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Nachsitzen war noch nie so tödlich
Hallie, Angelo, Gustav und Naira sind zwar in derselben Klasse, können sich aber gegenseitig nicht ausstehen. Jetzt müssen sie auch noch gemeinsam nachsitzen - und das an einem Samstag! Schlimmer geht's nicht, oder? Falsch! Denn plötzlich scheint das Schulgebäude von einer bösen Macht besetzt, der Lehrer wird verschleppt – die Schüler stehen dem Grauen allein und hilflos gegenüber. Es sei denn, sie arbeiten zusammen ... Denn dass sie hier versammelt sind, ist kein Zufall, sondern dient einem ganz bestimmten Zweck: Rache!
Für Grusel-Fans ab 10 Jahren
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Seitenzahl: 260
Veröffentlichungsjahr: 2025
Aus dem Englischen von Ilka Schlüchtermann und Silvia Schröer
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Für die deutsche Ausgabe
© 2025 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 Farshore
Imprint von HarperCollinsPublishers
1 London Bridge Street, London SE1 9GF
Umschlaggestaltung: Guter Punkt
Unter Verwendung des Originalcovers von Tom Clohosy
ck · Herstellung: UK
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-33737-7V001
www.cbj-verlag.de
Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als in die Schule zu müssen – außer, an einem Samstag in die Schule zu müssen. Regen tropft von den hohen Bäumen, die wie uralte Wächter zu beiden Seiten des Weges bis zum verschlossenen Tor aufragen. Sie umschließen das Schulgelände bis zum Gruselwald, der direkt hinter der Schule beginnt. Ich frage mich, wie viele Wochenend-Nachsitzer diese alten Bäume schon gesehen haben. Wie viele schlecht gelaunte Kinder, die den Kiesweg hochtrotteten und sich nichts sehnlicher wünschten, als irgendwo anders zu sein. Ein eisiger Tropfen fällt von einem tief hängenden Eichenzweig direkt in meinen Nacken und läuft unter den Kragen meines Sweatshirts. Ich sehe, dass die anderen drei bereits vor dem Tor warten, und darum verziehe ich keine Miene. Als ich bei ihnen bin, senke ich den Kopf und meide den Blickkontakt.
»Ehrlich, lieber wäre ich jetzt tot als hier«, sagt Hallie. Ich muss nicht aufschauen, um zu wissen, dass es Hallie war, denn genau so einen Quatsch würde sie von sich geben.
»Ernsthaft?«, schnaubt jemand. Gus, der verrückte Gus, in dessen Leben andere Regeln gelten als für den Rest von uns. Ich habe keine Ahnung, wie diese Regeln aussehen – er ist so unberechenbar wie ein Hund auf einer Wiese voller herumspringender Eichhörnchen. Chaos auf zwei Beinen. »Den Samstag hier zu verbringen, ist echt grauenvoll, aber so schlimm wie der Tod …?«
»Natürlich nicht«, wirft das andere Mädchen ein – Naira. Unentspannt, Streberin, Perfektionistin – zumindest an der Oberfläche. Bei jeder möglichen Gelegenheit gibt sie uns zu verstehen, dass wir Nieten sind. »Damit das hier von vornherein klar ist: Niemand von euch spricht mich an, während wir unsere Strafe absitzen. Ich möchte mit niemandem von euch Losern etwas zu tun haben.«
Gus lacht.
»Wenn wir Loser sind, Naira«, sagt Hallie, »dann willkommen im Club.«
»Loser-Club!«, johlt Gus. Dann springt er hoch und hängt sich an einen Ast. Ein Regentropfenschauer ergießt sich über uns alle. Gus schwingt am Ast hin und her. Naira kreischt und Hallie flucht, und beide schlagen nach den Tropfen, als ob sie von Wespen gestochen würden.
Ich lasse das Wasser mein Gesicht herunterlaufen und genieße den Gedanken, dass diese Tropfen eine gewaltige und abenteuerliche Reise hinter sich haben: aus den Wolken am Himmel gefallen, durch den Baum gerieselt und schließlich auf meinem Gesicht gelandet. Ich schaue zu Gus hoch.
»Wir sollten uns einen Button basteln, Leute«, ruft er. »Ich nehme meine besten Stifte und male uns ein Logo. Wir brauchen ein Motto.« Die letzten Worte spricht er mit verstellter, gekünstelter Stimme.
»He, ein bisschen mehr Respekt vor dem Baum, du Idiot«, ruft Hallie. »Der ist ’ne Million Jahre alt. Wenn der Ast bricht, breche ich dir den Arm.« Hallie nutzt ihre unerschöpfliche Energie sowohl im Guten als auch im Bösen – anscheinend hat sie immer eine Menge Wut im Bauch und keinerlei Hemmungen, diese auch rauszulassen. Sie trägt jede Menge Buttons an ihrem Sweatshirt, die in der Schule nicht erlaubt sind, mit denen sie aber stolz zeigt, dass sie Vegetarierin ist, LGBTQ+ unterstützt und Flüchtlinge willkommen heißt.
