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Timur E. Simsek

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Beschreibung

1946, New York Tom ist ein gutaussehender, junger Mann, dem eine ransante Aufstiegskarriere bei der New Yorker Polizei bevorsteht. Auch in seinem Privatleben läuft alles wie am Schnürchen als er die hinreissende Emily an der Hochzeit seines besten Freundes kennenlernt und sie sich verlieben. Mysteriöse, scheinbar unlösbare Mordfälle und die zunehmende Popularität einer Gang scheinen Toms glanzvollem Werdegang allerdings ein abruptes Ende zu bereiten. Der vermeintliche Verlust seiner Liebe des Lebens droht ihn an den Rand seines Verstandes zu bringen. Einen Ort an dem ihn nichts ausser Dunkelheit erwartet!

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Seitenzahl: 295

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Inhalt

Prolog

Teil I

Clair’s

Hochzeit

Central Park

Brücke

Tatort

Familienangelegenheiten

Feuer

Teil II

Beerdigung

Eine weitere Leiche

Melissa Mayweather

McCollins

Eifersucht

Streit

Unfall

Teil III

Der Geruch des Todes

Ad acta

Lippenstift

Verfolgungsjagd

Veröffentlichung

Manchmal schmerzt festhalten mehr als loslassen

Prolog

»Ein prächtiger Junge«, hatte der Arzt bei seiner Geburt gesagt. Thomas Cole Hilbert alias Tom Hilbert wurde 1923 als einziger Sohn von Michael und Beatrice Hillbert geboren. Seine Eltern waren vermögende Menschen. So war es ihnen möglich gewesen, ein prächtiges Anwesen in Engelwood Cliffs zu bauen. Engelwood Cliffs war ein kleines Städtchen ungefähr eine halbe Stunde von New York entfernt. Tom hatte seine Kindertage dort oder beim Haus seiner Grosseltern in Colorado verbracht. Oftmals sah Tom seine Grosseltern mütterlicherseits jedoch nur, wenn seine Eltern sich wieder einmal gestritten hatten. Die beiden waren wie Feuer und Wasser.

Nachdem Beatrice, seine Mutter, eine grobe Auseinandersetzung mit ihrem Gatten gehabt hatte, verbrachte sie mit ihrem Sohn eine ganze Woche in Colorado. An einem dieser kühlen Herbsttage war Tom mit seinem Grossvater golfen gegangen. Damals war er gerade einmal zehn Jahre alt gewesen. Während sein Grossvater gerade einen Golfball nach vorne schlug, sass Tom auf dem Rücksitz des Golfcarts.

»Wie kommt es, dass Grossmutter und du nicht so oft streitet wie Mama und Papa?«, fragte Tom seinen Grossvater. Sein Grossvater hielt inne, stützte sich auf seinen Schläger und blickte ihn nachdenklich an. Nach einer Weile meinte er:

»Weil wir uns sehr lieb haben.«

»Dann lieben sich meine Eltern nicht?«, fragte Tom und blickte auf sein Eis.

»Das würde ich nicht sagen. Weisst du, Liebe hat ganz verschiedene Formen. Bei deiner Grossmutter und mir sorgt sie dafür, dass alles gut läuft. Bei anderen, ich behaupte sogar, bei denen, deren Liebe zueinander sehr stark ist, führt sie dazu, dass sie sich hie und da in die Haare kriegen«, meinte sein Grossvater. Er kniete sich vor Tom hin. »Deine Eltern lieben sich, mach dir deshalb keinen Kopf.« Wie falsch er lag. Kurz nach Toms fünfzehntem Geburtstag liessen sich die Eltern scheiden. Beatrice zog nach dem Beziehungsaus nach Chicago um sich einer neuen Arbeitsstelle zu widmen. Seither hatte Tom sie nicht mehr gesehen. Gelegentlich schrieben sie sich Briefe. Sein Vater Michael Hilbert hatte sich nach der Scheidung nur noch mehr in seine Arbeit vertieft. Als Tycoon hatte er Vermögen mit der Produktion von Luxusschiffen gemacht. «Hilbert Cruise Line» hiess die Unternehmung, die Tom einmal erben würde. Seit er sich erinnern konnte, hatte Tom immer zu seinem Vater hochgesehen. Der Vater war gebildet und erfolgreich, und er schien immer die richtigen Worte zu finden. Doch der Mann war auch äusserts streng, emotional unantastbar und hatte hohe Ansprüche an seinen einzigen Sohn. Der einzige Grund, warum Tom Boote fahren konnte, bestand darin, dass sein Vater ihn dazu gedrängt hatte. Michael hatte seit Tom denken konnte besonders Wert auf die Ausbildung seines Kindes gelegt. Für die meisten klang das gut, doch für Tom war es das nicht. Während seine Kameraden nach der Schule draussen spielen durften, musste er in seinem Zimmer sitzen, zusätzliche Rechenaufgaben lösen, Fremdwörter büffeln und sich die Gepflogenheiten der feinen Art einprägen. Manchmal kam es vor, dass er bis spät in die Nacht hinein lernen musste. Tom war immer einer der besten Schüler der Klasse und wurde dafür auch oft gehänselt. Wenn er sich darüber beschwerte, beschwichtigte ihn sein Vater immer mit den Worten »Menschen mögen es nicht, wenn du besser bist als sie«.

