Dr. Sonntag 1 – Arztroman - Peik Volmer - E-Book

Dr. Sonntag 1 – Arztroman E-Book

Peik Volmer

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Beschreibung

Dr. Sonntag Professor Dr. Egidius Sonntag ist ein wahrlich ungewöhnlicher Chefarzt, überaus engagiert, aber auch mit kleinen menschlichen Fehlern behaftet. Sie machen diese schillernde Figur ganz besonders liebenswert, aber auch verletzlich. Manchmal muss man über ihn selbst den Kopf schütteln, wenn er etwa den 15. Hochzeitstag vergisst und seine an Brustkrebs erkrankte Ehefrau töricht vernachlässigt. Er tut dies nicht aus Lieblosigkeit, aber er ist auch nicht vollkommen. Dr. Sonntag ist der Arzt, der in den Wirren des Lebens versucht irgendwie den Überblick zu behalten – entwaffnend realistisch geschildert, aber nicht vollkommen. Diese spannende Arztserie überschreitet alles bisher Dagewesene. Eine Romanserie, die süchtig macht nach mehr! "Aaah, die Frau Chefarzt! Ja mei, Sie gangad persönlich einkaufen?" Bauer Erlacher strahlte über das ganze Gesicht. Er hatte den Artikel über die Neueröffnung der Chirurgischen Abteilung des Krankenhauses St. Bernhard in der Miesbacher Zeitung gelesen. Der Text war wie ein Rahmen um ein Foto dekoriert. ›Chefarzt Professor Sonntag und seine charmante Gattin‹, hatte unter dem Bild gestanden. Daher identifizierte er die schick gekleidete Dame, die sich seinem Marktstand genähert hatte, mit Leichtigkeit. Corinna Sonntag lächelte verlegen. "Mein Mann ist der Chefarzt. ›Frau Sonntag‹ reicht mir als Anrede völlig aus!" "Aber Frau Chefarzt!" Der Landwirt sah sie fast enttäuscht an. "Mia san hier zwar auf dem Land, und ich bin nur a Bauer, aber i woaß doch, was sich gehört! Ehre, wem Ehre gebührt!" Corinna lächelte. Gern hätte sie ihm erzählt, dass sie, als sie Egidius kennenlernte, Krankenschwester war und ihr ein Titel gar nicht zustand. Sie war eine selbstbewusste, schöne Frau, sehr bodenständig und ohne Dünkel. Von wegen, Krankenschwestern versuchten immer, sich einen Arzt zu ›angeln‹! Im Gegenteil.

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Dr. Sonntag – 1 –

Aller Anfang ist schwer

Einer muss den Laden ja zusammenhalten

Peik Volmer

»Aaah, die Frau Chefarzt! Ja mei, Sie gangad persönlich einkaufen?«

Bauer Erlacher strahlte über das ganze Gesicht. Er hatte den Artikel über die Neueröffnung der Chirurgischen Abteilung des Krankenhauses St. Bernhard in der Miesbacher Zeitung gelesen. Der Text war wie ein Rahmen um ein Foto dekoriert. ›Chefarzt Professor Sonntag und seine charmante Gattin‹, hatte unter dem Bild gestanden. Daher identifizierte er die schick gekleidete Dame, die sich seinem Marktstand genähert hatte, mit Leichtigkeit.

Corinna Sonntag lächelte verlegen. »Mein Mann ist der Chefarzt. ›Frau Sonntag‹ reicht mir als Anrede völlig aus!«

»Aber Frau Chefarzt!« Der Landwirt sah sie fast enttäuscht an. »Mia san hier zwar auf dem Land, und ich bin nur a Bauer, aber i woaß doch, was sich gehört! Ehre, wem Ehre gebührt!«

Corinna lächelte. Gern hätte sie ihm erzählt, dass sie, als sie Egidius kennenlernte, Krankenschwester war und ihr ein Titel gar nicht zustand. Sie war eine selbstbewusste, schöne Frau, sehr bodenständig und ohne Dünkel. Von wegen, Krankenschwestern versuchten immer, sich einen Arzt zu ›angeln‹! Im Gegenteil. Egidius hatte sie umworben, ihr Komplimente gemacht. Ihre Arbeit bei der Chefvisite lobend erwähnt. Sie anderen Schwestern vorgezogen. Mein Gott, war ihr das peinlich gewesen!