»Ist doch nur ein dreckiger Holzklotz mit vertrockneten Blättern«, sagt Naira. Sie schaut hoch in den Baum und streicht sich die Haare hinters Ohr.
»Schon klar, dass wir keine Freunde sind, aber so über mich zu reden, das tut weh, Naira.« Gus lässt den Ast los, und ich muss unwillkürlich losprusten.
»Aha, er hört also zu«, sagt Hallie und stützt die Hände in die Hüften, als habe sie gerade ein Spiel gewonnen.
Gus reißt die Augen auf und fasst Hallie am Arm. »Moment mal, haben Bäume denn Ohren?«
»Sie meint das Opfer da vorne.« Naira deutet mit dem Kopf in meine Richtung. »Den Tischewerfer.«
»Schon gut, Tablettschleuder«, sage ich. »Du warst es doch, die mit dem Mist angefangen hat.« Sobald die Worte raus sind, bedauere ich sie auch schon. Genauso wie ich bedauere, dass ich schon nach knapp drei Monaten im siebten Schuljahr in eine Situation verwickelt bin, die der Rest der Schule jetzt als »Dreadwood-Revolte« bezeichnet. Revolte ist etwas übertrieben, aber Fakt ist, dass wir deswegen jetzt alle zum Nachsitzen hier sind, an einem Samstag. Aber egal, sollen die anderen doch denken, was sie wollen. Ich halt mich raus. Ich muss nur die nächsten vier Stunden irgendwie rumkriegen.
Ich höre jemanden vor sich hin pfeifen und drehe mich zum Tor. Der Hausmeister der Schule kommt langsam auf uns zu. An seinem Finger baumelt ein Schlüsselbund.
»Na endlich«, sagt Naira. »Bitte lassen Sie uns rein, damit wir es schnell hinter uns bringen.«
»Da hat’s aber jemand eilig.« Er lächelt, sucht den richtigen Schlüssel heraus und steckt ihn ins Schloss.
»Sie weiß schon, dass sie aus demselben Grund hier ist wie wir, oder?«, flüstert Gus Hallie so laut zu, dass alle es hören.
»Keine Ahnung«, sagt Hallie. »Bei Naira weiß man nie. Ich glaube nicht, dass irgendjemand sie wirklich kennt.«
»Heißt sie überhaupt Naira?«, flüstert Gus wieder, als wir über den knirschenden Kies die Auffahrt hochlaufen. Naira eilt voraus, Gus führt ein paar Meter hinter ihr Selbstgespräche, dann kommt Hallie, die ihren Blick nicht vom Handy lässt. Ich bilde das Schlusslicht, immer noch unentschlossen, ob ich nicht besser umdrehen und wegrennen sollte. Ein Käfer kriecht über meinen Arm. Wahrscheinlich ist er mit den Regentropfen vom Baum gefallen. Ich lasse ihn bis auf meinen Finger krabbeln und setze ihn dann vorsichtig auf den nächsten Eichenstamm. Während ich beobachte, wie er seine neue Umgebung erkundet, höre ich hinter mir das Tor scheppernd zufallen. Dann ein Klicken. Der Hausmeister hat uns eingeschlossen. Das war’s dann mit der Flucht.
»Ihr müsst euch im Sekretariat eintragen«, ruft er uns noch hinterher. »Mr Canton holt euch dort ab. Viel Glück.« Als er geht, pfeift er wieder – laut und deutlich. Es ist eine bekannte Melodie, die ich gerade nicht zuordnen kann, aber ich habe auch keine Lust, weiter darüber nachzudenken. Niemand von uns dreht sich um und bedankt sich bei ihm.
Dreadwood High ist ein seltsamer Ort – eine Mischung aus alt und neu, historisch und modern, so sieht es aus und so fühlt es sich an. Das Sekretariat und die Verwaltung sind im alten Herrenhaus untergebracht, ein prächtiges Gebäude, schön anzusehen, wäre es nicht eine Schule. Stell dir Pferdekutschen vor, Ladys mit Hauben und Gentlemen in hohen Stiefeln und Rüschenhemden, dann weißt du, wovon ich rede. Hinten raus gibt es einen Wintergarten und Ziergärten. Aber da dürfen nur die Oberstufe und Lehrer rein. Nichts reizt mich mehr, als verbotene Orte zu erkunden, darum habe ich mich auf das Dach des naturwissenschaftlichen Traktes geschlichen. Von dort hat man einen guten Blick in die Gärten. Ich sah kugelig gestutzte Büsche, einen Teich mit Springbrunnen und einen Haufen arroganter Zwölftklässler, die nicht bemerkten, dass ich über sie lachte. Aber jetzt interessieren mich die Gärten nicht mehr. In einem Film würde hier entweder eine Hochzeit oder ein Mord stattfinden. Sie hätten etwas Schönes aus diesem Ort machen können, aber der ehemalige Besitzer scheint wohl eine Art Wohltäter gewesen zu sein, denn das Gebäude wurde zu einer Schule für die Kinder aus der Gegend.