Sein Vater war es auch, der dafür gesorgt hatte, dass Tom auf alle Fälle an die Harvard University gehen konnte. Nach seinem Studium, das er selbstverständlich als Jahrgangsbester abschloss, kehrte Tom zum Anwesen seines Vaters zurück. Michael war damals aber noch nicht bereit dazu gewesen, ihm sein Unternehmen oder zumindest Teile davon abzutreten. Tom hätte daher einfach auf der faulen Haut liegen und auf den Rücktritt seines Vaters warten können.

Da er nicht das Bedürfnis hatte, bis zu diesem Zeitpunkt zu warten, meldete er sich 1941 als Infanterist beim Militär, nachdem die Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg eingetreten waren. Er wurde, wie so viele andere auch, nach Frankreich verschifft, wo er Deutsche erschiessen musste, die kaum älter waren als er selbst. Aufgrund seines Könnens und weil er schlicht unsterblich schien, wurde er einige Monate später zum Korporal ernannt. Es gelang ihm, mehrere Gefechte zu gewinnen. Er konnte sich noch allzu gut an eine Schlacht am Rhein erinnern: Er kauerte hinter den Trümmern eines eingestürzten Hauses. In seinen zitternden Händen hielt er ein Sturmgewehr. Er zitterte nicht, weil er fror oder nervös war. Nein, er hatte seit Tagen nichts mehr gegessen. In seinen Ohren wummerten die Schüsse der Artillerie, die über seinen Kopf hinweg die feindliche Front bombardierte. Tom konnte auch die Schreie der Männer hören. Waren es seine Feinde? Seine Freunde? Er konnte es nicht sagen. Es spielte auch keine Rolle. Tom zuckte zusammen, als ein Schuss nur einige Zentimeter neben ihm ins Holz einschlug. Er lud sein Gewehr, nahm all seinen Mut zusammen, erhob sich, erblickte seinen Gegner und drückte den Abzug. Sein Gegenüber fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden. Tom sprang über die Trümmer, die ihm vor wenigen Sekunden noch das Leben gerettet hatten, und rannte zur nächstgelegenen Wand. Dort warf er sich hin und blickte vorsichtig nach vorne. Er sah den Rhein und den mit Leichen gepflasterten Weg dorthin. Linkerhand stand ein Panzer in Flammen. Auf seiner rechten Seite sah er, wie sich Männer mit Pistolen und Gewehren gegenseitig erschossen, sich mit Granaten Körperteile wegsprengten, sich mit Messer, Schaufel und Bajonett in die Mägen stachen. Und wofür das Ganze? Um einen Krieg zu führen, der alle Kriege beenden sollte. Tom bemerkte, dass jemand auf ihn zurannte. Die Uniform des Mannes war hellgrau. Es musste ein Deutscher sein. Ohne zu zögern, legte er sein Gewehr an und schoss.

Tom lief eine Strasse hinunter. Er musste aufpassen, auf keine Leiche zu treten. In der Ferne sah er bereits den Kommandanten seines Regimentes. Würde er wohl endlich aus dieser Hölle entlassen?

»Sie werden versetzt. Gratulation, Korporal Hilbert.«

In Calais, einem kleinen französischen Städtchen am Meer, lernte er John Butcher kennen. Einen stolzen amerikanischen Patrioten. Butcher war ein Jahr älter als Tom und trug ebenfalls den Grad eines Korporals. Sie verstanden sich von Beginn an sehr gut. Insbesondere amüsierte Tom die Arroganz und die Selbstgefälligkeit von John sehr. Seine Überheblichkeit machte so manches Gespräch sehr unterhaltsam. Sie brachte ihn immer wieder zum Lachen, denn oftmals schnitt John sich ins eigene Fleisch, insbesondere wenn es um Frauen ging.

»Ich hatte da mal was mit einer Blondine. Reizendes Mädchen«, erzählte John. Tom und er sassen auf der untersten Stufe zum Speisesaal. Die beiden waren ausgesprochen glücklich, schliesslich hatte man sie in Calais einem Nachrichtenzug zugeteilt. Hier war es viel ruhiger als an der Front.

»Magst du Blondinen, Tom?«

»Wer nicht?«

»Sie war ein prächtiges Mädel. Da können nicht einmal diese deutschen Weiber mithalten.«

»Was du nicht sagst.« Mittlerweile langweilten die Weibergeschichten seines Freundes Tom allmählich. Natürlich war sie auf eine einfache Art und Weise unterhaltsam und dennoch zweifelte Tom an ihrer Wahrhaftigkeit. Es waren jene Geschichten, die man gerne auszuschmücken pflegte, weil man wusste, was der Zuhörer gerne hören möchte, Geschichten, die so in Wahrheit nie geschehen waren.

»Vielleicht werde ich sie nach dem Krieg nochmals aufsuchen«, dachte John laut.

Nachdem sich die Deutschen 1945 ergeben hatten und der lang ersehnte Frieden in aller Welt verkündet wurde, sassen die beiden in ebenjenem kleinen Städtchen in einer französischen Bar und waren guter Laune. Schliesslich konnten sie am nächsten Tag endlich aus dieser Hölle verschwinden und in ihr vertrautes Leben zurückkehren. Allerdings sorgte sich Tom, dass die alte Welt möglicherweise nicht mehr so war, wie er sie einst zurückgelassen hatte. Dies nahm er als guten Grund, einen über den Durst zu trinken. Die beiden Männer sassen an der Theke und John erzählte eben, wie er einmal in einer Auseinandersetzung zehn Deutsche »Hunde« unbewaffnet besiegt hatte. Natürlich sei dies vor ihrer Bekanntschaft gewesen, meinte John. Tom nickte wie ein braves Hündchen und glaubte seinem Kompagnon kein Wort. Butcher stellte sich oft besser dar, als er wirklich war. Insbesondere wenn es um den Krieg ging. Butcher war auch der Überzeugung, er habe dem Land solch gute Dienste geleistet, dass man ihm einen Orden für seine ausserordentlichen Taten überreichen sollte. Während John vor sich hin quasselte und Tom seinen Gedanken nachhing, entdeckte Tom plötzlich zwei reizende Frauen.

