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Fantasie ist eine Stärke. Sie zu bewahren eine tückische Herausforderung … Das Gleichgewicht im Traumreich gerät gefährlich ins Wanken: Die Albschatten sind allgegenwärtig! Den dunklen Mächten gelingt es, Kikis Fantasie zu blockieren. Doch ohne ihre Vorstellungskraft ist Kiki verloren. Lilian und sie stehen vor ihrem wohl größten Abenteuer: Sie müssen sich in das Land der Schatten begeben. Mit ihren Traumlotsen und einem geheimnisvollen Talisman wagen sich die Freundinnen in ein verhängnisvolles Labyrinth, das Albträume Wirklichkeit werden lässt … Band 3 der magischen Abenteuerreihe des Autors von White Fox Ein fesselndes und geheimnisvolles Fantasy-Abenteuer für Kinder ab 9 Jahren aus der Feder des chinesischen Bestseller-Autors Chen Jiatong. Für alle Fans von White Fox! - Spannung und Action: Entdecke eine verborgene Traumwelt! Coolness, Natur und die Macht der Träume sorgen für mitreißenden Lese-Spaß. - Hochwertige Tier-Fantasy: Das Lieblingstier Katze als magischer Begleiter. Folge dem schwarzen Kater und der weißen Katze in ein verborgenes Reich. - Moderne Parabel: Erkunde die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, Wunsch und Gefahr. Mit beeindruckenden Schwarz-Weiß-Illustrationen von Marie Beschorner. - Leseförderung durch Antolin: Der Titel ist bei Antolin gelistet.
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ausflug
Drei Träume
Die wertvollste Erinnerung
Doppelgänger
Ein geheimer Auftrag
Das Schattenreich
Flucht
Kiki
Traumkünstlerin
Kraft: Wasser
Hat einen schwarzen Kater als Traumlotsen
Lilian
Traumkünstlerin
Kraft: Pflanzen
Ihr Traumlotse ist eine weiße Katze
Der Traumälteste
Regiert über das Reich der Träume
Durch seine Haare ist er mit den Traumräumen der Menschen verbunden
Marlon
Traumkünstler
Hat einen magischen Pinsel
Sissy
Traumkünstlerin
Marlons Partnerin, eine besenreitende Hexe
Herr Yama
Kikis strenger Mathematik- und Klassenlehrer
Selina
Adoptivtochter des Schattenkaisers
Mächtig und rücksichtslos
Ruben
Kikis Mitschüler
Ein schmächtiger Junge, steckt seine Nase am liebsten in Schulbücher
Elias
Schüler aus einem höheren Jahrgang
Gut aussehend, fröhlich und sehr beliebt
Ein frecher Sonnenstrahl stahl sich durch das Fenster eines schummrigen Schlafzimmers und ließ sich auf einem wackeligen Stapel Kinderbücher in der Ecke nieder. Dieses Zimmer war so klein, dass es schon mit den wenigen notwendigen Dingen sehr vollgestopft wirkte. Es war ein feuchter Wintertag. Kein Wunder also, dass sich an einer Seite der Decke ein paar Schimmelflecken gebildet hatten, die leicht muffig rochen. Auf dem Schreibtisch lagen Schulhefte für die Winterferien verstreut und daneben stand ein Wecker, der leise vor sich hin tickte. Aus dem halb offenen Kleiderschrank hingen ein paar Kleidungsstücke heraus, die nicht besonders ordentlich gefaltet waren. Dieses Schlafzimmer gehörte der dreizehnjährigen Kiki.
Kiki war eine Schülerin der sechsten Klasse der Gengu-Mittelschule in Meliaka. Außerdem war sie chaotisch, sehr verträumt und Expertin darin, Löcher in die Luft zu starren.
Ein halbes Jahr war es nun her, dass ein schwarzer Kater in ihr Leben getreten war. Von diesem Kater hatte sie die geheimnisvollste Kunst der Welt erlernt: die Traumkunst.
Seitdem hatte sich ihr Leben von Grund auf verändert. Sie, die bisher noch nie Freunde gehabt hatte, war jetzt mit Lilian befreundet. Lilian war aus einer anderen Stadt an Kikis Schule gewechselt, doch sie hatte auch ein Geheimnis, das sie nur mit Kiki teilte: Auch sie war eine Traumkünstlerin. Gemeinsam hatten die beiden das Bündnis der Zwillingssterne gegründet, um schöne Träume für die Menschen zu schaffen und Albträume zu vernichten.
