Dr. Sonntag 2 – Arztroman - Peik Volmer - E-Book

Dr. Sonntag 2 – Arztroman E-Book

Peik Volmer

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Beschreibung

Dr. Sonntag Professor Dr. Egidius Sonntag ist ein wahrlich ungewöhnlicher Chefarzt, überaus engagiert, aber auch mit kleinen menschlichen Fehlern behaftet. Sie machen diese schillernde Figur ganz besonders liebenswert, aber auch verletzlich. Manchmal muss man über ihn selbst den Kopf schütteln, wenn er etwa den 15. Hochzeitstag vergisst und seine an Brustkrebs erkrankte Ehefrau töricht vernachlässigt. Er tut dies nicht aus Lieblosigkeit, aber er ist auch nicht vollkommen. Dr. Sonntag ist der Arzt, der in den Wirren des Lebens versucht irgendwie den Überblick zu behalten – entwaffnend realistisch geschildert, aber nicht vollkommen. Diese spannende Arztserie überschreitet alles bisher Dagewesene. Eine Romanserie, die süchtig macht nach mehr! Guten Tag! Da sind Sie ja wieder! Wie schön! Ich freue mich, liebe Leserin, ­geschätzter Leser, dass Sie mich erneut ins Krankenhaus St. Bernhard begleiten. Es sind ja doch noch ein paar Geschichten da zum Weitererzählen. Sie glauben bestimmt, dass ich mir das alles ausdenke, oder? Dass das alles pure Fantasie ist. Falsch! Ich habe zehn Jahre in drei Kliniken gearbeitet. Und ich kann Ihnen, liebe Leserin, geschätzter Leser, versichern: So, wie ich es schreibe, ist es gewesen. Und es ist noch immer so. Und es wird immer so sein. Sie kennen den ersten Band noch nicht? Macht nichts. Obwohl – ich habe dort die wichtigsten Personen vorgestellt. Sehr sympathische Menschen. Auch den einen oder anderen Unsympathischen. Was sagen Sie? Die gibt es immer?

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Dr. Sonntag – 2 –

Jungbrunnen

Eine Beziehung kann ein Wagnis sein

Peik Volmer

Vorwort:

Guten Tag! Da sind Sie ja wieder! Wie schön! Ich freue mich, liebe Leserin, ­geschätzter Leser, dass Sie mich erneut ins Krankenhaus St. Bernhard begleiten. Es sind ja doch noch ein paar Geschichten da zum Weitererzählen. Sie glauben bestimmt, dass ich mir das alles ausdenke, oder? Dass das alles pure Fantasie ist.

Falsch! Ich habe zehn Jahre in drei Kliniken gearbeitet. Und ich kann Ihnen, liebe Leserin, geschätzter Leser, versichern: So, wie ich es schreibe, ist es gewesen. Und es ist noch immer so. Und es wird immer so sein. Sie kennen den ersten Band noch nicht? Macht nichts. Obwohl – ich habe dort die wichtigsten Personen vorgestellt. Sehr sympathische Menschen. Auch den einen oder anderen Unsympathischen. Was sagen Sie? Die gibt es immer? Ihnen fallen jetzt bestimmt sogar Namen ein, oder? Vielleicht haben Sie ja doch Lust, dort einmal hineinzuschauen.

Schauen wir mal, was im zweiten Teil so passiert. Da lernen wir noch jemand ganz Wichtigen kennen, der … Moment mal! Was macht Frau Dr. Rommert denn in München? Hatte sie nicht bis 20 Uhr Dienst? Schon ziemlich spät für jemanden, der anderntags früh 'raus muss!

Sepandar

Ich komme mir vor wie in einer Folge einer in schwarz-weiß gedrehten Krimi-Serie der 70er Jahre, dachte Dagmar Rommert.

Nach dem Spätdienst in der Notaufnahme des Krankenhauses St. Bernhard in Schliersee gierte sie nach etwas Abwechslung. Deswegen hatte sie beschlossen, den Abend in München zu verbringen. Dort nieselte es. Einen Schirm aufzuspannen hätte sich nicht gelohnt. Die Tropfen schienen horizontal zu fallen. Die kühle Temperatur der Abendluft kroch durch den Stoff ihres schicken Tweed-Kostüms ohne Umwege auf ihre Haut. Das rhythmische Klack-klack ihrer Absätze auf dem nass-glänzenden Pflaster des Gehwegs hallte durch die Straße.