»Sieh mal da hinten, da sitzen zwei Frauen, die dauernd zu uns rüberschauen«, sagte Tom und beugte sich dabei zu John hinüber.

»Warum sagst du das denn nicht früher?«, antwortete John mit einem Lächeln und guckte in den hinteren Teil des Lokals zu den beiden Frauen. Sie erwiderten seine Blicke.

»Wollen wir?«, fragte John und wies mit seinem Kopf zu den Damen hinüber. Tom nickte, dann standen die beiden auf. Tom Hilbert hatte während seines Studiums an der Harvard University zum Glück Französischunterricht belegt. Er konnte sich daher ohne Probleme verständigen, wenn auch mit einem etwas hässlichen amerikanischen Akzent. Sie sprachen die Frauen an, offerierten Drinks und erfuhren bald, dass die beiden Amélie und Josephine hiessen. Es schien prächtig zu laufen. Tom fand besonders an Amélie Gefallen, und sie schien die Gefühle zu erwidern. Sie hatte schwarze Haare und gleichfarbige Augen. Besonders mochte er, dass sie bei seinen Komplimenten immer wieder errötete. Josephine unterhielt sich in erster Linie mit John. Die beiden Freunde fanden heraus, dass die Frauen in Calais wohnten.

»So ist das, ich verstehe. Das trifft sich ja vorzüglich«, meinte John und lächelte seinem Gegenüber ins Gesicht.

»Ischt das so? ’Arum?«, fragte Josephine nach einem Zug an ihrer Zigarette.

»Nun«, sagte John und legte eine theatralische Pause ein, »ich habe gehört, dass französische Frauen schnell zur Sache kommen. Ich würde daher vorschlagen, dieses Amüsement hier an einen anderen Ort zu verschieben!«

Empört über diese Frechheit schlug Josephine John mit der offenen Hand ins Gesicht, erhob sich und forderte Amélie prompt auf, mitzukommen. Sie würden irgendwo anders hingehen, wo es nicht so aufdringliche Männer gebe. Amélie wirkte gekränkt, gehorchte aber. So verliessen die beiden Damen die Bar. Tom schaute ihnen traurig hinterher. Er sah noch, wie Amélie ein letztes Mal zu ihm blickte, bevor sie hinter der Tür und damit für immer aus seinem Leben verschwand.

»Was sollte das denn, du Affe?«, fragte Tom seinen Freund erzürnt.

»Was meinst du?«, entgegnete John, sichtlich verwundert.

»Du hast sie vertrieben. Es lief doch so gut! Warum nur sagst du sowas?«, rief Tom aus und nahm einen grossen Schluck von seinem Bourbon.

»Hör mal, Tom. Ich bin nicht hier, um meine grosse Liebe zu finden. Ich möchte einfach mal wieder die Nähe einer Frau geniessen. Wenn meine direkte Art sie vertrieben hat, ist mir das egal. Wer nicht will, der hat schon«, sagte John mit gerümpfter Nase. Er sah aus wie ein schmollendes Kleinkind.

»Verflucht sei deine Eigensucht«, murrte Tom. »Besuch doch ein Hurenhaus, wenn du’s schnell haben willst.«

»Komm schon, Tom. Der Abend ist noch jung. Wir finden schon noch was für uns«, meinte John und legte brüderlich einen Arm um seinen besten Freund. Das Einzige, was die beiden an diesem Abend noch finden würden, war zur rechten Zeit eine Toilette, in der sie sich übergeben konnten. Beim Gedanken an den nächsten Morgen, als die Überfahrt nach Hause begann, huschte Tom immer wieder ein flüchtiges Lächeln übers Gesicht. Es war fürchterlich gewesen. Er hatte sich wegen des Schaukelns noch drei weitere Male übergeben müssen. Einmal sogar über die Schuhe seines Kompanieführers.

Nach seiner Ankunft in Amerika verlieh man ihm einen Orden für ausserordentliche Taten, bevor man ihn anschliessend aus dem Dienst entliess und nach Hause schickte. Dort verbrachte er etwas mehr als ein halbes Jahr auf dem grossen Anwesen seines Vaters. Tom verfasste einen Brief an seine Mutter, um ihr von seinen Erlebnissen zu berichten. Während er auf eine Antwort von Beatrice wartete, die er nie erhalten sollte, genoss er die Präsenz von Frauen und den Geschmack von Alkohol. Er schmiss auf Kosten seines Vaters grosse Partys, bei denen viele Mitglieder der High Society New Yorks anwesend waren.

John hatte ihn auch etliche Male besucht. Ursprünglich stammte John Butcher aus Rockford, Illinois. Nach dem Ende des Krieges war er zu seiner Familie zurückgekehrt. Allerdings zog er nach zwei Monaten nach New York, da er eine Stelle als Polizist gefunden hatte. John mietete in Soho eine kleine Wohnung. An den Wochenenden fuhr er dann nach Engelwood Cliffs hinaus, um an den Festen seines besten Freundes teilzunehmen. Er war oftmals zu betrunken, um nach Hause fahren zu können, sodass er vermehrt in einem der Gästezimmer übernachtete. An einem etwas kühleren Sonntag im März 1946 sass Tom mit einem Glas Orangensaft auf der Veranda des Anwesens und schien vor sich hinzuträumen, als ihm John schlaftrunken Gesellschaft leistete. Am Vorabend hatte wie so oft eine Party stattgefunden. Es war die bisher grösste, an der John je teilgenommen hatte.