In diesem Moment saß Kiki – blass, dünn, mit einem runden Gesicht, klugen Augen, einer Pilzkopffrisur und vielen Sommersprossen auf den Wangen – mit dem Kopf gegen die Wand gelehnt auf ihrem Bett. Um sie herum lagen bunte Wachsmalstifte verstreut. Eingerollt auf ihrem Schoß lag der schwarze Kater Bobbi, ihr Traumlotse, und döste friedlich schnarchend vor sich hin. Bobbi hatte nicht nur einen weißen Fleck in Form einer Fächermuschel auf der Stirn, er hatte auch die Fähigkeit, die Wünsche der Menschen in ihren Träumen zu wittern. Auf diese Weise führte er Kiki nachts durch die Traumwelt und half ihr dabei, Träume zu gestalten.
Kiki setzte sich auf und nahm einen Wachsmalstift in die Hand. Sie hielt den Stift an eine ihrer Zeichnungen: Es war ein Mädchen in einem Kleid, das sie gerade hellrosa ausmalte. Kiki war so konzentriert bei der Sache, dass sie sich dabei unbewusst mit der Zunge über die Lippen fuhr. Sie hatte dem Mädchen große Augen und hübsche Locken verpasst, in denen eine Schmetterlingsspange steckte. Daneben stand ein fröhlicher Junge in einem Basketball-Outfit und mit einem Basketball in den Händen. Diese beiden Zeichnungen stellten Kikis beste Freunde dar – Lilian und Elias. Als Hintergrund hatte Kiki bereits einen Sternenhimmel und das Meer gezeichnet sowie zwei ihrer Lieblingsfiguren, den Polarfuchs Dilah und den Affenkönig Sun Wukong.
Doch all das konnte an einer Tatsache nichts ändern: Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Kiki ihre eigenen Winterferien als stinklangweilig. Früher hatte sie ihre freie Zeit problemlos zu Hause verbracht, in die Luft gestarrt, vor sich hin gebrütet und hin und wieder in ihren Lieblingsbüchern geblättert. Aber in diesen Ferien war alles anders. Sie dachte oft an ihre Freunde und rechnete sich aus, wann sie die beiden wiedersehen würde. Ihr erging es wie einem Feinschmecker, der von einer köstlichen Speise probiert hat und diesen wunderbaren Geschmack nicht wieder vergessen kann.
In der Ecke ihres Betts lag eine hübsche Postkarte aus einem weit entfernten Land. Kikis zehn Finger reichten nicht aus, um zu zählen, wie oft sie diese Karte schon gelesen hatte. Auf der Vorderseite war das Bild einer malerischen Meereslandschaft zu sehen – blauer Himmel, strahlende Sonne und ein Sandstrand, Wellen und hohe Kokospalmen. Auf der Rückseite stand in Lilians geschwungener Schrift:
Liebe Kiki,
frohes neues Jahr! Ich vermisse dich sehr. Ich weiß gar nicht, ob es bereits Neujahr ist, wenn diese Postkarte bei dir ankommt. Aber ich hoffe ganz fest, dass du zu Hause einen angenehmen Jahreswechsel verbringst. Mir geht es hier gut. Meine Eltern haben sonst nie Zeit, mit mir Urlaub zu machen. Ich glaube, es tut uns ganz gut, jetzt endlich einmal richtig zu entspannen. Wie geht es mit deinen Hausaufgaben voran? Ich kann mich hier gar nicht richtig darauf konzentrieren. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr dafür, hoffentlich werde ich bald damit fertig.
Ich freue mich schon darauf, dich wiederzusehen! Dann unternehmen wir etwas. Übrigens habe ich auch schon Geschenke für dich und Elias!
Lilian
Lilian machte mit ihrer Familie den ganzen Winter über Urlaub auf einer Insel im Süden. Und Elias war zu seiner Familie nach Riverton gefahren. Nur Kiki war zu Hause geblieben … Zum Glück hatte sie noch Bobbi, der ihr Gesellschaft leistete. Mit ihm fühlte sie sich weniger einsam.
