E-Book 16-20 - Peik Volmer - E-Book

E-Book 16-20 E-Book

Peik Volmer

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Beschreibung

Professor Dr. Egidius Sonntag ist ein wahrlich ungewöhnlicher Chefarzt, überaus engagiert, aber auch mit kleinen menschlichen Fehlern behaftet. Sie machen diese schillernde Figur ganz besonders liebenswert, aber auch verletzlich. Manchmal muss man über ihn selbst den Kopf schütteln, wenn er etwa den 15. Hochzeitstag vergisst und seine an Brustkrebs erkrankte Ehefrau töricht vernachlässigt. Er tut dies nicht aus Lieblosigkeit, aber er ist auch nicht vollkommen. Dr. Sonntag ist der Arzt, der in den Wirren des Lebens versucht irgendwie den Überblick zu behalten – entwaffnend realistisch geschildert, aber nicht vollkommen. Diese spannende Arztserie überschreitet alles bisher Dagewesene. Eine Romanserie, die süchtig macht nach mehr! Professor Dr. Egidius Sonntag ist ein wahrlich ungewöhnlicher Chefarzt, überaus engagiert, aber auch mit kleinen menschlichen Fehlern behaftet. Sie machen diese schillernde Figur ganz besonders liebenswert, aber auch verletzlich. Manchmal muss man über ihn selbst den Kopf schütteln, wenn er etwa den 15. Hochzeitstag vergisst und seine an Brustkrebs erkrankte Ehefrau töricht vernachlässigt. Er tut dies nicht aus Lieblosigkeit, aber er ist auch nicht vollkommen. Dr. Sonntag ist der Arzt, der in den Wirren des Lebens versucht irgendwie den Überblick zu behalten – entwaffnend realistisch geschildert, aber nicht vollkommen. Diese spannende Arztserie überschreitet alles bisher Dagewesene. Eine Romanserie, die süchtig macht nach mehr! In dieser Box enthalten: E-Book 16: Die Liebe kommt selten allein E-Book 17: Kirschen in Nachbars Garten E-Book 18: Herz am rechten Fleck E-Book 19: Das Maß aller Dinge E-Book 20: Die Dominostein-Verschwörung E-Book 1: Die Liebe kommt selten allein E-Book 2: Kirschen in Nachbars Garten E-Book 3: Herz am rechten Fleck E-Book 4: Das Maß aller Dinge E-Book 5: Die Dominostein-Verschwörung

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Inhalt

Die Liebe kommt selten allein

Kirschen in Nachbars Garten

Herz am rechten Fleck

Das Maß aller Dinge

Die Dominostein-Verschwörung

Dr. Sonntag – Box 4 –

E-Book 16-20

Peik Volmer

Die Liebe kommt selten allein

Das Schicksal liefert ihr Gefolge

Ja, sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser, hätten sie das gedacht? Vom Verlag erhielt ich die freundliche Aufforderung, einige weitere Folgen zu schreiben. »Offenbar mögen die Leute doch lesen, was du geschrieben hast. Los. Weitermachen!«

»Hättet ihr mir das nicht etwas eher sagen können? Das ist wirklich knapp!«

»Hätte, hätte, Fahrradkette! Statt hier zu lamentieren, hättest du schon längst mit dem Schreiben beginnen können! Du weißt doch: Die Deadline ist prinzipiell gestern!«

»Aber …«

»Jammere nicht! Leg los!«

Verlage haben eine Tendenz zur Hartherzigkeit. Na jedenfalls sehen wir uns auf diese Weise hier wieder. Das letzte, woran ich mich noch erinnere, ist Dagmar an Deck des Kreuzfahrtschiffs, und die filmreife Szene, in der James Bond im Smoking sich aus einem Hubschrauber abseilt. Ach ja, und Emmerich im Kloster Benediktbeuern. Und an Vronis heitere Abschiedsfeier – Beerdigung passt als Ausdruck da nun wirklich nicht.

Es ist eine Menge passiert, in den vergangenen 15 Monaten. Am wichtigsten: Im Hause Sonntag sieht man freudigen Ereignissen entgegen. Und zwar die ganze Familie. Max ist aus England heimgekehrt. – Lukas war ja ›umständehalber‹ schon eher zurückgekommen, und auch Egidius hat sich aus Minnesota verabschiedet, wenn auch schweren Herzens. Eine solche Möglichkeit, fachlich und wissenschaftlich weiterzukommen, wird sich ihm vermutlich nie wieder bieten.

Andererseits, was sind schon Ruhm und Ehre, wenn man dafür den Schliersee, die großartigen Mitarbeiter der Klinik und – mag es auch pathetisch klingen – die Heimat verlassen muss? Irgendwann muss man sich entscheiden, wenn man Arzt ist. Geht es darum, Menschen zu helfen, oder darum, Wissenschaft zu betreiben? Sicher, Wissenschaft ist notwendig, um Menschen helfen zu können. Aber wenn jemand die Gabe hat, mit seinen Patienten umgehen zu können, auf einer herzlichen, vertrauensvollen Ebene, dann sollte der auch tatsächlich Basisarbeit leisten. Es gibt Kollegen – und bei denen haben Sie auch schon im Wartezimmer gesessen, wetten? – die wären einfach besser in einem Forschungslabor aufgehoben.

In welche Kategorie mag der junge Kollege Amandus Pachmayr gehören? Er verfügt über ein wirklich gewinnendes Lächeln, einen Schwall erstaunlich blonder Haare und gute Umgangsformen, soweit ich das von hier aus beurteilen kann. Aber ist er wirklich so nett, wie er auf den ersten Blick wirkt?

Notfälle

»Schwester Nasifa, ich bräuchte mal Xylocain 1%ig und Catgut 6x0!«

»Ginge auch 4x0? 6x0 müsste ich rasch aus dem OP holen!«

Amandus runzelte die Stirn.

»Womit nähen Sie denn Platzwunden auf der Stirn? Wir wollen doch nicht, dass da eine häßliche, entstellende Narbe bleibt, oder? Immerhin ist die Patientin eine schöne Frau, und dass soll sie auch bleiben!«

»Wenn Sie intrakutan nähen, bleibt da nur ein feiner, weißer Strich, Herr Doktor!«, antwortete Schwester Nasifa freundlich.

»Kompromiss: Ich nähe intrakutan, aber mit 6x0! Einverstanden?«

Nasifa griff zum Telefon.

»Notfallambulanz! Marion, kannst du mir ein Nahtset richten, mit 6x0 Chromcat? Ich komme schnell ‘rauf und hole es! Wie bitte? Das ist aber lieb, vielen Dank!«

Sie wandte sich Dr. Pachmayr zu.

»Das Gewünschte ist schon auf dem Weg.«

»Perfekt«, bemerkte dieser. »Und vielleicht legen Sie einen kleinen Vorrat mit feineren Nähten hier an?«

»Das hätten Sie gar nicht sagen müssen, Herr Doktor. Wenn Sie noch weitere Wünsche haben, würde ich Sie bitten, eine Liste anzulegen, damit ich die entsprechenden Arbeitsmaterialien besorgen kann.«

»Wäre es möglich, Herr Doktor, dass Sie mich bis zum Wochenende krankschreiben?«, fragte die Patientin, die sich an einem Schrank gestoßen hatte.

Der Doktor verzog sein Gesicht zu einer überraschten Grimasse.

»Gute Frau, das wären ja drei Tage! Das geht nun beim besten Willen nicht!«

»Wissen Sie, ich bin da in einer Zwickmühle. Ich pflege im Augenblick meine kranke Nachbarin –, bei der habe ich mir ja auch die Verletzung zugezogen. Auf die Weise hätte ich etwas mehr Zeit für sie. Sie ist schon sehr alt. Und in meiner Firma wurde mir gekündigt, weil der Betrieb Ende des Monats schließt.«

»Wenn das jetzt jeder täte? Nein, das kann ich nicht verantworten! Jeder hat seine Pflicht zu erfüllen! Wo kämen wir denn hin, wenn niemand mehr seine Arbeit ernst nimmt!«

»Ich hätte es eher als meine Pflicht angesehen, der alten Dame zu helfen … Aber es ist schon in Ordnung, Herr Doktor. Entschuldigen Sie, dass ich Sie mit meinem Anliegen behelligt habe.«

»Sie hatten völlig recht, Herr Doktor«, bemerkte Schwester Nasifa mit feinem ironischen Unterton. »Mit Menschen, die so pflichtvergessen sind, dass sie lieber anderen helfen als angesichts einer Kündigung zu arbeiten, muss man streng sein!«

Die Ironie war Dr. Amandus Pachmayr entgangen.

»Ja, danke, Schwester. Es kann wirklich nicht sein, dass man sich auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung auf die faule Haut legt.«

»Sie waren noch nie in einer schwierigen Lage?«, fragte Nasifa vorsichtig. »Oder haben mal in einer solchen Hilfe benötigt?«

»Wenn Sie den Überblick behalten, sich nicht verzetteln und gut organisiert sind, Schwester, dann ergeben sich solche Probleme gar nicht erst.«

»Ich verstehe, Herr Doktor. Wenn ich organisatorischen Rat brauche, weiß ich ja zukünftig, an wen ich mich wenden kann!«

In diesem Moment stieg der Geräuschpegel von draußen erheblich. Eine Männerstimme rief etwas von ›Notfall‹ und ›dringend‹. Nasifa riss die Schiebetür auf.

Der ausgemergelte, bewusstlose alte Mann auf der Trage schien dem Tod näher als dem Leben. Er hatte offenbar in selbstmörderischer Absicht alle Medikamente, die er einzunehmen hatte, gesammelt und geschluckt. Dr. Pachmayr funktionierte wie eine gut geölte Maschine. Während Nasifa den Monitor anschloss, intubierte und defibrillierte er. Spülte über eine Magensonde Aktivkohle-Suspension in den Patienten. Verabreichte Naloxon und Thiamin und Dextrose. Und vollbrachte das kleine Wunder. Der Patient schlug die Augen auf.