John stammte aus der Mittelschicht. Ihm waren solch grosse Anlässe immer verwehrt gewesen. Schon nur aus dem Grund, weil es in Rockford nicht wirklich eine Oberschicht gab. Während seiner Zeit in Rockford hatte er oft die verschiedensten Pubs besucht, allerdings war dies nichts im Vergleich zu einem Fest in New York. In Rockford kannte jeder jeden und so durfte man sich nicht zu viel erlauben, weil man sonst sein Gesicht vor der ganzen Bürgerschaft verlor. Die Welt, in der Tom lebte, gefiel ihm daher viel besser. Hier schienen alle inkognito zu sein. Jeder respektierte die Privatsphäre des anderen. John setzte sich neben seinen Freund und grüsste ihn. Dieser gab ein kurzes »Hallo« von sich. John gähnte ausgiebig und zündete sich daraufhin eine Zigarette an.

»Ist ja mal was ganz Neues, dass du etwas Gesundes trinkst«, meinte John scherzhaft.

»In der Tat, das ist schon eine Seltenheit in letzter Zeit«, bestätigte Tom und betrachtete sein Glas. Er hatte den Witz anscheinend nicht verstanden.

»Wie hat es dir gestern gefallen?«, fragte Tom und liess seinen Blick über die Veranda, den Garten und den Pool schweifen.

»Es war unglaublich. Ich machte die Bekanntschaft mit einer reizenden Frau«, erzählte John. Dann nahm er einen Zug von seiner Zigarette.

»Das ist wunderbar«, entgegnete Tom. Wie so oft glaubte er John nicht hundertprozentig, da er dies fast nach jedem Fest erzählte.

»Ihr Name ist Olivia. Sie lebt, wie ich, in New York. Wir haben uns für nächstes Wochenende zum Essen verabredet. Es tut mir daher sehr leid, dass ich nicht an deinen Festivitäten teilnehmen werden kann«, meinte John.

»Wie ist ihr Nachname?«, fragte Tom und blickte nun seinem Kumpel direkt ins Gesicht. »Jackson. Olivia Jackson. Warum fragst du?«, wollte John wissen.

»Ich kenne ihren Vater. Er ist der Geschäftsführer der Jackson Industrials. Seine Unternehmung stellt Autos her. Hat damit ein Vermögen gemacht, der Gute. Warum auch nicht, ich meine, die Vereinigten Staaten brauchten Geländefahrzeuge im Krieg. Jackson hätte jeden Preis verlangen können und der Staat hätte es ihm gekauft«, sagte Tom, nun wieder gedankenverlorener.

»Oh, nun, das hat sie mir nicht erzählt.«

»Dann tu so, als ob du’s noch nicht wüsstest, wenn sie es dir sagen wird«, antworte Tom und nahm lächelnd einen Schluck von seinem Orangensaft, »und mach dir wegen nächster Woche keine Gedanken. Ich werde vorläufig keine Feste mehr veranstalten.«

»Warum?«, wollte John wissen, der über diese Aussage bestürzt war.

»Ich werde Ende des Monats Juni dreiundzwanzig Jahre alt. Es ist an der Zeit, dass ich aufhöre, auf der faulen Haut zu liegen, und beginne, etwas zu tun«, sagte Tom mit einem etwas sentimentalen Unterton.

»Was schwebt dir vor?«, wunderte sich John, nahm den letzten Zug von seiner Zigarette und zerdrückte sie anschliessend im Aschenbecher. »Ich habe beschlossen, ebenfalls der Polizei beizutreten«, erklärte Tom, mit einem Funkeln in den Augen. Er hatte schon länger über diese Idee nachgedacht.

»Das ist toll. Dann werden wir auch noch Arbeitskollegen«, sagte John entzückt.

»Ist das für dich in Ordnung? Ich hatte schon die Befürchtung, dass es dich stören würde.«

»Warum sollte es? Bis du soweit bist wie ich, vergeht sowieso noch manche Stunde«, lachte John.

»Schon gut.«

So kam es dann, dass Tom eine Stelle als Polizist erhielt, und zwar im selben Revier wie John. Gemeinsam fingen sie an, Verbrechen um Verbrechen aufzudecken. Obwohl sich Toms Vater zu Beginn nicht mit der Berufswahl seines Sohnes anfreunden konnte, stellte er bald fest, dass Tom ein äusserst talentierter Mann seines Faches war. Bald wurde Tom gar zum Gesicht der gesamten Polizei New Yorks. Beinahe wöchentlich wurden seine polizeilichen Meisterleistungen in einem Zeitungsartikel erwähnt. Im Mai 1946 kam dann für beide die Beförderung zum Detektiv. Zum Dank wurden sie in die Abteilung für Morde verschoben. Um nicht immer zwischen dem Anwesen seines Vaters und der Arbeit hin und her pendeln zu müssen, mietete Tom am westlichen Ende des Washington Square Parks eine Wohnung.

