wir uns besonders erbarmungslos in den Haaren lagen. Sie erzählte, dass sie im Fernsehen bei einer Talkshow – möglicherweise in Phil Donahues Sendung – gehört habe, dass Geschwister letztlich immer um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern kämpften. Seien die Eltern nicht da, so hieß es dort, würden die Kinder auch nicht streiten. Ich kann mir nicht helfen, aber ich muss immer wieder an meine Mutter denken, wie sie sich unter dem Bett versteckt, während ich ein paar Zimmer weiter verprügelt werde. Dabei hatte sie wirklich versucht, das Richtige zu tun.

Ich begriff recht bald, dass meine Eltern mit unseren Rivalitäten nicht umgehen konnten und ich auf mich selbst gestellt war. Ich weiß heute, dass die Gründe, warum Clay mich geschlagen hat, mit mir nichts zu tun haben. Er hat sich mittlerweile bei mir entschuldigt, aufrichtig, aber auch distanziert. Es tue ihm leid, was passiert ist. Doch angesichts der Tatsache, dass er sich an so vieles, was zwischen uns vorgefallen ist, nicht mehr erinnert, während es in mein Gedächtnis für immer eingebrannt ist, frage ich mich, ob sein Trauma so tief reicht, dass sein Geist sämtliche Erinnerungen an die Vergangenheit gelöscht hat. Aber ich frage mich manchmal ebenso, ob vielleicht ich mich falsch erinnere. Darum betaste ich von Zeit zu Zeit die mondsichelförmige Narbe an meiner rechten Schläfe. Sie beweist, dass diese Dinge geschehen sind und ich Wunden davongetragen habe. Natürlich hätte ich, als ich zweiundzwanzig war, auch ohne Kindheitstrauma Depressionen bekommen können. Die meisten psychischen Störungen setzen gegen Ende der Teenagerjahre ein und erreichen ihren Höhepunkt in den frühen Zwanzigern. Mein Timing war also optimal.

Am Tag meiner Geburt, dem 1. Oktober 1973, stand der Mond in seinem ersten Viertel. Von der Erde aus waren vierundzwanzig Prozent seiner bauchigen Oberfläche zu sehen, und die Sichel des zunehmenden Mondes zeigte dieselbe Form wie die Narbe auf meiner Schläfe. Darum bin ich mir gewiss, dass dieses Geschwistertrauma Teil der Geschichte ist, die hier erzählt werden soll. Doch alle Geschichten reißen und zerren an mir, und so bin ich hin- und hergerissen. Im einen Moment empfinde ich tiefes Mitgefühl für meinen Bruder, der schrecklich gelitten haben muss. Im nächsten überkommt mich der Zorn: Dann rase ich tief innen vor Wut und möchte am liebsten etwas kaputt schlagen. Wieso zum Teufel hat mir niemand geholfen?!

Natürlich habe ich damals, als ich auf dem Küchenboden in Manhattan lag, noch nicht verstanden, wie das eine mit dem anderen zusammenhing. Ich hielt mich nur für eine Idiotin, einen Schwächling. Als ich auf dem Fußboden zusammenbrach, war der Draht zwischen mir und meinem Hirn – aus dem nur ein schwaches Signal kam – fast vollständig durchtrennt. Ich flog wie ein Pingpong-Ball zwischen Anforderungen und Erwartungen hin und her, ohne jede Verbindung zu dem kleinen Mädchen, das unter dem schwarzen, schweren Mondstaub begraben lag.

Partielle Sonnenfinsternis, New York City

17. April 1996

Ich erwachte desorientiert. In meinem Kopf hämmerte es. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich merkte, dass das Telefon läutete. Ich kroch hinüber und drückte auf die Rufannahmetaste.

»Hallo Liebling«, hörte ich meine Mutter in ihrem üblichen Singsang sagen. »Ich bin jetzt in Pennsylvania, direkt östlich hinter Harrisburg. Ich mache gerade den Tank voll und bin gegen Mittag da.«

»Okay«, sagte ich mit heiserer Stimme.

»Ich bin wirklich bald bei dir«, versprach sie. »Fang schon mal an zu packen. Du fährst mit mir nach Hause.«

Ich hörte, wie die Verbindung beendet wurde. Ich wollte sie noch fragen, wie spät es war. Morgen? Abend?