»Glauben Sie mir, Herr –?«

»Erlacher ist meine Name, habe d'Ehre! Erlacher!«

»Herr Erlacher, also – ich bin sehr dankbar für Ihre Freundlichkeit, aber wenn Sie ›Frau Sonntag‹ zu mir sagten, fände ich das wirklich nett!«

Sie lächelte ihn strahlend an.

Er schmolz dahin. »Wenn Sie auf Kohlrabi bestehen, Frau Sonntag, aber nehmen Sie lieber den Blumenkohl. Ganz frisch! Und schneeweiß! Wirklich! Ist besser als der Kohlrabi!«

Corinna dankte, zahlte und verabschiedete sich mit einem zuversichtlichen: »Bis zum nächsten Mal!«

Bauer Erlacher sah ihr versonnen nach. »Vergelt’s Gott, Frau Chefarzt!«, rief er hinter der schlanken, dunkelblonden Frau her. Ein fesches Weib, das war sie!

*

Professor Sonntag drückte genervt die rote Taste seines Mobiltelefons. Früher hätte man einen Hörer auf die Gabel werfen können, dachte er. Schade, dass diese Zeiten vorbei sind. Irgendwie war das befreiender als der Druck mit dem Finger. Archaischer. Man warf den Anrufer von sich weg, im wahrsten Sinne des Wortes. Genau das hätte er auch gern mit Herrn Somnitz getan, dem klebrigen Verwaltungsleiter. Was, bitte, hatte er mit der Bettenbelegung der Gynäkologischen Abteilung zu tun? Sollte er sich etwa mit einem Lasso auf die Straße stellen und Patientinnen einfangen? Warum hatte er bloß zugestimmt, neben der Chefarzt-Position gleichzeitig die des Ärztlichen Direktors zu bekleiden?

Sein Kollege, Chefarzt Ross, stand im Verdacht, einen Kunstfehler begangen zu haben. Jedenfalls wurde dies von seinem Oberarzt Kühne so dargestellt. Hinter vorgehaltener Hand zwar und im Flüsterton, aber wiederholt, und jedem gegenüber, der für den Tratsch und Klatsch, wie er nun mal in einer Klinik entstand, offen war. Er hätte ein Karzinom übersehen, hieß es, was dem Ruf der Abteilung nicht gut getan hätte. Seine eigene Station, die Chirurgie, brummte, seit er sie kürzlich übernommen hatte.

»Herein!«

Schüchtern öffnete sich die Tür auf seine missgelaunte Einladung hin, und der erste Oberarzt, Dr. Ferdinand Niedermaier, stand vor ihm. »Wenn’s jetzt nicht passt, kann ich auch später …«

Professor Sonntag lachte auf und zupfte seine Fliege gerade. Das Lachen klang allerdings nicht heiter. »Nu' sind Se schon mal da, nu' komm' Se rin, haben wir in Berlin immer gesagt! Was gibt es denn, Herr Niedermaier?«

Der Oberarzt hatte den OP-Plan für den kommenden Tag und den Dienstplan für den folgenden Monat im Gepäck. »Außerdem hätte ich gern noch mit Ihnen über das Vorgehen bei dem Neuzugang gesprochen, Herr Professor.«

Der Chefarzt stöhnte auf. »O Gott! Der Mann, der sich heute früh in der Ambulanz vorgestellt hat? Der Tag geht so besch…eiden weiter, wie er begonnen hat! Ich würde mich für die Chemotherapie aussprechen. Operieren können wir dann immer noch, wenn sich die Notwendigkeit herausstellt!«

»Von der Operation ohne Chemotherapie halten Sie nichts? Die Blutwerte des Patienten sind so schlecht … Ich bin nicht sicher, ob wir ihm mit den Medikamenten mehr Schaden zufügen als nützen!«