Als immer mehr Schülerinnen und Schüler dazukamen, hat man nach und nach weitere Nebengebäude errichtet, die aber nicht miteinander verbunden sind. Jedes hat seinen eigenen Stil. Als das Schulgelände noch ein Herrensitz war, hielt einer der reichen Eigentümer Tiere auf seinen Ländereien. Und diese Tiere wurden von der Schule übernommen. Natürlich nicht die ursprünglichen Tiere, die sind schon lange tot, aber die Schule beherbergt immer noch Schweine und Hühner – zum »Wohl« der Schülerinnen und Schüler. Das Schweinegehege ist mein absoluter Lieblingsplatz in der Schule.
Das Sekretariat befindet sich im Erdgeschoss des Hauptgebäudes – ein Betonblock, der von außen aussieht wie ein Gefängnis oder Krankenhaus. Alles ähnlich und gleich schrecklich. Als wir im Sekretariat ankommen, wartet Mr Canton schon auf uns. Er hatte uns – ohne weitere Erklärungen – angewiesen, in Sportkleidung und Turnschuhen für »Aktivitäten im Freien« zu kommen. Mr Canton trägt ein lächerlich sauberes und aufeinander abgestimmtes Sport-Outfit: Trainingsanzug, T-Shirt und halb abgewetzte Turnschuhe, die er für cool hält – was sie aber nicht sind. Er trägt eine Baseballkappe und hat ein Klemmbrett in der Hand.
»Guten Morgen, Mr Canton«. Naira lächelt. Sie spielt wieder die Miss Perfect. »Es tut mir so leid, dass Sie Ihren freien Samstagmorgen opfern müssen, um unser völlig gerechtfertigtes Nachsitzen zu beaufsichtigen und uns ›Zurück auf Kurs‹ zu bringen.«
»Guten Morgen, Leute! Toller Tag heute.« Bei diesen Worten federt sein ganzer Körper.
»Und was nun? Eine Spritztour mit Ihrer Jacht?«, fragt Gus und ahmt dabei Mr Cantons aufgekratzten Tonfall nach. »Oder vielleicht eine Runde Lacrosse?«
Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht loszuprusten. Ich bin allerdings nicht hier, um mich bei irgendjemandem einzuschleimen – auch wenn ich Gus ziemlich witzig finde. Für mich ist Schule ein Ort, an dem ich mich so wenig wie möglich aufhalte. Sinnlose Zeitverschwendung. Stattdessen könnte ich Geld verdienen und meine Familie unterstützen. Aber niemand hier in Dreadwood High versteht das. Ich habe versucht, Freunde zu finden, aber jedes Mal endete es in einer Katastrophe. Also werde ich keine Zeit mehr damit verschwenden, mich mit jemandem aus dieser Truppe anzufreunden.
»LOL!« Mr Canton lächelt und wir alle verziehen das Gesicht. Selbst Nairas aufgesetztes Lächeln zeigt Risse. »Am Ende dieser Veranstaltung heute seid ihr alle ganz sicher wieder auf Kurs und zu großen Taten fähig.« Er hebt seine Hand und schirmt damit die Augen ab, als schaue er in weite Ferne.
»Oder wir überlegen, ob wir über Bord springen«, meint Hallie.
»Ach, Hallie, komm schon, wo ist deine positive Einstellung? Ich weiß, dass sie irgendwo tief in deinem Innern verborgen ist.« Er hakt unsere Namen auf seiner Liste ab.
»Und was hat es mit dieser mittelalterlichen Anwesenheitsliste auf sich?«, bemerkt Gus. »Schicken Sie uns jetzt zum Schornsteinkehren? Machen wir Rollenspiele? Ah, soll ich mich umziehen?«
»Exzellente Fragen, Mister Gustav.« Mr Canton schmunzelt. »Aber so gerne ich euch auch zu einer Gang verruchter Taschendiebe ausbilden würde … Ich befürchte, das steht heute nicht auf der Tagesordnung. Wir haben mit einigen technischen Problemen zu kämpfen, ergo kehren wir zu Stift und Papier zurück.«
Hat er gerade ergo gesagt?
»Ergo?«, fragt Hallie und stöhnt.
»Ich persönlich bin sehr dankbar dafür, die Chance zu bekommen, meinen Blick und meine Werte neu auszurichten, Sir«, sagt Naira.
»Ja! Das ist genau die richtige Einstellung!« Er grinst. »Und was ist mir dir, Angelo?« Er wendet sich mir zu. »Bist du bereit, das Ruder herumzureißen? Hashtag Kurskorrektur.«
Mr Canton ist ja eigentlich ganz in Ordnung, aber er braucht eindeutig Hilfe.
