Etwa vierzehn Tage später
waren die Kreise der Menschen, in denen das Leben des Tages nur ein
langweiliges Verplempern von Zeit ist, vor Anbruch der Stunde des
Spiels, in der die Nerven aus dem Blut Spannung, Leben und Kraft
pumpen, mit der Märe eines Fremden erfüllt, der, wo er in einen
Spielsaal eindrang, sich mit Geld belud.
Es war immer ein anderer. Es war
bald ein junger Sportsmensch, bald ein gesetzter Provinzpapa, bald
ein blondbärtiger, wie ein Künstler zurechtgemachter Mann, bald ein
entsprungener Raubmörder ... bald ein entthronter Fürst ... heute
Franzose, morgen aus Leipzig ... er verschob im Nebenberuf
Steinkohlen von der Saar über die Schweiz nach Bayern oder machte
Valutageschäfte mit Neuyork und Rio de Janeiro. Es war immer ein
anderer, aber die Phantasie legte die verschiedenen Bilder
übereinander und machte eines daraus.
Geschlossene Gesellschaften gab
es ja nicht mehr. Das Geld war ein Schlüssel auf alle Schlösser,
ein Pelzmantel bedeckte jeden Beruf, wenn man ihn anhatte, und eine
Brillantennadel überstrahlte jeden Charakter. Man kam, in welche
Gesellschaft man wollte.
So war keiner mehr vor dem
anderen sicher, und in jeder Gesellschaft wurde der Sagenhafte,
wurde der Glücksspieler an jedem Abend erwartet und gefürchtet.
Jeder Nachbar konnte es sein.
Bei den Behörden liefen Klagen
über räuberische Spieler ein. Es konnte ihnen wohl in keiner Weise
Falschspiel nachgewiesen werden. Aber ihr Glück im Spiel war
derart, daß man nicht glauben konnte, es ginge von allein.
Hull kam jetzt durch die Dame aus
der Bonbonniere in mehrere Gesellschaften, in denen gespielt wurde.
Er hörte viel von dem Spielräuber und von verschiedenen Seiten,
denn die Kulissenleute beschäftigten sich gern mit solchen
Erscheinungen, die, wie ihr eigenes Leben, den Rahmen des ans
Alltägliche Gebundenen sprengten, und waren bedacht, es ins große
Phantastische, aus unheimlichen Kräften sich Nährende
abzuschieben.
Aber Hull hatte einen kleinen,
alltäglich gescheiten Kopf. Er dachte wohl noch immer an die
Geschichte seiner 20000 Mark, jedoch mehr von dem heiteren Punkt
aus, daß er sie nach einer radikal anderen Richtung untergebracht
hatte als derjenigen, zu der sie bestimmt gewesen waren. Er wußte
heute, wo er sich gänzlich von dem Vergessen-Spuk befreit hatte und
immer mehr zur Überzeugung gekommen war, seine Freunde hätten ihm
mit jener Nacht einen konsequenten, aber schlechten Scherz
serviert, daß sein Schuldschein und die 20000 Mark erledigt seien,
und daß das einzig Anrüchige an der Sache jener Balling gewesen
war, der irgendwie mit seinem Spielglück trotz des Dieners Emil
sich nicht sicher gefühlt habe.
Um so mehr war er erstaunt, als
sich bei ihm eines Tages ein Herr von Wenk meldete und ihm die
Geschichte aus jener Nacht neu aufgewärmt auf den Tisch
stellte.
Hull verhielt sich
ablehnend.
Aber da sagte der andere, er sei
Staatsanwalt. Der Herr von Wenk wurde in den höflichsten Formen
sogar zudringlich und zog ein Schriftstück hervor. Das sei er
gezwungen, in seiner Eigenschaft als Beamter vorzulegen, wie er
sagte.
Hätte Hull sich wenigstens mit
der Cara Carozza, der Freundin aus der Bonbonniere, besprechen
können, statt allein da vor dem Mann zu sitzen und allein
nachzugrübeln, was zu sagen oder wegzulassen für seine
Bequemlichkeit am zuträglichsten wäre.
Er befand sich wohl in seinem
Liebesglück mit Cara Carozza und hielt nicht im mindesten darauf,
im Namen der Tugend des Landes von alten Speisen zu essen.