Die Frau Doktor spürte den Hunger, den sie tagsüber verdrängt hatte. Zum Essen war mal wieder keine Zeit gewesen heute, nur das Croissant und der Kaffee am Morgen. Vielleicht etwas Sushi? Futo-Maki und Nigiri … Proteine … gesund, kaum Kalorien, gut für die Linie. Oder vielleicht einen Salat aus dem Steakhouse?

Klack-klack-klack. Sie fühlte sich halb erfroren und eigenartig erschöpft. Keinen Schritt weiter. Wo war das nächste geöffnete Restaurant? Das Hungergefühl wich und machte dem eines ungeahnten Verlangens Platz. Heute früh hatte sie einer Schwesternschülerin die Hölle heißgemacht. Der für sie eilig herbeigeschaffte Kaffee war nicht mit fettfreier Milch zubereitet worden. Und jetzt?

Sie stand vor dem Hamburger-Restaurant. Geh weiter, sagte sie zu sich selbst. Ungesund. Ungesund? Egal. Scheißegal. Pommes frites. Nein. Fritten. Ordinäre Fritten mit Mayo und Ketchup. Und einen Hamburger. Dazu eine Cola. Nein, keine Diät-Cola. Eine richtige diesmal. Voller Zucker. Klebrig und süß. Vergessen wir Cholesterin, Arterienverkalkung, Adipositas, Diabetes. Nur heute.

Heute ist alles egal.

Nur dieses eine Mal.

Eine Wolke von Frittierfett umfing sie und mischte sich mit ihrem First von Van Cleef & Arpels. Aber immerhin war es warm, trocken und hell. Das Kunststoffmobiliar war sauber, in erleuchteten Schaukästen in Eingangsnähe präsentierte sich die Auswahl an mehr oder weniger Essbarem. Eine Vitrine links der Tür enthielt Kinderspielzeug.

In dem Raum hockte an einem Tisch, rote Plastiktabletts vor sich, eine Gruppe junger Leute, die sich im Verhältnis zu ihrem Alter erstaunlich leise verhielten; gelegentlich nur war ein Lachen hörbar.

»Willkommen in unserem Restaurant! Ihre Bestellung, bitte?«

Der junge Mann hinter dem Tresen sprach akzentfreies Deutsch, obwohl man ihm ansah, dass seine Eltern vermutlich aus der Türkei, dem Iran oder Afghanistan stammten. Er sah sie aus freundlichen braunen Augen an. Sie musterte seine Erscheinung, wie sie es gewohnt war, ein Röntgenbild zu betrachten.

Er war jung und schön. Seine wilden lockigen Haare hatte er mit einem schwarzen Kopftuch zurückgebunden, sein Gesicht war apart und gleichmäßig.

Ihr prüfender Blick fing sich an seinem Mund, seinen vollen, scharf konturierten, dabei samtigen Lippen, seinen ebenmäßigen, schneeweißen Zähnen. Mein Gott, diese Lippen! Wie mochten sie sich anfühlen auf ihrer Haut? Begleitet von dem zarten Prickeln seines Drei-Tage-Barts?

Fasziniert nahm sie die Bewegungen seines Mundes und den sanften Klang seiner Stimme wahr, ohne wirklich zu begreifen, was er sprach.

»Entschuldigung … Brauchen Sie noch einen Moment?«

Entgeistert sah sie ihn an, als hätte er sie aus dem Schlaf geweckt.

»Nein, ich … ääh … Ich nehme den Cheeseburger mit Pommes frites …«

Er lächelte liebenswürdig. Mein Gott, dieser Mund!