Seit Kiki mit Lilian gegen Selina gekämpft und sie damit die Pläne des Schattenkaisers durchkreuzt hatten, ging es im Traumreich eindeutig friedlicher zu. Die Albschatten verhielten sich gesitteter und auch die Albträume waren weniger geworden. Bobbi hatte dem Traumältesten alles berichtet, was sie herausgefunden hatten, und der Traumälteste hatte Kiki und Lilian dafür großzügig belohnt. Bei dem Gedanken an ihr großes gemeinsames Abenteuer mit ihrer Freundin fiel Kiki sofort wieder ihr letzter Besuch bei dem Traumältesten ein. Der Hüter der Träume hielt durch seine Haare eine Verbindung mit allen Menschen dieser Welt aufrecht. Er selbst saß seit Jahrtausenden an derselben Stelle in der Mitte eines Sees. Wie manch andere Kinder mit einer besonders starken Vorstellungskraft hatte der Traumälteste auch Kiki zu einer Traumkünstlerin ernannt. Doch im Gegensatz zu vielen anderen jungen Traumkünstlern hatte er Kiki eine besondere Aufgabe übertragen: die Bedrohung durch die Albschatten im Auge zu behalten. Denn dieses Schattenheer, das die Wünsche der Menschen in Albträume verwandelte, hatte schon einmal einen heftigen Kampf gegen die Traumkünstler geführt. Und die Gefahr, die daraus entstand, war noch lange nicht für immer gebannt.
Kikis Gedanken wanderten allmählich wieder zurück ins Hier und Jetzt. Bei den Abschlussprüfungen vor den Winterferien hatte Lilian als Klassenbeste abgeschnitten. So etwas überraschte eigentlich niemanden mehr – niemanden, bis auf Ruben, den sensiblen Bücherwurm und Musterschüler. Der war bei der Verkündung der Ergebnisse beinahe in Ohnmacht gefallen. Natürlich war es schwer für Ruben, sich auf diese neue Situation einzustellen, denn bevor Lilian in die Klasse gekommen war, war er ausnahmslos immer der Beste gewesen. Lilian war es auch zu verdanken, dass sich Kikis Schulnoten in allen Fächern stetig verbesserten. Nur in Mathematik war davon nicht viel zu bemerken, da kam sie mit viel Mühe gerade noch so durch. Ihr Mathelehrer, Herr Yama, fühlte sich in seinen Bedenken Kiki gegenüber dadurch nur bestärkt. Doch was ihren Lehrer betraf, gab Kiki ihre Hoffnung noch nicht ganz auf. Menschen konnten sich ändern, das hatte sie schließlich in letzter Zeit aus nächster Nähe beobachtet: bei ihrem Vater Miro. Der hatte nach dem Tod ihrer Mutter eine Zeit lang getrunken und sich kaum um Kiki gekümmert. Erst als Kiki in einen tiefen Schlaf gefallen war, aus dem sie ganze drei Tage nicht erwachte, hatte das in seinem Herzen etwas wiedererweckt. In der Fabrik leistete er jetzt hervorragende Arbeit, war fleißig und schob oft Überstunden. Zum Jahresende hatte er von seinem Betriebsleiter sogar eine besondere Belobigung erhalten. Und er hatte tatsächlich geschafft, was zuvor niemand für möglich gehalten hätte: Er hatte aufgehört zu trinken. Vor den Neujahrsfeiertagen war Miro mit seiner Tochter shoppen gegangen und hatte sie von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Darüber hatte sich Kiki besonders gefreut.
Wenn ihr Vater wieder Überstunden machte, war Kiki in den letzten Wochen oft allein zu Hause. Meistens arbeitete sie dann gelangweilt an den Aufgaben, die sie die Ferien über aufbekommen hatten. Mühsamer als ein Kampf gegen die Albschatten waren diese Hausaufgaben! Sie sehnte sich immer stärker nach dem Ende der Ferien. Sollte die Schule ruhig anfangen! Dann sah sie wenigstens Lilian und Elias wieder. Sogar ihre Lehrer und ihre anderen Mitschüler fehlten Kiki ein bisschen, obwohl sie sich darüber selbst am meisten wunderte. So verflogen die Tage. Wenn Kiki nicht über ihren Hausaufgaben brütete, probierte sie neue Rezepte aus, räumte ein bisschen auf und half bei der Hausarbeit. Manchmal kämmte sie Bobbi aus Langeweile sogar das Fell. Doch irgendwann war es endlich so weit: Die zweite Hälfte des Schuljahrs begann.