„Sie unterhalten, verübeln Sie
mir die Einmischung in so persönliche Verhältnisse nicht,
Beziehungen zu Fräulein Cara Carozza von der Bonbonniere,“ sagte
nun gar der Besucher.
„Uff, mein Gott!“ seufzte es in
Hull.
„Können Sie mich mit der Dame
zusammenbringen? In Erfüllung meines Amtes, das mir der Staat
übertrug. Wenn ich Sie freilich bitten dürfte, dem Fräulein
gegenüber mich als Privatperson gelten zu lassen. Unnütz, Ihnen zu
versichern, daß ich Sie für einen durch und durch makellosen Mann
halte, der vollkommen unverdächtig ist. Auch über die Dame ist mir
Nachteiliges nicht bekannt. Sie erweisen aber dem Land und
wahrscheinlich sich selber einen Dienst. Sie stehen von heute an
unmittelbar unter dem Schutz der Polizei. Beunruhigen Sie sich
nicht. Noch ist das nichts anderes als eine vielleicht übertriebene
Vorsicht. Sie sollen jedoch sicher sein, in keiner Weise an den
Diensten zu Schaden zu kommen, die Sie Volk und Staat zu erweisen
in der Lage sind.“
„Wie soll ich das alles
verstehen, Herr Staatsanwalt?“ fragte Hull unsicher.
„Sie werden sich doch Gedanken
über Ihren glücklichen Gegenspieler gemacht haben?“
„Ganz offen gesagt, ich hatte
eine Weile Angst, Herr Staatsanwalt. Es schien mir etwas
Unheimliches bei der Sache zu sein. Schließlich habe ich mein
vermutliches Vergessen, daß ich selber jenen Herrn mitgebracht
hätte, auf einen schlechten Spaß meiner Freunde geschoben.“
„Aber dieser Herr Balling, der im
Hotel ein anderer war als abends zuvor im Klub?“
„Der ist mir noch heute unklar.
Man gibt sonst falsche Adressen an, um zu prellen. In diesem Fall
aber war es geschehen, um 20000 Mark nicht zu bekommen.“
„Könnten Sie es sich nicht so
erklären,“ fuhr der Staatsanwalt fort, „der fremde alte Herr muß in
irgendeiner Weise falsch gespielt haben? Er begnügte sich,
vorsichtig oder gewarnt durch einen Zufall, dessen Kenntnis sich
Ihnen entzieht, mit dem Geld, das er in bar gewonnen hatte. Er
nannte einen Namen, der ihm gerade einfiel und von dem er durch
irgendeinen Zufall Kenntnis hatte. Wenn nicht der Herr Balling vom
Nachmittag im Excelsior nichts anderes als eine Ummaskierung des
Herrn Balling aus Ihrem Klub war. Aber Sie sagen ja, der erste sei
ein kleiner, dicker Mann gewesen, der andere aber von auffallender
Körperform ... Spielen Sie noch, Herr Hull?“
„Ein bißchen, so dann und
wann!“
„Zusammen mit Fräulein Carozza?
Ich bin mit einem Ihrer Kameraden befreundet. Mit Karstens! Er wird
mich Ihnen vorstellen, und wir werden eine Bekanntschaft
gesellschaftlich erneuern, der amtlich vorgegriffen zu haben mir
nicht allzu sehr verübelt werden möge. Ich hoffe, Sie auf meine
Seite zu bekommen.“
Dann ging Wenk. Er begab sich in
sein Amtszimmer.
*
Wenk hatte einen Monat vor diesem
Besuch in einem Prozeß, in dem er als Staatsanwalt wirkte, zum
ersten Male gesehen, wie die Spielwut als eine Seuche die Stadt
fiebern machte. Er selber liebte den Anreiz, den das Hasardspiel
der Phantasie und den Nerven und die Abwechslung, die es seinem
Beruf zwischen Anwälten, Richtern, Angeklagten gab. Früher hatte er
regelmäßig gespielt. Nicht aus Leidenschaft, aber mit einer
eifrigen Liebe, im Spiel die Macht über eigene Beherrschung
ausprobierend, Menschen beobachtend und dem reizvollen,
nervenbadenden Zickzack des Glückes anheim gegeben.