Es klang fast verschwörerisch, als er ihr leise zuraunte: »Nehmen Sie den Hamburger mit Tomate und Salat. Schmeckt um Längen besser!«

Laut fragte er dann: »Vielleicht noch ein Getränk dazu?«

Sie räusperte sich. Ihre Kehle war trocken. Fast spröde. Das Kratzen in ihrem Hals vermittelte ihr das Gefühl, dass, wenn sie versuchte zu sprechen, ihrer Kehle nur ein heiseres Krächzen entweichen würde. Anstatt zu reden, zog sie es vor, zu nicken. Er zeigte sich amüsiert.

»Verraten Sie mir auch, was?«

»Co … hrrrm … Cola!«

Hatte sie es nicht vermutet? Sie hatte sich angehört wie eine Krähe. Er produzierte das Gewünschte.

»Mayo oder Ketchup? Ach, lassen Sie nur. Ich gebe Ihnen beides! Fünf Euro fünfzig, bitte!« Sie grub einige Geldstücke aus ihrer Tasche und übergab die Münzen.

Sie schrak zusammen. »Oh, Verzeihung!«

Ihre Hand hatte, offenbar versehentlich, die seine berührt. Ein Stromschlag hätte keine heftigere Reaktion hervorrufen können.

Die anderen Gäste waren gerade im Aufbruch begriffen. Kurze Zeit später waren sie allein.

»Darf ich Ihnen mit dem Tablett helfen?«

Er strahlte sie an. Frau Dr. Rommert war verunsichert.

»Das ist doch nicht Ihre Aufgabe, oder?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, aber ich mach das gern. Außerdem sind Sie im Augenblick der einzige Gast!«

Er ergriff das Tablett und trug es zu einem der Tische.

»Hier hinten sitzen Sie am besten«, empfahl er lächelnd. »Da vorn ist es immer etwas zugig.«

Dagmar fasste sich ein Herz.

»Wollen Sie mir nicht ein wenig Gesellschaft leisten?«

Er sah sich im Laden um. Immer noch war kein weiterer Kunde in Sicht. »Gern! Aber nur so lange, bis jemand kommt.« Er nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz.

»Darf ich Sie fragen … Was macht ein Mann wie Sie hier? Sie sind doch bestimmt überqualifiziert für den Job, oder?«

Er sah sie wieder sehr heiter an und balancierte auf den Hinterbeinen des Sitzmöbels.

»Ach, ich verdiene mir nur die 250 Euro Miete für das Studentenwohnheim! Und was ja auch ganz wichtig ist: Ich kann hier auch essen, das ist verhältnismäßig günstig, mit Personalrabatt!«

»Aber nicht unbedingt gesund, oder? Woher stammen Sie?«

»Geboren bin ich in Teheran, aber meine Eltern haben mich nach Deutschland gebracht, als ich ein Jahr alt war.«

»Was studieren Sie?«

Er kippelte erneut etwas mit dem mit Kunstleder bezogenen Stuhl.

»Wirtschaftswissenschaften. Leider. Ehrlich: Ich habe auch schon über was Kreatives nachgedacht. Irgendwas mit Design oder so. Keine Ahnung. Ist voll heftig, die Aufnahmeprüfung an den Kunsthochschulen!«

Jetzt war es an ihr zu lächeln. »Aber wenn Sie es nicht versuchen, werden Sie immer denken, dass Sie etwas verpasst hätten. Wovor haben Sie Angst?«

Er musterte die Tischplatte. »Und wenn es nicht klappt?«

Dagmar freute sich. »Dann müssen Sie den Traum für immer aus Ihrem Herzen reißen!«

Er hob den Kopf und sah mit einem bestechend traurigen Augenaufschlag zu ihr hoch. Kannte er die Wirkung dieses Blicks? Dagmar Rommert war sich nicht sicher, ob er ein Naturtalent war oder ob er diesen Blick jeden Morgen vor dem Spiegel sorgfältig einübte.

»So wechselvoll ist das Leben! Verraten Sie mir ihren Namen?«

»Sepandar. Sepandar Zulfaghar.«

»So ist das Leben, Sepandar. Garantien gibt es nicht. Arbeiten Sie an Ihrer Frustrationstoleranz und senken Sie Ihre Misserfolgserwartung. In Ihrem Alter steht Ihnen ja nun wirklich alles offen!"

Er kippelte heftig mit dem Stuhl.

»Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen? Eine Vanilla Latte, zum Beispiel?"

Jetzt ist's eh schon wurscht, dachte sie. Ursprünglich hatte sie »fettarme Milch, bitte!« einwerfen wollen. Rechtzeitig war ihr aber die Lächerlichkeit dieser Bitte angesichts der vorausgegangenen Mahlzeit bewusst geworden.

»Sehr gerne!«

Mit langstieligen Löffeln rührten beide schweigend in den Gläsern, als gelte es, die drei Schichten der Kaffeespezialität möglichst schnell in ein einheitlich helles Braun zu verwandeln. Sie bearbeitete ihr Getränk unter Zuhilfenahme eines Strohhalms, Sepandar setzte das Glas an seine Lippen.

»Ich mag Strohhalme nicht besonders!«

»Wenn Sie jetzt noch Ihr Kinn eintunken, sehen Sie aus wie die persische Ausgabe des Weihnachtsmanns!«

Er zögerte einige Augenblicke. Dann verzog sich sein Mund zu einem strahlenden Lachen.

»Weißer Milchschaum-Oberlippenbart, stimmt's?«

Sie kicherte. »Stimmt haargenau!«

»Hat wohl keinen Sinn, das wegzumachen. Beim nächsten Schluck ist er wieder da!«

»Lassen Sie ihn nur. An Ihnen sieht alles gut aus!«

Sie hielt einen Moment lang erschrocken den Atem an. War das zu aufdringlich? O Gott, wie peinlich! Sie konnte seine Mutter sein und flirtete hier mit ihm!

Verlegen erklärte sie ihren Wunsch, nunmehr heimzugehen.

Sepandar schien nichts aufzufallen. Oder wollte er nichts bemerken?

Er schien ganz damit beschäftigt, beim Kippeln mit dem Stuhl die Balance nicht zu verlieren.

Ein junges Paar hatte das Restaurant betreten.

»Kleinen Moment, bitte, ich komme gleich!«

Zu ihr sagte er leise: »Müssen Sie denn wirklich schon gehen?«

Und, mit traurigem Unterton fügte er hinzu: »Naja, Ihr Mann wird sicher auf Sie warten!«

Sie verzog das Gesicht zu einer ironischen Grimasse. In ihrer Stimme lag einen Moment lang so etwas wie Kummer. »Ich denke nicht. Ich habe mich bisher ohne männlichen Beistand durchs Leben kämpfen müssen. Und, um ganz ehrlich zu sein: Ich habe kaum etwas vermisst.«

»Oh!«

Das klang betroffen, fast mitleidig. Was fiel ihm ein? Sie, ein gestandenes Weib, erfolgreich, im Leben stehend, ohne materielle Sorgen, und dann dieses ›Oh‹?

»Danke für die Latte! Und leben Sie wohl, Sepandar! Alles Gute!«

Er blickte bestürzt in ihre Augen.

»Sehen wir uns wieder, Frau …?«

Nicht, wenn ich es verhindern kann, dachte sie. Laut erwiderte sanft, aber bestimmt, die derart Angesprochene: »Wer weiß?« Sie lächelte huldvoll und rauschte aus dem Laden. Es regnete nicht mehr. Allerdings war es sehr kalt und dunkel geworden. Naja. Bis zum Auto hatte sie es nicht mehr weit.

Auf der A 8 wurde ihr plötzlich schwindelig. Sie musste anhalten, sofort. An der Raststätte Hofoldinger Forst fuhr sie ab. Sie parkte ihren schwarzen Golf und ging ein paar Schritte zu Fuß. »Du hast dich verliebt, du dumme Gans«, sagte sie laut zu einem Ahornbaum. Dieser widersprach ihr nicht. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen seinen Stamm, als könnte dieser ihr Halt geben. Sie blickte von unten in seine Krone. Die Nacht war sternenklar, Vollmond tauchte die Blätter in silbriges Licht. Ach, dummes Zeug. Bis morgen würde der Anfall von Schwäche verflogen sein. Das wäre ja wohl gelacht. Sie brauchte einfach nur die Ablenkung durch ihre Arbeit. Konzentration auf das Wesentliche.