»Zeit zum Aufstehen, Kiki«, rief ihr Vater und steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich gehe jetzt zur Arbeit, dein Frühstück steht in der Küche.«
»Okay …«, murmelte Kiki im Halbschlaf unter ihrer Decke hervor.
»Heute ist der erste Schultag nach den Ferien, komm nicht zu spät.«
»Oh ja …«, erwiderte Kiki verschlafen.
Drrrring …
Der Wecker auf ihrem kleinen Schreibtisch klingelte ein zweites Mal und Kiki verkroch sich tiefer unter ihre Decke. Widerwillig stopfte sie sich die Deckenzipfel in die Ohren und schloss mit einem zufriedenen Seufzen die Augen.
Miiiaauuu! Ein schrilles Maunzen ließ sie auffahren. Bobbi saß auf dem Schreibtisch, sah sie streng an und deutete mit der Pfote auf den Wecker.
»Oh nein, ich komme schon wieder zu spät!« Kiki sah auf den Wecker. In einer halben Stunde begann der Unterricht.
»Miau!«, maunzte Bobbi vorwurfsvoll.
Kiki sprang aus dem Bett, schlüpfte hastig in ihre Kleidung, stopfte die Hefte in ihre Schultasche und lief zur Tür hinaus. Für das Frühstück, das ihr Vater für sie vorbereitet hatte, blieb keine Zeit. Sie hüpfte mehrere Stufen auf einmal die Treppe hinunter, schwang sich aufs Fahrrad und kurvte in halsbrecherischem Tempo durch die Gassen des blauen Viertels. Die Sonnenschirmbäume an beiden Seiten der Straße reckten ihre nackten Zweige in die Höhe. Schwitzend vor Anstrengung sauste Kiki durch die Allee, so schnell, dass der Wind durch ihre Haare peitschte.
Am Ende der Allee fegte gerade eine dünne Gestalt mit einem Besen geschickt die Straße. Kiki erkannte schon von Weitem ihre Nachbarin Frau Yang, die Straßenkehrerin. Frau Yang hatte eine warme Strickmütze auf, unter der silbergraue Haarsträhnen hervorlugten. Außerdem trug sie einen dicken Baumwollmantel und darüber eine orangefarbene Sicherheitsweste. Aus der Nähe sah Kiki, dass Frau Yang auf ihren Handrücken bereits Frostbeulen hatte. Kiki zog es das Herz zusammen, denn das Leben der alten Dame war ohnehin recht hart. Frau Yang lebte allein und hatte sonst niemanden in der Stadt, doch sie kümmerte sich oft um Kiki. Ihr eigener Sohn war vor einigen Jahren nach Meliaka gezogen, um Arbeit zu suchen. Aus irgendeinem Grund war der Kontakt dann abgebrochen und ihr Sohn war verschwunden. Um nach ihm zu suchen, war Frau Yang schließlich selbst nach Meliaka gekommen. Sie war unermüdlich und versuchte überall, ihn ausfindig zu machen. Trotzdem war sie bisher erfolglos geblieben.
»Guten Morgen, Frau Yang!«, rief Kiki und radelte an ihrer Nachbarin vorbei.
»Hallo!« Die Dame hob den Kopf und lachte sie an. »Immer mit der Ruhe, Kiki, fahr nicht zu schnell!«
»In Ordnung!« Kiki winkte, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Sie sauste an der Tafel mit der Aufschrift GENGU-MITTELSCHULE vorbei und stellte ihr Fahrrad unter einem Sonnenschirmbaum ab. Mit der Schultasche auf dem Rücken rannte sie auf das große Tor zu.
Drrring!
Mit dem letzten Ton der Schulglocke schaffte es Kiki gerade noch ins Klassenzimmer. Vor dem Lehrerpult, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stand ihr Klassenlehrer Herr Yama und funkelte sie an. Er war stinksauer, doch an diesem Morgen hatte er nichts gegen Kiki in der Hand.