Wieder wachte ich auf. Das Einschlafen war wie eine Ohnmacht. Es gab keinerlei Vorwarnung: In der einen Minute war ich noch da, in der nächsten schon weg, ohne die geringste Ahnung, wie lange ich weg gewesen war. Mit dem Aufwachen kam die Orientierungslosigkeit, jetzt aber musste ich pinkeln. Der Raum drehte sich. Eigentlich hätte dieser Raum mein Wohnzimmer werden sollen, nachdem Leah ausgezogen war, aber er enthielt nichts außer einer Kommode, die ich von der Straße gerettet hatte, und die Basisstation meines Telefons, die an einem geknickten Draht herabhing. Der eingebrannte Topf stand immer noch auf dem kleinen Küchenherd. Die aufgerissene Nudelpackung lag umgestürzt herum.

Als ich mich aufsetzte, sah ich Sternchen und blaue Lichtpunkte. Ich blieb mit ausgestreckten Beinen und kraftlosen Händen hocken, bis das Tosen in meinen Ohren aufhörte. Meine Haut machte quietschende Geräusche auf dem Boden. Ich drückte mich in die Höhe, den Hintern weit emporgestreckt, und wackelte dabei wie eine Betrunkene. Ich schob mich an der unverputzten Ziegelwand hoch. Die Gedankenspirale in meinem Kopf, deren wahre Natur ich noch nicht kannte, lief weiter: Du bist dumm und schwach. Du bist dick und hässlich. Du kriegst nichts auf die Reihe. Diese Wohnung wartet nur darauf, dass du endlich von hier verschwindest mitsamt deiner negativen Energie. Gedanken werden Überzeugungen – und ich war überzeugt davon, wertlos zu sein. Ich glaubte, dass dieser unbelebte Raum mich hasste. Diese Gedanken waren für mich so normal wie das Gefühl von Hunger oder Müdigkeit, sie waren einfach ein Teil von mir.

Schließlich schaffte ich es die Treppe hinunter zur Dusche, getrieben von dem Gefühl, dass in ein paar Stunden meine Mutter an meine Tür klopfen würde und ich nicht wollte, dass sie sah, wie schlecht es mir wirklich ging.

Unter der Dusche fühlte sich das Wasser auf meinem Gesicht an wie die Hand eines Engels. Ich war so dankbar für diese Berührung, dass ich zu weinen anfing. Und dann wurde aus dem Weinen ein seltsames, schrilles Schreien. Denn wer bildete sich schon ein, dass Wasser die Hand eines Engels ist, die über sein Haar streicht? Ich wusste genau, wer sich solche Dinge einbildete – Geisteskranke. Die Sorte, deren Schicksal es war, ihr Leben mit einem Müllsack als Mantel, mit urindurchtränkter Hose und einem Einkaufswagen statt eines Bankkontos zu führen.

Irgendwo in einem entlegenen Winkel meines Geistes erhaschte ich einen Blick auf das Selbst, das wahrhaft Ich war, ein kleines Rund unberührter Seele tief drinnen. Und dieses Rund kapitulierte nun. Alles, was das Wasser mir sagte, war: »Lass los. Lass einfach los. Es ist zu schwierig. Es ist Zeit, loszulassen.«

Und das tat ich dann auch. Ich hockte mich auf den Boden der Dusche und heulte. Ich wusste nicht, was mit mir los war. Mein Freund hatte mit mir Schluss gemacht, ja. Mein Job ödete mich an, ja. Meine Freunde hatten mein Elend über, ja. Doch all das rechtfertigte nicht die Qualen, die ich litt. Und da fing ich an, abermals darüber nachzudenken, ob es nicht eine Erleichterung wäre, meinem Leben ein Ende zu setzen.

Jahrelang hatte ich mich bemüht, einen emotionalen Schutzwall gegen diesen Schmerz zu errichten. Aber irgendwie schien nach dem College der Spalt an meiner Schläfe noch größer geworden zu sein. Die Mondsichel war im Zunehmen begriffen. Ich konnte es kaum ertragen, wenn die Leute mich anschauten. Die tägliche Fahrt zur Arbeit mit der U-Bahn war für mich eine Tortur wegen dieser Augen. So viele Augen. Die furchtbaren Gedanken in meinem Kopf überzeugten mich, dass ausnahmslos alle mich mit Abscheu betrachteten.

