Dolmenfieber - Kerem S. Maurer - E-Book

Dolmenfieber E-Book

Kerem S. Maurer

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Beschreibung

In Pfupfwil, wo Intrigen und Erpressung alltäglich sind, will der zugezogene Caspar Canetti als Kurdirektor den Einheimischen zeigen, welche Kuh die größte Glocke trägt. Doch als im Chrottenwald eine Leiche gefunden wird, brechen im kleinen Voralpendorf düstere Zeiten an. Ein keltisches Ganggrab wird zum blutigen Schauplatz einer jagdgöttlichen Rache, während skrupellose Geschäftemacherinnen Pfupfwils touristisches Flaggschiff zugrunde richten – doch in dieser Voralpenrepublik sollte man sich keine Feinde machen. Polizeioberleutnant Thierry Bühlmann versucht, Licht in die düsteren Geheimnisse des schattigen Waldes zu bringen. Doch als es auf einer Waldlichtung während eines Volksfestes zu einem blutigen Gefecht kommt, scheinen seine Bemühungen vergeblich gewesen zu sein. – Der Pfupfwiler Alltag der authentisch gezeichneten Charaktere mit Kuhstallschalk, Holzhackercharme und geerbter Noblesse ist geprägt von den koexistenziellen Herausforderungen mit Einheimischen und Zugezogenen, Tourismus und Landwirtschaft, gepaart mit diffusen Ängsten der Einheimischen vor allem, was fremd ist. «Dolmenfieber» ist viel mehr als nur ein süffig geschriebener, spannender Krimi, in dem die Ermittlungsbehörde zwar eine Rolle spielt, aber weder die wichtigste, noch die hervorragendste. «Dolmenfieber» ist der erste Band in der Reihe der Pfupfwilkrimis, die über das Krimi-Genre hinausgehen. Die Pfupfwiler bekommen mit dem «Voralpen(k)roman» ein eigenes Genre. Lassen sie sich überraschen! Die Geschichte kommt zuweilen etwas hemdsärmelig daher, ist nicht immer politisch korrekt, aber voller Empathie für strukturell schwache Randregionen, wie es sie im Voralpenland hinter jedem zweiten Berg gibt. Mitten aus dem Leben gegriffen ist «Dolmenfieber» ein Muss für alle, die sich gerne gut und spannend unterhalten lassen und es lieben, wenn Geschichten unvorhergesehene Wendungen nehmen und nicht immer stur nach Plan verlaufen.

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Seitenzahl: 1579

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Kerem S. Maurer

Dolmenfieber

Ein Pfupfwil Voralpen(k)roman

«Was nicht ist, kann werden. Aber es muss nicht. Nicht um jeden Preis.»

Impressum

«Dolmenfieber» ist ein Roman, sprich ein Pfupfwil Voralpen(k)roman. Die Handlungen und Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder mit lebenden sowie verstorbenen Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Dieser Buchtext ist menschlicher Kreativität, ohne Zuhilfenahme von KI (Künstlicher Intelligenz) entsprungen.

Text, Umschlaggestaltung, Bilder, Grafiken © 2024 by Kerem S. Maurer, Autor

Das ganze Werk, sowie Texte, Grafiken und Umschlagbild sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit schriftlicher Zustimmung des Autors zulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

VerlagKerem S. Maurer Chalet Gorpeli CH-3766 Boltigen E-Mail: [email protected] LektoratRegula Bieri

Für Anna Weil es nicht immer einfach ist mit einem wie mir, der am liebsten schreibt und schreibt und schreibt ...

Inhaltsverzeichnis

Prolog5

1. Pfupfwil im Ochsental6

2. Hotel Ochsen, großer Saal18

3. Pfupfwil33

4. Sitzungszimmer des Tourismusoffice38

5. Hubelbar48

6. Im Schnorz57

7. Hotel Aux Cascades62

8. Check-in68

9. Sitzungszimmer des Tourismusbüros79

10. Villa Extravaganzia86

11. Chrottenwald97

12. Chropf113

13. Fluhmatte123

14. Check-in133

15. Tourismusbüro146

16. Dolmen159

17. Restaurant des Hotels Ochsen176

18. Check-in188

19. Zwurchel201

20. Chalethotel215

21. Sonnmatt233

22. Chrottenwald248

23. Hotel Aux Cascades256

24. Pfupfwil268

25. Dolmenlichtung282

26. Im Chropf298

27. Pfupfwil320

28. Verhörraum eins334

29. Café du Lac, Sonntal349

30. Im Schnorz358

31. Hotel Ochsen375

32. Im Chropf388

33. Dolmenlichtung421

34. Zwurchel437

35. Sitzungszimmer im Tourismusbüro467

36. Ochsental483

37. Im Schnorz491

38. Auf der Dolmenlichtung502

39. Hotel Aux Cascades518

40. Sitzungszimmer des Tourismusbüros540

41. Jagdhütte557

42. Rathaus593

43. Le Boeuf Vert616

44. Kalbertal637

45. Sitzungszimmer des Tourismusvereins639

46. Dolmenlichtung645

Epilog674

Übersichtskarte Ochsental675

Über den Autor676

Prolog

«Du blödes Arschloch!», keuchte er erschöpft und starrte fassungslos auf den leblosen Körper, der vor ihm im Gras lag. «Du verdammter Vollidiot», schrie er die Leiche an und holte mit dem rechten Fuß aus, um den Toten mit seinem dreckigen Stiefel mit voller Wucht in die Seite zu treten. Doch bevor er ihn traf, hielt er mitten in der Bewegung inne. Nein, dachte er, das hat er nicht verdient.

«Du bist es nicht wert! Du nicht!», brüllte er, sein Kopf glühte rot vor Wut. Nie im Leben hätte er damit gerechnet, dass dieses miese, blöde Schwein gleich abkratzen würde, nur weil er ihm einen leichten Stoß versetzt hatte. «Hättest doch nicht gleich verrecken müssen», stöhnte er verzweifelt und setzte sich ermattet neben den toten jungen Mann ins Gras. Allmählich wurde ihm bewusst, dass er einen Schritt zu weit gegangen war. Nun musste er eine Leiche entsorgen, und zwar so, dass niemand sie je wieder finden würde. «Nach dir sucht hier ohnehin keiner, weißt du?», blaffte er den Toten an. «Du gehörst nämlich gar nicht hierher. Bist keiner von uns und solche wie dich brauchen wir hier im Ochsental nicht. Hier leben nur ehrbare Leute. Solche, mit Anstandsgefühl und Respekt.»

Niemand im Dorf wusste, dass er sich heute Abend mit dem jungen Kerl hier getroffen hatte. Und genauso wenig wusste irgendjemand, dass der jetzt tot war. Und so sollte es auch bleiben. Er kramte Zigaretten aus der verwaschenen, blauen Jacke und zündete sich eine an. Nachdem er tief inhaliert hatte, schüttelte er sich, eine fiese Gänsehaut überzog seine Arme. Grässlich schmeckten sie, diese Billigzigaretten aus dem Discounter, aber sie taten ihm gut. Er brauchte einen klaren Kopf und musste eine Lösung für den Toten finden.

«Tot machst du mir ja noch mehr Ärger als lebendig!», schnauzte er die Leiche an, kniete sich neben den Kopf des Erschlagenen nieder und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. «Sorry, aber das musste noch sein», schnaufte er und zog sich selbstgerecht den Rauch in die Lunge.

1. Pfupfwil im Ochsental

Samstag, 24. Oktober

Caspar Canetti war Ende vierzig und hatte einen seiner Lieblingsanzüge angezogen, als er nach einer ausgiebigen Dusche vor dem Spiegel sein – abgesehen von einigen Lachfältchen – faltenfreies Gesicht glatt rasiert hatte. Penibel kämmte er sein langsam schütter werdendes dunkles Haar in einem dezenten Seitenscheitel von links nach rechts über den Kopf. Ein nahezu aussichtsloser Versuch, eine sich ankündigende Glatze zu kaschieren. «Wenigstens sind alle grauen Haare weg», freute er sich zufrieden lächelnd und erinnerte sich an den letzten Friseurbesuch, als er sich zum ersten Mal in seinem Leben die Haare hatte tönen lassen. Renaturierung auf höherer Ebene pflegte er diese Maßnahme zu nennen und war überzeugt, dass sie ihm heute und in nächster Zukunft ein jugendliches, aber trotzdem reifes, frisches und dynamisches Aussehen verlieh. Caspar Canetti lächelte sein Spiegelbild mit einem überzeugenden Gewinnerlächeln an und entblößte dabei zwei Reihen makellos weisser, gebleachte Zähne. Dieses Lächeln, das er heute Abend den Pfupfwiler Dorftrotteln und Landeiern, die sich im Saal des Hotels Ochsen versammelten, zeigen würde, hatte ihn in seinem Leben schon oft weitergebracht.

Pfupfwil, sinnierte Canetti und ließ sich den Namen seiner neuen Wahlheimat langsam auf der Zunge zergehen. Ein bitterer Nachgeschmack stellte sich ein – unwillkürlich gefror das Gewinnerlächeln auf seinen Lippen. Wie konnte sich ein Mann von Welt, wie er einer war, ausgerechnet in Pfupfwil, einem knapp 1‘500-Seelendorf tief in den Schweizer Voralpen, niederlassen? Diese Frage musste er ständig in den schicken Bars und teuren Restaurants in der Stadt beantworten, wenn er mit Geschäftskollegen oder Mitarbeiterinnen ausging. Doch heute Abend spielte diese Frage keine Rolle. Die Hauptversammlung des hiesigen Tourismusvereins mit dem ebenso einprägsamen wie einfallslosen Namen Pfupfwil Tourismus stand auf dem Programm. Und er, Caspar Canetti, beabsichtigte, der neue Präsident dieses hinterwäldlerischen Vereins zu werden. Unbedingt. Selbst wenn das Amt eines Tourismusvereinspräsidenten heutzutage nicht mehr ganz so glamourös war wie früher – als die entsprechenden Amtsträger noch mit Herr Kurdirektor angesprochen worden waren – so war dieses Amt bis heute mit Einfluss und Ansehen verbunden. Vor allem mit Ansehen.