Herr Yama war sehr jähzornig, stur und bei allen für seine Strenge bekannt. Wahrscheinlich wäre es ihm um einiges lieber, Kiki würde nicht ausgerechnet in seiner Klasse sitzen, oder vielleicht sogar auf eine andere Schule in einem der weiteren Bezirke gehen. Sie stopfte keuchend, aber innerlich vor Erleichterung jubelnd, ihre Schultasche ins Bankfach. Dann drehte sie sich zu ihrer Sitznachbarin um. Lilian trug heute eine weiße Schleife in ihrem vollen dunklen Zopf und hatte einen flauschigen Pullover an, in dem eine Hasenbrosche steckte. Sie zwinkerte Kiki mit ihren langen Wimpern zu und lächelte fröhlich.
»Seit wann bist du wieder zurück?«, fragte Kiki nach der Stunde und griff nach Lilians Hand.
»Wir sind gestern angekommen. Ich bin vom Sommer direkt in den Winter gesprungen.« Lilian rieb sich die Nase. Man sah ihr an, dass sie nach der Reise noch etwas erschöpft war. »An die Kälte muss ich mich erst wieder gewöhnen.«
»Hattest du Spaß im Urlaub?«
»Mit meinen Eltern bin ich nie ganz entspannt, das weißt du ja. Sie wollen sich um alles kümmern und alles kontrollieren. Aber die Reise war trotzdem toll, vor allem die Landschaft!«
»Wirklich? Erzähl mal!« Der Gedanke an diese Landschaft ließ Kiki sofort munter werden. »Wonach riecht das Meer? Ist der Sand weich? Wie fühlt sich das an, wenn die Wellen deine Füße berühren?« Die Fragen purzelten aus ihrem Mund.
»Das Meer hat einen einzigartigen Geruch. Salzig und … fischig! Der Sandstrand war wunderbar weich und die Wellen – die fühlen sich an, als würde ein Paar unsichtbarer Hände deine Füße massieren.« Lilian lachte.
»Ich wünsche mir so sehr, ich könnte das Meer mit eigenen Augen sehen …« Kiki starrte sehnsüchtig ins Leere, während in ihrem Kopf die wunderbarsten Bilder entstanden.
»Das wird schon, irgendwann einmal fahren wir gemeinsam ans Meer«, sagte Lilian. Sie griff in ihre Schultasche. »Sieh mal, ich habe ein Geschenk für dich!« Sie zog eine glänzende Muschelkette heraus und legte sie Kiki um den Hals.
»Wow, die ist wunderschön!« Kiki betastete glücklich die kleinen glatten Muscheln. »Danke, Lilian!«
»Nicht dafür. Hoffentlich gefällt sie dir.« Lilian strahlte Kiki an.
Als die beiden in der Kantine ankamen, saßen die meisten ihrer Klassenkameraden bereits in kleinen Grüppchen beim Essen. Fast alle tauschten sich lautstark über den Spaß aus, den sie in den Winterferien hatten. Kiki holte sich etwas zu essen und wollte sich gerade setzen, als sie aus den Augenwinkeln eine schmale Gestalt leichtfüßig auf sich zukommen sah. Sie hob den Kopf und erkannte Ruben. Er platzierte sich mit seinem Teller in der Hand direkt gegenüber von ihr.
»Hallo, Kiki, lang nicht mehr gesehen.« Ruben wirkte nervös. Er war an diesem Tag besonders blass und die langen dünnen Haare klebten ihm am Kopf. Er sah Kiki durch seine dicken Brillengläser in die Augen.
»Ruben! Alles in Ordnung mit dir? Ich habe gehört, du warst in den Ferien richtig schlimm krank«, erkundigte sich Kiki besorgt.
»Alles in Ordnung. Krch krch«, sagte Ruben hustend, tat aber schnell, als wäre nichts gewesen. »Das haut mich nicht um, ich raffe mich schon wieder auf!«
»Du darfst die Schulnoten nicht zu ernst nehmen, deine Gesundheit ist viel wichtiger«, erinnerte ihn Kiki.
»Das ist lieb von dir, Kiki. Danke, dass du dich um mich sorgst.« Ein Lächeln blitzte in seinem Gesicht auf. »Wie waren deine Winterferien?«
»Ich war allein zu Hause und habe mich gelangweilt!«
»Was für ein Zufall, ich … hm, ich auch …«, druckste Ruben und rückte seine Brille zurecht. »Viell…vielleicht kann ich dich ja mal besuchen kommen und wir unternehmen was Lustiges!«
»Na klar! Ein bisschen Bewegung tut dir bestimmt gut, ich denke mir was aus!«
In diesem Moment kam Lilian auf die beiden zu. Ruben öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, doch als er Kikis Freundin sah, hielt er inne. Wortlos stand er auf und stapfte mit dem Teller in der Hand davon.