»Was machen Sie denn für Geschichten?«, herrschte er den alten Mann an. »Wir haben hier mit kranken Menschen schon genug zu tun. Wir brauchen nicht noch Leute, die uns mit solchen Scherzen die Zeit vertreiben!«

»Das war, glaube ich, kein Scherz, Herr Doktor Pachmayr«, gab die Schwester zu bedenken. »Hier, sehen Sie!«

Amandus Pachmayr blätterte in den Unterlagen. »Ein metastasiertes Pankreaskarzinom«, murmelte er betroffen. Dann fuhr er fort: »Egal. Meine Aufgabe ist es, Leben zu erhalten, um jeden Preis.«

In diesem Moment bog Ludwig um die Ecke.

»Wäre der Chef schon zurück«, erklärte er, »hätte er dich in der Morgenkonferenz in der Aula vorgestellt! Aber der kehrt erst Anfang der kommenden Woche zu uns zurück! Mein Name ist Lechner. Ludwig Lechner. Timon Süden hast du schon kennengelernt?«

Der junge Arzt schien sich unbehaglich zu fühlen. Er zog die Stirn kraus.

»Grüß Gott, Herr Lechner – Ludwig. Ich bin Doktor Pachmayr – also Amandus!«

»Ist es dir nicht recht, wenn wir uns duzen?«

»Im Prinzip schon. Ich befürchte aber immer, damit falsche Erwartungen zu wecken. Ich bin eben nicht so der gesellige Typ!«

»Nein?«, grinste Ludwig. »Schade. Du wirst hier einige Herzen brechen! – Sag mal: Pachmayr? Der Bauunternehmer, der die Häuser in der Unterleiten gebaut hat?«

»Das ist mein Vater!«

»Da hast du dir ja die richtigen Eltern ausgesucht, herzlichen Glückwunsch! Ach so, und eben hast du deine erste Reanimation hinter dich gebracht, Donnerwetter! Deine Feuertaufe! Zeig mal …«

Er schnappte sich die Unterlagen.

»O weh! Wusstest du das mit dem Bauchspeicheldrüsenkrebs? Ich schätze, der Mann wollte wegen seiner Schmerzen sterben! Also, unter den Bedingungen hätte ich eine Umdrehung langsamer gearbeitet, denke ich! – Na, egal. Trotz allem – ein herzliches Willkommen!«

*

Auf keinen Fall. Jetzt nicht. Zumindest nicht, solange Egidius nicht zurück war. Der landete am Samstag auf dem Flughafen München. Und so lange musste das Kind sich gedulden. Aua, nicht schon wieder!

Die Wehen kamen in immer kürzeren Abständen.

Sie versuchte, diese wegzuhecheln. Jetzt nicht, hörst du? Erst, wenn Papa wieder zu Hause ist!

»Doktor Graf von Falkenegg, bitte! Mein Name ist Sonntag. Corinna Sonntag, mein Mann und ihr Chef sind Kollegen!«

Was denn los wäre, wollte man am anderen Ende der Leitung wissen. Corinna berichtete von der überraschenden Wehentätigkeit, obwohl das Kind erst in zwei, drei Wochen erwartet wurde.

»Frau Sonntag, ich sage meinem Chef Bescheid. Packen Sie bitte ein paar Dinge zusammen und setzen Sie sich in das nächste Taxi. Nicht selbst fahren, hören Sie?«

Corinna versprach's der Helferin. Sie rief eins der lokalen Taxiunternehmen an. Der kleine Koffer stand gepackt im Schlafzimmer. Es galt nur, diesen irgendwie die Treppe herunterzubefördern, ohne zwischendurch das Kind zur Welt zu bringen. Ach verflixt! Egidius würde enttäuscht sein. Er wollte derjenige sein, der die Nabelschnur durchtrennte. Was blieb er auch so lange in den Staaten? Aber Moment mal: Wer holte ihn ab, während sie in der Klinik war? Er würde sich doch Sorgen machen, wenn er sie nicht erreichte! Weder Max noch Lukas wussten Bescheid, und da sie nicht in St. Bernhard entband, konnte ihm auch dort niemand Auskunft erteilen. Es war auch zu spät, Frau Fürstenrieder zu informieren. Die gab sich vermutlich gerade ihrem wohlverdienten Feierabend und Severin Pastötter hin. Eine komische Kombination, oder? Egal. Eine Bewertung stand ihr nicht zu, und solange Frau Fürstenrieder glücklich war, war ja auch alles in Ordnung.

Als die Hebamme ihr das verknautschte kleine Bündel mit den feuchten pechschwarzen Härchen auf den Bauch legte, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Die Kleine war Egidius’ Tochter. Die Ähnlichkeit war schon fast peinlich. Lukas kam sehr stark nach seiner Mutter Leonie, nur die Zähne und besonders die Hände hatte er von seinem Vater. Aber diese kleine Maus hier war das Ebenbild ihres Mannes.

»Liebe, gnädige Frau!«, rief Dr. von Falkenegg. »Das ist ja wirklich ein ganz zauberhaftes kleines Mädchen! Ich hoffe, dass Ihr Gatte sich nicht auf einen Stammhalter kapriziert hat!«

»Den hat er ja schon, Graf von Falkenegg! Mir war das Geschlecht egal. Hauptsache ein gesundes Kind. Und die Babyausstattung ist grün – in weiser Voraussicht!«

»Sehr klug, gnädige Frau! Ja, und ihre Tochter ist von einer robusten Konstitution und bemerkenswert erfreulichen Gesundheitszustand! Ich gratuliere von Herzen!«

Corinna betrachtete das kleine Mädchen liebevoll.

»Willkommen auf der Welt, Sophie«, sagte sie. »Ich wünsche dir allzeit Glück und Liebe und Frieden. Besonders Frieden. Die Menschen sind doch so klug. Vielleicht werden sie eines Tages auch gescheit.«

Aussprachen

Ausgerechnet. Woher wusste Anton, wo sie sich gerade aufhielten? Wie konnte sie ihre Schwangerschaft vor ihm verbergen? Moment! War das nicht sogar ein günstiger Zufall? Sie würde mit ihm schlafen, und wenn sie das Kind bekam, konnte sie immer behaupten, dass er der Vater sei! Genial!

Aber dann vergegenwärtigte sie sich das Bild von Sep … nein, Esfandar. Der Südländer par excellence, mit schwarzen Haaren, braunen Augen und dunklem Teint. Nein, Anton würde auffallen, dass dies Kind nicht von ihm sein konnte. Aber wer weiß? Vielleicht klappte der kleine Betrug?

»Anton, du bist ja total verrückt! Was veranstaltest du hier? Vermutlich habe ich in der kommenden Zeit noch mehr zu tun, weil jeder mich fragen will, wer der Mann ist, der sich meinetwegen aus einem Hubschrauber stürzt!«

»Ach, ich bitte dich! Kein Wind. Spiegelglatte See. Keine schwindelerregende Höhe. Meine Großmutter wäre dort herausgeklettert! – Du, ich habe großen Hunger! Meinst du, man serviert uns einen Imbiss?«

»Ich esse meist in der Offiziersmesse! Wie lange bleibst du?«

»Nur bis morgen. In Martinique gehe ich von Bord und fliege über Paris zurück! Ich wollte ja auch nur mal sehen, wie meine Schiffsärztin sich so macht! Wie sagtest du? Offiziersmesse?«

Um Himmels willen! Mit Sicherheit hatte Sepandar Dienst! Und warum bekam sie es nicht auf die Reihe, dass es sich um seinen Zwillingsbruder Es­fandar handelte? Irgendwie musste sie ihm ein Zeichen geben! Sie achteten zwar ohnehin auf Diskretion, Anton allerdings achtete auf Dinge, die niemand sonst sah. Und er war nicht leicht zu täuschen.

»Wir könnten auch versuchen, im Restaurant einen Tisch zu ergattern. Die Auswahl an Getränken ist dort entschieden besser.«

*

Der Abend im Restaurant verlief entspannt und in Harmonie. Dagmar plapperte munter wie ein Wasserfall. Anton freute sich. Ihre Entscheidung, die Enge ihrer Beziehung aufzubrechen, war offenbar richtig gewesen. So heiter hatte er seine Frau schon lange nicht mehr gesehen.

»Wo verbringst du eigentlich die Nacht?«, erkundigte sich Dagmar mit gespielter Sorge. »In einem der Rettungsboote, oder beim Käpt’n auf der Brücke?«

»Nun, ich dachte, dass die Koje meiner mir rechtlich angetrauten Gattin groß genug für zwei Personen ist?«

»Also, nach den Portionen, die wir eben verdrückt haben, dürfte das eng werden«, lachte sie. »Aber Probieren geht über Studieren!«

*

Sie hatten schon geschlafen. Ein Klopfen an ihrer Kabinentür weckte sie. Vorsichtig, um den leise schnarchenden Anton nicht zu wecken, erhob sie sich, schlich zur Tür und öffnete sie einen Spalt.

»Bist du wahnsinnig? Du musst gehen, sofort! Ich erkläre dir alles morgen!«, wisperte sie. Ja, konnte es denn sein, dass er wirklich nichts von der spektakulären Hubschrauberaktion ge­hört hatte?

Behutsam kroch sie zurück in ihr Bett. Anton schnarchte sein unaufdringliches, zartes Schnarchen.

*

»Was willst du von mir hören, Michael? Ich habe mich entschuldigt. Mehr als einmal. Und nicht nur so. Ich weiß, dass ich dir wehgetan habe. Du hast das nicht verdient. Ich habe deine Freundlichkeit ausgenutzt, und das tut mir mehr leid, als ich es in Worte fassen kann. Ich weiß, dass du glaubst, dass ich dich weiter, nun ja, missbrauchen will. Aber ich schwöre dir, dass das nicht so ist, hörst du?«

Constanze war in sein Reich eingedrungen. Immer wieder hatte sie es versucht, eine Aussprache mit dem sensiblen Mann herbeizuführen. Er war ihr ausgewichen. Ausgewichen? Geflohen war er vor ihr. Hatte sich am Telefon verleugnen lassen. Ihre Anrufe auf dem Handy weggedrückt.