Im Voralpenland, so viel hatte Canetti bereits begriffen, existierten zwei goldene Kälber, um welche die Einheimischen tanzten: Das eine war die Landwirtschaft, von der Canetti zugegebenermaßen keine Ahnung hatte, und das andere war der Tourismus. Und er war überzeugt, von Letzterem eine große Ahnung zu haben, schließlich war er schon oft im Urlaub gewesen. Präsident von Pfupfwil Tourismus war hierzulande eine Machtposition. Ein Beginn, lächelte Canetti in sich hinein. Es wäre ein Anfang und irgendwann würde er in diesem Tal entscheidend mitreden und den Landeiern in diesem Kuhdorf aufzeigen, wo es lang ging. Dann nämlich würde er den Bauern hier zeigen, welche Kuh die größte Glocke trug.

«Chäschpi, können wir los? Die Versammlung beginnt in einer halben Stunde und wir wollen doch nicht die Letzten sein!» Die Stimme der liebreizenden Maria riss Caspar Canetti aus seinen Gedanken.

«Natürlich Liebling, bin gleich so weit», antwortete er und fuhr sich noch schnell mit der befeuchteten Kuppe seines rechten Zeigefingers über die Augenbrauen. «Fertig, Herr Kurdirektor! Dann wollen wir mal», lächelte er sich ein letztes Mal im Spiegel zu und verließ augenzwinkernd, bestens gelaunt und voller Tatendrang das Badezimmer.

Im hellen Leinenanzug und den auf Hochglanz polierten dunkelbraunen, handvernähten italienischen Lederschuhen und seiner schlanken, schwarzen Aktenmappe kam sich Caspar Canetti großartig vor und passte so überhaupt nicht in die Kulisse, die ihn knappe zehn Minuten später im großen Saal des Hotels Ochsen im Dorfzentrum von Pfupfwil erwartete. Canettis bewohnten ein neu erbautes Chalet im Schnorz, einem kleinen Gebiet nordöstlich von Pfupfwil auf der Sonnseite des Tals, von wo aus er eine unverbaubare Aussicht über das Ochsental, den Grünbach bis hinüber auf den Chrottenwald genoss. Der Chrottenwald war ein typischer Voralpenmischwald, der hauptsächlich aus Bergahornen, Weißtannen, Fichten, Buchen und Eschen bestand, und er war ein ausgewiesenes Naturschutzgebiet, das sich über die gesamte Ostseite des Tals den Bergflanken entlang von Norden nach Süden erstreckte.

«Großer Gott, bin ich froh, wenn ich diese Scheiße heute Abend endlich loswerde», stöhnte Hans Abegglen zur selben Zeit rund drei Kilometer südlich vom Schnorz auf der Fluhmatte, wo er mit Ehefrau Lisa ein edles und für seinen Geschmack zu protziges, neues Chalet bewohnte. Hans Abegglen war fünfunddreißig Jahre alt, hatte blondes, wuscheliges Haar und trug einen wild wachsenden Dreitagebart. Der Bauer überlegte, ob er sich überhaupt umziehen oder gleich in der nach Kuhmist stinkenden Stallkluft die anstehende Generalversammlung von Pfupfwil Tourismus leiten sollte – zum letzten Mal als deren Präsident.

«Oh ja, das bin ich auch, dann hast du vielleicht wieder mehr Zeit für mich», lächelte Lisa ihm augenzwinkernd zu. «Aber du solltest dich zwingend für die Versammlung umziehen. Der Journalist von der lokalen Presse, dieser Bernd Huwyler, wird bestimmt anwesend sein, wenn du dein Präsidentenamt abgibst. Und er würde mit Sicherheit in einem Nebensatz erwähnen, dass du an diesem denkwürdigen Samstagabend nach Kuhmist gestunken hast.»

«Ja, natürlich wird Huwyler anwesend sein, ich habe ihn ja persönlich eingeladen. Aber eigentlich soll und darf doch jeder sehen, dass ich direkt von der Arbeit komme», gab Hans Abegglen barsch zurück. «Wir auf dem Land machen uns bei der Arbeit eben noch die Hände schmutzig. Und wir haben viel zu tun!»

Lisa verdrehte ihre blauen Augen. «Oh ja und riechen soll man es auch schon von weitem!», grinste sie und schob ihren Gatten ins Badezimmer, wo sie ihn zur Eile antrieb. Während Hans duschte, schminkte sie sich und fragte beiläufig: «Gibt es eigentlich irgendjemanden, der dein Amt übernehmen will? Ich habe gehört, dass gar keiner Lust dazu hat.»

Hans schamponierte seinen wuscheligen Blondschopf, als er antwortete: «Ja, soviel ich weiß, will der Neue aus dem Schnorz sich zur Verfügung stellen.»

«Welcher Neue?», fragte die zweiunddreißigjährige Blondine mit schmalen Schultern und breitem Becken, derweil sie sich mit geübten Bewegungen den Lidstrich nachzog.

«Der eingebildete auswärtige Schnösel, der mit seiner Barbie seit einem halben Jahr drüben im Schnorz wohnt», tönte Hans’ Stimme aus der Duschkabine.

«Was, der?» Lisa sprach gedehnt und betont desinteressiert. «Man erzählt sich, er sei ein Langweiler. Und seine Frau Maria sieht immer aus, als wäre sie direkt einem Modemagazin entsprungen.» Sie atmete hörbar aus. «Verstehen die denn etwas von Tourismus?»

«Muss man das denn? Habe ich etwas davon verstanden?» Den Geräuschen nach, die Hans in der Dusche von sich gab, war er jetzt dran, sich die letzten Seifenreste von seinem Körper zu spülen.

«Nein, aber du bist einer von hier und damit schon bestens für dieses Amt qualifiziert, mein Schatz!» Zufrieden begutachtete Lisa ihr geschminktes, jugendlich faltenfreies Gesicht mit den strahlend blauen Augen und dem frisch aufgetragenen Make-up. «Auf jeden Fall besser als jeder dahergelaufene fremde Fötzel», erklärte sie im Brustton der Überzeugung.

Umgeben von einer feuchtheißen Dampfschwade stieg Hans aus der Dusche. Der Badezimmerspiegel, in den Lisa mit konzentriertem Blick schaute, um sich ihre Lippen erdbeerrot zu schminken, beschlug sich augenblicklich.

«Verstehen von der Sache muss man nichts. Man darf bloß keine faule Sau sein, dann wird das schon. Hauptsache, ich muss nicht mehr!» Hans stieg in eine bequeme Jeans, streifte sich ein rotblau kariertes Holzhackerhemd über, dessen Ärmel er hochkrempelte und musterte seine Frau. «Süß siehst du aus, meine Kleine», lachte er und gab ihr einen liebevollen Klaps auf den wohlgeformten Po.

«Ich muss mich schon etwas bemühen, wenn ich neben Maria Canetti nicht verblassen will. Sie wird sich mit Sicherheit aufbrezeln ohne Ende, denn – wenn du recht hast – will ihr Mann ja der neue Präsident werden», gab Lisa zurück und zupfte sich einige Strähnchen ihrer blonden Locken spielerisch in die Stirn. «Gut so?»

«Du bist die Schönste im ganzen Tal», zwinkerte Hans. Einem übermächtigen Trieb folgend, zog er sie zu sich hin und küsste sie leidenschaftlich. «Meinst du, wir haben noch Zeit?», fragte er und drängte sie sanft in Richtung Schlafzimmer, das gleich neben dem Badezimmer lag.

«Grundgütiger Himmel, Hans, nein! Wir kommen noch zu spät», quietschte sie vergnügt, ohne hörbaren Widerstand in der Stimme.

«Hauptsache wir kommen», grinste der Bauer doppeldeutig, bevor er seine Angetraute sanft aufs Bett drückte.

Mit notdürftig wieder in Ordnung gebrachter Frisur, aufgefrischtem Make-up und glücklich strahlend, schlenderte Lisa eine knappe Viertelstunde später Hand in Hand mit ihrem Gatten zur Garage, wo ihr dunkelblauer Subaru Forester stand.

«Also eigentlich hättest du den Wagen noch waschen können», sagte Lisa und rümpfte ihr Stupsnäschen.

«Für die heutige Versammlung? Sag mal, gehts noch?», gab er zurück.

«Himmelhergottsacknochmal, so fahr doch endlich, du Tubel!», brüllte Michel von Allmen hinter dem Steuerrad seines blendend weißen Audi A4. Gehetzt wie gewohnt nach Feierabend – am heutigen Samstag hatte er eine Sonderschicht eingelegt – schlängelte sich der Berufschauffeur die Kantonsstraße durch die Ochsenritze, wie das Ochsental spöttisch und gewollt abschätzig von den Bewohnern der Nachbartäler genannt wurde. Die Ochsentalstraße war unübersichtlich und an vielen Stellen zwischen dem Pfammen und Pfupfwil für eine derart stark befahrene Straße viel zu eng. Überholmanöver waren nur auf wenigen kurzen Abschnitten möglich. Vor von Allmen fuhr ein dunkelroter Porsche Cayenne, dessen Kennzeichen den Edel-SUV als Mietwagen auswies. Ein Blick auf den Fahrer, den Michel in einer Kurve via Seitenspiegel des vor ihm fahrenden Wagens erhaschte, verriet dem gestressten Lastwagenchauffeur, dass vor ihm ein Tourist unterwegs war. Eindeutig einer aus den arabischen Emiraten, das war von Allmen sofort klar.

«Hast ein Auto gemietet, das viel größer ist als dein fahrerisches Können, he? Und jetzt hast du die Hose voll», höhnte er und fuhr dem Porsche so nah auf wie irgend möglich. Und das war sehr nah. Von Allmen betätigte mehrfach die Lichthupe, doch der Tourist vor ihm ließ sich dadurch nicht irritieren, fuhr mal links mal mehr rechts, nutzte die ganze Breite der Fahrbahn aus und kroch gelassen mit nicht einmal vierzig Stundenkilometern talaufwärts.