Wie sich wohl diese Lippen auf den ihren anfühlten? Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Auf dem Rücksitz lag ein sehr geschmackvoller Strauß, aus zartrosa Rosen, Lilien und Santini. Und ein Umschlag, mit einem sehr lieben Text.

Sie setzte die Heimfahrt fort.

Lukas zieht um

»Ich will nicht nach Berlin. Ich will hierbleiben.« Lukas hatte inzwischen seinen 15. Geburtstag gefeiert, am 1. August. Er hatte sich gut eingelebt, und er genoss die Gegenwart seines Vaters, der ihm alles erlaubte und jedem seiner Wünsche umgehende Erfüllung garantierte. Leonie war enttäuscht, und sie zeigte es auch. Die Reha-Maßnahme in Prien am Chiemsee war erfolgreich verlaufen. Mit Hilfe der Physiotherapie und einiger Tabletten hatte sie volle Kontrolle über die Organfunktionen. Es ging ihr blendend. Der Antrag auf Schwerbeschädigung war bewilligt, eine Folgekur in einem Jahr in Aussicht gestellt. Hinsichtlich der von Egidius angeratenen Chemotherapie hatte sie sich noch Bedenkzeit ausbedungen. »Ich kann den Jungen verstehen«, bemerkte sie. »14 Jahre immer nur mit der Mutter? Klar, dass er es genießt, einen Vater zu haben. Und noch dazu einen, der verständnisvoll ist bis zum Wahnsinn!«

Professor Sonntag lachte. »Kann es sein, dass du ein wenig übertreibst, Leonie?«

»Übertreibung veranschaulicht«, antwortete sie achselzuckend. »Wenn wir nur nicht so ewig weit auseinander wohnten!«

»Genau 649 km, von Tür zu Tür. Wenn die A 9 frei ist, schafft man das in fünfeinhalb Stunden! Außerdem bist du in der kommenden Zeit sowieso alle naselang in Bayern, wegen der Nachsorge und, vielleicht, wegen der Chemo. Vergiss nicht, ich habe dich operiert und deswegen auch ein Recht darauf zu erfahren, wie es dir geht! Und ganz unter uns: Es ist mir ja nicht verborgen geblieben, dass sich da mit dem Patienten Engling etwas anbahnt. Ein netter, intelligenter Kerl, übrigens. Ich denke, dass es dir zusteht, dich jetzt einmal nur um dich selbst zu kümmern und deine Zukunft zu gestalten. Versteht mich bitte nicht falsch. Lukas ist kein Störfaktor. Aber es wird einfacher, wenn Hartmut und du zu zweit an eurer Beziehung arbeitet, während ich mich um den Jungen kümmere.«

Leonie nickte nachdrücklich. »Ist doch völlig klar«, erklärte sie. »Keinen Schritt mache ich künftig ohne deinen Rat! Und, ja, du hast ganz recht. Das mit Hartmut ist zwar nicht die oft besungene ›Liebe auf den ersten Blick‹, sondern eher eine Vernunftentscheidung. Aber ich muss dir sagen, Egidius, dass ich gerade das so genieße. Dieses himmelhochjauchzende Verliebtsein hat mich in meinem Leben immer in irgendeine Katastrophe geführt. Jetzt probiere ich mal, den Weg anders herum zu gehen.« Sie ließ eine Pause entstehen.

Er ergriff ihre Hände. »Wir waren damals sehr unreif, oder?«

Ihr Nicken bestätigte seine Feststellung. »Ich wusste es auch nicht, damals, als ich jung war. Ich habe, wie alle jungen Leute, das Gefühl, geliebt zu werden, geliebt. Dass Liebe keine Bedingungen stellt, habe ich lernen müssen. Auf die harte Weise. Und begriffen habe ich’s, als ich das erste Mal geliebt wurde. Und erstmals wirklich geliebt habe.«