»Sir,« sage ich. »Niemand benutzt mehr Hashtags!«
»Ach nein? Ich dachte, das sei der Burner in den sozialen Medien.«
»Nein, Mr C.«, sagt Hallie. »Einfach nein.«
»Also gut«, sagt er. »Dann wollen wir mal!« Und er marschiert aus dem Verwaltungsgebäude heraus, als ob dies der beste Tag seines Lebens sei. Wir folgen ihm am Hauptgebäude vorbei und rüber zu den Tennisplätzen. Eine blasse Sonne blitzt zwischen den vorbeihuschenden Wolken hindurch und schickt schwache Sonnenstrahlen über die weite graue Ebene. Mr Canton öffnet den Sportschrank – im Grunde genommen ein Bretterverschlag neben den Tennisplätzen – und nimmt einige schwarze Säcke und Müllzangen heraus.
»Eure Taschen hier in den Schrank, bitte«, sagt er mit übertriebener Geste. »Da sind sie sicher. Plus …«, er zieht eine Bauchtasche, die farblich zu seinem Trainingsanzug passt, nach vorne und öffnet den Reißverschluss, »… Handys hier rein.«
Wir stöhnen laut.
»Mr C., mein Handy möchte nicht in Ihrer Bauchtasche sein.« Hallie wirft einen angewiderten Blick darauf. »Ehrlich, lieber würde ich es verbrennen.«
»Hier ist es sicher«, grinst er. »Ich verspreche, es mit Leib und Seele zu verteidigen.«
»Ich habe kein Handy dabei«, sagt Gus. »Bin gerade offline.«
»Her damit, Gus«, sagt Mr Canton. »Und denkt dran, die Handys auszuschalten. Ich möchte nicht, dass es in meiner Bauchtasche ständig vibriert.«
Mit einem tiefen Seufzer gibt Naira ihm ihr Handy. Gus holt seines aus der Hosentasche und schaltet es aus. Ich weiß, es hat keinen Sinn zu diskutieren, und so gebe ich meines auch ab. Hallie hält ihr Handy noch fest in der Hand und sieht aus, als wäre ihr schlecht.
»Hallie«, sagt Mr Canton, »her damit.«
»Das ist eine Verletzung der Menschenrechte.«
»Es ist nur ein Handy.«
»Es ist wie eine Bestrafung im finsteren Mittelalter – ich bin mir sicher, es gibt ein Gesetz, das es verbietet, Menschen am Wochenende ihr Handy wegzunehmen.«
»Falls du es vergessen haben solltest, Hallie, es gibt einen Grund, warum ihr heute hier seid. Es geht darum, euch zurück auf Kurs zu bringen. Betrachtet es als Hilfe, nicht als Bestrafung. Lasst uns die Chance nutzen, um uns an unsere alten Schulwerte zu erinnern. K-U-R-S: Wofür steht das?«
Alle schauen ihn an und verdrehen die Augen.
»Angelo.« Er sieht zu mir. »Fangen wir mit dir an. Das K in KURS, für welchen Wert steht es?«
»Kooperation«, sage ich.
»Jetzt du, Gustav, für dich habe ich das U, bitte schön.«
Gustav öffnet seinen Mund und will etwas sagen.
»Aber lass uns keine Zeit verlieren mit all deinen negativen U-Wörtern: unnütz, uncool, unterirdisch. Die kenne ich alle schon.«
»Wenn das die negativen Wörter mit U sind, die Sie gehört haben, Sir, dann könnte ich Ihnen ein paar neue beibringen, die sie umhauen würden.« Gus grinst.
»Bitte nur Werte, Gus«, sagt Mr Canton.
Gus seufzt. »Umsicht.«
»Jetzt Hallie, was heißt das R bitte?«
Hallie lächelt. »Regelkonform?«
Mr Canton lächelt zurück. »Oh, ich bin beeindruckt von deinem Wortschatz, Hallie, aber leider ist das nicht das Wort, das ich suche. Hier ein Tipp: Das Wort ist für dich ganz besonders relevant.«
»Darf ich raten?« Gus streckt seine Hand hoch. »Da fallen mir ein Haufen Wörter ein.«
Hallie schaut Gus empört an und seufzt wieder. »R steht für Respekt.«
»Bravo, ich wusste, dass es da drinnen war«, sagt Mr Canton. »Was für dich zum Nachdenken, Hallie, während dein Handy hier in meiner Bauchtasche gut aufgehoben ist.«
Er streckt ihr seine offene Hand entgegen. Hallie schnaubt und flucht, gibt ihm aber schließlich ihr Handy.
»S steht für Sozialkompetenz«, sagt Naira schnell.
»Mega Einsatz, Naira«, sagt Mr C. »Schön, dich wie immer so eifrig zu sehen. Aber was ich mir vor allem von dir wünsche, ist, dass du richtig über das Wort nachdenkst, über seine Bedeutung und wie du diese verwirklichst.«
Ich kenne Naira schon seit der Grundschule. Sie ist immer Klassenbeste und strengt sich mehr an als alle anderen. Ich habe noch nie gesehen, dass sie Ärger bekommen hätte. Erst jetzt, zum ersten Mal. Aber obwohl sie sonst so perfekt ist, scheint sie nicht glücklich zu sein. Es ist lange her, dass ich ein echtes Lächeln in ihrem Gesicht gesehen habe.