Michel von Allmen war achtunddreißig Jahre alt, einsachtzig groß, hatte eine vom Hinterkopf aus wachsende Halbglatze, einen ausladenden Bierbauch und einen langen Spitzbart, der ihm weit über den Bauch hinunterreichte. Er arbeitete hauptberuflich im Niederpfupfer Steinbruch Pfammen und jobbte im Winter als Teilzeitanbügler bei den Oberpfupfer Sportbahnen. Tatsächlich war Sportbahnen eine viel zu hoch gegriffene Bezeichnung. In Pfupfwil, oder genauer gesagt auf dem Schafberg oberhalb des Grünsees, hatte man in den 1960er Jahren zwei Schlepplifte und in den späten 1980ern zusätzlich einen Tellerlift für Kinder gebaut. Und wenn es die klimatischen Bedingungen zuließen, betrieben die Verantwortlichen der Sportbahnen seit der Jahrtausendwende eine Natureisbahn. Pfupfwil war als Standort der einzigen Schneesportanlagen im Ochsental für einen Teil der Einwohnerschaft von herausragender touristischer Bedeutung, was freilich der andere Teil differenzierter sah. Es gab sogar eine Pfupfwiler Gruppierung von Gewerbetreibenden, welche die maroden Sportbahnen – die regelmäßig um Zuschüsse der Gemeinde bettelten, um den drohenden Konkurs abzuwenden – am liebsten geschlossen und zurückgebaut hätten. Denn, was nichts bringt, bringe eben nichts, argumentierten sie und betonten, dass jeder andere Betrieb auch ohne Gelder der öffentlichen Hand zurechtkommen müsse.

Michel von Allmen war als Sohn eines einheimischen Bauern aufgewachsen und hatte im Oberpfupf, wie das Gebiet südlich von Pfupfwil offiziell hieß, mit Skifahren angefangen. Außerdem hatte er auf den Pisten des Schafbergs seine erste Freundin kennengelernt, sich zum ersten Mal ein Bein gebrochen und hinter dem schäbigen Holzhäuschen der Bergstation des Tellerliftes seine erste und gleichzeitig letzte Zigarette geraucht. Für von Allmen waren die Sportbahnen von höchster emotionaler Wichtigkeit und existenzieller Bedeutung. Die alten Schlepplifte waren sein Leben, seine Geschichte. Es gab in seinem ganzen Dasein daneben kaum etwas anderes, das ihm mehr bedeutete als die Oberpfupfer Sportbahnen. Michel nahm an jeder Versammlung der Sportbahnen, in deren Vorstand er seit Jahren sass, teil. Nein, er hatte noch keine einzige Sitzung geschwänzt. Der Pfupfwiler Bauernsohn wusste ganz genau, was im Leben wichtig war und was nicht. Als erwachsener Mann war Michel ein Hardliner und als Jugendlicher ein Hitzkopf. Er hatte im Lauf der Schulzeit, als er noch im Zwurchel die Schulbank drückte, jeden Mitschüler seiner Altersklasse – und natürlich auch die jüngeren – mindestens einmal verprügelt.

Michel von Allmen war ein Mann, dem keine Frau je davongelaufen war, weil er noch nie eine gehabt hatte. Seine erste Freundin lernte er in der Skischule auf dem Schafberg kennen, da war er neun Jahre alt. Ihr Name war Sandrine, wie ihm der Skilehrer der Kleinen verraten hatte. Sie kam aus Frankreich und verbrachte mit ihren Eltern die Winterferien im Pfupf. Die Familie logierte im Grandhotel du Parc, das damalige und bis heute einzige Flaggschiff von Pupfwil-Tourismus. Sandrine sprach kein Wort Deutsch und Michel kein Französisch. Er hatte sie von weitem gesehen und sich vom Fleck weg in die Kleine mit dem gelben Skianzug und dem viel zu großen pinken Helm verliebt. Ohne diesen Helm hatte er sie nie zu Gesicht bekommen, doch das war ihm egal. Ein einziges Mal hatte er es geschafft, sich neben Sandrine an den Bügel des Skiliftes zu rüpeln und hatte ihr während der ganzen Zeit auf dem Weg nach oben von seinen beiden Lieblingskühen Laura und Lena erzählt. Und davon, dass er später einmal selber Traktor fahren wollte. Erst als er an der Bergstation auf die voll coole Art abbügeln wollte, sich dabei verhedderte, unglücklich stürzte und zu allem Übel auch noch Sandrine mit vom Bügel riss, worauf seinetwegen der Lift angehalten werden musste, hatte Michel begriffen, dass seine Angebetete nichts von alldem verstanden hatte. Ihr genervtes «putain d’idiot», das sie im zu zischte, bevor sie sich schnellstmöglich von ihm entfernte, hatte von Allmen auch Jahre später nicht zu übersetzen vermocht. Gesehen hatte er Sandrine danach nie wieder.

Das waren herrliche Zeiten damals, als es noch viel Schnee und selten arabische Touristen gab, die keine Ahnung hatten, wie man die Ochsentalstraße fahren musste. Hoch konzentriert und mit angespannten Muskeln erwartete Michel die nächste Kurve, hinter der eine kurze Gerade folgte. Diese war lang genug, um solche Idioten, wie der vor ihm Fahrende einer war, zu überholen. Dran bleiben war jetzt die Devise – ganz dicht dran, ganz nah an der Stoßstange des Porsches. Denn, sollte das waghalsige Überholmanöver scheitern, würde es zeitlich knapp werden mit der Sitzung des Tourismusvereins, wo er als Abgesandter der Bergbahnen im Vorstand sass. Michel musste jetzt alles geben, seine ganzen Fahrkünste einsetzen. Dessen war er sich bewusst. Kaum war die Kurve zur Hälfte gefahren, riss Michel den schneeweißen Audi nach links auf die Gegenfahrbahn und drückte das Gaspedal bis auf den Boden durch. Das Automatikgetriebe schaltete einige Gänge zurück, ein kräftiger Ruck erschütterte das Fahrzeug, Michel wurde in den Sitz gedrückt, sein Puls beschleunigte sich. Im allerletzten Moment sah er den winzigen Suzuki Samurai seines Onkels Fred, der mit knapp vierzig Stundenkilometern vor dem Porsche talaufwärts fuhr und den Überholweg wesentlich verlängerte. Fred in seinem Spielzeugauto hatte von Allmen – von sich aus gesehen – hinter dem SUV bis jetzt gar nicht wahrgenommen. Ohne Licht und dunkelgrau war das Kleinfahrzeug in der einbrechenden Nacht kaum auszumachen. Von Allmen erkannte gerade noch rechtzeitig, dass ein Überholmanöver unmöglich war, zumal ihm in dem Moment ein anderes Fahrzeug entgegenkam und der Fahrer nahezu panisch nicht nur mit Scheinwerfern und Hupe auf sich aufmerksam machte, sondern dem erschrockenen Michel auch den gestreckten Mittelfinger zeigte. Geistesgegenwärtig trat von Allmen auf die Bremse, der Audi schlingerte haarscharf an der hinteren Stoßstange des Porsches vorbei wieder zurück auf die rechte Fahrbahn. Das Adrenalin pumpte, das Herz raste und Michels Wut steigerte sich ins Unermessliche.

«Gopfertami! Doofer Totsch! Verfluchter Scheiss-Dschihadbruder!!», brüllte der Lastwagenchauffeur mit hochrotem Kopf und außer sich vor Zorn. Schließlich ließ er den Audi fünf Meter zurückfallen, um sich zu beruhigen. Doch nur Sekunden später klebte Michel wieder am Heck des Porsches. Auf der zweiten Geraden, kurz vor Pfupfwil und nach der Abzweigung in den Pfunz, würde er überholen können. Kaum war es so weit, drückte er erneut das Gaspedal bis auf den Fahrzeugboden durch. Von Allmen rauschte mit deutlich über hundertzwanzig Sachen am Porsche vorbei und stellte fest, dass Onkel Fred in den Pfunz abgebogen war. Ungeschickterweise beschleunigte der SUV in diesem Moment ebenfalls. Von Allmen fluchte, setzte seinen Wagen hart vor den Porsche, um gleich darauf voll auf die Bremsen zu treten, damit er die Ausfahrt zum Parkplatz des Hotels Ochsen erwischte, wo er mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Der Parkplatz war bis auf wenige freie Plätze vollständig besetzt.

Diese Versammlung mobilisiert zahlreiche Mitglieder von Pfupfwil Tourismus und dürfte gut besucht sein, dachte von Allmen und blieb noch einen kurzen Moment sitzen, bis sich sowohl Gesichtsfarbe als auch Puls wieder normalisiert hatten. Dann strich er sich über den Bart und griff nach der dünnen Aktenmappe, die er auf dem Rücksitz mitgeführt hatte. Sicheren Schrittes verließ er das Auto in Richtung großer Saal des Hotels Ochsen und freute sich auf die Servicefachmitarbeiterinnen.

«Pierre!» Der Ruf verhallte in den hohen Räumen der im toskanischen Landhausstil erbauten Villa. Keine Antwort.

«Pierre!! Wo stecken Sie denn?», erklang die samtweiche Stimme einer attraktiven Frau um die sechzig ein weiteres Mal. Diesmal mit einer beigemischten Prise Ungeduld. Die Sechzigjährige trug einen unaufdringlichen, grauen Jupe, eine bordeauxrote Bluse, dazu ein goldfarbenes Foulard und eine schlichte, klassische Perlenkette. Ihre zu einem Dutt frisierten Haare hatten eine retro anmutende Lilatönung, die ihr das Aussehen einer Dame aus besseren Kreisen verlieh, sie aber auch deutlich älter erscheinen ließ, als sie war. Ihr ebenmäßiges Gesicht war braun gebrannt, das Make-up unterstrich ihre wachen, eisbachblauen Augen und ein matt-glänzender Lippenstift brachte ihre vollen Lippen zur Geltung. Die Dame war im klassischen Sinn schön, hatte eine weibliche Figur und um ihre Mundwinkel spielte für gewöhnlich ein spöttisches, aristokratisches Lächeln.

«PIERRE…!! Nun kommen Sie doch endlich!» Ihr Lächeln war eingefroren.