»Weißt du, was das eigentlich Schlimme an der Sache ist, Constanze?«, fragte Michael Barbrack. Er spielte mit einem Knopf seiner schneeweißen Küchenjacke. »Das Schlimme ist nicht, dass du mich für deine Zwecke schamlos missbrauchst. Das Schlimme ist, dass du keinen Respekt vor mir hast. Wie soll das gehen, mit uns beiden? Du hast mich als ›treuen Dackel‹ bezeichnet. Glaubst du, dass ich das jemals vergessen kann?«

Scheinbar desinteressiert ordnete er ein paar Töpfe und Vorlegegabeln.

Er hatte ja recht. Vielleicht tat es gerade deswegen so weh? Sie hatte ihr Herz an den Falschen gehängt. Andreas Stehr war ein Charmeur, ein Herzensbrecher. Gepflegt, attraktiv, hinreißend in seinen Umgangsformen. Aber er war eben kein Mann für eine einzige Frau. Und sie hatte keine Lust, ihn mit anderen zu teilen.

Michael war eben die graue Maus. Nur in seiner Küche lebte er auf und war plötzlich ein anderer Mensch. Dort gab es kein Problem, das er nicht zu lösen verstand. Das Bemerkenswerte war, dass er bei diesem Versöhnungs-Grillabend in ihrem Elternhaus, als sie ihn als Begleiter auserkoren hatte, zu einer ebenso überraschenden Form auflief und sich ihrem Vater gegenüber geradezu todesmutig präsentiert hatte. Ausgerechnet dem Staranwalt Sebastian Schickenreuth, vor dem alle zitterten, die mit ihm zu tun hatten. Da war sie zwar zunächst erschrocken, hatte ihn dann aber bewundert, weil sie ihm so viel Standfestigkeit gar nicht zugetraut hatte.

Er hatte sie angebetet. Sie war seine Traumfrau.

Und, zugegeben: Sie war es immer noch. Er hatte sie um ein Haar getötet, mit Bakterien im Tiramisu. Na gut, das war keine Absicht gewesen. Er hatte ihr aus der Verlegenheit geholfen. Er war solide, zuverlässig und ein charakterlich einwandfreier Mensch, der sogar mit ihrem unehelichen Söhnchen Leander gut auskam und mit dessen Atemwegserkrankung fertig wurde.

Sie bereute ihre Dummheit. Und sie schien keine Chance zu haben, ihn davon zu überzeugen, wie leid es ihr tat. Sie sah im fest in die Augen.

»Ich verstehe, dass ich dir weh getan habe. Soll ich dir was sagen? Ich habe nicht geglaubt, dass man dir überhaupt weh tun kann. Wäre ich nur halb so gut in meinem Beruf wie du in deinem, dann wäre ich wirklich glücklich und würde den ganzen Tag selbstsicher und mit hoch erhobenem Haupt herumlaufen. Ich bin auch besser geworden. Aber ich habe mir, als ich hier anfing, schon so einige Dinger geleistet. Du hingegen bist ein Meisterkoch. Man gibt dir eine Dose Kondensmilch, einen Schokoriegel und etwas tiefgefrorenen Schnittlauch, und du zauberst ein Drei-Gänge-Menü daraus. Ich habe nicht viel richtig gemacht in meinem Leben. Ich bin zwar gerade dabei, die Dinge zu korrigieren. Aber – der Mann, in den ich verliebt war und mit dem ich ein Kind habe, hat mich sitzen lassen. Mein Kind ist chronisch krank. Mein Vater war enttäuscht bei meiner Geburt, weil ich kein Junge war. Ich habe mich unmöglich benommen in St. Bernhard. Eigentlich verdanke ich es dir, dass überhaupt noch jemand mit mir spricht. Aus Mitleid. Wegen des Tiramisu. Und, ja, ich falle immer wieder auf Kerle rein, die so – glänzen, weißt du? Die so gut reden können. Guten Geschmack haben, gut aussehen.«

Ihre Augen füllten sich mit Wasser. Erschrocken beobachtete Michael, wie vereinzelte Tränen auf ihrem Weg in Richtung Kinn glänzend-feuchte Linien in ihrem Gesicht hinterließen. Sie sprach jetzt sehr leise.

»Vermutlich warst du meine letzte Chance, einen Mann kennenzulernen, der mich wirklich liebt. Und weißt du was? Ich habe es geschafft, sogar diesen sanften, freundlichen Mann, der es nur gut mit mir meinte, in die Flucht zu schlagen. Michael, ich brauche deinen Rat. Dringend. Offenbar bin ich gerade nicht in der Lage, die richtige Entscheidung zu treffen. Verstehe mich bitte nicht falsch: Ich mache hier nicht auf dummes kleines Frauchen, die ohne den Rat ihres Beschützers aufgeschmissen ist. Aber ich denke, wenn man ein Brett vor dem Kopf hat, darf man auch mal um Hilfe bitten, oder? Ich frage dich als Freund. Was soll ich tun? Es muss einen Weg geben, um um Verzeihung zu bitten. Es muss ein Wort geben, dass man ausspricht, und dann wird alles wieder gut.«

»Ein Wort?«, sagte Michael heiser und räusperte sich. »Wie im Märchen? So ein Zauberspruch, der alles wieder gut macht?«

»Ja. Oder wie in einem Liebesroman. Wenn die Heldin erkennt, dass sie sich geirrt hat, weil der Mann, von dem sie es nicht erwartet hätte, der einzige ist, der es wert wäre, für ihn zu sterben. Oder zu leben.«

»Und diesen Mann hast du getroffen?«, fragte er neugierig.

»Ja. Aber ich war zu dumm, um ihn festzuhalten. Und jetzt läuft er vor mir weg!«

»Dann lauf doch einfach hinter ihm her! Vielleicht holst du ihn ein! Wenn es der Richtige ist, dann liebt er dich doch auch! So ist das wenigstens immer im Märchen. Oder im Liebesroman.«

»Und wenn ich ihn einhole, was soll ich dann sagen?«

»Versuch’s doch einfach mit etwas Einfachem. ›Ich liebe dich‹!, zum Beispiel.«

»Ich liebe dich?«

»Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich?«

»Ich liebe dich!«

Die Töpfe und Vorlegegabeln verharrten bewegungslos. Der Kühlschrank hielt die Luft an. Sogar der Wasserhahn vergaß einen Moment lang das Tropfen, als zwei Menschen, die endlich begriffen hatten, dass sie zueinander gehörten, sich in die Arme sanken.

Sprechen wir drüber!

»Erst einmal: Herzlichen Glückwunsch! Ihre Frau war schon zu Besuch und hat berichtet! Aber eins muss ich sagen: Das war nicht schön von Ihnen, Herr Professor! Eine alte Frau so zu erschrecken!«

»Na na, Frau Fürstenrieder! Alt? Jetzt übertreiben Sie aber! Außerdem: Jeder ist zu ersetzen, glauben Sie es mir. Cortinarius hätte einen mehr als brauchbaren Vertreter abgegeben, und was glauben sie, wie viel Oberärzte sich wie Habichte auf diese wunderbare Stelle hier gestürzt hätten!«

Egidius lachte vergnügt.

»Das einzige, was mich traurig stimmt, ist, dass ich die Geburt meines Töchterchens verpasst habe! Aber die junge Dame war etwas zu voreilig! Wie haben uns um 24 Stunden verpasst!«

»Gott sei dank ist alles reibungslos verlaufen. Sie haben uns allen gefehlt, Herr Professor, und die Nachricht von dem Stellenangebot hat sich hier wie ein Lauffeuer verbreitet. Mein Telefon stand nicht still! Ihre Kollegen, Patienten … Sogar der neue Herr Landrat zeigte sich höchst besorgt!«

»Das ist aber sehr aufmerksam von dem neuen Herrn Landrat! Gut zu wissen! Dann habe ich wenigstens ein Druckmittel, wenn es darum geht, etwas für die Klinik durchzusetzen! Ich muss nur darauf hinweisen, dass ich in den Staaten ein vergleichsweise unbegrenztes Budget gehabt hätte!«

»Erlauben Sie mir die Frage, wie es Ihrem Sohn geht?«

»Ich bekomme nur bröckchenweise etwas aus ihm heraus. Immerhin redet er wieder mit mir. Die Pubertät, Sie wissen ja. Ich bin etwas wenig für ihn da gewesen in letzter Zeit. Und mit dieser Englandreise fühlte er sich abgeschoben.«

»Ein schönes Gefühl, wenn man weiß, dass die Kinder einen noch brauchen, oder, Herr Professor?«

Egidius grinste.

»Das ist ein permanenter Balanceakt zwischen ›Papa, ich brauche dich‹ und ›Papa, du bist voll peinlich‹! Aber diese Erfahrungen macht vermutlich jeder im Leben«, bemerkte der Chefarzt lachend. »Und zwar aus beiden Perspektiven! Sagen Sie, ist die Frage nach Ihrem Privatleben gestattet? Ich habe läuten gehört, dass der verehrte Herr Kommissar Pastötter Ihnen zugetan ist!«

Die Chefsekretärin errötete wie eine Sechzehnjährige. »So? Hört man das läuten, ja? Nun, Severin und ich verstehen uns wirklich gut.«

»Aha!«

»Nichts aha! Auf einer absolut geistigen Ebene!«

»Ach was!«

»Ja, so ist das. Ein rein platonische Freundschaft.«

»Ich verstehe!«

Das Grinsen in Egidius’ Gesicht grenzte an Unverschämtheit. Er zwinkerte vergnügt.

»Wieso zwinkern Sie denn, Herr Professor?«

»Ach, das … das muss ich mir wohl beim Flug zugezogen haben! Die Air Condition war etwas kühl!«

»Ah ja. Die Air Condition! Ja, daran muss es wohl liegen!« In diesem Moment klopfte es an der Tür.

»Herr Professor, ich hatte noch nicht das Vergnügen, mich Ihnen vorzustellen! Mein Name ist …«

»Amandus Pachmayr! Und sie wohnen in meinem kleinen Studentenwohnheim in Miesbach, stimmt’s?«

»Korrekt, Herr Professor! Ich bin überrascht, dass Sie sich meinen Namen gemerkt haben!«, erklärte der Arzt im Praktikum.