Professor Sonntag sah besorgt drein. »Denken Sie an die Tumorgröße! Wenn wir primär operieren, wird der Blutverlust erheblich sein, und bei dem Allgemeinzustand … Lassen Sie uns morgen den Herrn noch einmal gemeinsam visitieren!«

*

Die Vorbereitungen waren alle getroffen, die Laser-Sonde eingelegt. Dem Patienten hatte die erfahrene Narkoseärztin, die die Rückenmarkskanal-Narkose bereits eingeleitet hatte, einen Kopfhörer mit dessen Lieblingsmusik übergestülpt. »Damit Sie nicht alles mit anhören müssen, Herr Schütte«, lachte sie vergnügt. »Der Chef hat manchmal einen sehr speziellen Humor!«

Zu Schwester Katrin gewandt, erklärte sie mit hochgezogenen Augenbrauen: »So, es wäre gut, wenn der Alte langsam erscheinen würde. Wir wollen doch nicht, dass die Wirkung der örtlichen Betäubung nachlässt, bevor die Operation zu Ende ist, nicht wahr?«

Kaum hatte sie ihren Satz vollendet, ertönte das Rauschen, mit dem die Schiebetür der Schleuse zur Seite glitt, und Professor Sonntag betrat den Raum. »Sind wir schon so weit?«, fragte er hektisch. »Liegt er schon auf?«

Frau Dr. Elenore Pahlhaus, von allen liebevoll Elli genannt, lachte mit einem Anflug von Sarkasmus. »Wie lange kennen wir uns, Herr Kollege Sonntag? War ich jemals unpünktlich?«

Professor Sonntag hob die seifigen Hände, in der Linken die Bürste haltend. »Vergeben Sie mir, liebe Frau Pahlhaus! Ich bin gerade etwas angespannt. Diese Diskussionen mit Somnitz um die Bettenbelegung …«

Schwester Katrin reichte den sterilen Kittel so an, dass er direkt hineinschlüpfen konnte. Es folgten die sterilen Handschuhe. Der Eingriff nahm seinen Verlauf.

»Wer sich in Ihre Hände begibt, Herr Professor, hat wirklich Glück gehabt!« Sie hatte, aus purer Effekthascherei, eine Terz tiefer gesprochen und das eingeübte Manöver mit dem langsamen Heben des Blicks durchgeführt. Sie ließ ihren Blick strahlend auf dem chefärztlichen Antlitz ruhen.

»So geht das aber nicht, Schwester«, zwinkerte der Professor mit scherzhaft-tadelndem Unterton. »Wenn Sie mich nervös machen, schnibbele ich daneben. Und dann haben wir den Salat!«

»Was?«, rief der Patient, der vor Schreck zusammengezuckt war. »Sie haben daneben geschnitten?«

Frau Dr. Pahlhaus rückte den verrutschten Kopfhörer zurecht. »Sehen Sie«, bemerkte sie, das Objekt des allgemeinen Bemühens freundlich durch ihre bunte Brille musternd. »Das habe ich gemeint mit dem sehr speziellen Humor unseres Herrn und Meisters. Nur keine Angst. Alles wird gut!«

Nach exakt 60 Minuten war der Eingriff beendet. »Ich denke, dass wir uns einen schönen, starken, heißen Kaffee verdient haben, gell, Schwester Katrin?«

»Bitte, Herr Professor, sagen Sie doch Kati zu mir, wie alle. ›Schwester Katrin‹ hört sich so bieder an! Und ich bin alles andere als bieder!«

Sie lächelte fröhlich und zwinkerte ihm neckisch zu.

Auch das hatte sie, nebenbei bemerkt, ihrem Badezimmerspiegel zu verdanken.