»Ich werde ausziehen«, sagte er eines Morgens beim Frühstück an seinen Vater gerichtet. »Warum der plötzliche Aufbruch?«

»Ich will dir nicht weiter zur Last fallen.«

»Blödsinn. Du bist hier so lange willkommen, wie du bleiben möchtest.«

»Das weiss ich, Vater, und dennoch treibt es mich in die Stadt.«

»Verstehe. Du wirst also nicht wieder das Land verlassen?«

»Nein, nur meinen Arbeitsweg verkürzten«, erklärte Tom.

Michael Hilbert nickte kauend.

Teil I

Clair’s

1946, New York

»Ich muss los!«, rief der junge Mann entsetzt, als er sah, wie sich der grosse Zeiger seiner Wohnzimmeruhr vorwärtsbewegte und auf die Position achtzehn Uhr vorrückte . Es war ein warmer, sonniger Abend im Juni, als Tom aus seiner Wohnung an der Washington Square West Avenue hastete, um sich wie vereinbart mit seinem Freund im Jazzclub Clair’s zu treffen. Mittlerweile war er ein dreiundzwanzigjähriger Mann. In den letzten Tagen hatte er so viel um die Ohren gehabt, dass er öfters jedes Zeitgefühl vergessen hatte. Er hatte sich zu jener Art Mensch entwickelt, die mehr dachten als sagten. Seine Worte waren stets aufrichtig, denn sie widerspiegelten immer seine Gefühle. Nicht mehr und nicht weniger. Er war nicht nett und auch nicht fies. Was also war er?

Als Tom an jenem warmen, sonnigen Juniabend aus seiner Wohnung hastete, nur um dann verschwitzt bei Clair’s einzutreffen, sass John bereits an einem Tisch und trank einen Highball. Sofort bestellten die beiden einen zweiten für Tom. Seit ihrer Beförderung zu Detektiven hatten sie deutlich weniger Zeit, sich zu treffen. Hinzu kam noch, dass John ein paar Monate, nachdem er Olivia kennengelernt hatte, mit ihr zusammengezogen war. Eine äusserst gewagte und empörende Aktion, die der öffentlichen Norm nicht ensprach, doch Tom gefiel, dass sich John und Olivia nicht an solchem Gerede störten. Oftmals, wenn Tom um ein Treffen fragte, gab John ihm ihretwegen einen Korb.

»Oh, mein alter Junge. Können wir das nicht verschieben? Heute ist es unpassend.« Das war seine Ausrede. Jedes Mal. Dass sie sich heute wieder einmal treffen sollten, schien einem Wunder gleichzukommen.

»Wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr getroffen. Gibt es besondere Neuigkeiten«, fragte Tom, nachdem er den ersten Schluck seines Getränkes konsumiert hatte. Er klang verbitterter als beabsichtigt. Auch John bemerkte das.

»Ja, die gibt es in der Tat, mein Freund.«

Tom schnaubte. »Lass hören.«

Butcher blieb für einen Moment ruhig. Er schien die Worte in seinem Kopf vorsichtig auszuwählen. Auf Tom wirkte es, als wollte er abschätzen, welche nun wohl die Besten und Angemessensten waren. Tom zündete sich zwischenzeitlich eine Zigarette an.

»Du kennst doch Olivia, nicht wahr?«, fragte John vorsichtig.

»Klar. Nun ja, wenn ich genauer darüber nachdenke, fällt mir allerdings auf, dass du sie mir noch nie persönlich vorgestellt hast«, antwortete Tom. Er musste Olivia damals an der von ihm organisierten Party wohl übersehen haben, was durchaus verständlich war, denn er hatte über hundert Menschen eingeladen.

»Nun ja, das will ich ändern«, meinte John. Tom schwieg weiterhin.

»Ich möchte dich daher zu unserer, ich meine, zu meiner Hochzeit einladen, als mein best man«, sagte John. Er blickte Tom an, als fürchtete er, es würde nächstens eine Bombe explodieren. Tom verschluckte sich beinahe. Er fühlte sich geehrt, verwirrt, verärgert. Alles zusammen.

»Ich … ja, vielen Dank. Ich nehme gerne als dein best man an eurer Hochzeit teil «, sagte Tom und lächelte seinen Freund an. Wie konnte er nur? Er hatte die Frau seines besten Freundes noch nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Bisher war sie für ihn der reinste Mythos, und nun sollte er plötzlich als Trauzeuge an John Butchers Hochzeit antanzen. Frechheit. »Wo und wann findet die Hochzeit denn statt?«, fragte Tom und nahm einen weiteren Schluck seines Highballs. Das Getränk war sehr stark, was er daran merkte, dass er sich schon ein wenig angetrunken fühlte.

»Sie wird im September dieses Jahres in Rockford stattfinden.« John schien sehr erleichtert zu sein über die Zusage seines Freundes.

»Ich verstehe. Dann sollte ich wohl mal einen Flug buchen«, meinte Tom.

»Nein, das ist nicht nötig. Ich werde das für dich übernehmen.«

»Bist du wahnsinnig? Nein, das wirst du nicht!«

»Doch, ich bestehe darauf.«

Sie diskutierten eine Weile darüber.

»Du willst dir das scheinbar nicht aus dem Kopf schlagen, auch wenn ich dich darum bitte, erkannte Tom. John schüttelte überzeugt den Kopf. Tom wandte den Blick von seinem Freund ab und liess ihn durch den Club schweifen. Der Raum war dunkelblau eingefärbt, auf den Tischen stand jeweils eine Kerze. Im vorderen Teil gab es eine Bühne, auf der eine schwarze Sängerin zusammen mit ihrer Band diverse Jazzlieder spielte. Ihre Stimme hatte etwas Rauchiges. Tom mochte es und begann, mit seinem Fuss im Takt zu wippen. Ihm fiel auf, dass Wandlampen in Form von Kerzenständern sanft leuchteten.