»Ich bin sozial«, sagt sie. Aber genauso hätte sie auch sagen können: »Ich bin lila« oder »Ich bin Batman«, und das wäre genauso wahr gewesen. Alle verziehen das Gesicht. »Was denn? Bin ich! Ich organisiere Spendenveranstaltungen, ich helfe mit beim Seniorenfrühstück, ich habe diese verdammte Schweige-Veranstaltung für verwaiste Elefanten organisiert. Warum sollte ich so etwas tun, wenn nicht, weil ich sozial bin?«
»Damit du zur Klassensprecherin gewählt wirst«, sagt Hallie.
»Damit du es in deine Bewerbung für die Universität schreiben kannst«, ist meine Antwort.
»Weil du den Haargeruch der alten Leute magst«, sagt Gus. »Jedes Mal, wenn du dich beim Nachschenken über sie beugst, inhalierst du diese fossile Herzensgüte.«
»Wir sind heute nicht hier, um jemanden zu verurteilen, Leute«, sagt Mr C. mit einem Blick auf uns. »Aber ich möchte gerne, dass du über den Begriff ›Motivation‹ nachdenkst, Naira. Wenn du etwas für andere tust, weil es dir selbst etwas bringt, verhältst du dich dann wirklich sozial?«
Naira will etwas sagen, scheint aber nicht die richtigen Worte zu finden. Und so unwahrscheinlich es auch klingt, ich schwöre, sie sieht verletzt aus.
»Noch mal zu meinem Handy«, beginnt Hallie und wir alle stöhnen auf. »Was, wenn es einen Notfall gibt?«
»Wir sind jetzt ein paar Stunden in der Schule, damit ihr lernt zusammenzuarbeiten: Hashtag Kurskorrektur. Wir werden Müll aufsammeln, die Schultiere versorgen und hoffentlich eine Menge Fun haben.«
Wir stöhnen wieder.
»… und nichts auch nur annähernd Schlimmes wird passieren.«
Dann hören wir dieses Geräusch: ein verzweifelter Schrei, der die Stille des leeren Geländes zerreißt und die Luft um uns herum füllt. Ein Geräusch, wie ich es noch nie zuvor gehört habe und das ich nie wieder vergessen werde. Voller Furcht und Schmerz. Und es kommt hier vom Gelände.
Ihr bleibt hier«, sagt Mr Canton und legt die Sachen zum Müllsammeln auf den Boden. »Und das meine ich ernst – niemand rührt sich vom Fleck.« Er läuft über die Tennisplätze zur Wiese.
Wir schauen uns kurz an. Wortlos drehen wir uns alle gleichzeitig um und rennen ihm hinterher. Der Schrei war gruselig, doch im Augenblick bin ich eher neugierig als ängstlich.
»Was zur Hölle war das?«, fragt Hallie. Ihre Wangen sind rot von der Kälte.
»Das Schulgespenst«, sagt Gus. »Jeder hier weiß, dass es in Dreadwood High spukt. Es gibt haufenweise Geschichten von Menschen, die seltsame Geräusche in den Wänden hören und gruselige Lichter nachts in den Fenstern sehen, obwohl niemand da ist.«
»Das Gespenst – das es, nebenbei gesagt, gar nicht gibt – soll aber im Haus spuken und nicht auf dem Schulgelände«, wirft Naira ein.
»Vielleicht geht es samstags gerne eine Runde laufen.« Gus geht langsam die Puste aus. »Nur weil man tot ist, heißt das ja nicht, dass man sich nicht fit halten sollte.«
»Ich bin mir zu 80 Prozent sicher, dass es ein Tier war«, sage ich, während meine Augen die Wiese absuchen. »Bestimmt eins von den Schweinen.«
»Hab ich noch nie gehört, dass ein Tier so ein Geräusch macht«, schnaubt Hallie.
»Mann, Angelo, Schweine grunzen, die schreien doch nicht. Das haben wir schon im Kindergarten gelernt«, sagt Gus.
Naira fliegt über die Wiese wie ein Profi, sie atmet noch nicht einmal schwer. »Angelo war bestimmt Autos klauen, während wir im Kindergarten saßen.«
Ich beachte sie nicht und versuche auch den Stich nicht zu beachten, den ihre Bemerkung mir gegeben hat. Naira kennt mich besser als jeder andere hier, und obwohl ich verstehen kann, warum die meisten Schüler an der Dreadwood High mir alles Mögliche unterstellen, fühlt sich dieser Satz aus ihrem Mund brutal an.
Mr Canton hat vor dem Schweinestall angehalten und bückt sich nach etwas.
»Was ist das, Sir?«, erkundigt sich Hallie.
»Ich habe gesagt, ihr sollt euch nicht vom Fleck rühren.« Mr Canton dreht sich zu uns um und runzelt die Stirn.