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort, Schwester Kati. Aber ich denke, dass Ihr Freund beziehungsweise Ihr Ehemann eifersüchtig werden könnte.«

Katrin, die sich inzwischen ihres Mundschutzes entledigt hatte, riss die Augen weit auf. Ihre Lippen waren etwas geöffnet und zitterten, als sie hervorstieß: »Ich bin Single, Herr Professor. Ich kann mit jungen Männern einfach nichts anfangen. Ich mag nur die Reiferen mit den grauen Schläfen. Aber die sind ja alle schon vergeben!« Sie sah ihn mit nachdenklichem Lächeln, fast traurig, an. »Ich glaube, das liegt daran, dass mein Vater so früh verstorben ist. Klischee, oder? Krankenschwester mit Vaterkomplex?«

Er lachte freundlich. »Sehr Klischee! Sagen Sie, haben Sie nicht Lust, als meine private OP-Schwester zu arbeiten? Voraussetzung dafür ist, dass Sie im Voraus wissen, welche Instrumente ich brauche. Ich bin da sehr eigenwillig, und es wäre schön, jemanden an meiner Seite zu haben, der meine Marotten kennt!«

Kati errötete.

Sie saß plötzlich kerzengrade und klammerte sich an ihrem Kaffeebecher fest.

»Ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Herr Professor. Diese Auszeichnung … Ja, gerne! Wirklich! Ich bedanke mich!«

»Ich habe eine Operationslehre, in die ich die von mir verwendeten Instrumente notiert habe. Ich muss jetzt direkt zur Visite. Kommen Sie morgen Vormittag bitte zu mir und holen das Buch heraus, dann können Sie sich schon mal einstimmen auf das, was Sie erwartet!«

*

Corinna Sonntag wartete. Na gut, das kam öfter vor. Das war das Los der Frau eines Chefarztes und der Preis, den man für Ansehen und letztlich auch materiellen Wohlstand zu zahlen hatte. Aber hätte er nicht heute, an ihrem fünfzehnten Hochzeitstag, pünktlich sein können? Gerade heute hatte sie mit ihm wichtige Angelegenheiten zu besprechen, sehr wichtige Angelegenheiten. Sie hatte aus dem wunderbaren frischen Gemüse von Bauer Erlacher Blumenkohlreis zubereitet, den sie zu einem wirklich köstlichen Hähnchenbrust-Curry servieren wollte. Sie hatte sich bei der Tischdekoration so viel Mühe gegeben. Als Hintergrund diente Händels Feuerwerksmusik, die Kerzen in den gläsernen Rosenthal-Kandelabern waren bereits zur Hälfte heruntergebrannt.

Endlich klapperte es an der Eingangstür. »War viel los in der Klinik?«, fragte sie.

»Frag nicht.« Er hatte die Schuhe abgestreift, die Fliege gelockert und sich erschöpft in seinen Lieblingssessel fallen lassen. Er schloss die Augen, aber bevor sie intervenieren konnte, hatte er sie schon wieder geöffnet. »Hast du gekocht?«

Sie nickte wortlos. »Sei nicht böse, aber … der Tag ist mir auf den Magen geschlagen. Ich gehe bald schlafen!«

Corinna sah ihren Mann verblüfft an. »Ach, Mensch, Egidius! Dabei ist heute doch ein besonderer Tag! Wir haben –«

»Wie konntest du das wissen?« Jetzt war es an ihm, überrascht auszusehen. »Ja, du hast recht. Endlich habe eine vernünftige OP-Schwester gefunden! Stell dir vor: Sie will sich sogar auf meine kleinen Eigenheiten beim Ins­trumentieren einarbeiten! Wir werden das perfekte Team!«

Corinna war erstarrt. »Und sonst fällt dir nichts ein zum Thema ›Besonderer Tag‹?«

Er dachte angestrengt nach. »Nein, kein Stück. Hilf mir, bitte!«

Corinna nahm auf dem Kanapee Platz. Ganz vorn, auf der Kante. Ihr Rücken berührte die Polster nicht. Angespannt, kerzengerade. »Egidius, ich … ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Wir leben eine lange Zeit miteinander, und ja, gewiss: Eine Beziehung ändert sich ständig. Die erotische Anziehung nimmt ab, der Alltag kehrt ein. Aber die Liebe … Ich meine, liebst du mich denn überhaupt noch?«

Seine Augen waren geschlossen. Es klang etwas verwaschen, als er entgegnete: »Wie am ersten Tag, meine Liebe, wie am ersten Tag.«