«Stets zu Ihren Diensten, meine Liebe», sagte ein hagerer Mann, einen Kopf kleiner und drei Jahre älter als die Dame, die ihn gerufen hatte, außer Atem, nachdem er die Tür aufgerissen hatte. Er trug einen grauen Anzug mit weissem Hemd und gelber Krawatte.

«Pierre, Sie wissen, wie sehr ich Unpünktlichkeit verachte», tadelte ihn die Dame. Ein herablassender Unterton mischte sich in ihre Stimme, ihre Augen drückten unverhohlene Missbilligung aus, als sie ihn belehrte: «Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige – aber das können Sie ja nicht wissen, Pierre, davon haben Sie keine Ahnung.» Ihr Blick bohrte sich in den seinen.

«Sehr wohl, natürlich, meine Liebe!», beeilte sich Pierre, zu sagen, und rang um Fassung. Der Butler senkte schuldbewusst die Augen, wohlwissend, dass er dem Blick seiner Arbeitgeberin in diesem Moment nicht standhielt. Sie war Madame Angélique Louise de Léssard.

«Dieses vulgäre meine Liebe können Sie sich abschminken, Pierre, ein für alle Mal. Haben Sie mich verstanden? Ich will das von Ihnen nie mehr hören!» Ihre Stimme klang wie das Zerbrechen von Eiszapfen.

«Natürlich, Madame. Kommt nicht wieder vor», beteuerte Pierre unterwürfig. An dem Hundeblick ihres Butlers erkannte sie, wie ernst er es tatsächlich meinte.

Pierre war ursprünglich auf den Namen Peter Lehmann getauft. Aber schon an seinem allerersten Arbeitstag, als er – erst achtzehnjährig – im Jahr 1972 als Page im Grandhotel du Parc angefangen hatte, legte ihm die damalige Direktorin, Marie-Louise de Léssard, nahe, nur noch die französische Version seines Vornamens zu verwenden. «Wissen Sie, jeune homme», hatte die noble Dame feierlich zu ihm gesagt, «Pierre hat einfach mehr Stil. Comprenez-vous?»

Und da Peter alles unternahm, um die Anstellung im Grandhotel nicht zu riskieren, gehorchte er eifrig und nannte sich von jenem Tag an nur noch Pierre. Diese Begebenheit lag heute fast ein halbes Jahrhundert zurück, doch Peter blieb Pierre, auch nach dem Tod von Marie-Louise vor über dreißig Jahren. Ihre Tochter Angélique kam nach ihrer Ausbildung in einer Hotelfachschule drei Jahre nach Pierre ins Grandhotel du Parc und übernahm die Leitung der Rezeption, womit sie Pierres direkte Vorgesetzte wurde. Sie war als Juniorchefin bei ihren Angestellten äußerst beliebt und wurde von einigen männlichen Mitarbeitern sogar heimlich verehrt. Zu diesen zählte auch Pierre. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter übernahm Angélique das Grandhotel, als sie zweiunddreißig war und führte es bis zur Schließung vor zehn Jahren alleine und über die Massen erfolgreich.

«Bitte fahren Sie mich sofort ins Hotel Ochsen», sagte Angélique zu Pierre, wobei ihr das Wort Hotel nur mühsam über die Lippen kam. «Wenn man dieses armselige Loch denn überhaupt als solches bezeichnen kann. Es ist ein Jammer, Pierre...» Die einstige Hotelière sprach nicht weiter, sondern beendete den Satz mit einem tiefen Seufzer. Über ihre eisbachblauen Augen legte sich ein dunkler Schleier abgrundtiefer Traurigkeit. Der Butler beeilte sich, ihr die Autotür aufzuhalten.

«Bitte steigen Sie ein, Madame de Léssard. Ich habe das Auto vorgeheizt, damit Madame nicht frieren.»

«Vielen Dank Pierre. Mon cher Pierre, was würde ich nur ohne Sie machen?», sagte Angélique leise, erwartete darauf jedoch keine Antwort. Die Trauer über den Verlust ihres Grandhotels ließ sie ihren Ärger über die Unpünktlichkeit des Hausangestellten vergessen, während sie sich in die weichen, beigen Ledersitze des flaschengrünen Jaguars XJ12 sinken ließ.

«Ich weiß Madame, danke», entgegnete Pierre lächelnd und setzte sich hinters Lenkrad. «Dann müssten Madame heute Abend selber fahren.»

«Tun Sie nicht so, als ob Sie es nicht genießen würden, mein wunderschönes Auto zu fahren. Und jetzt seien Sie wachsam und achten Sie auf die Straße, Pierre! Ich wünsche keine Kratzer im Lack meines Jaguars.»

«Sehr wohl, Madame.» Der Butler akzeptierte das von seiner Chefin indirekt geforderte Konversationsverbot und manövrierte die Nobelkarosse geübt durch den schmucken Park vor Angéliques Villa, vorbei am kleinen Pförtnerhäuschen, das er selber bewohnte, und bog in die Rue du Parc ein, die hinunter auf die Ochsentalstraße führte. Angélique de Léssards Villa stand an exklusivster Lage auf der Sonnseite des Tals, direkt am Ufer des Grünsees an der Südflanke einer Erhöhung mit dem Namen Sonnmatt. Fast an derselben Stelle, wo bis vor einem Jahrzehnt das Grandhotel du Parc gestanden hatte, das Erbe ihrer Familie.

Just als sich der Journalist Bernd Huwyler, Chefredaktor bei der lokalen Tageszeitung mit dem etwas angestaubten Namen Ochsentaler Nachrichten auf den Weg an die Tourismus- Generalversammlung machte, spielte sein Handy den alten Beatles Klassiker Yellow Submarine.

Ich muss endlich diesen dämlichen Klingelton ändern, stöhnte er genervt, bevor er kurz angebunden in sein Telefon bellte: «Huwyler.»

«Ich will keine Schmierereien über die heutige Tourismusversammlung lesen, klar?», blaffte eine männliche Stimme, die keine Widerrede duldete. Vorzustellen brauchte sich dieser Mann nicht, Huwyler erkannte den Gemeinderat Franz Luginbühl an dessen Stimme und herrischem Ton. Zuständig für das Ressort Volkswirtschaft und von Beruf Landwirt, besaß Luginbühl die größten Weideflächen im Ochsental, versorgte die meisten Tiere und strich dementsprechend die höchsten Subventionsbeiträge ein. In seiner rund zwanzigjährigen Karriere in der lokalen Politik hatte der Großgrundbesitzer schon jedes Ressort für einige Amtsperioden innegehabt, außer jenes für Soziales und Bildung. Was in Huwylers Augen Sinn machte, denn davon hatte dieser Bauer definitiv keine Ahnung. Weder vom einen noch vom anderen.

«Dann kauf doch das Sonntaler Wochenblatt, Luginbühl», gab Huwyler unwirsch zurück.

«Warum? Schreiben die dort oben besser als du?», höhnte der Politiker.

«Nein, aber die interessiert es einen Scheiß, was heute Abend im Ochsen geschieht», schnaubte der Journalist und unterbrach das Gespräch. Was für ein borniertes Arschloch, dachte er, während er mit der Faust auf das Lenkrad seines Geländewagens einschlug. Huwyler nutzte aus praktischen Gründen ein Fahrzeug, das ihn an jeden Schauplatz eines möglichen Geschehens im Ochsental brachte, egal, wie unwegsam das Gelände war. Bis heute hatte ihn sein Nissan X-Trail noch nie im Stich gelassen. Als er in dem Moment, von der Hauptstraße von Süden herkommend, im Begriff war, nach links auf den Parkplatz des Hotels Ochsen abzubiegen, trat er abrupt auf die Bremsen, weil ihm ein weisser Audi A4 schlingernd entgegenkam und mit überhöhter Geschwindigkeit und quietschenden Reifen auf den Hotelparkplatz raste.

«Oh mein Gott, der Vollhonk von Allmen», stöhnte Huwyler.

Bevor der Lokalkorrespondent auf den Parkplatz einbog, ließ er einen dunkelroten Porsche Cayenne passieren, dessen Fahrer ohne seine bemerkenswerten Bremsreflexe unweigerlich von Allmens Audi gerammt hätte. Schade aber auch, lachte Huwyler schadenfreudig, das wäre eine tolle Story geworden. Tourist rammt Honk.

«Wie viele Leute erwarten Sie heute Abend zu dieser Tourismussitzung?», fragte die russischstämmige Servicefachangestellte Natalia Sokolowa ihren Chef, während sie ihr weißes Schürzchen zurechtzupfte.

Alex Horn, ein achtundvierzigjähriger, grobschlächtiger Kerl, der mit dem wild wuchernden Vollbart und den Schuppen im Haar und auf dem Kragen seiner Jacke stets ungepflegt wirkte, besaß seit fünfundzwanzig Jahren das Hotel Ochsen, welches er von seinen Eltern übernommen hatte. Alex Horn legte Wert auf die traditionelle Tracht der Mitarbeitenden. Schneeweiße Bluse, schwarzweiß kariertes Foulard, schwarzes Röckchen, das höchstens bis Mitte Oberschenkel reichte, darüber eine kürzere, weiße Schürze. Schwarze Strümpfe und ebensolche Schuhe rundeten das Bild der weiblichen Angestellten ab. Die Kellner trugen schwarze Bundfaltenhosen, weiße Hemden und eine schwarzweiß karierte Fliege und ebenfalls schwarze Schuhe. Bei allen baumelte das Portemonnaie wie John Waynes Colt an der rechten Hüfte in einem Holster. «Etikette ist wichtig», pflegte Alex Horn zu sagen, umso mehr, seit das Grandhotel du Parc die Tore geschlossen hatte und er das in seinen Augen einzige relevante Hotel im Ochsental führte. Abgesehen von einigen privat geführten Bed & Breakfasts, Rucksacktouristenlagern und Campingplätzen gab es nur noch das Chalethotel Bergblume unterhalb des Ochsenhorns im Niederpfupf und das Waldhotel Bijou im Oberpfupfer Harchel. Und natürlich die großen Luxushotels oben im Sonntal.