»Mein lieber Herr Pachmayr, das gehört nun mal zum Dasein eines Chefarztes dazu! Er muss seine Mitarbeiter kennen. – Und? Gefällt Ihnen die Arbeit?«

»Selbstverständlich, Herr Professor. Kürzlich hatte ich sogar eine Rea!«

»Erfolgreich?«

»Ja, natürlich.«

»Den Fall bereiten Sie bitte für die Besprechung morgen früh vor, Herr Pachmayr!«

»Selbstverständlich, Herr Professor!«

Herr Somnitz klopfte an die Tür.

»Als Vertreter der Verwaltung möchte ich Sie herzlich willkommen heißen!«, sagte er höflich.

»Danke!«, riefen Egidius und Amandus unisono.

»Wer denn jetzt?«, erkundigte sich Amandus verunsichert.

»Eigentlich beide!«, strahlte der Verwaltungsleiter. »Aber meine Glückwünsche zur Geburt des Töchterchens gehen exklusiv an Professor Sonntag!«

Egidius zwinkerte abermals.

»Wer weiß, wer weiß!«

»Dem schließe ich mich selbstverständlich an, Herr Professor«, beeilte sich Amandus Pachmayr zu sagen. »Mutter und Kind sind wohlauf? Ihre Gattin wurde doch sicher hier entbunden?«

»Nein, in der Privatklinik des verehrten Kollegen Graf von Falkenegg. Ein ganz hervorragender Gynäkologe, übrigens. Ja, danke, beiden geht es gut! Ich denke, meine Frau darf morgen schon heim!«

»Ich habe vernommen, Herr Professor, dass Ihre Frau sich für eine grüne Babyausstattung entschieden hat, trifft das zu?«, fragte Frau Fürstenrieder.

»Ja, sie wollte weg von diesen hellblau-rosa-Klischees!«

»Dann haben wir ja alles richtig gemacht«, freute sich die Sekretärin, und überreichte ihrem Chef ein recht umfangreiches Paket.

»Aber Frau Fürstenrieder! Was ist das denn? Das wäre doch wirklich …«

»Doch, das ist nötig gewesen. Jeder in der Klinik hat sich nach seinen Möglichkeiten beteiligt. Und Babys brauchen ständig Sachen zum Wechseln!«

»Jetzt bin ich ganz verlegen! Herzlichen Dank! Das ist wirklich rührend von Ihnen!«

Frau Fürstenrieder sah glücklich aus. »Nun fehlt bloß noch Herr Fahl! Aber der kommt Montag zurück, und dann sind wir bis auf Frau Dr. Schattenhofer wieder komplett!«

*

»Na, was glaubst du denn wohl, woher ich weiß, wo du bist?«

»Von Timon?«

Emmerich war zunächst sehr überrascht gewesen, als ihm der Besuch ›einer Kollegin‹ angekündigt wurde. Um welche Kollegin mochte es sich da handeln? In der Klinik waren alle sehr nett zu ihm, insbesondere der Chef schätzte ihn und zögerte nie, ihn für seine Arbeit zu loben und als leuchtendes Beispiel hinzustellen. Wie hatte er kurz vor seinem Unfall gesagt? »Mit Menschen, die mitdenken, kann man einfach am besten arbeiten.«

Aber so beliebt, dass man ihn besuchen würde, war er maximal bei Philipp und Chris.

»Marion! Das ist aber eine Überraschung!«

»Wieso? Ich hatte gedacht, dass wir Freunde sind!«

»Ja, schon, aber dass du diese Reise auf dich nimmst!«

»Ich habe das zunächst gar nicht mitbekommen, deswegen erscheine ich jetzt erst. Im OP hat man ja nicht so viel mit der Bäderabteilung zu tun! Aber jemand erzählte, du hättest einen Autounfall gehabt. Naja, und dann habe ich deinen Lebensgefährten gefragt. Der wollte anfangs so gar nicht raus mit der Sprache. Aber ich habe nicht locker gelassen!«

»Wir hatten gestritten. Und ich bin aus dem Haus gerannt und einfach losgedüst wie nichts Gutes. Und am Baum gelandet!«

»Ja, danke. Ich habe das arme Ding gesehen! Aber die Mönche haben die Wunde in der Rinde mit irgendeiner Art Kunstharz überzogen. Er wird es überstehen!«

»Und ich hab’s auch überstanden!«

»Das will ich hoffen! Du, ich brauche dich noch! Ich habe nicht so viele Menschen, mit denen ich reden kann! Was war denn bloß los bei euch?«

»Ach, ein dummer Streit. Timon lebt sein Leben!«

»Das kann man ihm ja wohl auch nicht verdenken!«

»Natürlich nicht. Aber ich würde gern daran teilhaben. Ich will ja nicht ständig hinter ihm her rennen. Aber es wäre schön, wenn er vorher erzählen würde, übrigens, ich treffe mich heute Abend mit XYZ, und ich komme sehr spät heim. Dann sitze ich nicht da wie Pik Sieben und warte mit dem Essen auf ihn!«

Schwester Marion stimmte zu, dass das nicht zu viel verlangt war.

»Naja, und dann kommt bei mir noch dazu, dass ich ja weiß, dass ich nicht so toll bin wie er. Wenn wir zusammen irgendwo hingehen, wird nur er angeschaut. Ich stehe wie das häßliche Entlein in seinem Schatten. Ich bin ja auch dankbar, dass er mich überhaupt genommen hat. Aber ich habe immer die Angst, dass er jemanden kennenlernt, der attraktiver, intelligenter, selbstbewusster ist als ich.«

Marion war verblüfft.

»Ich bin jetzt wirklich überrascht, Emmerich Fahl! Warum, glaubst du, lebt er mit dir zusammen? Denkst du, er hat dich als Pausenclown engagiert? Oder als Koch? Dir ist aber schon klar, dass er dir so gut wie alles verdankt nach seinem Schlaganfall, oder?«

»Ach nein, das stimmt doch gar nicht! Die Logopädin hat viel mehr Arbeit geleistet!«

»Depp, depperter! Wenn ich allein daran denke, wie du mich unterstützt hast. Du warst mir nicht nur Physiotherapeut, Emmerich. Du warst und bist mir der beste Freund, den ich mir wünschen kann. Bist du denn hinter ihm hergelaufen?«

»Nein, er hat mich gefragt, ob ich ihm beim Einrichten seiner Wohnung helfen kann, dann haben wir was getrunken, und es war zu spät heimzugehen … Naja, und so kam eins zum anderen!«

»Also war es seine Entscheidung! Hältst du es denn nicht für möglich, dass du ihm etwas bedeutest?«

»Ach, na ja … Er hat neulich mal was gesagt, dass ich die Nummer Eins in seinem Leben bin. Aber er verhält sich nicht so. Und ich kann das eben auch nicht wirklich glauben!«

»Warum sollte er es dir erzählen, wenn’s nicht wahr wäre?«

»Keine Ahnung. Mitleid?«

»Du hast wirklich keine Ahnung, oder? Wie sehr er dich liebt, meine ich. Wenn du sehen könntest, wie er durch die Klinik schleicht und wie traurig er guckt, würdest du das nicht sagen. Warum redet ihr eigentlich nicht miteinander? Übrigens, dieses Schweigen hat auch meine Ehe kaputtgemacht. Wir haben irgendwann aufgehört, miteinander zu sprechen. Und den gegenseitigen Respekt verloren. Zum Schluss war alles Routine geworden. Wir funktionierten. Und wir hatten vergessen, wie sich das anfühlt, glücklich zu sein. Hätten wir zur rechten Zeit mal gesagt, was wir von unserem Partner erwarten, mal angemeldet, was wir brauchen, wäre nie diese Gleichgültigkeit entstanden. Also: Du bittest ihn darum, dich an seinen einsamen Entscheidungen teilhaben zu lassen. Und du glaubst ihm einfach, wenn er sagt, wie wichtig du für ihn bist. Ihr werdet überrascht sein!«

*

Timon war von Bruder Basilius angerufen worden. Emmerich wusste nichts davon, dass er gerade auf den vor dem Kloster gelegenen Parkplatz einbog, um ihn abzuholen.

»Meinen Sie, Bruder Basilius, dass er es wünscht, dass ich ihn abhole?«

»Ich bin kein Prophet, Herr Doktor Süden. Es kann sein, dass ich mich irre. Wir haben hier auch so eine Art Shuttle-Bus. Im Augenblick denkt er noch, dass er von uns zum Schliersee chauffiert wird. Wir werden sehen, wohin es ihn zieht, wenn er da Sie und dort mich sieht!«

»Sie haben ihn gern, oder, Bruder Basilius?«

»Er ist einer der wunderbarsten Menschen, denen ich in meinem Leben begegnet bin. Er hat ein reines, gutes, unschuldiges Herz. Und er denkt mehr an andere als an sich selbst.«

»Hat er … Ich meine … hat er über mich … also, über uns …?«

»Ob er über Sie und Ihre gemeinsame Beziehung gesprochen hat?«

»Ja.«

»Oh, das hat er. Oft sogar. Eigentlich hauptsächlich.«

»Und?«

Bruder Basilius lachte.

»Beichtgeheimnis, Herr Doktor. Aber vielleicht reicht Ihnen ja schon die Tatsache, dass ich Sie anrufe und bitte, ihn abzuholen. Ich bin sicher, seine Wahl zu kennen.«

»Ich stehe in Ihrer Schuld, Bruder Basilius. Ich würde Ihnen so gern etwas Gutes tun zum Dank. Aber ich glaube, dass Sie keine Geschenke annehmen dürfen, oder?«

»Meine Belohnung liegt in Ihrer Dankbarkeit und in dem Umstand, einem Menschen wie Emmerich begegnet zu sein. Es gibt zwischen uns keine Schuld. Aber vielleicht begegnen Sie einmal jemandem, der unglücklich, hungrig, einsam ist. Wenn Sie dann an mich denken und diesen Menschen aufrichten, wäre das wunderbar.«

»Ich glaube, ich verstehe, warum Emmerich sich bei Ihnen so wohl gefühlt hat«, erklärte Timon. »Sagen Sie … Falls es mir einmal schlecht gehen sollte, meinen Sie …«

»Denen, die Hilfe suchen, stehen unsere Türen immer offen«, erwiderte Bruder Basilius.