In dem Spielerprozeß hatte er
erlebt, welche Gefahr dem Volk durch das Spiel drohte. Das
Auslaufen des Krieges in den keineswegs abspannenden Zustand, den
die Bedingungen von Versailles dem deutschen Volk brachten, hatte
die Phantasie nicht beruhigt, sondern hielt sie angestachelt.
Die Heeresberichte waren
vielleicht die erste Schuld gewesen. Sie waren, oft wochenlang,
monatelang, wie eine Lotterie fürs ganze Volk gewesen. Dann hatte
bald jene verhängnisvolle Bewegung eingesetzt, mit der von den
Kriegsbehörden ganze Kreise des Volles systematisch in Spielwut
versetzt wurden, um sie für die Zwecke der Heeresleitung gut
gestimmt zu halten: die gesteigerten Löhne der Kriegsarbeiter und
das Nachwerfen von Geld an die Industrie. Der Handel hinkte nicht
lange nach. Überall wurden Schleusen geöffnet, und in dem Maße, als
die Waren seltener wurden, begann das Geld über alle Dämme zu
schwemmen. Es war Wenk klar, daß jene Menschen in den hohen Stellen
der vergangenen Zeit, die glaubten, die Seele des Volkes mit Geld
zu kaufen, schuld an dem verhängnisvollen Ausgang des Krieges für
Deutschland und so auch schuld an der politischen Entwickelung
waren.
Sie hatten an Stelle der
unvergänglichen, zu aller Entsagung, zu voller Pflichterfüllung
gegen die Allgemeinheit bereiten Seele einen Götzen — das Geld
gesetzt. Der Tanz um ihn erfaßte das ganze Volk.
Der Krieg hörte auf. Das Geld
hatte an Wert verloren und beherrschte doch mehr als jemals das
Leben eines Volkes, dem der äußere Erfolg, der äußere Glanz
genommen worden war.
Hunderttausende waren durch den
Krieg an ein untätiges Leben gewöhnt worden. Dies Leben war durch
Jahre nichts anderes gewesen als eine Lotterie um Sein oder
Nichtsein. Es hatte sich in nichts anderem betätigt als einesteils
im Bewußtsein der Macht über Nebenmenschen und andernteils rein in
den Nerven. Hirn wie Gemüt waren verhängt worden.
Sie brachten in die von nun an
lebenssicheren Verhältnisse, in die sie aus dem Krieg herauskamen,
die immer zum Spiel gespannte Phantasie. Sie waren immer gewohnt
und entschlossen, auf eine Karte zu setzen. Sie führten das
ehemalige Leben weiter, indem sie die Atmosphäre der Zufälle, der
rasch aber hastig und vorübergehend die Nerven betäubenden Zustände
aus der Kriegszone in das ganze zum Frieden zurückgekehrte Volk
warfen, sein Klima zu ihren Bedürfnissen umschufen.
Das war begreiflich, gewiß! Aber
die bestimmt waren, die Geschicke des Volkes über den laufenden Tag
hinaus zu leiten, müßten nun mit letzter Selbstverleugnung am Werk
sein. Dann wäre eine Genesung zu erhoffen.
Der Spielerprozeß hatte Beispiel
über Beispiel gezeigt, wie die Entwickelung sich gemacht
hatte.
Dieser Prozeß hatte Wenk weit
herum in den Gesellschaften geführt, die in dem neuen Laster — im
Spiel — lebten und auch von ihm lebten. Seine Überzeugungen waren
verankert, seine Kenntnis und sein Erkennen der Gefahr schreckhaft
vergrößert worden.
Man spielte im Sous-sol um fünf
und im ersten Stock um Fünftausende von Mark. Man spielte straßein,
straßaus, hausauf und -ab. Man spielte mit Karten, mit Waren, mit
Gedanken und mit Genüssen, mit der Macht wie mit der Schwäche, mit
dem Nächsten wie mit sich selber.
Heute spielten auch die Menschen,
deren Natur das Spiel nicht lag, die, bequem und gelassen, gewohnt
waren, Gelegenheiten abzuwarten und nicht sich ihnen
entgegenzuwerfen.
Wenk war ein Beamter gewesen, der
sein achtunddreißigstes Jahr in einer ebnen und gut temperierten
Karriere erreicht hatte. Im Krieg hatte er sich bei den Fliegern
als Freiwilliger gestellt, weil er Liebe zum Sport hatte und von
seiner lebhaften Jugend her die Erinnerung an den Reiz der Gefahr
in sich bewahrte. Diese Tätigkeit hatte ihn aufgepulvert, und er
ging in seinen Beruf mit heftigeren Gefühlen zurück, als er ihn
verlassen hatte. Der Spielerprozeß und was er in seiner Atmosphäre
gesehen, hatte ihn aufs leidenschaftlichste aufgerührt.