Alex Horn rümpfte unweigerlich die Nase bei diesem Gedanken. Im Sonntal scheffelten sie noch richtig Kohle mit den Reichen und Schönen, die aus allen Teilen der Welt anreisten. Im Sonntal gab es zahlreiche mondäne, schicke Fünfsternehotels und viele Gäste des internationalen Jetsets, die dort schmucke Chalets besaßen. Aber im Ochsental, wo die hohen Berge links und rechts des Tals so eng standen, dass man das Tal in eine Schatten- und eine Sonnenseite unterteilen und wo man sich auf den Rücken legen musste, um ein Stück des Himmels zu sehen, hier kämpften die Hoteliers täglich ums nackte Überleben. Schon oft hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich touristisch nach Süden zu orientieren und mit den Sonntalern Allianzen zu schmieden, doch diese ließen ihn jedes Mal abblitzen und wollten von solchen Ideen partout nichts wissen. Touristisch zu unbedeutend sei die Ochsenritze, höhnten sie, als er seine Vorstellungen an der letzten Hotellerietagung einmal mehr zum Besten gegeben hatte. «Ihr habt ja kein einziges richtiges Hotel», lachten ihn die eingebildeten Hoteliers aus. Allen voran Boris Dimitri Iwanow, der einflussreichste Sonntaler Hotelbesitzer, dem das Grandhotel Aux Cascades gehörte. Dieser erdreistete sich allen Ernstes, Alex Horn ins Gesicht zu sagen, was er als unscheinbarer, ungepflegter...

«Pardon Chef, wie viele Leute werden heute Abend an die Sitzung von...», hakte Natalia nach und schaute ihren Chef aus blitzend grünen Augen an. Ihr Make-up war wie gewohnt perfekt. Die Servicefachkraft war einsfünfundsiebzig groß, schlank und hatte schulterlange, glatte blonde Haare.

«Viele!», unterbrach er sie mürrisch. «Der große Saal dürfte heute Abend voll sein. Brauchst du Unterstützung? Soll Nadeshda dir helfen?»

«Für die erste Runde wäre dies sicher nicht schlecht», gab Natalia zu. «Später, wenn alle bedient sind, schaffe ich den Nachschub alleine.»

«Gut. Ich werde es Nadeshda sagen. Dann übernimmt meine Frau solange die Gaststube alleine, was aber kein Problem darstellen wird, weil ja praktisch das ganze Dorf im Saal hockt.»

Kurz darauf standen Nadeshda und Natalia bereit. Wie aus dem Ei gepellt, ein echter Hingucker nicht nur für die männlichen Gäste. Für Alex Horn waren die zwei russischstämmigen Angestellten ein wahrer Segen. Beide hatten exzellente Ausbildungen an den besten Schulen der Branche genossen, beherrschten mehrere Sprachen fließend und waren überdurchschnittlich intelligent. Sie hatten internationale Hotelfachschulen in Englisch und Französisch absolviert und brachten sich aktiv in den Betrieb ein. Sie waren Töchter gut betuchter russischer Familien, die sich offenbar regelmäßig im Sonntal aufhielten, doch mehr wusste Alex Horn nicht über sie. Nur, dass die beiden in der Schweiz zur Welt gekommen waren und männliche Kundschaft aus dem ganzen Tal anzogen, wie Honig die Fliegen. Während die fünfundzwanzigjährige Natalia blond war, hatte die zwei Jahre jüngere und fünf Zentimeter kleinere Nadeshda schulterlange glatte schwarze Haare und asiatisch anmutende Gesichtszüge. Beide waren schlank und schön. Alex Horn war dies recht. Zahlreiche Stelzböcke bevölkerten tagtäglich seine Bar bis Beizenschluss und füllten die Kassen. Nicht auszudenken, was wäre, wenn die Russinnen eines Tages nicht mehr für ihn arbeiteten. Alex Horn schob diese Gedanken beiseite, jetzt war nicht die Zeit für Trübsal. In zehn Minuten würde er den großen Saal aufmachen, den sie heute Nachmittag vorbereitet hatten. Sieben Sitze an der Stirnwand für den Vorstand und fünf lange Tischreihen senkrecht dazu boten Platz für hundertzwanzig Personen. Das dürfte reichen. Alex Horn freute sich auf den Umsatz und auf die Versammlung, an der er selber als Abgesandter des Gewerbevereins im Vorstand von Pfupfwil Tourismus sass.

«Tut mir leid, Sandra, ich kann jetzt nicht. Ich muss den Laden gleich zuschließen und in den Ochsen fahren. Dort haben wir doch heute Abend Sitzung», sagte Franziska Müller zu einer Kundin, die eben ihren Blumenladen betreten hatte. Franziska, die vollschlanke Floristin mit kurzen blonden Haaren und kecken pinken Strähnchen amtete als Sekretärin und Kassiererin im Tourismusverein und würde heute Abend das Protokoll führen. Sie durfte schlicht und ergreifend nicht zu spät kommen.

«Also weißt du, Fränzi, wenn du es nicht nötig hast, meinen großen Auftrag anzunehmen, ist es wohl besser, wenn ich wieder gehe», murrte Sandra Bolzli-Keller beleidigt. «Ich finde bestimmt jemand anderen, der Zeit hat und willens ist, die Seniorenresidenz im Pfammen mit Blumenschmuck auszustatten.» Uneinsichtig drehte sie sich um.

«Also damit hat es nun wirklich nichts zu tun», seufzte Franziska, bemüht, nicht genervt zu klingen. «Ab morgen früh gelten wieder die normalen Öffnungszeiten», rief sie ihrer Kundin nach, die den Blumenladen verließ, ohne sich noch einmal umzublicken.

Doch bevor sie draußen war, drehte sich Sandra Bolzli-Keller noch einmal um. «Oh, vielen Dank, Fränzi. Morgen werde ich keine Zeit mehr haben», giftete sie, verdrehte theatralisch die Augen und verschwand mit klappernden Absätzen in der hereinbrechenden Nacht.

«Du meine Güte», stöhnte Franziska, «das kann doch alles gar nicht wahr sein. Nicole, warum bist du ausgerechnet diese Woche nicht da?» Nicole Fontana, ihre Partnerin, sowohl geschäftlich als auch privat, besuchte einen Fortbildungskurs für Pflegefachpersonen, irgendetwas mit Blutspenden und Samaritervereinen. Eilig packte Franziska ihre Sachen zusammen, schloss den Blumenladen mit dem klingenden Namen Blumenfee ab und machte sich zu Fuß auf den Weg in Richtung Hotel Ochsen, wo in Kürze die Versammlung von Pfupfwil Tourismus beginnen würde.

«Dann öffnen wir jetzt die Türen zum großen Saal. Natalia und Nadeshda, ihr wisst ja, was zu tun ist.» Margrith Horn, die Ehepartnerin von Alex Horn, war auch an diesem Samstagabend ganz in Schwarz gekleidet. Zurückhaltend geschminkt und frisch frisiert drehte sie mit einer episch anmutenden Geste den Schlüssel und öffnete die beiden Flügeltüren des großen Saals, der – ausgestattet mit einer zehn Meter breiten Bühne – für diverse Anlässe im Ochsental die ideale Location bildete. Und die Einzige. Schwere, dunkelrote Samtvorhänge verdeckten an diesem Abend jedoch die Bühne. Quer davor standen drei aneinander gereihte lange Tische, die den sieben Vorstandsmitgliedern von Pfupfwil Tourismus Platz boten. Vor den Bühnenvorhängen hing eine große weiße Leinwand, um die Präsentation der heutigen Sitzung für alle Mitglieder gut sichtbar zu projizieren.

«Hier bei der mittleren Tischreihe ganz vorne haben wir die Plätze für die geladenen Gäste und die Presse reserviert», informierte Margrith Horn ihre Angestellten und wies mit weiß behandschuhter Hand auf den entsprechenden Tisch. «Bernd von der Zeitung wird da sein und auch Roland Röthlisberger, der Präsident von Sonntal-Tourismus, seine Frau – oder Freundin oder was auch immer – Ewa Dompierre.»

«Oh natürlich, Oberpfupfs Super-Topmodel darf heute nicht fehlen», spottete Natalia.

«Ist die Serviertochter etwa eifersüchtig?», feixte Nadeshda mit fiesem Grinsen.

Margrith Horn überhörte die Sticheleien geflissentlich und fuhr fort: «Dazu haben wir noch weitere reservierte Plätze vorgesehen für die Canettis sowie für den Gemeindepräsidenten und seine Frau. Und man weiß ja nie, wer sonst noch alles auftaucht.»

Natalia und Nadeshda hörten aufmerksam zu, standen still da und sahen aus, als seien sie eben einem Hochglanzmagazin für Hotellerie und Gastronomie entsprungen. Sie wussten beide genau, was sie zu tun hatten. Nadeshda Komarowa zückte noch einmal schnell ihr Handy und warf einen verstohlenen Blick darauf.

«Keine Mobiltelefone während der Arbeit», mahnte Margrith Horn scharf. «Wie oft muss ich Ihnen das noch sagen?»

«Nein, bestimmt nicht, ist klar», grinste Nadeshda und prüfte ungeniert das Display ihres Handys, ohne ihre Chefin eines Blickes zu würdigen. Das Telefon zeigte weder einen verpassten Anruf noch den Eingang einer Kurz- oder Sprachnachricht an. Nadeshda atmete tief durch. Warum meldete er sich nicht?, fragte sich die Russin mit den asiatischen Gesichtszügen. Besorgnis breitete sich in ihr aus. Am gestrigen Abend war sie im Sonntal mit Kim Kobayashi ausgegangen. Sie kannte den jungen Mann seit ihrer frühesten Kindheit. Oft hatten sie zusammen irgendwelche Dinge unternommen, aber gestern war es anders gewesen. Nadeshda fühlte, wie ihr Puls schneller schlug bei dem Gedanken an den vergangenen Abend. Kim hatte sie umwerfend süß-schüchtern gefragt, ob er sie küssen dürfe. Mit pochendem Herzen hatte sie eingewilligt und voller Erwartung die Augen geschlossen. Doch das, was dann folgte, war nur der Hauch einer Berührung seiner Lippen auf ihren, aber beim besten Willen kein Kuss. Danach rannte der zwei Jahre jüngere Mann so schnell weg, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Doch nicht, ohne ihr vorher mit Tränen in den Augen und einem Kloß im Hals versprochen zu haben, sich am kommenden Tag auf jeden Fall bei ihr zu melden. Doch das hatte er bis jetzt nicht getan.