*

Ja, und nun stand er links vom Eingang des Klosters. Der dunkelblaue Kleinbus mit der Aufschrift ›Kloster Benediktbeuern‹ parkte rechts.

Bruder Basilius öffnete die Tür und gab den Blick auf Emmerich frei. Dieser bewegte sich zielsicher auf den Bus zu.

»Emmerich!«, rief Timon.

Der Angesprochene fuhr zusammen. Sein kurzes Zögern währte nur Bruchteile von Sekunden, auch wenn sie für Timon eine Ewigkeit zu dauern schienen. Mit wenigen Sätzen war er bei ihm, ließ die Tasche fallen und hielt ihn im Arm.

»Ingwer und Koriander«, flüsterte er, an dessen Haar riechend. »Kaum zu glauben, wie sehr mir das gefehlt hat! Ich lass dich nie wieder los.«

Bruder Basilius hatte die Szene beobachtet. Sein Herz war erfüllt von Freude. Und Dankbarkeit.

»Herrgott, Vater im Himmel!«, betete er für sich, »wie wunderbar ist Deine Schöpfung. Und es ist genauso, wie der Apostel Paulus an die Korinther schreibt. Die Liebe ist das Größte.«

*

»Hast du dich schon um einen Platz bei der Schülerhilfe gekümmert, Lukas?«, erkundigte sich der Chefarzt bei seinem Sohn.

»Nö. Warum?«

»Nachhilfestunden. Das mit England hat ja leider nicht geklappt, was ich persönlich sehr schade finde. Aber egal: Englisch braucht man heutzutage. Wir leben in Europa, und zwei Sprachen müssen junge Menschen fließend beherrschen: Englisch und Spanisch.«

Lukas schwieg und schnibbelte ein Stück vom Rand seiner Pizza. Gott sei Dank kommt Corinna morgen heim, dachte Egidius. Dann kehren endlich wieder normale Verhältnisse ein!

»Sei so lieb und kümmere dich, ja?«

»Kein Bock auf Englisch. Voll aggro, die Leute!«

»Du meinst, mit den Butterfields bist du nicht gut ausgekommen? Ich habe einmal mit ihr telefoniert! Sie schien mir doch ganz nett zu sein!«

»Die Bitch, ey!«

»Bitte rede nicht so, Lukas. Du hast es deiner Gastfamilie auch nicht besonders einfach gemacht, dich ins Herz zu schließen. Und das Council of International Contact hat mich darauf hingewiesen, dass eine erneute Anmeldung nicht möglich sei, angesichts deiner Verfehlungen.«

Ungerührt stopfte Lukas in weiteres Stück Pizza in seinen Mund. Egidius versuchte, ihm seine Hand auf die Schulter zu legen. Lukas wich der Berührung mit angeekeltem Gesichtsausdruck aus.

»Ich weiß, Lukas, dass ich wenig Zeit für dich hatte. So geht das, wenn man Menschen für selbstverständlich hält. Man vergisst, ihnen zu sagen, dass man sie lieb hat. Man versäumt festzustellen, wie stolz man auf sie ist. Das ist meine Schuld. Aber hättest du mir nicht helfen können? Ich bin Chefarzt. Das kann ich. Als Vater bin ich eher wohlmeinender Amateur!«

»Du hast mich weggeschickt!«

Lukas sagte dies mit heiserer Stimme und enttäuschtem Unterton.

»Ich habe es gut gemeint, Lukas. Ich hatte gedacht, dass du dich freust. Warum hast du nichts gesagt?«

Der Junge beantwortete die Frage achselzuckend.

»Weiß nicht!«

Es entstand eine weigere Pause. Die Pizza war vertilgt.

»Sag mal, mein Junge … Das mit den Drogen – das ist doch erledigt, oder? Falls nicht – ich hab das gute Beziehungen zu einem Therapeuten …«

»Mann, Papa! – Ich geh mal Musik hören!«

»Wollen wir nicht zusammen …?«

Lukas sah seinen Vater mit schräg gehaltenem Kopf mitleidig an.

»Muss ja nicht«, erklärte dieser entschuldigend. Der Junge zog sich zurück.

Er würde in seine Welt abtauchen, in den Schutz seiner Kopfhörer, die man neudeutsch Over-Ear-Headphones nannte. Damit war er unerreichbar. Diesen Fehler durfte er bei seiner Tochter nicht machen, auf keinen Fall. Auch für Lukas hatte er immer da sein wollen. Aber im entscheidenden Moment hatte er versagt. Er hatte entschieden, was er für das Beste hielt. Und es war keine Entschuldigung, dass der Junge nicht geredet hatte. Er hätte zuhören müssen. Begreifen können. Ohne Schuldzuweisungen. Er schien immer über alles informiert zu sein. An allem teilzunehmen. Zu allem einen Kommentar abgeben zu können. Er war ein wenig wie Gott, der über den Wassern schwebte. Jeder, der ihn beobachtete, würde annehmen, dass er hundertprozentig zugewandt und fokussiert war. Aber das stimmte nicht. Das galt nur für seinen Beruf. Im Privaten war er ein Blender.

Wieder einmal stellte er fest, dass ein akademisches Studium und der Erwerb von Titeln nicht immer nützt, und dass Wissen und Bildung leider ausgesprochen relativ sind.

Elisabeths Platzerl

Wer die Geschichte nicht kannte, hätte im Leben nicht angenommen, dass der Herr und die Dame am Nebentisch, die vergnügt mit ihrem Töchterchen schwatzend den für die Jahreszeit obligatorischen Zwetschgendatschi mit viel Schlagsahne verdrückten, sich noch bis vor Kurzem spinnefeind waren. Leider ist es oft so, wenn Eltern sich trennen. Selbst, wenn man in einem jähen Anfall von Vernunft beschlossen hatte, einander freundschaftlich verbunden zu bleiben, des Kindes wegen. Dann kommen irgendwelche materiellen Forderungen, und die Laune sinkt auf den Gefrierpunkt. Und wenn gar einer der beiden Kontrahenten eine neue Partnerschaft eingeht, dann ist es vorbei mit der Herrlichkeit.

Schnell verliert der Satz, den man den Kindern zum Trost sagt, an Wert und Gültigkeit. ›Es ist zwar so, dass Mama und Papa sich nicht mehr lieb haben, aber wir bleiben natürlich immer deine Eltern‹, sagt man gern. Faktisch mag das stimmen. Und Trennungen sind sicher sinnvoll, denn Kinder leiden nicht nur darunter, dass Eltern auseinandergehen. Oft ist es sehr viel schwieriger für die Kleinen, täglich Zank, Streit und Sticheleien zu ertragen. Kinder spüren sehr wohl, dass da was nicht stimmt, selbst wenn man bestrebt ist, nicht in deren Anwesenheit zu kämpfen.

Durch all diese Stadien waren der Herr Oberarzt und seine Lebensgefährtin auch gegangen. Und das wäre vermutlich bis in alle Ewigkeit so geblieben, wenn ihr gemeinsames Kind, Felicitas, nicht so klug und beherzt die Wiedervereinigung der Erwachsenen vorangetrieben hätte. Und wenn nicht ihre Mutter begriffen hätte, dass ihre Verweigerungshaltung letztlich nur dazu geführt hatte, dass die Tochter sie ablehnte.

Felicitas aber war glücklich. Auch, wenn ihr Papa sich nach solchen Tagen immer wieder verabschiedete und sie mit ihrer Mama nach Hause ging, das geschah nie, ohne dass ein neues Treffen verabredet worden war, mit der Aussicht auf einen weiteren, harmonischen, lustigen Nachmittag oder Abend.

*

»Himmel, ist die süß!«, hatte Cortinarius ausgerufen. Das war nun mal so, im Kreis Miesbach. Man ging irgendwo hin und sah mit Sicherheit Menschen, mit denen man bekannt, verwandt oder verschwägert war. So geschah es auch an diesem schon etwas herbstlich anmutenden Spätsommertag, an dem der halbe Landkreis sich in einem der beliebtesten Cafés traf: Elisabeths Platzerl.

»Nein, Schatz. Völlig illusorisch, mit dem Kinderwagen drinnen einen Platz zu ergattern. Hier, der Tisch an der Ecke ist doch perfekt! Da stört das Ding auch niemanden! – Ach! Schau mal, wer da kommt! Dein bestes Pferd im Stall!«

Cortinarius lachte.

»Das hat wirklich noch nie jemand zu mir gesagt, Frau Sonntag! Habe die Ehre, Herr Professor! Darf ich Ihnen meine Frau … also, Ex-Partnerin … Felicitas’ Mutter eben, vorstellen?«

Corinna und Egidius begrüßten die junge Frau herzlich, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.

»Wollen Sie nicht der Einfachheit halber an unserem Tisch Platz nehmen? Für Felicitas organisieren wir noch einen Stuhl!«

Egidius zog mit Erlaubnis der Herrschaften vom Nebentisch einen freien Stuhl heran, auf dem sich des Oberarztes Töchterlein niederließ. Die Konversation zwischen den Damen drehte sich um Schwangerschaft und Geburt, Babyausstattung, Windeln und Babynahrung. Die Herren sprachen über Egidius’ USA-Aufenthalt und erörterten einige aktuelle Fälle aus der Klinik.

Nur wirklich scharfen Beobachtern, so wie Corinna Sonntag, fiel auf, dass Felicitas’ Mutter plötzlich nervös wurde. Ihr Blick, der während ihrer Konversation auf Corinna geruht hatte, flackerte plötzlich unruhig und schien ein anderes Ziel zu fixieren. Corinna hätte sich umdrehen müssen, um das Objekt ihres Interesses zu sehen, fand dies aber ungehörig.

Dann änderte sich ihr Verhalten erneut. Ihre Aufmerksamkeit war nun wieder ungeteilt.