Er war sofort zum Minister
gegangen, hatte geschildert, was er gesehen und erkannt, und ihm
dargestellt, daß gegen diese neue Cholera gekämpft werden müsse,
sonst zermürbe sie den Volkskörper. Bei der Wertlosigkeit des
Geldes und den gesteigerten Bedürfnissen könne sich das Volk nicht
anders helfen, als die zahllosen Papierscheine rastlos immer wieder
aus einem Besitz in den andern zu jagen. Der normale Produktions-
und Vertriebsverkehr ergäbe dazu aber nicht das nötige Tempo und
beanspruche auch Arbeit. So geschehe es nach und nach, daß das
Spiel den Herzschlag hergeben müsse, in dem das wirtschaftliche
Leben pulsiere.
Der Minister lächelte. Er war ein
neuer Mann. Er sagte: „Unser Volk ist gesund. Sie sind ein
Pessimist!“
Aber Wenk fuhr gegen ihn an: „Es
ist durch und durch krank! Woher kann es gesund sein — nach solchen
Jahren und einem solchen Leben?“
Da gab der Minister, der sich
unsicher fühlte und nichts unversucht lassen wollte, nach und schuf
einen neuen Posten, den Wenk einnahm.
Der ehemalige Staatsanwalt und
Beamte wurde wie in einem Wirbel in sein neues Amt aufgerissen. Er
widmete ihm alle Anstrengung und Energie. Er schaffte sich nicht zu
seinem Titel einen Klubsessel und ein bequemes Bureau, sondern
bildete sein Amt vom geringsten auf, ward Spitzel und Detektiv,
unermüdlich immer sich selber hinausstellend, sammelnd, was er
erreichen konnte. Alles tat er selber. So war er bald, da er das
geringe Ausmaß seiner Kräfte im Kampf gegen die Ausdehnung des
Lasters früh erkannte, auf den Gedanken gekommen, aus den Kranken
selber eine Garde zu schaffen.
Und er fing bei jenen Menschen
an, deren Reichtum nicht wie ein zugelaufener Hund im Haus
herumlief, sondern die durch ihren Zusammenhang mit der
Gesellschaftsordnung, die gestürzt war, politisch und menschlich in
die Opposition gedrängt worden waren.
Er wußte: Keines Schuld an den
bestehenden Verhältnissen war stärker als die dieser Menschen, weil
sie zu einer Zeit, wo Widerstand nötig gewesen wäre, feig sich
versteckt hatten. Aber er wußte auch, daß in ihnen eine neue
Entschlußkraft emporwollte, daß sie gut zu machen sich sehnten, was
sie gesündigt hatten.
Das waren vor allem die reichen
jungen Männer ohne Beruf. In der Formlosigkeit, in die die
Entwertung und Verschiebung des Geldes das Land gestürzt hatte, war
es ihnen verwehrt, ihr bisheriges Leben fortzuführen. Ihre
Gesellschaft hatte sich mit neuen Reichen durchsetzt, die sie
gebrauchten, weil sie sich von ihnen gebrauchen ließen.
Der Staatsanwalt von Wenk hatte
sich an ehemalige Korpsbrüder gewandt, von denen das
unterschiedliche Leben seines Amts ihn seit langem getrennt hatte;
und den er zuerst wiedergefunden und auch gewonnen hatte, war
Karstens gewesen. Von ihm hatte er Hulls sonderbares und
verdächtiges Spielabenteuer mit allen Einzelheiten erfahren.
Er verglich die Geschichte Hulls
mit dem Material, das sich rasch bei ihm gesammelt hatte. Es kamen
immer neue Klagen über räuberische Spieler, die so ausgezeichnet
arbeiteten, daß ihnen ein Makel nicht nachgewiesen werden konnte,
so andauernd aber gewannen, daß nichts anders denkbar war, als daß
sie dem Glück nachhalfen.