Ich werde ihn mit Sicherheit nicht anrufen, dachte Nadeshda.

Sie lächelte vor sich hin und warf mit einer anmutig fließenden Bewegung den Kopf in den Nacken und beförderte damit eine Strähne ihres schwarzen Haares aus dem Gesicht. Natalia beobachtete sie heimlich mit gekräuselter Stirn, während Margrith Horn nervös im großen Saal herumtänzelte.

2. Hotel Ochsen, großer Saal

Samstag, 24. Oktober

«Guten Abend zusammen, liebe Mitglieder von Pfupfwil Tourismus, werte Vorstandskolleginnen und -kollegen. Ich begrüße euch herzlich zur diesjährigen Generalversammlung, der letzten, die ich als euer Präsident eröffnen werde!» Noch-Tourismuspräsident Hans Abegglen hatte sich von seinem Stuhl erhoben. Vergnügt grinsend eröffnete er die Sitzung. Der Saal des Hotels Ochsen war gut besucht, wenn auch nicht bis auf den letzten Platz besetzt. Vor sich in der Saalmitte entdeckte Abegglen den Journalisten Bernd Huwyler, der ihn immer an einen viel zu groß geratenen Jungen erinnerte, der mit Hängearsch und krummem Rücken ziellos durch die Welt strauchelte. Der Journalist machte jetzt schon eifrig Notizen, obschon die Versammlung noch gar nicht richtig begonnen hatte. Eine Kamera lag schussbereit mit aufgestecktem Blitzgerät neben ihm. Huwyler gegenüber sass Roland Röthlisberger, Präsident von Sonntal-Tourismus, der, sportlich-elegant gekleidet von seiner attraktiven Partnerin, die als Model arbeitete und an deren Name sich Abegglen beim besten Willen nicht erinnern konnte, begleitet wurde. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er seine Frau Lisa mit ihren kaum sichtbar verschmierten, erdbeerroten Lippen wahr. Sie sass neben Caspar Canetti und strahlte mit dessen Gattin Maria um die Wette. Beide waren blond. Doch im Gegensatz zu Lisas blauen Augen hatte Maria rehbraune. Am selben Tisch erkannte Abegglen außerdem das Gemeindeoberhaupt Eric Bosset, Lisas Vater, zusammen mit Firstlady Manuela, die aussah wie Catherine Zeta-Jones und die seine Schwiegermutter war.

«Speziell begrüßen möchte ich an dieser Stelle Roland Röthlisberger, den Präsidenten von Sonntal-Tourismus, mit seiner entzückenden Begleitung und Bernd Huwyler, den Vertreter der lokalen Presse», fuhr Abegglen fort. Zwischen den einzelnen Worten zwinkerte er Lisa – in Erinnerung an die letzte gemeinsame Viertelstunde zu Hause vor der Sitzung – schelmisch zu. Röthlisberger erhob sich, nickte grüßend in die Runde, während Huwyler kaum von seinem Notizblock aufblickte. Das Sonntaler Model sah professionell gelangweilt aus und blickte mit halbgeschlossenen Lidern auf ihre künstlichen Fingernägel.

Von sich aus gesehen, ganz hinten links im Saal erkannte Abegglen Mario Tonelli, der an jeder Versammlung teilnahm, egal wer sie abhielt, ob die Gemeinde, die Sportbahnen, die Kirchgemeinde oder die Landfrauen: Tonelli war in jedem Verein Mitglied, ohne jedoch ein einziges Amt innezuhaben. Alle im Tal kannte ihn, doch kaum einer wusste etwas über den Mann. Als er Abegglens Blick bemerkte, nickte er ihm aufmunternd zu. An Huwyler gewandt, fügte Abegglen hinzu: «Und wie immer danken wir für Ihr Interesse und hoffen auf eine wohlwollende Berichterstattung.»

Ein schwer zu deutendes, dafür umso lauteres Grunzen, das unschwer dem Tourismusvorstandsmitglied und Gemeinderat Franz Luginbühl zugeordnet werden konnte, quittierte Abegglens Worte. Huwyler, dem augenblicklich die Zornesröte ins Gesicht schoss, unterbrach sein Gekritzel und starrte den Pfupfwiler Wirtschaftsminister, der in der Reihe der Vorstandsmitglieder ganz rechts außen sass, hasserfüllt an. Zwei Sekunden lang herrschte Totenstille im Saal, um Tonellis Lippen spielte ein kaum wahrnehmbares Lächeln. Auf der linken Seite neben Hans Abegglen schüttelte Angélique Louise de Léssard, die ebenfalls im Vorstand von Pfupfwil Tourismus sass, missbilligend den Kopf.

Routiniert nahm Hans Abegglen den Faden wieder auf und erläuterte den Geschäftsbericht. Nicht zum ersten Mal klaffte in diesem Jahr ein großes Loch in der Kasse des Tourismusvereins. Das Defizit fiel jedoch noch verheerender aus als im Vorjahr und im Vorvorjahr und im Jahr zuvor. Seit nunmehr einem halben Jahrzehnt schrieb Pfupfwil Tourismus Jahr für Jahr ein rekordverdächtiges Minus und es war kein Geheimnis, dass der hiesige Fremdenverkehr in einer schweren Krise steckte. Die tiefroten Zahlen legten dies schonungslos offen – trotz gleich bleibender Mitgliederzahl und konstanten Beiträgen. Es seien schwierige Zeiten für den Tourismus, erklärte Abegglen das stetig wachsende Loch in der Kasse. Als Gründe für das ausgesprochen desolate Geschäftsergebnis führte er den starken Schweizer Franken ins Feld, obschon der Anteil der ausländischen Gäste im Ochsental seit der Schließung des Grandhotels verschwindend klein war und seit Jahren nicht größer wurde. Investitionen in die neue Webseite und in neue Fotos seien getätigt worden, was Unmengen an Geld verschlungen habe. Noch-Präsident Abegglen prangerte die dauernd sinkenden Übernachtungszahlen in der hiesigen Hotellerie an und wünschte sich von den entsprechenden Leistungsträgern in Zukunft mehr Initiative. Die letzte Wintersaison habe auf dem Schafberg kaum stattgefunden, weil einerseits in der Kasse das Geld für Schneekanonen fehlte und diese andererseits aus Gründen des Umweltschutzes keine Mehrheit fänden. Bernd Huwyler stellte kopfschüttelnd fest, dass sich Abegglen im großen Ganzen derselben Argumentation bediente wie schon im Vorjahr und im Jahr zuvor.

Beim Thema Schneekanonen brandete ein Raunen durch den Saal, das der Präsident wohlweislich unkommentiert ließ und unbeirrt fortfuhr. Auch die längst überfällige Parkplatzbewirtschaftung sei immer noch nicht spruchreif, weil gewisse Köpfe diese Notwendigkeit nicht einsähen und das Projekt seit Jahren behinderten. Eine vernünftige Parkplatzbewirtschaftung, gab sich Abegglen überzeugt, würde dringend benötigtes Geld in die leeren Kassen spülen. Er schloss seine Ausführungen damit, dass mehr denn je neue, mutige Gästekonzepte gefragt seien. Abegglen gab vor der Genehmigung von Protokoll, Jahresrechnung und Budget, das ebenfalls mit tiefroten Zahlen aufwartete, das Wort frei.

«Womit sollen wir denn die Hotelübernachtungen oder den Anteil an internationalen Gästen steigern? Wir haben ja gar kein richtiges Hotel mehr», stichelte Angélique Louise de Léssard. «Von nichts kommt halt eben auch nichts.»

Alex Horn schlug umgehend mit der Faust auf den Tisch. «Was genau wollen Sie damit sagen, Frau de Léssard?» Er war wieder auf Angéliques Sticheleien eingegangen, obschon er sich schon so oft geschworen hatte, nie mehr auf ihren Spott zu reagieren.

Sie lächelte säuerlich. «Eben genau das, was ich gesagt habe. Hätte es im Ochsental ein anständiges Hotel, wären die Zahlen nicht nur in Ordnung, sondern sogar sehr gut. Das hat uns die Erfahrung gelehrt. Sie erinnern sich?» Angélique betonte das Wort anständig in ihrem Satz derart herablassend, dass sich Alex Horn nur mit äußerster Mühe beherrschen konnte. Jeder im Saal wusste, dass Angélique auf jene Zeiten anspielte, in denen ihr Hotel floriert hatte. Also auf das sprichwörtliche goldene Zeitalter des Pfupfwiler Fremdenverkehrs und ihres eigenen Lebens.

«Genau», polterte der grobschlächtige Hotelier, «großartig! Den eigenen Laden selbst abfackeln, die Versicherungsgelder einstreichen und jetzt auf dicke Hose machen, Frau de Léssard, das ist natürlich...»

Angéliques eisbachblaue Augen blitzten zornig. «Was für ein ungehobelter und absolut unfähiger Kerl Sie doch sind, Herr Horn. Sie wissen nur zu gut, wie...»

Die ehemalige Hotelière hatte es nicht nötig, ihre Stimme zu erheben. Ihr Vater hatte von seinem Großvater ein kleines, heimeliges Gasthaus mit einigen Fremdenzimmern übernommen, welches dieser kurz vor der Jahrhundertwende 1899 eröffnet hatte. Das kleine Hotel profitierte von der einzigen wirklich sonnigen Lage im Ochsental, nahe bei einem lauschigen Wasserfall und einem außergewöhnlich idyllischen, nahezu kreisrunden Bergsee sowie von seiner weit herum berühmten Küche. Während des Ersten Weltkriegs, als die Gäste vermehrt ausblieben und man Selbstversorger werden musste, kauften die de Léssards viel Land und große Waldflächen im Ochsental zu verhältnismäßig niedrigen Preisen, um Kartoffeln anzubauen, und um über genügend Brennholz zu verfügen. Da man hierzulande aber nie in die großen Kriege verwickelt gewesen war, bot das kleine Hotel dank exzellenter Küche und gesunder Luft für die europäische Oberschicht höchst willkommene Rückzugsmöglichkeiten und erquickende Verschnaufpausen in den Kriegswirren. In den obersten Schichten der Gesellschaft pries man das idyllisch gelegene Hotel du Parc als eine Oase in den Bergen, eine Insel im Krieg. Das hatte sich damals schnell herumgesprochen.