»Sag mal, ist dir jemand aufgefallen, der in meinem Rücken gesessen hat? In Blickrichtung der Ex deines Oberarztes? Irgendetwas oder irgendjemand hat sie gesehen, das ihre Konzentration völlig in Anspruch nahm.«

»Nein, Schatz! Ich war so in dass Gespräch mit Cortinarius vertieft, ich habe überhaupt niemanden wahrgenommen!«

*

»Ich habe einen Riesenschreck bekommen, als du plötzlich aufgetaucht bist! Musste es denn ausgerechnet das Elisabeths Platzerl sein? Du wusstest doch, dass ich mit Feli und Kilian heute dort sein würde!« Es war recht kühl, auf dem Balkon, auf den sie sich zum Telefonieren zurückgezogen hatte. War ja nicht nötig, dass das Kind alles mitbekam. Aber sie bereute, ihre Strickjacke nicht angezogen zu haben.

Die Person am anderen Ende der Leitung rechtfertigte sich hastig, so viel war dem quäkenden Geräusch, dass an das Ohr der Nachbarin auf dem Balkon über dem Ihren drang, zu entnehmen.

»Nein, natürlich ist es nicht schlimm. Aber es ist auch nicht nötig, dass Kilian Bescheid weiß. Immerhin ist er …«

Wieder erklang das Quaken aus dem kleinen Lautsprecher.

»Ja, genau. Und ich möchte einfach nicht, dass es zu irgendwelchen Querelen kommt!«

Ihr Gesprächspartner schien dies zu akzeptieren. Die Geräusche klangen nicht mehr so hektisch und schroff.

»Du, ich bin hier auf dem Balkon, und mir ist wirklich kalt. Wir sehen uns morgen. Feli übernachtet bei Kiilian!«

*

»Also, wenn du mich fragst, ich finde, Cortinarius und seine … sag mal, wie heißt sie eigentlich? Ich habe keinen Namen mitbekommen!«

»Keine Ahnung! Dein Oberarzt hat sie nur als seine Ex-Frau vorgestellt, nicht mit ihrem Namen!«

»Na, egal! Also, wenn du mich fragst: Warum heiraten die beiden eigentlich nicht? Die schienen sich doch glänzend zu verstehen, oder?«

»Egidius, nicht wieder lieber Gott spielen. Es fragt dich ja auch niemand. Die beiden haben es versucht, und es hat nicht geklappt!«

»Nicht geklappt? Immerhin ist aus dieser Verbindung ein bezauberndes Kind hervorgegangen! Und die beiden sind doch sozusagen auch herangereift. Für das Töchterchen wäre es bestimmt am besten, wenn die Eltern sich aussöhnten. Gleich morgen werde ich mal meinem Oberarzt einen Floh ins Ohr setzen!«

»Schatz, bitte! Lass es bleiben! Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen! Oder fühlst du dich chronisch unterbeschäftigt? Dann habe ich eine schöne Aufgabe für dich! Deine Tochter braucht dringend eine neue Windel!«

Sie näherte ihre Nase der Körpermitte des Kindes, und rümpfte sie.

»Pfui Deibel!«, stöhnte der Chefarzt. »Muss ich das auch tun, obwohl ich Chefarzt und ärztlicher Direktor bin?«

»Gerade dann«, sagte Corinna streng. »Du hast Vorbildfunktion. Die Jungs lernen von dir!«

»Aber die sind doch gar nicht da!«

»Keine Ausreden!«

Seufzend machte sich Egidius an die Arbeit.

»Aber das werde ich später gegen sie verwenden, so viel steht fest!«, erklärte er. »Wenn sie ungezogen ist, werde ich Sätze vom Stapel lassen wie ›Das ist nun der Dank dafür, dass ich mitten in der Nacht aufgestanden bin und deine Windeln gewechselt habe!‹!«

»Schatz, es ist nicht mitten in der Nacht. Es läuft noch nicht einmal die ›heute‹-Sendung!«

»Mann, bist du aber pingelig!«

(Ent-)Täuschungen

»Bei Anton muss man immer mit allem rechnen, Sep … Esfandar! Das ist ja auch einer der Gründe, weswegen ich ihn geheiratet habe! Er ist immer für eine Überraschung gut! Und ich befürchte, dass es mir gelungen ist, mir selbst vors Schienbein zu treten und meine Ehe kaputtzumachen!«

»Mensch, Dagmar! Statistisch liegt die Zahl der Kuckuckskinder bei durchschnittlich 2%! Warum sollte er nicht dazu gehören?«

Anton war in Martinique von Bord gegangen, in seinem Smoking. Dagmar hatte sich darüber mokiert, und war noch vormittags mit ihm in die Boutique gegangen, um ihm weniger prätentiöse Kleidung zu besorgen. Leider waren jeweils die Hosen zu lang und die Ärmel zu kurz und eine Änderung auf Grund der Kürze der Zeit nicht möglich. Er nahm es gelassen.

»Ich bin mal für Daniel Craig eine Woche lang Stunt-Double gewesen. Da bin ich die ganze Zeit in so einer Montur herumgelaufen!«, hatte er festgestellt.

»Aber Esfandar! Hältst du Anton für blöd? Meinst du nicht, dass dein Kind einen etwas … sagen wir mal … dunkleren Hautton aufweisen könnte? Anton hat eine schon fast provozierend helle Haut!«

»Na gut. Dann bekommst du es, gibst es mir, und ich kümmere mich darum. Du kannst es besuchen, wann immer du willst. Und dein Mann muss nichts erfahren!«

»Mein Kind wächst bei seiner Mutter auf, Esfandar. Unter keinen Umständen lasse ich zu, dass es von mir getrennt ist. Ich bin selbst bei fremden Menschen groß geworden. Mein Kind soll eine Mutter und einen Vater haben!«

»Ich bin ja kein fremder Mensch, Dagmar. Und ich sehe nicht, wie du das Problem lösen willst.«

»Darüber will ich jetzt einfach nicht nachdenken. Dafür ist genug Zeit, wenn es da ist. Hetz’ mich nicht!«

*

Mit einem gut gelaunten »Grias Gott!« hieß Egidius die Mitarbeiter in der Frühkonferenz willkommen, die den diensthabenden Kollegen die Möglichkeit eröffnete, aus den Nachtdiensten zu berichten. Im weiteren fand ein reger Informationsaustausch statt, über neue Therapieformen, gesetzliches Bestimmungen, besondere Fälle.

»Ich darf heute offiziell unseren AiPler, Herrn Amandus Pachmayr, begrüßen, der bereits seine Arbeit in der Zeit meiner Abwesenheit aufgenommen hat. – Sie werden ihn aus der Notfallambulanz kennen. Und dann hat sich eine künftige Kollegin hier für ein zweimonatiges Praktikum beworben, und ich bin auf diese Bewerbung sehr gern eingegangen. Frau Sydonie Scharnagl wird künftig in unserem Hause hospitieren. Ich darf die erfahrenen Kollegen bitten, den jungen Kollegen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen!«

»Das geht aber nur, wenn die jungen Kollegen uns um Rat fragen und nicht eigenmächtig handeln!«, knurrte Ludwig.

Egidius sah überrascht zu ihm herüber.

»Ludwig? Was erregt deinen Unmut?«

»Es handelt sich um die Reanimation, die ich gestern durchgeführt habe«, kam Amandus Pachmayr seinem Kritiker zuvor. »Der Patient wollte seinem Leben mit Tabletten ein Ende setzen. Ich wusste nicht, dass er unter einem fortgeschrittenen Stadium eines Pankreaskarzinoms leidet. Hätte ich es gewusst, hätte ich die Entscheidung zur Reanimation vermutlich nicht getroffen.«

»Das ist wirklich ein schwieriger Fall, Herr Pachmayr«, stellte Egidius ruhig fest. »Sie sahen sich zum raschen Handeln gezwungen, und mit etwas mehr Erfahrung hätten Sie bemerken können, dass bei der ausgeprägten Kachexie des Patienten hier vermutlich eine maligne Erkrankung vorliegt. Sie haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Das kann man Ihnen nicht vorwerfen. Auch du nicht, Ludwig. Selbstverständlich sind wir immer und unter allen Umständen verpflichtet, Leben zu erhalten. In diesem Fall allerdings führt unser Eingreifen dazu, dass der Patient zweimal stirbt. Ich bin der Überzeugung, dass es reicht, einmal diese Welt zu verlassen.«

Auf dem Weg aus der Aula beeilte sich Amandus, Ludwig, der dicht an der Tür saß, einzuholen.

»Hab ich dir irgendwas getan?«, fragte er. »Warum schwärzt du mich beim Chef noch an? Ich weiß doch, dass ich einen Fehler gemacht habe!«

»Einen unnötigen Fehler«, knurrte Ludwig grimmig. »Aber du musstest dich ja unbedingt als Lebensretter hervortun. Ich hasse es, wenn man den Beruf ausübt, nicht um den Patienten zu helfen, sondern um sein mickriges Ego aufzupolieren!«

»Mickriges Ego? Du kennst das Sprichwort vom Glashaus und dem Steinewerfer, oder? Wie sieht es denn aus, Herr Lechner? Da kommt ein kleiner Berufsanfänger wie ich, ohne Erfahrung, am Beginn seiner Laufbahn. Und führt mal eben eine Reanimation durch, als wäre es die einfachste Sache der Welt. Und wieviel erfolgreiche Reanimationen gehen auf Ihr Konto, Herr Kollege?«

Er traf da einen wunden Punkt. In der Tat hatte Ludwig bisher noch keine Wiederbelebungsmaßnahme selbstständig durchgeführt.

»Das dachte ich mir!«, stellte Amandus Pachmayr fest. »Das dachte ich mir! Der pure Neid!«

Noch bevor Ludwig etwas einwerfen konnte, zischte Amandus ärgerlich: »Sehen Sie? Deswegen duze ich mich so ungern mit Menschen, die ich nicht weiter kenne. Und in unserem speziellen Fall schlage ich vor, dass wir zum ›Sie‹ zurückkehren, Herr Lechner!, Oh, und passen Sie gut auf, dass Ihnen kein Versehen unterläuft! Die Frühbesprechung findet jeden Tag statt!«

»Wenn Sie Krieg wollen, Herr Pachmayr, bekommen Sie Krieg! Ich komme aus kleinen Verhältnissen und habe mir alles im Leben erkämpfen müssen! Glauben Sie nicht, dass ich mich von Ihnen einschüchtern lasse!«

Die Herren hatten die Notfall-Ambulanz erreicht und begaben sich in ihre Räume.