»Möchten Sie etwas essen?«, fragte der Kellner, der auf sie zugekommen war.

»Ja. Für mich gerne die Nudeln mit Hühnerbrust«, sagte Tom und tippte dabei auf der Speisekarte auf die Nummer neunundsiebzig.

»Für mich dasselbe«, meinte John und lächelte den Kellner höflich an. Nudeln mit Hühnerbrust war Toms Lieblingsgericht. Insbesondere mochte er es, wie es im Clair’s serviert wurde. Schon beim Anblick des Gerichts lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Nach dem Essen gönnten sich die beiden noch ein paar Drinks, danach lief Tom gut gelaunt nach Hause. Als er sein Appartement betrat, drehte es sich leicht in seinem Kopf. Im Eingangsbereich seiner Wohnung war die Garderobe untergebracht, links von der Kleiderablage hing ein mannshoher Spiegel an der Wand. Im Wohnzimmer gab es ein Sofa, einen Tisch und einen Plattenspieler sowie ein grosses Bücherregal, das bis unter die Decke mit Büchern gefüllt war. Ging man geradeaus durch den Wohnbereich, konnte man durch das grosse Fenster in den Washington Square Park hinunterschauen. Tom tat dies durchaus gerne mit einem Scotch in der Hand. Direkt neben dem Eingang und auf der rechten Seite des Wohnzimmers befand sich eine kleine Küche aus Marmor. Die Tür auf der linken Seite des Wohnzimmers führte ins Schlafzimmer und weiter ins Badezimmer. In Toms Schlafzimmer gab es nichts ausser einem simplen Doppelbett und einem Nachttisch, auf dem eine Lampe stand. Auf der rechten Seite hatte es ein Fenster von dem man ebenfalls in den Washington Square Park blicken konnte. Als Tom durch sein Schlafzimmer ging, tanzte das Licht des Mondes bereits auf dem Fussboden. Er war ausgesprochen müde, daher betrat er das Badezimmer, wusch sich den Schmutz des Tages aus dem Gesicht und legte sich anschliessend ins Bett, wo er innert weniger Minuten einschlief.

Hochzeit

Der September brachte deutlich kühlere Tage mit sich, und Tom sah sich gezwungen – obschon es für diese Jahreszeit unüblich war –, über seinem Outfit einen Mantel zu tragen. Es würden noch drei Tage vergehen bis zur Hochzeit von John Butcher und Olivia Jackson. Da er nicht ohne ein Geschenk zur Hochzeit gehen wollte, suchte er einen Blumenladen auf. Dort kaufte er für das Paar einen Bonsaisamen. Danach ging er über die Strasse zum Schmuckhändler. Dort erwarb er Silberbesteck. Das Ganze war sehr kostspielig, doch reute es ihn nicht.

Wie versprochen hatte John für ihn einen Flug reserviert, und den würde er am Nachmittag antreten. Er müsse alleine reisen, meinte John eines Abends, als er bei Tom in der Wohnung zu Besuch gewesen war. Sie hatten sich nach einem anstrengenden Tag bei ihm zusammengefunden, um den Tag mit einem Getränk ausklingen zu lassen. Olivia und er würden bereits in Rockford sein, da sie noch Hochzeitsvorbereitungen zu treffen hätten, hatte John gesagt und verträumt in sein Glas geschaut. John musste diese Frau wirklich lieben. Sogar seine Selbstgefälligkeit schien irgendwie nachzulassen, stellte Tom in letzter Zeit fest. Mitte September zog er seinen schönsten Sakko, seine beste Hose, ein blütenweisses Hemd und dazu eine schwarze Fliege an. Um sein Erscheinungsbild zu überprüfen, warf er einen selbstkritischen Blick in den mannshohen Spiegel und sah einen Mann von mittlerer Grösse mit sportlicher Statur, dem der hohe Alkoholkonsum nicht anzusehen war. Tom hatte dunkelbraune Augen sowie lockige, schwarze Haare. Sein Gesicht war schmal und glattrasiert. Er mochte es nicht, einen Bart zu tragen, und sorgte deshalb jeden Tag dafür, dass er die Wohnung frisch rasiert verliess. Sein Vater hatte ihm immer eingeprägt, dass der erste Schritt zu einem erfolgreichen Leben ein ordentliches und sauberes Erscheinungsbild sei. Tom teilte diese Ansicht. In der Hosentasche trug er eine silbrige Bulova-Taschenuhr. Er hatte sie von seinem Grossvater zum sechzehnten Geburtstag erhalten. Tom hatte sich immer eine solche Uhr gewünscht und war damals über das Geschenk mehr als erfreut gewesen. Als er auf das Zifferblatt seiner Bulova blickte, stellte er fest, dass es höchste Zeit war zu gehen, da er sonst seinen Flug verpassen würde.

Der Flug von New York nach Rockford war nur von kurzer Dauer. Der Flieger machte Tom nicht den Eindruck besonders stabil gebaut zu sein, und so fürchtete er bei der kleinsten Turbulenz um sein Leben. Es war eine Strapaze. Eine halbe Stunde nachdem der Flieger gestartet war, fing es heftig an zu regnen. Es dauerte nicht lange, bis sich die blecherne Stimme des Kapitäns durch die Boxen an die Passagiere wandte.