Wenk war geneigt, aus einigen,
wenn auch sehr weitläufigen Ähnlichkeiten alle diese Fälle auf eine
zusammenarbeitende Bande zurückzuführen. Ja, er hatte den Eindruck,
als sei hier ein einzelner Mann am Werk. Aber dieser Eindruck war
nur gefühlsmäßig. Hulls Erlebnis war nun in dieser Reihe das
sonderbarste, rätselhafteste und gefährlichste. Aber Wenk witterte,
daß in ihm dafür auch der Schlüssel zu den andern läge.
*
Als Wenk gegangen war, stritt
Hull lange Zeit mit sich. Die unnachsichtige Form, in der Wenk bei
aller Höflichkeit bei ihm auftrat, hatte auf ihn gewirkt. Er ahnte,
was der Staatsanwalt wollte. Denn er selber mußte sich oft
unzufrieden erklären mit seinem Leben, wenn auch meist die
Bequemlichkeit derartige Gedanken von ihm fern hielt.
Er hätte in gewöhnlichen
Zeitläuften hemmungslos und ohne Bedenken sein genießerisches Leben
so lange geführt, bis seine Gesundheit ihm das übliche Ende gesetzt
hätte, oder bis es in eine der herkömmlichen oder unvorhergesehenen
Ehen ausgegangen wäre.
Hull stimmte nicht überein mit
dem Verlauf, den die Dinge in Deutschland nach Versailles genommen
hatten. Zugleich fragte er sich: Wo warst du 1918, als die Wendung
kam? Und früher, als sie sich vorbereitete? Bist du nicht mit
schuld, du, Hull und ihr alle? ... Das meinte der
Staatsanwalt.
Aber Hull sah in sich nicht das
geringste jener Persönlichkeit, die zur Rettung fehlte, und er
schüttelte das Bedenken von sich ab, fuhr zu Cara Carozza und
erzählte ihr vom Besuche Wenks. „Um Gottes willen, bringe uns nicht
in die Tinte mit deinem Staatsanwalt, lieber Gardi,“ sagte
die.
„Aber ... aber ... spielen wir
falsch? Betrügen wir? Wuchern wir, schieben wir? Wir lassen uns
doch nur leben. Wo denkst du hin, Maidscherl?“
„Gardi, ein aufgefaltetes Spiel
Karten ... ein Bankhalter ... geschlossene Türen und ein
Staatsanwalt! Das kann einen an den Galgen bringen!“
„Ich versprach’s ihm aber!“
„Dumm!“ sagte sie nur mehr. „Du
hättest dich anders herausziehen können. Die Escha bringt heute
ihren Freund mit. Wir gehen zu Schramms. Karstens telephonierte
vorhin, er komme auch.“
„Dann kommt Wenk sowieso. Also
gut, es ist nun einmal so!“
Der Oberkellner des kleinen
Weinrestaurants von Schramms, das sich kürzlich in einer der
vornehmen Villenstraßen aufgetan hatte und von einem raffinierten
Kunstgewerbler in einem verschrobenen Geschmack ausgestattet worden
war, führte Karstens und Wenk nach dem Nachtmahl in einer Loge nach
hinten und eine Wendeltreppe hinauf in ein Zimmer, das keinen
anderen Ausgang und überhaupt keine Fenster zu haben schien.
In der Mitte des Sälchens stand
ein Tisch von einigem Umfang, oval, aber bei jedem Sessel zu einer
Nische ausgehöhlt, in die sich der Platzinhaber hineinsetzen
konnte, so daß die Tischplatte rechts und links unter seinen
Ellbogen ihn umfloß. Die Platte war aus einem barock geäderten,
flammigen Kiefersfeldener Marmor. Nur in der Mitte war ein
vollkommen weißes Oval eingelassen. Um den Tisch herum, hinter den
Sesseln der Spieler erhöhte sich der Fußboden, aber die Wände waren
mit verdehnten Liegediwans ganz angebaut, auf denen mild
himbeerfarbene Polster mit schwarzen Ornamenten aufquollen. Eine
gläserne geschliffene Tonne hing an Messinggestäng tief über den
Tisch und erstrahlte von elektrischen Birnen, die aus silbernen
Armen niedergriffen. Die Wände oberhalb der himbeerfarbenen Polster
waren mit demselben freudigen Marmor belegt, aus dem die
Tischplatte bestand.
Wenk wurde der Carozza
vorgestellt.