»Ihnen auch einen recht schönen guten Morgen, meine lieben Doktoren!«, rief Schwester Nasifa über den Flur. »Guten Morgen, Schwester Nasifa«, fuhr sie in normaler Lautstärke fort. »Schön, dass Sie heute unsere Arbeit unterstützen. Übrigens: Ihre neue Frisur steht Ihnen ganz fabelhaft!«

*

Hatice war ärgerlich. So ein schöner Tag, wirklich! Ein wunderschöner, warmer Spätsommertag. Nur vereinzelt sah man Herbsttöne aus dem satten Dunkelgrün des Sommers hervorblicken. Die Obstbäume, Apfel, Birne und vor allem die Zwetschge, überboten sich gegenseitig mit ihren Früchten. Über allem dehnte sich ein hellblauer Himmel aus, dem einige harmlose Wölkchen Charakter verliehen. Alles in Allem: Kein Tag, um auf dem Friedhof zu liegen! Ein ausgedehnter Waldspaziergang, bei dem man Schwammerl suchen konnte. In einem Straßencafé sitzen und Leute beobachten. Auf einer Wiese sitzen, sich bei den Händen halten, und sich liebevoll in die Augen schauen. Dazu war dieser Tag gemacht.

»Und was tue ich? Ich sammle verblühte Blumen von deinem Grab, gieße Rhododendron und Buchsbaum und harke die Erde, die dich bedeckt. Soll ich dir was sagen? Ich habe überhaupt keine Lust zu dem Blödsinn. Ich weiß genau: Du hättest dich lustig gemacht und gesagt, alles muss seine Ordnung haben. Und dann hättest du mich ausgelacht und gefragt, ob diese Verbissenheit ein Resultat meines Pädagogikstudiums ist! Und ich hätte dich ›Dumme Gans!‹ geschimpft, und mindestens 30 – ach, was sage ich – 60 Sekunden kein Wort mehr mit dir gesprochen!

Und du? Du lässt mich hier allein zurück, mit einer Handvoll der schönsten Andenken und einem Herz, das mit jedem Schlag deinen Namen flüstert. Ich bin dankbar für diese Erinnerungen, weil sie so kostbar sind, und ich habe Angst vor ihnen, weil sie mir wehtun.«

Sie betrachtete ihr gärtnerisches Werk und nickte zufrieden. Dann verstaute sie die kleine Harke und die häßliche grüne Plastikgießkanne hinter dem Grabstein der Nachbarin, von der sie sich diese Utensilien ausgeliehen hatte.

»Ich wusste, dass ich dich hier finden würde«, ertönte eine Stimme hinter ihr.

Sie fuhr zusammen.

»Birte! Hast du mich erschreckt! Es hätte nicht viel gefehlt, und du hättest mich direkt neben ihr vergraben können!«

»Das wäre aber schade gewesen«, raunte Birte. »Sehr, sehr schade.«

Ungeschickt versuchte sie, Hatices Hand zu ergreifen. Diese zog sie zurück und wandte sich ab.

»Birte, bitte hab Verständnis, aber – das ist für mich eindeutig zu früh. Ich habe die letzten Monate noch nicht verarbeitet. Es ist einfach zu viel passiert.«

Die Krankenschwester nickte verständnisvoll.

»Ich kann das nachempfinden, Hatice. Aber bitte denk daran, dass das Leben weitergeht. Und es soll weitergehen mit Frohsinn und Lachen und erotischer Begier. Du lebst ja noch, und du musste dein Leben genießen! Und du wirst Hilfe brauchen, um das Kind aufzuziehen! Ich dachte da an jemand Professionellen. Zum Beispiel eine staatlich geprüfte Kinderkrankenschwester!«

Hatice lächelte sie an. Sie machte eine Geste unbestimmter Bedeutung. Laut sagte sie: »Du hast vermutlich recht!«

Ja, vielleicht hatte Birte wirklich recht. Sie konnte ja nicht wissen, was in ihr vorging. Wie immens der Verlust war, den sie erlitten hatte. Veronika war ihre erste Frau gewesen. Nicht, dass ihr nicht schon die eine oder andere Freundin oder Kollegin gut gefallen hätte. Aber sie hatte sich nie eingestehen können, dass sie das eigene Geschlecht bevorzugte. Keine war es wert, die Konfrontation mit den Überzeugungen ihrer Mutter, der Tradition, der Religion und, ganz besonders, sich selbst, auf sich zu nehmen.

Dann war sie Veronika begegnet. Und schlagartig änderte sich alles. Veronika war so vielschichtig. Gebildet und albern. Sarkastisch und mitfühlend. Ihre Kurven waren faszinierend. Wie sie Vronis Körper liebte! Weich, warm, mütterlich und von einem sinnlichen Zauber, der ganz im Gegensatz stand zu dem aktuellen knochigen Schönheitsideal.

Sie fand nun endlich zu sich selbst. Sie ging nicht hausieren mit ihrem Coming out, aber sie bewegte sich höchst selbstsicher, mit der größtmöglichen Selbstverständlichkeit, durch ihr Leben. Wer sie darauf ansprach, dem begegnete sie nicht mit den üblichen Phrasen, dass sie den Richtigen noch nicht gefunden hätte, das überließ sie ihrer Mutter. In der Schule hatte eine neidische Kollegin gerüchteweise verbreitet, dass sie sie in eine stadtbekannt einschlägige Kneipe hatte gehen sehen. Das wäre zutreffend, hatte sie freundlich erwidert. Und gefragt, ob die Kollegin noch weitere Informationen über ihr Privatleben wünschte.

Einzig die Entscheidung, Veronika ihrer Mutter vorzustellen, hatte sie aufgeschoben. Wie überrascht sie war, dass Ayse so entspannt mit allem umging! Und wie unkompliziert sie Vroni begegnete!

Frohsinn, Lachen, erotische Begier, hatte Birte prophezeit. Sie schüttelte energisch den Kopf. Nein. Das war weit entfernt. Sie haderte nicht mit dem Schicksal. Sie war dankbar für die Zeit mit Veronika. Aber der Gedanke, dass ein anderer Mensch nahtlos deren Platz einnehmen könnte, erschien ihr verwegen.

»Lass mir bitte Zeit, Birte. Ich muss ein Kapitel beenden, bevor ich ein neues beginnen kann. Ich danke dir sehr. Es ist schön, wenn man weiß, dass man nicht allein ist auf der Welt. Und außer den Vätern des Kindes selbst würde ich es niemandem lieber anvertrauen als dir!«

*

»Der Typ ist ein Arschloch!«

So wütend hatte man Ludwig überhaupt noch nie erlebt. Sydonie hatte kurz überlegt, sich zwischen die beiden Streithähne zu stellen. Aber beide stürmten in ihre Behandlungsräume, und sie hatte sich Ludwig angeschlossen.

»Ludwig, du machst mir Angst! Du bist so ein liebenswürdiger Mensch! Ich kenne doch ja gar nicht wieder! Amandus hat dir doch gar nichts getan!«

»Amandus? Seid ihr schon per du? Ich dachte, der Herr duzt sich nicht mit Kreti und Pleti!«

»Ich … Also, er hat mir das ›Du‹ angeboten. Er sagte, dass sei so üblich hier in der Klinik!«

»Eine Frechheit! An dich wanzt er sich heran! Als ob er irgendwelche Ansprüche an dich hat! Skandalös!«

Sydonie beschwichtigte. »Niemand hat irgendwelche Ansprüche an mich. Amandus nicht. Du nicht. Niemand.«

»Gut, dass du das noch einmal betonst. Natürlich besitze ich dich nicht. Aber ich dachte, dass da mehr zwischen uns wäre …«

»Ich mag dich, Ludwig, wirklich. Aber wir kennen uns doch kaum!«

»Ich liebe dich! Und das reicht mir. Schade, wenn es dir nicht genug ist!«

»Wie kann man nach so kurzer Zeit sagen, dass man jemanden liebt? Du weißt doch gar nichts von mir!«

»Ich weiß genug, um sagen zu können, dass du mir mehr als alles bedeutest!«

»Ludwig, das geht mir einfach zu schnell. Du verrennst dich da in etwas! Lass uns doch erst einmal ein gemeinsames Fundament finden!«

»Ich dachte, das hätten wir bereits«, bemerkte Ludwig grimmig. »Egal. Macht nichts. Wie sieht es aus? Gehen wir zusammen ins Theater? Oder möchtest du lieber mit Amandus …«

»Idiot!«, schimpfte Sydonie.

»›Passen Sie auf, dass Ihnen kein Versehen unterläuft!‹ Dieser Flegel! Spricht Drohungen aus! Was bildet der sich überhaupt ein?«

Ludwig hatte sich in Rage geredet. Zum Glück kündigte Schwester Nasifa den nächsten Notfall an, der sich als Nierenstein herausstellte. Nachdem der Patient verarztet war, transportierte die Schwester drei Becher Kaffee heran.

»Aua, heiß, heiß, heiß! Bitte, nimm mir mal jemand die Becher ab!«

»Sie könnten sich auf dem Oktoberfest glatt ein schönes Zubrot verdienen, Nasifa!«, lachte Ludwig. »Außerdem sind die Maßkrüge nicht so heiß!«

»Hier bleibe ich«, erklärte die Schwester. »Hier wird wenigstens mal gelacht!«

»Worüber wird gelacht?«, fragte Timon Süden, der in diesem Moment um die Ecke schaute.