»Aber deine Arbeit wird offenbar immer wichtiger! Es ist immer die Klinik! Ich weiß doch, wie verantwortungsvoll dein Beruf ist! Es geht um Menschenleben, jeden Tag. Und nun hast du auch noch den Verwaltungskram am Hals. Das sehe ich ein und das respektiere ich auch. Aber was wird aus uns, Egidius? Wir bleiben auf der Strecke, spürst du das nicht? Und jetzt hast du sogar unseren Hochzeitstag vergessen. Und, falls es dich überhaupt interessiert: Es ist der fünfzehnte. Und ich war noch nie so verletzt. Noch nie.« Tränen rannen über ihr Gesicht. »Und … ich muss dir noch etwas erzählen. Ich habe einen Knoten in der linken Brust entdeckt. Falkenegg glaubt … Na ja. Er hat Tumormarker abgenommen, und ich war bei der Mammografie. Morgen …« Ihr Mann reagiert nicht. »Egidius?«

Sie erhob sich und näherte sich dem Sessel. Professor Sonntag lag leidenschaftslos vor ihr. Seine Atemzüge waren friedlich und gleichmäßig. Völlig entspannt schlummerte er, illuminiert nur von dem unruhigen Flackern der Kerzen, die gerade vollends herunterbrannten. Corinna ergriff die Wolldecke, die über der Armlehne des Sofas lag, und deckte ihn damit zu, bevor sie selbst schlafen ging.

*

Alles war ganz unwirklich. Das Sonnenlicht schmerzte in ihren Augen, die Geräusche des fließenden Verkehrs hörten sich seltsam gedämpft an. Die Menschen strömten in Zeitlupe um sie herum, aber sie erkannte niemanden, auch wenn sie gelegentlich Grußworte wahrnahm. »Hey! Es ist Rot! Sind sie wahnsinnig geworden? Sie können doch nicht einfach …« Ein junger Mann hatte sie am Ärmel gepackt und mit einem Ruck auf den Bürgersteig zurückgezogen. Er schaute in ihr Gesicht und hielt bestürzt inne. »Entschuldigen Sie! Ich habe Sie nicht so anfahren wollen. Ich war nur so erschrocken!«

Corinna nickte. »Schon gut. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich bin heute nicht ganz zurechnungsfähig!«

»Schlechte Nachrichten?«

»Das kann man wohl so sagen, ja.«

Er blickte ihr fest in die Augen. »Vanille! Stimmt’s?«

»Wie bitte?«

»Sie sind der klassische Vanille-Typ. Ich mag ja am liebsten Zitrone. Aber Sie bestimmt Vanille, da gehe ich jede Wette ein!«

Gegen ihren Willen musste sie lachen. »Geht es um Eiscreme?«

Sein Unterton war tadelnd-nachsichtig, als spräche er mit einem nur leicht ungezogenen Kind. »Natürlich geht es um Eiscreme. Oder kennen Sie etwas anderes, was bei Schicksalsschlägen hilft?«

»Und wo nehmen Sie jetzt Eiscreme her?«

Der junge Mann zeigte auf die gegenüberliegende Ecke. »Bitteschön. Eiscafé Dolomiti. Dort gehen wir jetzt hin. Nein, danken Sie mir nicht!«

»Das hatte ich auch noch nicht vor«, lächelte Corinna. »Zumindest nicht vor dem Vanilleeis!«

Daniel sah nett aus. Dunkelhaarig, markantes Kinn, strahlende, dunkelblaue Augen. Man sah ihm durch sein eng anliegendes schwarzes Shirt an, dass er gelegentlich das Fitnessstudio aufsuchte. Er war komplett schwarz gekleidet.

Wie erfrischend dieser Junge war! Wie unkompliziert! Wie aufmerksam ihr gegenüber! So viel wie mit ihm in dieser halben Stunde hatte sie mit Egidius im vergangenen Monat nicht gesprochen!

Er hielt ihr die Tür auf, rückte ihr den Stuhl zurecht, hörte interessiert zu und brachte sie zum Lachen. Wenn er lachte, zeigte er eine Reihe perfekter, weißer Zähne, die wie Perlen schimmerten.