Trotz der Wirtschaftskrise, dem Zweiten Weltkrieg und weiteren Widerwärtigkeiten gedieh das Gasthaus und wuchs stetig. Dank des Landes, das man erworben hatte, konnte angebaut werden. Neue Trakte mit mehr Zimmern entstanden, dazu ein Schwimmbad, eine Sauna und ein Liegeraum. Das Hotel wurde mondäner, größer, edler und entwickelte sich zu einem veritablen Grandhotel. Alle paar Jahre kam ein weiterer Stern hinzu, bis man bereits in den frühen 1940er Jahren ein weit herum bekanntes, allseits hoch gelobtes Fünfsterne-Grandhotel war. In dieses Geschäft hinein wurde Angélique Louise de Léssard geboren. Das Hotel war ihr Zuhause, ihre Zuflucht und gleichzeitig ihr Tor zur weiten Welt und ihre Verbindung zur gehobenen Gesellschaft. Aufgewachsen mit gestärkten weißen Stoffservietten in Silberringen, edelstem Porzellan und Kristallgläsern war sie es gewohnt, bedient und umsorgt zu werden. Reichtum war für sie die natürlichste Sache der Welt, eine angeborene Selbstverständlichkeit. Angélique hatte die besten Schulen des Landes besucht, dazu einige Semester in den teuersten Internaten und internationalen Hotelfachschulen absolviert. Als sie mit zweiundzwanzig ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, stieg sie direkt ins Geschäft mit ein und startete ihre Karriere als Chefin de Réception. Zehn Jahre später verstarb ihre Mutter Marie-Louise, worauf die damals zweiunddreißigjährige Angélique die Leitung des Betriebes in der vierten Generation übernommen hatte. Sie liebte ihr Leben und ihren Beruf und stellte alles hintenan. Sogar die Liebe, obschon sie eine attraktive, intelligente und weltgewandte Frau war und es ihr an Angeboten nie gemangelt hatte.

Eines Tages checkte ein russischer Oligarch namens Jgor Wladimir Iwanow mit seinem Sohn Boris Dimitri im Grandhotel du Parc ein. Boris Dimitri Iwanow war zwei Jahre älter als Angélique, hatte tadellose Umgangsformen und sah mit den schwarzen, leicht gekrausten Haaren und den meerblaugrauen Augen umwerfend gut aus. In den 1980er Jahren logierte Boris Dimitri zweimal jährlich im Grandhotel du Parc und die Chefin de Réception verliebte sich unsterblich in den jungen Russen. Dimitris Vater hatte es indes ins Sonntal gezogen, wo er das Fünfsternehotel Aux Cascades gekauft hatte. Jgor Wladimir war es im Ochsental zu eng, zu wenig sonnig und zu wenig nobel.

«Tut mir leid, Dimitri, aber dieses Tal hat keinen Stil. Man nennt es die Ochsenritze, das ist nicht die richtige Umgebung für uns», pflegte er seinem Sohn zu sagen und machte damit unmissverständlich klar, dass er sich niemals im Ochsental niederlassen würde. Später stieg Boris Dimitri bei seinem Vater mit ein und übernahm die Geschäftsleitung im Aux Cascades. Von da an ließ sich Boris Dimitri im Grandhotel du Parc vorerst nicht mehr blicken.

Das du Parc war Jgor Wladimir Iwanow aufgrund des internationalen Renommees von dem Moment an ein Dorn im Auge gewesen, seit er das Aux Cascades gekauft hatte. Denn wie er selbst auch, waren viele seiner russischen Geschäftsfreunde nach Pfupfwil gekommen und hatten im du Parc ihr Quartier bezogen. Einige von ihnen stiegen auch dann noch im Grandhotel du Parc ab, nachdem Jgor das Aux Cascades gekauft hatte. Zu seinem Verdruss hielten seine Freunde mehrheitlich der charmanten Angélique die Treue, was ihm nachhaltig zu schaffen machte und in ihm tiefen Neid entfachte, obschon er im Sonntal nie an Gästemangel gelitten hatte. Ein junger Mann aus dem Pfupf, Robert Abegglen, Vater des aktuellen Tourismuspräsidenten Hans Abegglen, führte zu jener Zeit in Pfupfwil ein Sanitär- und Installationsgeschäft. Der tüchtige Handwerker erarbeitete sich als Hofsanitär des Grandhotels einen guten Ruf, war für sämtliche anfallenden Sanitärarbeiten der richtige Mann und hätte sich damit eine goldene Nase verdienen können. Robert war in Boris’ Alter, sah jedoch in Angéliques Augen nicht halb so gut aus wie der Russe und hatte bei weitem nicht so viel auf der hohen Kante – und er hatte keinen Stil. Robert Abegglen verfügte über einen gesunden Verstand und breite Schultern und er war zuverlässig. Nach dem Liebesaus mit Boris wandte sich Angélique mehr und mehr Robert Abegglen zu. Ihm gelang es, sie zu trösten und ihr die Kraft zu geben, über den Russen hinwegzukommen. Dennoch schaffte es Angélique nie, Boris vollständig aus ihrem Herzen zu verbannen. Im Lauf der Zeit jedoch entfachte sich zwischen Angélique und Robert eine zarte Liebe.

Eines Tages, es war an einem wunderschönen Spätsommerabend, feierte die gehobene Gesellschaft auf der Terrasse des Grandhotels du Parc den Abschluss einer überdurchschnittlich erfolgreichen Saison. Alle Gäste waren chic angezogen und überall standen mit glänzend weißen Seidentücher eingefasste Stehtischchen herum. Tausend Kerzen brannten und ein Pianospieler, dessen Sphinx-Flügel man extra mit einem Helikopter hatte in den Garten einfliegen lassen, spielte dezente Klaviermusik, die wie ein Sommernachtstraum über die illustre Gästeschar rieselte. Dieser Flügel hatte den Niedergang des Grandhotels wundersamerweise schadlos überstanden und bekam später in Angéliques Villa einen Ehrenplatz.

Das war der perfekte romantische Rahmen für Roberts großen Moment. An diesem Abend nahm er allen Mut zusammen, denn er hatte beschlossen, seiner angebeteten Angélique einen Heiratsantrag zu machen. Dazu hatte er sich in seinen Sonntagsanzug geworfen und den – wie er fand völlig überteuerten – Verlobungsring eingesteckt. Mit klopfendem Herzen und einem gewaltigen Kloß im Hals hatte er den Weg zum Grandhotel unter die Füße genommen. Seine Wangen glühten, das Herz schlug ihm bis zum Halse und seine Knie zitterten. Noch nie zuvor in seinem ganzen Leben war Robert Abegglen so nervös gewesen wie an diesem Abend. Unter den uralten Kastanienbäumen neben der Parkmauer blieb er stehen. Mit den Augen suchte er Angélique unter all den lachenden, tanzenden und singenden Gästen. Die Männer trugen allesamt Frack oder Smoking und die Damen waren in aufwendige Abendroben gekleidet. Es war eine Szene, die sich problemlos an einem der europäischen Königshäuser hätte abspielen können oder sogar beim Sonnenkönig in Versailles. Es war das pure Leben der Reichen und Schönen. Und dann plötzlich sah er sie, Angélique Louise de Léssard! Sie war in seinen Augen die allerschönste Frau an diesem Abend und auf der ganzen Welt.

Er fasste sich ein Herz und wollte sich eben aus dem Schutz der Bäume in die Menge begeben, als ihm das Blut in den Adern gefror. Fassungslos starrte er hinauf auf die halbrunde Terrasse, die sich über dem Speisesaal erstreckte. Beim Geländer sah er Angélique in Begleitung eines Mannes, den er vom Sehen und vom Hören her kannte. Es war der doofe Oberschnösel aus dem Sonntal: Boris Dimitri Iwanow. «Oh nein, nicht schon wieder dieser Russe», stöhnte Robert Abegglen halblaut vor sich hin und starrte gebannt auf die Terrasse, wo sich die beiden im Licht unzähliger Kerzen gegenüber standen. Als sie sich küssten, brach der Handwerker zusammen, ein erstickter Schrei entrang sich röchelnd seiner Brust. Mit Tränen in den Augen und zugeschnürter Kehle fühlte er physisch, wie sein Herz zerbrach, wie es ausgerechnet von diesem Russen erbarmungslos entzweigerissen wurde. Qualvoll bildete sich ein schmerzender Klumpen verletzter Gefühle in seinem Bauch. Robert verließ todunglücklich die Veranstaltung, die den Rahmen für den glücklichsten Tag seines Lebens hätte abgeben sollen.

An jenem Tag im Spätherbst 1988 war Boris Dimitri Iwanow nach Pfupfwil gekommen, um Angélique zu sagen, dass er sie nicht mehr sehen durfte, weil sein Vater Jgor damit ein Problem hätte. Boris selber hatte nicht die Kraft, sich gegen ihn, den Patriarchen der alten Schule, aufzulehnen. Für Angélique war diese Botschaft ebenso befremdlich wie schmerzlich gewesen. Aber um ihr Gesicht vor all den Gästen zu wahren, tat sie äußerlich so, als hätte sie damit überhaupt kein Problem und schluckte den Schmerz hinunter. Zudem hatte sie inzwischen ja Robert. Sie schaute Boris in die meerblaugrauen Augen und spürte, wie etwas tief in ihrem Innersten zerbrach. «Nicht weinen, Angélique, jetzt bloß nicht weinen», sagte sie sich, dafür hätte sie später noch alle Zeit der Welt. Die junge Hotelière verzog verächtlich den Mund, weil sie inständig gehofft hatte, Boris sei Manns genug, sich gegen seinen Vater zu stellen. Alles, was sie in diesem Moment tun konnte, war, ihrer großen Liebe einen Abschiedskuss zu geben und ihn unter Aufbietung all ihrer Kräfte zum Teufel zu schicken. Das war der Kuss, den Robert gesehen hatte. Als sie etwa eine Woche später Robert wegen einer geborstenen Wasserleitung in einer ihrer Suiten angerufen hatte, brachte dieser am Telefon nur ein einziges Wort heraus. «Russenhure!» Danach hatte er aufgelegt und mittels eines späteren Telefonats dem Concierge Pierre Lehmann ausrichten lassen, dass er dem Grandhotel für weitere Arbeiten nicht mehr zur Verfügung stehe. Das war es dann gewesen mit der goldenen Nase und seiner Liebe zu Angélique. In der Folge schrieb ihm Angélique mehrere Briefe, doch der Ochsentaler Handwerker schaltete auf stur und reagierte nie darauf.