Der Türsummer weckte mich. Einmal mehr war ich in Schlaf versunken wie ein Astronaut, der ohne Sicherungsleine in den Weltraum abtreibt. Ich zitterte, weil mich mein altes, kratziges Badetuch mit den blauen und roten Segelbooten nicht warm hielt. Wieder quäkte der Türsummer, hörte nicht auf. Ich richtete mich auf, mein nackter Leib war schwer, und dann stieg ich, das feuchte Badetuch gegen meine Brust drückend, die Treppe hinauf. Der Türsummer läutete weiterhin Sturm. Ich wollte rufen, dass ich unterwegs sei, doch ich hatte weder genug Luft noch genug Energie oder Willenskraft.

Ich drückte auf den Türöffner, um die Eingangstür aufzumachen. Dann sperrte ich alle vier Schlösser auf, die Augen kaum spaltbreit geöffnet. Ich wusste, dass dies der Wendepunkt war. Wenn ich jetzt meine Mutter hereinließe, dann hätte ich kapituliert und würde zurück nach Ohio gehen. Ich würde jede Hoffnung zurücklassen, je wieder mit Will zusammenzukommen, mit dem Mann, den ich zu brauchen glaubte. Ich würde mein Leben in New York aufgeben. Vielleicht würde ich mein Leben sogar ganz aufgeben.

 

Am 17. April 1996, dem zweiten Tag in Bunkers Leben und meinem zweiten Tag auf dem Boden, fand eine partielle Sonnenfinsternis statt. Der Mond trat zwischen Sonne und Erde und verdunkelte das Licht. Zwar war die Sonnenfinsternis nur in den Tiefen der südlichen Hemisphäre sichtbar, doch der Mond, mein ständiger Begleiter, hatte sich vor die Sonne gestellt und die Dunkelheit eingelassen.

Kein Licht für mich. Kein Licht für Bunker, dessen Augen noch nicht geöffnet waren. Als ob wir beide dem Ort zustrebten, an den wir gehörten: Das Dunkel war der Ort, an dem wir uns begegneten, wo unsere Seelen sich trafen. Wir wussten es damals noch nicht, doch wir glitten, in jenem Augenblick, als der Mond sich vor die Sonne schob, in die lange und beschwerliche Rast hinein, die unserer Vereinigung, die dem Licht vorangehen sollte.

Vorstadt-Graffiti, Ohio

1983

Ich war zehn, mein Bruder dreizehn, und wir stritten wieder einmal. Er jagte mich den Gang entlang auf mein Zimmer zu. Außer Atem rettete ich mich mit einem Satz hinter die Tür. Ich hatte gerade noch genug Zeit, sie zuzuschlagen und zu versperren. Ich kroch auf mein Bett und drückte mich in die hinterste Ecke, als er auf die Tür eindrosch. Sie bebte unter seinen Fußtritten und erzeugte ein seltsam hohles Geräusch – wie Gitarrensaiten, die mit einem Flaschenhals gestrichen werden. Von seinen Schlägen und Tritten vibrierte die Tür in den Angeln, so massiv, dass selbst noch die Wand hinter meinem Kopf erbebte.

»Mach die Scheißtür auf!«, brüllte er. Ich zog die Knie gegen die Brust, quetschte mich mit dem Rücken an die Wand und starrte wie hypnotisiert auf die Tür, die unter der Kraft seiner Hiebe erzitterte. Ich kann mich nicht erinnern, warum er so tobte. Mein Mom war zu Hause, aber sie harkte im Garten das Laub zusammen. Mein Dad war in der Kanzlei.

Bei jedem Schlag oder Tritt schrie Clay obszöne Beschimpfungen: »Du Drecksschlampe! Ich reiß dir deinen gottverdammten Scheißschädel ab!« Ich sah, wie erst die obere linke Türfüllung in die Brüche ging, dann löste sich die ganze Tür aus den Angeln. Sie fiel aus dem Türstock, kippte nach innen und schlug mit einem kaum hörbaren dumpfen Geräusch auf meinem lindgrünen Teppich auf. Wie ein gefällter Baum. Er stürzte auf mein weißes Weidenbett mit der Spitzendecke zu, drückte mich nieder und prügelte auf meine Arme ein, wobei er seine Faust so hielt, dass der Knöchel des Mittelfingers wieder und wieder auf dieselbe Stelle traf. Ich rutschte nach unten, doch er quetschte meinen Kopf so fest gegen die geblümte Tapete, dass ich in einem Ohr ein Klingeln vernahm. Meine Haare verfingen sich im Kopfteil des Weidenbetts.

Ich schaffte es nicht, ihn wegstoßen. Mit seinen dreizehn Jahren war er schon über eins achtzig und übergewichtig. »Geh runter von mir!«, schrie ich und versuchte, ihn wegzudrücken. Ich hatte aber nur ein Drittel seiner Kraft.