„Ich konnte den Mund nicht
halten, Herr Staatsanwalt. Meine Freundin ist unterrichtet.
Verübeln Sie mir das nicht, bitte!“
Wenk machte eine leichte
Verbeugung, in der ein Bedauern nicht unterdrückt war.
Für Karstens und Wenk waren
Plätze am Tisch zurückbehalten worden. Sie setzten sich mit
Verbeugungen, aber ohne daß jemand sie weiter vorstellte.
Man spielte Bakkarat.
Karstens neigte sich zu Wenk:
„Nur der junge Mann mit dem blonden Vollbart ist fremd. Die andern
spielen immer hier.“
Wenk warf einen Blick auf den
Genannten und traf dessen Augen. Er sah, daß auch sie ihn
anschauten, und er blickte gleich über sie weg in die Höhe. Aber er
fühlte, daß der andere gemerkt hatte, man habe von ihm gesprochen.
So oft in der Folge er nun zu dem Fremden hinüberblickte, fand er
dessen Augen wie aufpassend auf sich liegen.
Der Fremde spielte kühl und
zurückhaltend. Er verlor oft. Da ließ Wenk seine Aufmerksamkeit von
ihm und wandte sich den andern zu, die er der Reihe nach
beobachtete. Sie waren alle mit ihren Blicken in dem weißen Oval,
auf das die Karten aufgeschlagen wurden. Selten kehrte einer den
Blick ab. Es waren Herren in Frack und Damen, dekolletiert und
übermäßig modisch gekleidet. Das Spiel hatte sie ins Genick
gebissen und ritt auf ihnen.
Da ist niemand, sagte Wenk sich.
Es sei denn der mit dem blonden Vollbart. Er begann wieder, ihn zu
beobachten. Aber es fiel ihm nichts anderes auf, als daß jener
seine Blicke erwiderte. Wenk widmete zugleich der Carozza seine
Aufmerksamkeit. Er sah sie hingegeben spielend neben Hull sitzen,
aus dessen Kasse sie sich bediente, wenn sie verlor. Gewann sie, so
häufte sie aber das Geld vor sich auf. In einem Spieler zu ihrer
andern Seite glaubte er einen bekannten Tenor der Staatsbühne zu
erkennen, dessen Bild oft in den Schaukästen hing.
„Ist das Märker?“ fragte er
Karstens.
Der nickte.
Wenk gewann etwas. Er spielte
nicht länger, als bis er sich überzeugt hatte, daß für ihn nichts
los sei. Dann überließ er seinen Platz einem älteren Herrn, der
schon eine Weile hinter ihm saß und ihm mit Bemerkungen über seine
Art zu spielen lästig gefallen war. Er setzte sich in eines der
Polster und schaute noch ein Stündchen dem Spiel zu. Dann empfahl
er sich. Karstens ging mit. Hull blieb mit der Carozza. Als Wenk
schon einige Stufen hinuntergegangen war, blickte er nochmals zum
Tisch zurück.
Da war es ihm, als ob der
Blondbärtige mit seinen großen mausgrauen Augen gierig sein
Fortgehen verfolgte und dann blitzschnell, wie in einer
bezwingenden Drohung die Augen auf die Carozza richtete. Aber es
mochte auch eine Täuschung des Lichts sein. Als Wenk unten an der
Treppe angekommen war, stand er unversehens einen Blutschlag lang
Brust an Brust mit einer Dame, die die Hand schon auf das
Treppengeländer gelegt hatte. Er sah ihr mitten in die Augen.
Betroffen trat er zurück, indem er sich tief wie zu einer Huldigung
verneigte, und ging. Er wollte zu Karstens sagen:
„So schön sah ich nie eine
Frau!“
Dann aber kam ihm das wie ein
Verrat vor, und er trug, mit Wünschen umbrennend, das rasche Bild
ihrer Erscheinung schweigsam durch die Nachtgassen. Zu Hause geriet
er bald in Schlaf. Doch die zwei mausgrauen Augen, die viel älter
waren als der gepflegte leuchtende Bart, hockten ihm im Schlaf auf
die Brust und versuchten, das rote As unmittelbar aus seinem
Herzblut herauszumischen.
Als er am Morgen erwachte,
empfand er jedoch nichts als eine weite Sehnsucht, die Frau an der
Wendeltreppe wiederzusehen.