Wenige Jahre später ersuchte Boris bei Angélique um einen Termin und erschien zusammen mit seinem Vater Jgor Wladimir. Ihr Ansinnen war es, das Grandhotel du Parc und das Aux Cascades unter einem Dach zusammenzuführen und sie beabsichtigten, noch mehr Hotels im gehobenen Fünfsternebereich dazu zu kaufen, und damit die einzige talübergreifende Luxushotelkette im Ochsental und dem Sonntal aufzubauen. Angélique erbat sich einige Tage Bedenkzeit. Der Betrag, den ihr die Russen dafür geboten hatten, hätte sie zu einer reichen Frau gemacht. Zu einer schwerreichen Frau. Angélique wäre weiterhin Geschäftsführerin in ihrem eigenen Hotel geblieben. Nur nicht mehr auf eigene Rechnung, sondern als umsatzbeteiligte Geschäftspartnerin. Schließlich willigte Angélique ein und unterschrieb unzählige Verträge. Kurz nachdem sie alle Vereinbarungen unterzeichnet hatte, erschien Boris ohne Voranmeldung in ihrem Büro und verkündete ihr, dass er jetzt der neue Chef im Grandhotel du Parc sei. Aufgrund der Vereinbarungen, die sie unterzeichnet habe, hätte sie sich endgültig damit einverstanden erklärt.

Es folgte ein Riesenstreit, in dessen Verlauf Boris Dimitri von Angélique einige heftige Ohrfeigen kassierte. Angélique setzte ein Heer von Anwälten ein, um die Sache rückgängig zu machen. Erfolglos. Sie habe ihr Hotel verkauft und es damit verloren, beteuerten ihre Juristen. Angélique verließ daraufhin Pfupfwil und machte eine lange Reise rund um die ganze Welt. Sie war grade von einer Elefantensafari in Sri Lanka zurückgekommen, als ein Anruf von Pierre Lehmann sie in ihrem Hotelzimmer erreichte. «Ihr Hotel ist letzte Nacht bis auf die Grundmauern abgebrannt», stammelte er mit tränenerstickter Stimme am Telefon und sie hörte, wie schwer es ihm fiel, ihr diese Nachricht zu überbringen. «Mein Hotel?», fragte sie erschrocken, dann fügte sie mit tonloser Stimme hinzu: «Ich habe gar kein Hotel.»

Diese alte Geschichte wühlte Angélique Louise de Léssard bis auf den heutigen Tag immer wieder auf. Der Handwerker Robert Abegglen war der Vater des scheidenden Tourismuspräsidenten Hans, der sie jetzt aus ihren Gedanken riss.

«Meine Damen und Herren, ich bitte Sie», unterbrach er die Streiterei, denn ihm war nicht entgangen, dass Huwyler zufrieden grinsend mitgeschrieben hatte. «Bleiben Sie doch bitte sachlich und respektvoll. Weitere konstruktive Wortmeldungen?», wandte er sich, das Wort konstruktiv übermäßig betonend, an die Versammlung. Ein junger Mann Mitte zwanzig, schwarzes Kraushaar, Brillenträger, mit rotem Strickpullover und braunen Ellbogenflicken, meldete sich schüchtern zu Wort.

«Werter Präsident, liebe Frauen und Mannen, mein Name ist Beat Mürner. Ich bin Primarlehrer im Oberpfupfer Zwurchelschulhaus», begann er und nahm die Brille ab. Während er anfing, umständlich die Brillengläser mit einem Tuch zu reinigen, das er aus der Gesäßtasche seiner Jeans hervorgefriemelt hatte, sprach er weiter: «Ich denke schon eine geraume Zeit lang darüber nach, dass allenfalls ein Waldlehrpfad im Chrottenwald eine interessante Idee wäre. Das würde nicht nur unseren Schülern helfen, die einheimische Tier- und Pflanzenwelt kennenzulernen, sondern ebenso anderen Schulklassen. Lehrpersonen mit ihren Schulkindern kämen aus den Nachbartälern in den Chrottenwald. Und je nachdem, wie wir den Pfad inszenieren, auch von weiter her. Man könnte nebst Bäumen und Pflanzen auch Steine, sprich Findlinge, anschreiben und geologisch erklären oder die Tiere, die in unseren Wäldern leben. Mir schwebt ein richtiger Naturlehrpfad mit Grillplatz, Sonnenuhr und Klettergarten vor.» Um die Sauberkeit seiner Brillengläser zu prüfen, hob er sie gegen das Deckenlicht, nickte und setzte sich die Sehhilfe wieder auf.

Nachdem der Primarlehrer seine Vision dargelegt hatte, gab es auf der einen Seite zustimmendes Gemurmel auf der anderen zweifelndes Kopfschütteln.

«Im Chrottenwald eine Sonnenuhr, he», lachte Luginbühl laut und ordinär. «Wissen Sie eigentlich, Herr Mürner, wie viele Sonnenstunden wir auf der Schattseite des Tals im Chrottenwald haben? Ich kann es Ihnen ganz genau sagen: Morgens gar keine und nachmittags sehr wenige. Nur gerade in den Hochsommermonaten steigt die Sonne schon vor dem Mittag höher als der Chrottenstotzgrat und scheint bis in den Wald hinunter. Nur im Hochsommer, Mürner. Das heißt, mindestens die Hälfte aller nachmittäglichen Sonnenstunden im Chrottenwald fällt genau in die Sommerferien. Welche Klassen sollen da von weither kommen?» Luginbühl lehnte sich provokativ entspannt zurück und schüttelte missbilligend den Kopf.

«Es geht ja a priori um den Naturlehrpfad und nicht um den Standort oder eine Sonnenuhr, das kann man natürlich alles diskutieren. Es gibt ja beispielsweise noch den Auenwald oder andere Standorte. Das müsste man halt prüfen», gab der Lehrer kämpferisch zurück.

«Quatsch ist das, Mürner. Absoluter Bullshit», mischte sich Michel von Allmen ein. «Ein Naturlehrpfad für Schulkinder. Wo bitte soll da die Wertschöpfung sein? Schulkinder und ihre Lehrpersonen, pffff...» An dieser Stelle vollführte der Mann mit Bierbauch und Spitzbart eine wegwerfende Handbewegung. «Die kommen mit dem Zug in den Pfupf, Mürner, oder mit dem Bus, weil der Zug bei uns ja schon lange wegrationalisiert worden ist», korrigierte er sich gleich selbst und fuhr in rechthaberischem Ton fort, «da verdient keiner von uns etwas. Zudem fressen sie ihre mitgebrachten Sandwiches, saufen ihre mitgebrachten Kräutertees und hinterlassen eine Riesensauerei im Wald. Das wissen Sie doch besser als ich, Herr Lehrer. Niemand verdient daran was, im Gegenteil. Die Putzfrauen für den Wald müssten wir selbst bezahlen. Oder denken Sie, irgendwelche Idioten finden Ihren dämlichen Naturlehrpfad derart gigantisch, dass sie eine Woche Ferien buchen hier im Ochsen? Ich hoffe sehr, Sie bringen den Kindern Schlaueres bei, Mürner, als diesen Mist, den Sie hier von sich geben. Scheint, als müsste man sich ernsthafte Gedanken über neue Lehrkräfte im Zwurchel machen!»

Als er geendet hatte, strich sich Michel von Allmen selbstgefällig über den Bart und grinste frech in Mürners Richtung. Franz Luginbühl nickte zustimmend.

«Ich finde, man sollte den Teilnehmern unserer Versammlung etwas mehr Respekt entgegenbringen, wenn sie schon den Mut haben und sich melden, um Ideen einzubringen», meldete sich jetzt Caspar Canetti zu Wort, der die Diskussion interessiert verfolgte.

«Aha, sagt wer?», blaffte von Allmen genervt.

«Canetti, Caspar Canetti, ist mein Name», antwortete er lächelnd.

«So, Canetti ist ihr Name. Habe Sie hier noch nie gesehen und auch noch nie etwas von Ihnen gehört», entgegnete von Allmen in einem Ton, als wäre damit alles zu diesem Thema gesagt. Just in dem Augenblick öffnete sich die Tür des großen Saals. Natalia trat ein, um weitere Bestellungen aufzunehmen, und von Allmen hatte nur noch Augen für die schöne Russin. Die Rüge, die ihm Abegglen erteilte, bekam er nicht mehr mit. Michel verfolgte die Servicefachkraft mit seinem Blick, bis sie den Saal verlassen und die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte. Erst dann griff er zu seinem Bier und trank einen großen Schluck. Mit dem Handrücken fuhr er sich über den Mund und unterdrückte einen Rülpser.

«Wenn sich sonst niemand melden will, bitte ich die Versammlung abzustimmen. Wer die Jahresrechnung, das Budget und das Protokoll der letztjährigen Generalversammlung genehmigen will, möge dies bitte mit einem Handzeichen tun.» Praktisch alle Hände schossen in die Höhe.

«Gibt es Enthaltungen?»

Einzig Tonelli hinten links im Saal meldete sich.

«Gegenstimmen?» Alle Hände blieben unten. «Ich danke Euch», fuhr Abegglen fort. «Ich erteile nun das Wort unserer Sekretärin Franziska Müller für das Traktandum zwei. Sie wird Euch die Aktivitäten für das kommende Jahr präsentieren.»