»Wie ist es denn nun?«, fragte er. »Wollen Sie mir nicht endlich erzählen, was Sie bedrückt? Ich weiß nicht, ob ich Ihnen einen Rat geben oder gar Sie trösten kann. Aber zumindest bin ich ein guter Zuhörer!«

Corinna versank in seinen Augen.

»Dessen bin ich gewiss«, flüsterte sie, mehr für sich selbst. Laut erklärte sie: »Sie haben mich bereits getröstet. Danke, Daniel!« Sie schaute auf die Uhr, die über dem Tresen des Cafés hing. »Himmel, schon so spät! Ich muss dringend nach Hause!«

Daniel Berger lieh sich einen Kugelschreiber von der jungen Frau, die die beiden bedient hatte, und kritzelte eilig etwas auf eines der roten Deko-Schirmchen, mit denen ihr Eisbecher garniert war. »Hier. Für den Fall der Fälle. Ich hoffe, dass Sie es lesen können, Corinna.«

*

Der Eingriff war beendet. Sonntag bedankte sich mit einem kurzen Nicken in Richtung Oberarzt, OP-Schwester und Narkoseärztin und verließ den Saal. Katrin stand fassungslos am Tisch. Sie hatte sich so sehr bemüht, alles richtig zu machen. Die benötigten Instrumente stets bereits angereicht, bevor der Chef sie fordern konnte. Und er hatte kein Wort gesagt. Nichts. Hatte er überhaupt zur Kenntnis genommen, dass sie, Kati, am Tisch war? »Wie war der denn drauf?«, verhörte sie die leitende OP-Schwester, die heute als Springer fungiert hatte.

»Wer?«

»Der Alte, natürlich! Redet der immer so wenig?«

»Der Chefarzt, Schwester Katrin, ist nicht hier, um Reden zu halten, sondern um zu operieren!«

»Ach was! Ja, das ist mir bekannt. Aber er hätte mir wenigstens mal ›Guten Morgen‹ wünschen oder mich loben können!«

»Hat er Sie angebrüllt? Das Skalpell nach Ihnen geworfen? Sie aus dem Saal geschmissen?«

»Nein! Wie kommen Sie denn …«

»Na also. Das war es, das Lob. Mehr können Sie nicht erwarten. Aber mal ganz unter uns: Denken Sie wirklich, dass Sie ein Lob verdienen, nur weil Sie hier Ihre Pflicht erfüllen?«

Katrin Gräber verließ den Raum, schälte sich aus dem sterilen Kittel und streifte die Latex-Handschuhe ab. Sie kontrollierte ihr Make-up im Spiegel über den Waschbecken, an dem die Operateure und das Personal sich sorgfältig die Hände wuschen und desinfizierten. So. Perfekt. Sie begutachtete kurz die Wirkung ihres Gesichts, wenn die die Lippen zu einem Schmollen vorschob. Sie durfte nicht zu kindlich wirken. Lieber etwas sexy. Ja, zusammen mit dem Augenaufschlag ging’s. Na denn! Auf zu Egidius Sonntags Vorzimmer!

Frau Fürstenrieder runzelte die Stirn und schob die goldgerandete, mit einer goldenen Kette gesicherte Brille, die bis auf die Nasenspitze gerutscht war, zurück. »Heute ist Chefarzt-Konferenz! Außerdem fährt der Chef morgen auf einen Kongress! Ohne Termin kann ich Sie nicht zu ihm lassen, Schwester Katrin!«

»Es ist aber wichtig! Es dreht sich um den Eingriff morgen früh! Vielleicht wissen Sie es noch nicht, aber ich bin inzwischen die persönliche OP-Schwester des Professors, und er erwartet von mir, dass das Instrumentieren perfekt läuft!«

Frau Fürstenrieder zuckte die Achseln. Sie öffnete den Deckel einer Plastikdose und entnahm dieser einen Apfelschnitz, den sie leicht widerwillig in den Mund steckte. Heute war nämlich ihr Obsttag. Da hatte sie immer Probleme mit ihrer Magensäure.