Als Kiki am Samstagmorgen aus dem Haus trat, erstrahlte der Himmel in einem so tiefen Blau, dass er beinahe mit den Straßen und Gebäuden des blauen Viertels verschmolz. Es war der perfekte Tag, um zum Rotberg zu fahren, einem nahe gelegenen Berg ein wenig westlich von Meliaka.
Der Ausflug war Elias’ Idee gewesen und so trafen sie sich wie vereinbart in aller Früh vor dem Schultor. Bobbi saß bereits in Kikis Fahrradkorb, während Lilian mit ihrer blütenweißen Katze Fulan im Arm hinten auf dem Gepäckträger Platz nahm. Fulan, mit ihrem grauen Fleck auf der Stirn, der einem Laubblatt ähnelte, war Lilians Traumlotsin. Elias fuhr vorneweg auf seinem Mountainbike und navigierte. Eine Stunde lang waren sie so ohne jede Eile unterwegs und unterhielten sich dabei miteinander.
Der schneebedeckte Rotberg bot zu dieser Jahreszeit einen einmaligen Anblick. Nachdem sie ihn vom Tal aus bewundert hatten, schlossen sie ihre Räder ab und machten sich an den Aufstieg. Elias, der sich in der Gegend gut auskannte, führte sie eine Steintreppe hinauf, die direkt in den Berg gehauen war. Bald begann die Temperatur zu fallen. Je höher sie kletterten, desto kälter wurde es. Waren zu anfangs noch viele Wanderer mit ihnen unterwegs, so begegneten sie weiter oben weniger Menschen. Nach mehreren Stunden Fußmarsch erreichten sie den Gipfel. Um sie herum war alles weiß von Schnee und Nebel, die Luft war klar und frisch. Kiki atmete tief ein und sah hinunter. Ganz Meliaka lag zu ihren Füßen! Da waren die sieben Viertel in ihren sieben Farben, wie ein in Stücke geschnittener Regenbogenkuchen. Der Wind ließ Kiki frösteln, obwohl sie, wie ihre Freunde auch, eine dicke Mütze und Handschuhe trug. Unter ihren Füßen knirschte es, während sie zu der höchsten Skipiste stapften. Endlich wieder Schnee! Mit erhobenem Schwanz sprang Bobbi ihr glücklich durch das watteweiche Wunder hinterher.
Die Skipiste befand sich auf einem Abhang an der Sonnenseite des Berges und war an diesem Wochenende ziemlich belebt. Nicht nur Familien mit Kindern, auch Pärchen und kleine Gruppen sausten, dick in ihre Anzüge eingepackt, jauchzend den Berg hinunter und feuerten sich gegenseitig an. Kiki war noch nie in ihrem Leben Ski gefahren. Es war sogar das erste Mal, dass sie einer richtigen Skipiste so nahe kam. Sie schlüpfte in die Leihschuhe und schaffte es, sich die Skier damit richtig anzuschnallen. Doch wie sollte sie sich nun vorwärtsbewegen? Tollpatschig rutschte Kiki ihren Freunden hinterher zu einem flachen Teil des Abhangs. Links und rechts von ihr stießen sich die Skifahrer mit ihren Stöcken ab und glitten die Piste hinunter.
»Kiki, kannst du Ski laufen?« Lilian schlang sich ein Band um die langen Haare, bevor sie erst ihren Helm aufsetzte und dann eine Skibrille über die Augen zog. In ihrem Skianzug ähnelte sie eher einer Superheldin als einer normalen Schülerin.
»Kein Problem. Learning by Doing!«
»Echt jetzt?« Elias grinste sie an. »Du wirst hinfallen, aber heul bitte nicht, versprochen?« Auch er trug eine Skibrille über seinem Helm und dazu ein blaues Outfit. Mit den langen Skistöcken in der Hand wirkte er auf Kiki vor allem eines – cool.