Lukas bekam einen ganzen Strauß von Richtlinien und Verhaltensregeln. Er stand beinahe teilnahmslos und ein wenig wie ein begossener Pudel da. Das Pink seiner Haare war fast herausgewachsen, und seine Frisur präsentierte sich in dem ihr angestammten blonden Farbton. Er war froh, dass niemand etwas gegen seinen Ortswechsel vorzubringen hatte. Und er war erleichtert, endlich der Sohn eines Vaters zu sein. In seiner alten Schule hatte er manchmal darunter gelitten. Alle hatten Väter, egal, ob verheiratet oder geschieden. Er aber hatte ja seinen Vater noch nicht einmal kennengelernt. Es gab ein verknicktes, abgegriffenes, verblichenes Foto in der Schachtel, in der Mama alte Theaterprogramme, Kino-Tickets, gepresste Blumen, persönliche Mails, ausgedruckt auf Papier, aufbewahrte. Und den Pin von Pink Floyd, den es zum Erwerb einer CD als Gratis-Beigabe gegeben hatte.

Das Foto jedenfalls zeigte einen jungen Mann mit markanten Gesichtszügen und kohlrabenschwarzen Haaren, wie ein Türke fast. Und einer Sonnenbrille, weil das Foto an der See aufgenommen war. Und einem schwarzen Rollkragenpullover. Cuxhaven, November 2003, stand auf der Rückseite. Da hatten sie sich kennengelernt, am Strand. Und da war es passiert. Da war er passiert.

Ja, und jetzt endlich war er da. Er würde es nie zugeben, ums Verrecken nicht, dass Egidius für ihn ein Vorbild war, dass er versuchte, seine Bewegungen, seine Sprache zu imitieren. Heimlich verglich er sich mit ihm. Und er fand so viel, worin er seinem Vater ähnlich war. Wenn er lachte, zum Beispiel. Oder die Art, wie er die Nase krauste, wenn er nachdachte. Sie konnten reden miteinander. Sein Vater behandelte ihn wie einen verständigen, erwachsenen Menschen. Und – für ihn am wichtigsten – er fühlte sich geliebt. Nicht nur wegen der Sachen, die Papa kaufte.

Frau Ayses Tochter

»Zum Schluss meiner Rede, meine Damen und Herren, liebe Kollegen, möchte ich emotional werden. Ich werde Sie sehr vermissen, Herr Niedermaier.

Was ist ein Oberarzt? Ein Oberarzt ist der, der alles übernimmt, wozu der Chef keine Lust oder keine Zeit hat. Und der dafür gerade stehen und ausbügeln muss, was die jungen Kollegen verbocken. Der immer und unter allen Umständen ansprechbar ist.

Einen Oberarzt, auf den man sich hundertprozentig verlassen kann, der ein wunderbarer, sicherer Operateur und hervorragender Mediziner ist, findet man nicht so leicht. Völlig unmöglich dürfte es sein, einen Oberarzt zu finden, der eben nicht nur Mitarbeiter, sondern auch loyaler Freund ist. Ferdinand, ich danke Ihnen für die gemeinsame Arbeit, sowohl in München als auch in St. Bernhard. Ihr Nachfolger wird es schwer haben!«

Verlegen winkte Ferdinand Niedermaier ab und sagte etwas, was aber wegen des lauten Beifalls nicht zu hören war.

»Das Buffet ist eröffnet!«, rief Frau Fürstenrieder. Sie klang deprimiert. Das lag allerdings weniger daran, dass Oberarzt Dr. Niedermaier seine Chefarztstelle in Murnau antreten würde, sondern daran, dass sie von den Köstlichkeiten, die das Buffet bereithielt, wegen ihrer Diät nichts essen durfte. Die weiß bekittelte Festgemeinde griff beherzt zu.

»Einfach köstlich«, stellte Schwester Corinna, die gleichzeitig die Rolle der Gastgeberin als Gattin des Chefarztes spielte, fest. »Dieser Nordseekrabbensalat! Unglaublich! Und die Weißwurst-Pralinen sind ein besonderes Schmankerl! Das Rezept muss ich unbedingt haben!«

»Weißwurst-Pralinen?« Frau Fürstenrieder lief das Wasser im Mund zusammen. »Ja! Weißwurstbrät, paniert und frittiert. Einfach köstlich! Probieren Sie doch mal! Frau Fürstenrieder? Was ist denn los? Hab ich was Falsches gesagt?«