Wir beachten ihn nicht und versammeln uns um ihn, weil wir sehen wollen, was er im Gras gefunden hat. An einem Büschel Löwenzahn klebt etwas. Es ist weiß, aber fast durchsichtig, hauchdünn, und weht im Wind wie ein Fetzen tote Haut.
»Nicht anfassen«, sagt Mr Canton und stochert mit einem Stock daran herum.
Das Gras an der Stelle ist platt getreten, ansonsten aber unversehrt. Was immer dieses weiße Zeug ist, gefährlich ist es wohl eher nicht. Ich strecke meine Hand aus, tippe es leicht an und rechne damit, dass es reißt. Tut es aber nicht.
»Angelo, nicht anfassen, habe ich gesagt«, seufzt Mr Canton.
»Was ist es, Angelo?«, fragt Gus. »Sieht aus wie getrockneter Klebstoff.«
»Es ist klebrig«, sage ich und reibe es zwischen meinen Fingern, »und fest.«
»Überreste von Gespenstern.« Gus nickt.
»Aber wer hat das Geräusch gemacht?«, fragt Hallie. »Sicher nicht dieses weiße Ekelzeug.«
Ich schaue mir das platt getretene Gras genauer an. Da sind Schleifspuren in der Erde, so als ob jemand etwas Schweres durchs Gras gezogen hätte. »Wo sind die Schweine?«
»Oh, mein Gott, die Schweine«, keucht Hallie.
»Stimmt.« Mr Canton richtet sich auf und schaut uns an. »So habe ich mir unseren Vormittag zwar nicht gerade vorgestellt, aber lasst uns jetzt das Beste draus machen und die Gelegenheit nutzen, um an unseren Werten zu arbeiten. Ich möchte exzellente Kooperation und umsichtiges Handeln sehen, wenn wir jetzt nach den Schweinen schauen … wobei es ihnen bestimmt gut geht und sie gerade die Sau rauslassen.« Er lacht und schaut in die Runde, in der Erwartung, dass auch wir lachen. Aber wir starren ihn nur an. »Also dann los«, sagt er.
Wir gehen über den Hof zum Steinhaus, in dem unsere Schweine untergebracht sind. Wir haben fünf: Gloucestershire Old Spots, rosa mit schwarzen Flecken und nach vorne klappenden Ohren. Normalerweise schnüffeln sie zu dieser Tageszeit im Hof herum, aber als wir näher kommen, sind sie nicht zu sehen. Das Stallgebäude hat eine L-Form, mit zwei Schweinegehegen und einem Lagerbereich für Tierbedarf und Gartengeräte: Stroh, Eimer, all so was. Der Aufsitzrasenmäher des Hausmeisters parkt wie gewöhnlich draußen. Er sieht aus wie ein Minitraktor Schrägstrich Quad mit Schneidklingen. Ich habe mir geschworen, eines Tages damit über den Platz zu donnern. Unsere Lehrer sagen immer, es sei gut, ehrgeizige Ziele zu haben.
»Ich schaue drinnen nach ihnen«, sagt Mr Canton. »Ihr bleibt auf jeden Fall hinter mir.«
Hallie, Gus und ich rennen los, um als Erste am Eingangstor zu sein. Ich weiß nicht, was wir dort erwarten. Einen Moment lang müssen sich meine Augen an die Dämmerung gewöhnen, dann sehe ich die Schweine dicht zusammengedrängt in einer Ecke.
»Ach, die sind wie immer«, sagt Gus. »Was für eine Enttäuschung.«
»Die sind nicht wie immer«, widerspreche ich. »Die sind doch total aufgekratzt. Guck mal, wie nervös sie herumspringen.« Ich mag die Schweine und verbringe in den Pausen viel Zeit mit ihnen.
»Und es sind nur vier.« Hallie zeigt auf die Schweine: »Eins fehlt.«
»Bist du sicher?« Mr Canton steht nun keuchend hinter uns.
»Ich bin vielleicht nicht unter den Top-Matheschülerinnen, aber ich kann schon noch bis fünf zählen«, sagt Hallie.
In Dreadwood leben zwei erwachsene Schweine, fett und freundlich, und drei Ferkel, die – auch wenn ich das niemals laut sagen würde – supersüß sind.
»Romy fehlt«, sage ich.
»Du weißt, wie sie heißen?« Naira steht hinter mir, sodass ich ihr Gesicht nicht sehen kann, aber sie scheint ehrlich überrascht zu sein und kein bisschen bissig.
»Ja. Ihre Namen stehen für die Schulwerte: Klara und Klaus sind die Großen, Udo, Romy und Sophie die Ferkel.«
»Aber wie kannst du sie auseinanderhalten? Die sehen doch alle gleich aus.«
»Willst du sie beleidigen, Naira?«, schnaubt Hallie. »Jedes Schwein ist einzigartig – genau wie Menschen. Romy hat zum Beispiel einen schwarzen Fleck in Herzform auf ihrem Bauch.«
»Und sie quiekt, wenn man sie hinter den Ohren krault«, füge ich hinzu.