»Verehrte Fluggäste, aufgrund eines unerwarteten Sturmes haben wir mit diversen Turbulenzen zu kämpfen. Wir bitten Sie, sitzen zu bleiben und Ruhe zu bewahren. Vielen Dank.« Die Stimme verstummte wieder. Na wunderbar, dachte Tom. Die klappernde Metallkiste fing an, sich wie ein kranker Hund zu schütteln, und es kam so weit, dass Tom sich an der zerkratzten Armlehne festhalten musste, um nicht auf den Kabinengang hinausgeschleudert zu werden. Das Kleinkind eine Reihe hinter ihm fing an zu quengeln. Mit lauter Stimme machte es alle Fluggäste darauf aufmerksam, dass es wieder nach Hause wollte. Jegliche Form der Beruhigung und Beschwichtigung der Mutter half nicht, es weinte sogar noch lauter.

Es war bereits Abend, als Tom aus dem Flughafen trat und zum ersten Mal die Luft von Rockford einatmete. Er konnte den Geruch von heissem Strassenbelag, nassem Gras und Abgas riechen. Die Temperaturen waren höher als in New York, daher bereute er es umgehend, seinen Mantel eingepackt zu haben. Als Tom beim abgemachten Treffpunkt ankam, wartete John bereits auf ihn. Er lehnte lässig an seinem gelben Cadillac und rauchte eine Zigarette. Als er Tom erblickte, kam er mit offenen Armen auf ihn zu.

»Ah, mein Freund, schön, dich zu sehen!«, meinte er mit einem breiten Lächeln und zog ihn in eine herzliche Umarmung. Tom erwiderte sie nicht wirklich, da er die Arme voll mit Gepäck hatte. Ausserdem war er nicht in der Laune für Umarmungen. Sein Gemüt war vom Flug noch etwas aufgewühlt. Nachdem das Gepäck im Kofferraum verstaut war, John seine Zigarette fertiggeraucht und sie losgefahren waren, fragte der Bräutigam:

»Ich nehme an, dein Flug war in Ordnung?«

Tom bejahte. Er wollte John nicht kränken, da er den Flug offeriert hatte. Im Nachhinein, so dachte Tom, hätte es Johns Ego vermutlich nicht wehgetan, wenn er ehrlich gewesen wäre. Nach dieser Nahtoderfahrung würde Tom wohl nie wieder einen Flieger mit ruhigem Gemüt betreten können. Anders als er war John an diesem Tag äusserst aufgestellt. Er schien die Hochzeit kaum noch abwarten zu können. Wer konnte es ihm verübeln? Nicht jeder fand den perfekten Partner, mit dem er den Rest des Lebens verbringen möchte. Noch nie hatte Tom jemanden mit so viel Euphorie gesehen, wenn es ums Heiraten ging.

»Du scheinst sehr aufgeregt zu sein«, fand Tom und blickte auf das Armaturenbrett des Autos. Es war aus edlem Mahagoniholz gefertigt. Aus gegebenem Anlass war das Fahrzeug vermutlich in eine Garage gebracht worden, denn es war neu lackiert. Allgemein war der Wagen blitzblank. In diesem Moment fasste Tom die Idee, sich in New York ein eigenes Auto anzuschaffen. Er war es leid, immer mit den Taxis zu reisen.

»Natürlich bin ich das. Warum auch nicht?«, meinte John, ohne seinen Blick von der Strasse abzuwenden. Er wusste kein Argument, das er dagegen hätte einbringen können. Als sie sich der Innenstadt näherten, fing Tom an seine Umgebung zu mustern. Wie ein Sog nahm er alles was seine Augen erblicken konnten in sich auf. Rockford war ein entzückendes Städtchen. Hier hatte jeder Einwohner sein eigenes Haus mit eigenem Garten und Garage. Jeder Rasen war sauber gemäht und sah gepflegt aus. Als Tom sich das so ansah, verstand er nicht genau, warum John nach New York gekommen war. In eine Stadt, in der es lärmig, eng und stickig war. In eine Stadt, in der die Menschen in Wohnungen lebten, die zwar nicht halb so gross waren wie die Grundstücke hier, aber mit Sicherheit das Doppelte an Unterhalt kosteten. Tom schätzte, dass sein bester Freund vermutlich das rasante Leben der Stadt mochte. Bei ihm war es zumindest so. Jedes Mal, wenn er auf dem Times Square war, fühlte er sich wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal Schokolade kostete. Es war atemberaubend, und man kam nicht mehr aus dem Staunen heraus und fragte sich, wie so etwas Grandioses möglich sein konnte.

Nach einer halben Stunde kamen sie beim Haus der Butchers an. Man konnte es von den anderen Häusern nur unterscheiden, weil ein weisser Blumenkranz an der Tür hing, ein Symbol der Hochzeit. Das Haus war in einem roten Farbton gehalten, die Fensterrahmen hoben sich weiss davon ab. Es stand auf einer künstlichen Anhöhe, um etwas Distanz zur Strasse zu haben. Auch das Anwesen von Toms Grosseltern stand auf einer solchen Erhöhung. John parkte seinen Wagen in der Auffahrt, danach luden sie sämtliches Gepäck aus und betraten das Haus. Tom wurde den Eltern und dem jüngeren Bruder, Mason, vorgestellt. Anschliessend begaben sich alle ins Wohnzimmer, um Kaffee und Kuchen zu geniessen. Der Raum war sehr geräumig und auch die Sitzmöglichkeiten waren komfortabel. Ganz zu Toms Freude wurde eine Flasche Bourbon geöffnet. Nach einigen Minuten betrat die Braut das Zimmer. Olivia Jackson war eine schlanke, kleine Frau mit einem Gesicht, das reine Lebensfreude ausstrahlte. Über den Neuankömmling schien sie sich sehr zu freuen, denn sie trat sofort mit einem Lächeln und Wärme in den Augen auf Tom zu. Dieser erhob sich rasch und reichte ihr die Hand, wobei er seinen Namen nannte. Der Bourbon musste ihm wohl bereits aufs Gemüt geschlagen haben, denn er wankte beim Aufstehen ein wenig.