Er spuckte mir noch in die Augen, bevor er von mir abließ. »Du hast Glück, dass ich dich nicht umgebracht habe«, sagte er. »Das könnte ich nämlich jederzeit.« Ich setzte mich auf und tat so, als könne er mir nichts anhaben, während ich meine zerzausten Haare glatt strich. Er täuschte einen weiteren Fausthieb vor, bremste aber ein paar Zentimeter vor meinem Gesicht ab. Ich zuckte zusammen, schloss meine Augen und streckte ihm meine Hände entgegen, um mich zu schützen, doch sie griffen ins Leere. Als ich die Augen wieder aufmachte, verließ er den Raum.

Ich weiß nicht, wohin sich Clay nach dieser Attacke verdrückt hat. Womöglich hielt er sich irgendwo versteckt, denn die eingetretene Tür war ein nicht wegzuleugnender Beweis für seinen Tobsuchtsanfall. Auf Zehenspitzen schlich ich an seinem Zimmer vorbei und rannte dann den Gang hinunter zum Schlafzimmer meiner Eltern. »Mom!«, schrie ich, sobald ich von drinnen hörte, wie eine Schublade aufgezogen wurde. »Clay hat die Tür von meinem Zimmer kaputt gemacht. Die ganze Tür! Er hat sie eingetreten!«

Sie schälte sich gerade aus ihrer schmutzigen Gartenkleidung. Jeden Herbst verbrachte sie ganze Wochenenden damit, jedes einzelne Blatt, das von einem Baum auf die zwölftausend Quadratmeter unseres Grundstücks gefallen war, zusammenzuharken. Ein dünner Schweißfilm überzog ihr Gesicht. Erde und Reste von Blättern klebten ihr an den Haaren und auf der Haut. »Geh ihm einfach aus dem Weg«, seufzte sie. Sie nahm ein Handtuch und drückte es, tief Luft holend, gegen ihr Gesicht. Meine Mutter hasste es, wenn wir uns stritten. Sie verstand nicht, warum wir uns fetzten, und konnte nichts dagegen tun.

Ich sagte nichts mehr. Ich blieb auf ihrem Bett sitzen, während sie sich schweigend auszog und in ihre taubenblau gekachelte Dusche ging. Ich borgte mir den Nagelknipser vom Nachttisch meines Vaters und fing an, mir die Zehennägel zu schneiden, wobei ich sorgfältig darauf achtete, keine Schnipsel auf der geblümten Steppdecke zu hinterlassen.

Später, als Clay einen Freund besuchte und ich gefahrlos in mein Zimmer zurückkehren konnte, sah ich, dass die Tür noch immer auf dem Teppich lag wie ein gefallener Soldat, der, wenn auch vergeblich, versucht hatte, mich zu schützen. Als ich vorsichtig über das zersplitterte Holz stieg, blieb mein Blick an etwas hängen. Graffiti, in gezackter Schrift an meinen Türstock geschmiert: »Loser«, »Lesbe«, »Hure« und »Jeder hasst dich«. Ich schnappte nach Luft. Ich war bestürzt, dass er diese Sachen geschrieben hatte, doch noch schrecklicher war die Vorstellung, dass jemand sie lesen könnte. Denn wie Clay über mich dachte, so dachte ich über mich. Er war älter, stärker, intelligenter. Ich hatte keinerlei Beweis für das Gegenteil, und ich hatte Angst, dass meine Eltern und meine Freundinnen meinem Bruder recht geben würden, wenn sie diese Schmierereien zu Gesicht bekämen. Ich nahm einen Radiergummi von meinem Schreibtisch, schaffte es aber nicht, die Worte auszuradieren. Clay hatte einen Bleistift benutzt und so fest aufgedrückt, dass die Buchstaben ins Holz eingegraben waren.

Partielle Sonnenfinsternis, New York City

17. April 1996

Meine Mutter stand in der Tür, und sie vor mir zu sehen, war das Einzige, was sich richtig anfühlte: ihre blauen Augen, ihre kleinen, fleißigen Hände, ihr altvertrauter Geruch nach Kaffee, Bettlaken und Parfum. Sie schloss mich in die Arme und drückte mich fest an sich, ich aber war zu schwach, um ihre Umarmung zu erwidern.

»Wie geht’s dir denn?«, fragte sie und legte die Arme um meine Taille. »Ist alles okay mit dir?«

»Ich muss mich hinlegen«, sagte ich, drehte mich um und humpelte die Treppe hinunter zu meinem Bett. Sie stellte ihre Tasche auf den Boden und folgte mir.