»Genau, und Schweine haben auch Gefühle«, schnaubt Gus. »Ich dachte, du bist sozial, Naira.«
»He, Leute, konzentriert euch«, sagt Mr Canton. »Wir arbeiten in Teams. Angelo und Hallie, ihr seid vertraut mit den Schweinen, deswegen möchte ich, dass ihr sie füttert und beruhigt. Naira und Gus, ihr sucht die Wiese nach Romy ab. Ich selbst werde Mr Latchitt aufsuchen und ihn informieren, dass eins von den Schweinen fehlt.«
»Meinen Sie Mr Latchitt, den berühmten Privatdetektiv?«, erkundigt sich Gus. »Heuern wir den an? Sollen wir dafür zusammenschmeißen? Ich habe noch 23 Pence, die wäre ich bereit – nein, ich wäre glücklich, sie beizusteuern.«
»Mr Latchitt ist der Hausmeister. Ihr seht ihn jeden Tag. Er hat euch heute Morgen reingelassen.«
»Ah, der pfeifende Typ«, sagt Hallie.
»Leute«, sagt Mr Canton, »ihr seid echt nicht von dieser Welt. Also gut, wir haben alle eine Aufgabe zu erledigen – auf geht’s.«
Mr Canton, Naira und Gus traben los und lassen Hallie und mich, die Schweine und eine seltsame Stille zurück. Es überrascht mich, dass Hallie direkt rüber zu den Schweinen geht, sich hinhockt und ihnen den Kopf streichelt.
»Was ist passiert, meine Lieben?«, fragt sie. »Geht es euch gut?«
Klara und Klaus haben sich schützend vor Udo und Sophie aufgebaut, die herumquieken und wacklig auf ihren Beinen stehen. Sie haben alle die klassische rosa Schweinchenfarbe, doch ihre schwarzen Flecken zeigen unterschiedliche Muster. So kann man sie leicht unterscheiden. Klaus und Klara sind ganz schön groß, aber sehr lieb – außer sie haben das Gefühl, ihre Ferkel werden bedroht. Die Kleinen sind noch jung, süß und verspielt, aber auch schon alt genug, um eine eigene Persönlichkeit entwickelt zu haben. Romy ist die Selbstbewussteste von allen, den anderen immer ein paar Schritte voraus. Udo scheint die ganze Zeit zu lächeln und wackelt beim Spielen im Gehege immer mit seinem Hinterteil. Sophie ist mein Liebling – wenn sie dir in die Augen blickt, hast du das Gefühl, sie blickt in deine Seele. Als ob sie einfach alles verstünde.
»Wir sollten sie durchchecken«, schlage ich vor, »um sicherzugehen, dass sie nicht verletzt sind.«
»Gute Idee«, meint Hallie. »Soll ich sie beruhigen, während du sie dir anschaust?«
Ich nicke, hocke mich neben sie und bin bereit, mich sofort zurückzuziehen, falls Klaus und Klara dagegen protestieren, dass wir ihre Babys anfassen. Doch sie sind einverstanden und lassen es zu, dass ich ihre Körper nach Verletzungen absuche, während Hallie mit ihnen spricht und ihre Rücken rubbelt. Ihre Haut ist mit hellen, weichen Haaren bedeckt, die ich bei meiner Untersuchung glatt streiche. Sophie bekommt eine extra Streicheleinheit von mir, damit sie sich beruhigt. Ich sehe ihr in die Augen und nicke. »Alles in Ordnung mit dir«, sage ich.
Und zu Hallie: »Ich kann keinerlei Verletzung finden. Ich glaube, sie sind einfach nur erschrocken.«
»Wenn ich mein Handy hier hätte, dann könnte ich ihnen etwas Musik vorspielen«, sagt Hallie und steckt ihre Hand in die Tasche für den Fall, dass das Telefon wie von Zauberhand seinen Weg dorthin gefunden hat. »Sie lieben doch Musik.«
»Ihr kennt euch gut«, sage ich, weil klar zu sehen ist, dass Hallie schon häufiger Zeit mit den Tieren verbracht hat.
»Ich bin in der Tierschutz-AG«, erklärt sie. »Und ich bin gerne bei den Schultieren, vor allem bei diesen Süßen hier – ich liebe sie sehr, sie sind so beruhigend. Aber dich sehe ich hier nach der Schule nie.«
»Ich komme zu anderen Zeiten her. Pausen, Sport, Englisch, Mathe …«
Hallie lacht. »Du solltest in die Tierschutz-AG kommen – das wär was für dich.«
»Ich muss aber nach der Schule immer sofort nach Hause«, erkläre ich. »Viel zu tun.«
»Was denn?«, fragt sie und sieht mich an.
Ich zögere. Ich erzähle anderen nicht gerne von zu Hause. Aber ich weiß auch, dass Hallie wie eine Anakonda ist, die sich um ihre Beute wickelt – sie wird so lange zudrücken, bis ich aufgebe. »Meine Eltern arbeiten beide sehr viel. Ich passe auf meinen Bruder auf und erledige ein paar Jobs in der Gegend für ein bisschen extra Geld.«
»Ah, das wusste ich nicht«, sagt sie.