»Sie sind mir durchaus vertraut. Ich durfte bereits an einigen Ihrer Feste teilnehmen«, sagte sie entzückt. Sie hatte kastanienbraune Haare und dieselbe Augenfarbe. Sie lächelte ihn höflich an. John hatte damals auf der Veranda nicht unrecht gehabt. Olivia Jackson war eine reizende Dame.

»Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen«, erwiderte Tom höflich und lächelte verlegen. Er konnte sich nicht an ihr Gesicht erinnern. Es war nicht das erste Mal, dass ihm dies passierte. An seinen Veranstaltungen nahmen oft unzählige, auch ungeladene Gäste teil. Es war ihm gar nicht möglich, jeden persönlich zu kennen. Tom musste wohl damals eine Einladung an eine von Olivias Freundinnen geschickt haben und Olivia schien in deren Begleitung gewesen zu sein. Oder hatte er sie vielleicht doch schon mal gesehen und wusste es nicht mehr genau? Sie nickte und setzte sich anschliessend neben ihren Verlobten. Sie waren ein reizendes Pärchen, wobei die beiden vom Aussehen her nicht unterschiedlicher hätten sein können: Sie eine schlanke Brünette, er ein stämmiger blonder Mann mit kristallblauen Augen.

Die Hochzeit fand zwei Tage später in der Kirche Sankt James statt. Tom hatte für die zwei Tage bis zum grossen Ereignis das Gästezimmer bezogen. Er hatte in dieser Zeit sowohl die Familie wie auch die Braut näher kennengelernt. Wie sich herausstellte, stammte Olivia aus Chicago.

»Meine Familie wohnt etwas ausserhalb der Stadt«, erklärte Olivia. »Sie müssen uns unbedingt einmal besuchen kommen, Tom.«

»Das musst du wirklich. Ein prächtiges Haus«, unterstützte John die Aussage seiner zukünftigen Frau. Hinter vorgehaltener Hand meinte er zu ihm: »Nicht nur das Anwesen, auch Olivias Schwester ist reizend. Sie wäre dein Typ.«

»Was du nicht sagst.« Tom war noch nie in Chicago gewesen und verspürte auch nicht den Drang, dorthin zu reisen.

»Weshalb sind Sie nach New York gekommen?«, fragte Tom seine neue Bekanntschaft. »Wegen des Studiums. Sie müssen wissen, ich studierte Astronomie. Allerdings hatte es an der Universität in Chicago keinen Platz mehr, also musste ich mich anderswo umsehen«, erzählte Olivia.

»Vermissen Sie Ihre Familie nicht?«

»Zu Beginn tat ich das durchaus. Ich war auch mit meinem Studium nicht besonders glücklich. Oft wünschte ich mir einfach, wieder ein Kind zu sein. Die Welt zu entdecken. Nach einer Weile lebte ich mich allerdings in New York ein, und so verschwanden diese sentimentalen Gefühle wieder. Ich habe immer noch regen Kontakt zu meiner Schwester.«

»Sie scheinen ein Familienmensch zu sein.«

»Das bin ich. Ich finde Familie etwas Wichtiges, das man pflegen sollte. Sie etwa nicht?«

Je näher das Ereignis kam, umso mehr Gäste trudelten in der Stadt ein. Viele waren Verwandte, Bekanntschaften aus aller Herren Länder oder News-Reporter. Schliesslich war das ein grosser Moment für die Jackson Industrials. Tom machte ebenfalls die Bekanntschaft mit Herrn und Frau Jackson. Franklin Jackson, kurz Frank, schien Michael Hilbert aus Kindertagen zu kennen und schwärmte in höchsten Tönen von ihm. Tom hatte das nicht gewusst, war aber auch nicht weiter überrascht. Sein Vater kannte viele einflussreiche Männer. Michael Hilbert war schliesslich selbst einer.

Die Hochzeit fand an einem warmen, sonnigen Herbstnachmittag statt. Neben dem Kirchengebäude war ein grosser Hochzeitspavillon errichtet worden, um den Gästen Schatten zu spenden. Die Hochzeitszeremonie fand im klassischen Stil statt und endete mit einem Kuss von Braut und Bräutigam. Danach wurden die Gäste ins Freie geleitet, wo ein grosses Buffet angerichtet worden war. Als Tom sich gerade an der Essenstheke mit Fleisch eindeckte, stellte er fest, dass James H. Bear neben ihm stand. Der Herr war gerade dabei, seinen Teller mit Käse zu füllen. Als er Toms staunenden Blick bemerkte, sagte er:

»Keine Bange, mein Junge, der ist für meine Frau. Sie hat mal wieder eine Phase.«

»Sie sind James Bear, national anerkannter Mythologe und Historiker«, sagte Tom begeistert. James lachte. »So wahr ich hier stehe.«

»Ich habe Ihr Buch Development of Religion and Thought in Ancient Greece gelesen. Es war eines der lehrreichsten und interessantesten Werke, die ich je zu lesen bekam«, sagte Tom. Er hatte dieses Werk während seines Studiums in Harvard durchgenommen und darüber eine