»Kannst du mir sagen, was passiert ist?«, fragte sie, nachdem sie sich auf den Rand meiner Matratze gesetzt hatte.

»Nicht wirklich.« Ich deckte mich zu, da ich außer dem Badetuch immer noch nichts anhatte. Das Deckenlicht tat mir in den Augen weh, darum ließ ich sie geschlossen. »Ich bin einfach nur entsetzlich müde.«

Ich war müde, aber auch total verängstigt. Ich wusste, dass etwas Gravierendes passiert war, doch meine Gedanken kreisten einzig um die Frage, was ich denn nun mit meinem Leben anfangen sollte, wenn ich wieder in Ohio wäre, bei meinen Eltern wohnte, ohne Job, ohne Partner, ohne Perspektive, ohne Freunde und ohne Zukunft.

»Ist ja gut, Liebes«, sagte sie. »Schlaf jetzt einfach.«

»Ja«, sagte ich und merkte noch, ehe ich wieder in meinen ohnmachtsähnlichen Schlaf fiel, dass ich vor Erleichterung leise seufzte, weil ich nicht mehr alleine war.

Als ich erwachte, zog der Duft von Kaffee durch meine Wohnung. Ich selbst trank nie Kaffee, also öffnete ich vorsichtig die Augen. Da stand meine Mutter und machte mit dem Putzschwamm mein Bad so leise wie möglich sauber. Als ich mich bewegte, stellte sie das Putzzeug und den Kaffee weg und kam zu mir. Sie setzte sich auf den Rand der Matratze, wie sie es so oft getan hatte, als ich noch ein Kind war. Sie strich mir die Haare aus dem Gesicht und hinters Ohr. Bei dieser kleinen Geste begann mein Kinn zu zittern und Tränen traten mir in die Augen.

»Du hast drei Stunden geschlafen«, sagte sie. »Ich hab schon mal angefangen, deine Sachen zu packen. Du musst deinem Chef sagen, dass du nicht mehr kommst.« Sie lächelte und nahm sich dann erneut das Bad vor.

Meine Mutter lächelt immer. Sie war gerade etwas über eins sechzig groß, doch zu so gut wie jeder körperlichen Tätigkeit fähig. Ich habe gesehen, wie sie mit bloßen Händen in pinkfarbenen Gartenhandschuhen ganze Sträucher ausriss, deren Wurzeln einen Meter zwanzig in die Tiefe reichten. Ich habe auch gesehen, wie sie eine Schlange mit einer Gartenhaue zweiteilte. Viele Jahre lang habe ich ihr zugeschaut, wie sie, ihr langes Haar in ein Basecap gesteckt, die Tausende Quadratmeter ihres Rasens mit einem John-Deere-Traktor abrasierte. Sie hat keine Angst, Dreck unter die Fingernägel zu kriegen, schlüpft aber auch gern mal in ein schickes Kleid und geht auf eine Party. Ihr braunes Haar hat sie immer lang getragen, mindestens eine Handbreit über Schulterlänge. Sie hat lavendelblaue Augen. Als sie bei einem Ehemaligentreffen ihres Colleges zur Ballkönigin gewählt wurde, machte mein Vater beim Footballspiel den entscheidenden Touchdown. An so gut wie jedem Tag legt sie Parfum auf, Estée Lauders Knowing. Dieser Duft ist für mich gleichbedeutend mit bedingungsloser Liebe. Und obwohl alles drunter und drüber ging, so wusste ich doch, dass sie sich um mich kümmern würde, wenn ich ihre einfachen Anordnungen befolgte. Vielleicht würden die Dinge sogar in Ordnung kommen.

Das Problem war nur, wir schrieben das Jahr 1996, und damals hatte man psychische Erkrankungen noch nicht so auf dem Radar. Meine Eltern hatten, genauso wie ich, nicht die geringste Ahnung, was eine schwere Depression war. Schlecht drauf? Klar, kommt vor. Gerade in einer schwierigen Phase? Macht jeder mal durch. Aber ein medizinisches Problem? Wir sollten noch eine Weile brauchen, bis wir uns der Diagnose »Depression« näherten, eine Weile, in der wir die Dunkelheit viel zu nahe an unsere Schwelle treten ließen.