Ich zucke mit den Schultern. »Wir sollten uns jetzt um die Schweine kümmern. Möchtest du füttern oder ausmisten?«
»Wer würde denn lieber Schweinescheiße schaufeln, als Futter in den Trog zu schütten«, sagt Hallie und steht auf.
Auch ich stehe auf. »Mir macht das tatsächlich nichts aus. Ich finde den Geruch beruhigend.«
»Auch den Riesenhaufen Scheiße von Klaus?«
»Ja, den auch«, sage ich mit einem Lächeln.
Wir holen uns die Sachen, die wir brauchen, aus dem Lagerschuppen. Ich wundere mich darüber, dass ich Hallie gar nicht so übel finde. Ob sie wohl dasselbe über mich denkt? Dann versinke ich tief in der Arbeit: höre nur noch das Kratzen der Schaufel auf dem Steinboden und rieche das frische Stroh – bis Naira und Gus hereinstürmen und die Schweine, die wir endlich beruhigt hatten, wieder aufscheuchen.
»War Mr Canton hier?«, ruft Naira. Sie sieht so gestresst aus, wie ich sie noch nie gesehen habe, außer Anfang der Woche im Speisesaal.
»Nee«, sage ich. »Habt ihr Romy gefunden?«
»Nein, wir haben nicht nur Romy nicht gefunden«, keucht Gus, »wir haben auch noch Mr C. verloren.«
Hallie schaut von den Ferkeln hoch. »Wie kann man denn Mr C. verlieren? Der ist doch immer da, ob man will oder nicht. Wie der Wecker am Montagmorgen oder das Kaugummi unterm Tisch.«
»Er hat gesagt, er trifft uns im neuen Schulhof, aber er ist nicht gekommen«, sagt Naira. »Wir haben eine halbe Stunde gewartet und uns den Hintern abgefroren, und dann sind wir los, ihn suchen.«
»Ich dachte, er müsse vielleicht heimlich ein größeres Geschäft erledigen, also sind wir zum Lehrerzimmer im Herrenhaus gelaufen, denn da würde ich hingehen, wenn ich ein größeres Geschäft zu erledigen hätte …«
»Aber wir haben nur Spuren von einem Tumult gefunden, und das hier …« Naira hält uns Mr C.s Kappe hin.
»Die hat er sicher abgesetzt und einfach vergessen«, sagt Hallie.
»Nee.« Gus schüttelt den Kopf. »Die lag auf dem Boden neben einem umgestürzten Tisch und einem Haufen anderem Zeug. Wenn Angelo nicht wieder ausgeflippt ist und den Großen Tischwurf vom 20. November im Speisesaal nachgespielt hat, dann hat jemand anderes die Sachen umgeworfen und Mr C. etwas angetan.«
»Okay, Leute, wir vermissen also ein Schwein und einen Lehrer«, schnauft Naira, »und das kann ja kein Zufall sein.«
»Wir sollten sie suchen, oder?«, sagt Hallie.
»Hört sich nach einer Aufgabe für den Loser-Club an!«, ruft Gus. »Haben wir noch Zeit, um ein paar Kostüme herzuzaubern?«
»Keine Kostüme«, sagt Naira. »Kein Herumalbern und keine Alleingänge. Wir suchen alle zusammen.«
Hallie steht auf und klopft ihre staubigen Hände ab. »Wo fangen wir an?«
Ich stelle mich neben Hallie. »Mr Canton hat gesagt, er will den Hausmeister holen – Mr Latchitt.« Den pfeifenden Mann. »Bei dem sollten wir anfangen.«
Der Hausmeister und seine Frau wohnen in einem Häuschen neben der Schule. Das Grundstück ist umzäunt und grenzt hinten an die Bahngleise. Mrs Latchitt ist eine winzige Frau, die jedes Mal, wenn ich sie sehe, kleiner und zerbrechlicher wirkt – sie sieht aus wie ein verkümmertes Vogelbaby, das den Winter nicht überleben wird. Ich habe keine Ahnung, was ihr Job in der Schule ist, aber manchmal sehe ich sie in der Schulküche. Ehrlich gesagt sieht sie viel zu zerbrechlich aus, um richtig zu arbeiten.
Mr Latchitt ist ein kräftiger Mann, dem ich aber noch nie größere Beachtung geschenkt habe. Er ist eher unscheinbar – meistens bemerkt man gar nicht, dass er da ist. Er wischt verschüttetes Zeug auf, schleppt Kisten herum oder arbeitet bei den Schweinen oder bei irgendwelchen anderen Tieren in der Tierecke des naturwissenschaftlichen Trakts. Wenn ich versuche, ihn mir vorzustellen, kann ich mich überhaupt nicht an sein Gesicht erinnern. Er ist in meinem Kopf als Hintergrund-Gestalt gespeichert, die ein Mischmasch dunkler Farben trägt. Und ständig pfeift.