»Nur so«, behauptete Ludwig. »Spaß an der Freude. Irgendjemand muss ja die gute Laune aufrechterhalten. Und mit diesem neuen – Kollegen – haben wir diesbezüglich sicher keine Trumpfkarte gezogen!«

»Sei sanft, Ludwig. Schau mal, ich bin ja auch noch nicht sooo lange hier. Und ich war dankbar, dass alle so nett zu mir waren!«

»Ich habe ja versucht, nett zu sein«, grollte Ludwig. Aber nett sein macht nur dann Sinn, wenn es beide sind, oder?«

»Du hast ihn auf einen Fehler aufmerksam gemacht, und er glaubt, dass du es dem Chef gepetzt hast. Das nimmt er dir übel, verständlicherweise.«

»Er sollte dankbar sein für jede Belehrung! Der Chef meckert nicht, schreit nicht rum, kanzelt einen nicht ab. Der Chef belehrt dich freundlich. Und diskutiert mit dir auf Augenhöhe.«

»Das weiß doch aber Amandus nicht«, beschwichtige Timon seinen jungen Kollegen. »Stell’ dir vor, dass du irgendwo ganz neu bist, und zum Einstand kommt so ein Problem auf dich zu. Der Junge war einfach verunsichert.«

»Vielleicht können wir alle zusammen zum Mittagessen gehen. Michael Barbracks köstliches Menü dürfte in der Lage sein, eine friedliche, versöhnliche Atmosphäre zu begünstigen«, schlug Sydonie vor.

Neue Menschen

Pfarrer Ettenhuber säbelte mit einer normalen Gabel ein Stück von seiner Flockensahne-Torte ab. Er hatte extra den Umweg über das Café ›Winkelstüberl‹ gemacht, um sich ein kleines Kuchentablett zusammenstellen zu lassen. Er verschmähte Kuchengabeln. Ohnehin aß er lieber mit Esslöffeln oder normal dimensionierten Gabeln. Genuss bedeutete für ihn vor allem viel von Etwas. Und da die Flockensahne auf der Basis eines leichten Brandteiges beruhte, bereitete ihm das Verputzen der Köstlichkeit keinerlei Problem.

Er bereitete gerade die Sonntagspredigt vor. Epheser 4:22. »Leget von euch ab den alten Menschen, der durch Lüste im Irrtum sich verderbt.« Das passte ja wirklich großartig, dachte er voller Ironie, und stopfte sich ein Stück Torte in den Mund. Ja, das Essen war ihm eine Lust. Die Fleischeslust kam für ihn in seinem Amt ja nicht mehr infrage. Also, eigentlich. Er dachte an die letzte Begegnung mit Elenore und kicherte verschämt. Also, verlernt hatte er es nicht, so viel stand fest. Er hatte nie wirklich verstanden, inwieweit die Beziehung zu einer Frau seine Arbeit für die Gemeinde oder sein ohnehin gestörtes Verhältnis zum Allmächtigen hätte beeinträchtigen können. Im Gegenteil.

Leget von euch ab den alten Menschen. Ja, natürlich. Das kannte er gut. Er war nicht mehr der hübsche, schlanke Jüngling, den es gewissenlos nach Befriedigung seines Triebes dürstete und der nicht gezögert hatte, deswegen ein unschuldiges junges Mädchen ins Verderben zu stürzen. Naja, Verderben. Es war ja trotzdem alles gut geworden, oder? Und Elenore hatte ihm vergeben. Und seine Tochter auch.

Natürlich. Den alten Menschen legte man doch zwangsläufig ab, oder? Allerdings war das selten ein Akt der bewussten Entscheidung. Ja, wenn man in der Lage wäre, eine schlechte Haltung, einen miesen Charakter auszuziehen wie ein altes Hemd! Ein neues, modisches Hemd … Würde sich damit auch seine innere Einstellung ändern? Zog man etwas an, weil man sich geändert hatte und feststellte, dass das alte Gewand nicht mehr passte? Oder handelte es sich um ein Kostüm, mit dem man vorgab, etwas zu sein, was man nicht wirklich war?

Das traf auf ihn zu, leider. Seine Soutane täuschte etwas vor. Das geistliche Gewand stand für Religiosität, für Glauben. Dabei verfügte er weder über das Eine noch empfand er das Andere. Er war ein Schauspieler. Ein guter Schauspieler sogar. Jeder kaufte ihm die Rolle ab, die er spielte. Er war ja auch kein böswilliger Mensch. Er, erzogen und aufgewachsen in einem erzkatholischen Haus, mit Hölle und Sündenpfuhl, hatte Vergebung gesucht für das, was er dem blutjungen Mädchen angetan hatte. Sie schwanger sitzenzulassen, war weiß Gott keine Heldentat.

Er war also in den Schoß der Kirche geflohen. Er fühlte sich nicht berufen. Er fühlte sich gezwungen. Und je weiter er in die Materie eintauchte, um so mehr entfernte er sich vom Glauben.

Allerdings war seine Position bequem. Er war versorgt, war nicht gezwungen, sich an einen Menschen zu binden, der versuchte, ihm lieb gewonnene Gewohnheiten abzutrainieren. Er war gesellschaftlich hoch geachtet durch die Integrität seines Amtes. Nein, wirklich. Es gab keinen Grund, den alten Menschen abzulegen und den neuen anzuziehen. Oder?

Die Begegnung mit Elenore sprach eine andere Sprache. Die Male, die er gegen die Regeln verstoßen hatte, mit schlechtem Gewissen, schwitzend angesichts der Angst vor Entdeckung, erfüllten nur eine biologische Notwendigkeit. Die Befriedigung eines Triebes. Etwas, was erledigt wurde, weil die Umstände günstig waren. Es entsprach … dem Verzehr einer Scheibe Schwarzbrot. Schwarzbrot war gesund, nahrhaft, sättigend, mit all seinen Ballaststoffen und Vitaminen. Dennoch aß man es leidenschaftslos. Weil man Hunger hatte eben.

Genuss war eine andere Sache. Genuss war … ein Stück Flockensahne aus dem Bräustüberl. Ein Käsekuchen in der Tasse beim Elisabeths Platzerl. Ein Datschi im Café der Klinik St. Bernhard. Dieser Kuchen erfüllte keinen physiologischen Sinn. Lauter Kalorien, die nicht sättigten. Aber sie waren köstlich. Sie erfreuten die Seele, sie machten Spaß. Die Wonne dieses Kuchens lag in ihrer heiteren, köstlichen Sinnlosigkeit.

Durch die Begegnung mit seiner alten Flamme begriff er, worauf er all die Jahre verzichtet hatte, auch wenn der Trieb im Laufe der Jahre in dem Maße abgenommen wie er körperlich zugenommen hatte. Aber er war immer noch ein Mann, und als solcher interessant. Und ganz offenbar hatte er einer Frau etwas zu bieten. Einer Frau? Der Frau. Elenore. Er hatte sie ›erkannt‹, im biblischen Sinne. Kinder, Kinder! Dieser Frau beizuwohnen, war … einfach unbeschreiblich! Sie war, mit ihren roten Haaren, ein loderndes Feuer, das in ihm aufstieg und ihn verzehrte. Die Erregung, die er spürte, raubte ihm den Atem. Das Verlangen nach ihr wurde unwiderstehlich.

Epheser 4? Ja, genau! Er wurde ein neuer Mensch. Es war ihm alles egal, bis auf das eine, das ihn zum Mann machte, und was er noch etwas lieber hatte als Kuchen. Er zückte sein Mobiltelefon.

»Hier Pfarrer Ettenhuber! Elli, bist du es? Ich denke, es ist Zeit, dir die Beichte abzunehmen!«

»Valerian, du Wüstling! Dir ist klar, dass ich das alles dem Generalvikar melden muss, oder?«

Er kicherte schelmisch.

»Der würde mich beneiden! Wann hast du Schluss?«

*

Quirin Bichlers Herz ging auf, als er seines ehemaligen Patienten ansichtig wurde. Ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Nichts mehr erinnerte an den blassen, dünnen, vom Krebs gezeichneten Jungen, dem er keine Überlebenschance eingeräumt hatte.

»Pirmin! Bist du es wirklich? Du bist ja kaum wiederzuerkennen!«

Er umarmte den Jungen und drückte ihn an sich.

»Danke, dass du wieder gesund geworden bist. Ich hätte mich sonst nach einem anderen Beruf umsehen müssen!«

»Wieso? Du machst doch deinen Beruf gut!«, stellte der Junge fest.

Quirin strubbelte ihm die Haare.

»Komm, wir machen mal einen Ultraschall, okay? Und ich nehme dir auch noch Blut ab!«

»Muss das sein? Das mit dem Blut, meine ich!«

»Unbedingt«, sagte Quirin streng.

»Na gut«, murrte Pirmin.

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Die Untersuchungen zeigten ein sehr gutes Ergebnis. ›Vollremission‹, schrieb Quirin in großen Lettern auf die Karteikarte, die zusätzlich zur elektronischen Datei im Computer geführt wurde.

»Was heißt das?«, wollte der Junge wissen.

»Das heißt, dass du gesund bist«, stellte Quirin freudig fest. »Aber trotzdem müssen wir die Untersuchung in drei Monaten wiederholen. Ich werde das deinem Betreuer noch schriftlich mitteilen.«

Der Junge druckste herum.

»Was ist denn, Pirmin?«

»Hast du Zeit?«

Dr. Bichler schaute auf seine Uhr.

»Ich habe seit zehn Minuten Feierabend, wenn du das wissen willst!«, lachte er.

»Gehen wir ein Eis essen?«

»Du meinst, dass ich dich zu einem Eis einladen soll?«

»Nein, ich hab etwas Geld! Du musst mich nur nach Irschenberg in das Burger-Restaurant bringen!«

»Willst du mich einladen?«

»Ja. Ich kann sogar bezahlen, wenn du dein Eis mit Schokoladensauce willst!«

Sie fuhren zum Irschenberg. Stolz bestellte der Junge zweimal Eis, für Quirin mit Schokolade.

Eigentlich mag ich gar keine Schokolade, dachte Quirin, aber er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als Pirmin zu verletzen.

»Wolltest du keine Schokolade?«, fragte er das Kind.

»Ich hatte nur Geld für einmal Schokolade«, gestand der Kleine. »Magst du dein Eis?«

»Es ist köstlich, danke!«, erwiderte Quirin. »Und es ist unglaublich lieb von dir, dass du mich eingeladen hast!«

»Weil du mich doch gesund gemacht hast. Deswegen«, erklärte Pirmin.

Quirin rang um Fassung. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Tief ein- und ausatmen.

»Heulst du?«