Mit der Hilfe meiner Mutter gelang es mir, aufzustehen und mich anzuziehen. Ich nahm ein Taxi nach SoHo und sagte meinem Chef, dass ich kündige. Ich hatte zwar das Gefühl, auf Gummiringen zu gehen, doch ich schaffte es. Es war drei Uhr nachmittags, als ich nach eineinhalb Tagen Absenz ins Büro schlenderte. Mein Chef begrüßte mich mit einem Blick, der sagen sollte: »Wo in aller Welt bist du gewesen?« Ich wollte ihm in aller Ruhe erklären, dass ich aufhören würde, doch stattdessen brach ich in hysterisches Schluchzen aus und stieß hervor: »Es ist was passiert. Ich muss aufhören. Ich kann nicht hierbleiben. Ich gehe weg aus New York.«

Er wusste nicht, was er sagen sollte, außer: »Okay. Beruhige dich erst mal.« Zehn Minuten später ging ich, nach einer flüchtigen Übergabe meines Arbeitsplatzes und meiner Akten, wobei ich mich unter Tränen ständig entschuldigte.

Nach Hause fuhr ich mit der U-Bahn, weil es mir schier nicht möglich war, ein Taxi heranzuwinken. Einmal mehr stellte ich mir aber vor, wie sich alle Fahrgäste von meinem Äußeren abgestoßen fühlten: meinen Pickeln, meinem strohigen Haar und den Tränenspuren auf meinen Wangen. Nur diesmal beschloss ich, den Kopf nicht zu senken. Ich machte eine Bestandsaufnahme dieser Menschen, da ich wusste, dass ich für sehr lange Zeit nicht mehr U-Bahn fahren würde. Alle blickten finster drein. Kontakt herstellen, das, wonach ich mich so lange verzweifelt gesehnt hatte, war im Untergrund von Manhattan verboten. Es war, als seien wir wild herumschießende Ionen, die eine viel zu große negative Ladung besitzen, um eine Verbindung eingehen zu können. Schon vor langer Zeit hatte mein Geist die Anonymität und Beziehungslosigkeit in der U-Bahn nach innen gekehrt. Und schon stimmte der Chor meiner schlimmen Gedanken ein: Warum sollte dich denn jemand ansehen wollen? Du bist nur blöd und unausstehlich und hast ein hässliches Gesicht.

Der Zug hielt kreischend an der Station 86th Street. Schnell schlüpfte ich seitlich durch die erst halb offene Tür hinaus. Mit gesenktem Kopf ging ich zurück zu meinem Apartment und wünschte, ich könnte im betonierten Gehsteig versinken und mich darin auflösen. Meine Gedanken wurden erneut düster: Spring doch vor dieses gelbe Taxi. Es ist ganz leicht. Du verlierst das Bewusstsein und spürst gar nichts. Doch ich wusste, dass meine Mutter auf mich wartete.

Als ich um die Ecke in die East 82. Street bog, sah ich, dass meine Mutter es irgendwie geschafft hatte, das vergammelte Mobiliar meiner Zweizimmerwohnung auf den Gehsteig zu stellen, damit die Leute es mitnehmen konnten. Außerdem hatte meine kleine, aber beeindruckende Mutter Mittel und Wege gefunden, an einem Nachmittag meine ganzen Sachen inklusive eines Kaninchens im Käfig in ihr Auto zu packen. Ich ging hinein, aber es war alles leer bis auf ein paar Staubmäuse, Drähte und den verbrannten Topf in der Küche. Ich wollte mich auf den Boden hinsetzen und weinen. Doch Mom nahm mich an der Hand, drehte den Türknopf so, dass er einrastete und sich von außen nicht mehr öffnen ließ, warf die Schlüssel in den Flur und zog energisch die Haustür hinter uns zu.

Wir gingen die Stufen zu ihrem Auto hinunter, das mit laufendem Motor in zweiter Reihe parkte. »Spring rein«, sagte sie und legte den Arm um meine Taille. »Wir sind bald daheim.«

In Zeitlupe kletterte ich in den Wagen. Mom stellte den Beifahrersitz des SUV richtig ein und schnallte mich anschließend an, während ich weiter weinte. Sie fragte nicht, was los war. Sie strich mir nur so das Haar hinters Ohr, dass ich mich wie damals fühlte. Ich war wieder das kleine Mädchen, das sicher in seinem Bett lag, während draußen die Bäume und die Rehe und der Mond auf es aufpassten. Tränen liefen mir ins Ohr und den Nacken hinunter, während wir aus Manhattan rollten. Ich war eingeschlafen, noch ehe wir die Stadtgrenze hinter uns gelassen hatten.