»Mal sehen, wer hier heulen wird!«, gab Kiki frech zurück.
»Ich fahr schon mal los!« Lilian stieß sich mit den Stöcken kräftig ab und fuhr den Hang so schnell hinunter, dass die Spitze ihres langen Zopfes unter dem Helm hinter ihr herflog. Elias folgte ihr sofort, zwischen den aufstiebenden Schneeflocken hindurch. Nur zwei schmale Streifen blieben hinter ihm im Schnee zurück.
Kiki sah den beiden nervös nach und schluckte. Was die beiden taten, wirkte unheimlich leicht. Vielleicht war es gar nicht so schwer, diesen Hang hinunterzukommen? Vielleicht war sie in Wahrheit eine richtig gute Skifahrerin? Sie biss die Zähne zusammen und brachte sich in Position. Kräftig stieß sie sich ab – und ihr Körper kippte sofort unkontrolliert nach vorn. Von dem Schnee ging keinerlei Widerstand aus, der ihre Ski aufhalten konnte, und sie flitzte wie der Wind den Hang hinab. Sie verlor sofort die Kontrolle über ihre Füße, rutschte mit den Armen rudernd die Piste entlang und versuchte verzweifelt, ihr Gleichgewicht wiederzufinden.
Da tauchte vor ihr ein anderer Skifahrer auf. Beim Näherkommen sah sie, dass es ein kleiner Junge war, den sie gleich rammen würde – nur, wie sollte sie abbremsen, oder wenigstens eine Kurve um ihn herum fahren? Es gelang ihr nicht. Also hielt sie sich an die einzige Option, die ihr blieb: Sie raste weiter schnurstracks auf ihn zu.
»Aaah!«, schrie sie dazu laut und panisch und lehnte sich dabei leicht nach hinten. Sie plumpste in den Schnee, rutschte aber mit voller Geschwindigkeit weiter auf den Jungen zu. Als sie mit ihm zusammenprallte, klammerte sie sich instinktiv an ihn und rollte mit ihm gemeinsam durch den Schnee.
»Alles … alles in Ordnung mit dir?«, fragte Kiki. Sie hielt sich den Kopf und sah verwirrt um sich.
»Ja. Du bist echt ungeschickt!« Der Junge stand auf und klopfte sich den Schnee vom Körper. Ohne abzuwarten, fuhr er los, um seine Freunde wieder einzuholen. Kiki ließ er allein sitzen. Sie sah ihm verblüfft nach.
»Miau-au-au!« Bobbi sprang mit einem Satz neben sie. Aus seinem Mund kam zwar nur ein Maunzen, aber es bestand kein Zweifel daran, dass er Kiki gerade lauthals auslachte. Sie hob den Kopf und sah gegen das Licht einen Schatten auf sich zu fahren. Der Schatten bremste so scharf ab, dass der Schnee unter seinen Skiern hervorspritzte.
»Aufstehen!« Lachend streckte Elias Kiki seine Hand entgegen.
Sie zog sich daran hoch und sah mit knallrotem Gesicht an ihm vorbei. Dabei stellte sie sich fest vor, wie sie ein Loch in die Erde buddelte und darin verschwand.
»Du musst die Schuhe enger schnallen, sonst brichst du dir noch den Fuß.« Elias nahm die Skibrille ab, kniete sich hin und zog die Bindung auf Kikis Skiern fester an. »Ich zeig dir, wie’s geht. Stell die Füße parallel nebeneinander und geh etwas in die Hocke. Damit senkst du deinen eigenen Schwerpunkt.« Er stellte sich neben Kiki und zeigte es ihr. »Dann stößt du dich mit den Stöcken ab. Die Kraft kommt aus dem Handgelenk. Dein Körper und die beiden Skier bewegen sich gleichzeitig nach vorne.« Auf die Skistöcke gestützt stieß er sich ab und sein Körper bewegte sich ruhig und gleichmäßig nach vorn. Anschließend übte er mit ihr zunächst einfache Grundhaltungen, mit denen sie abbremsen und die Richtung wechseln konnte.
Kiki ahmte seine Bewegungen nach, verlor aber trotzdem das Gleichgewicht, sobald sie nur losfuhr. Elias erwischte sie in letzter Sekunde am Arm und hielt sie fest, sodass sie nicht hinfallen konnte.
»Schwieriger als jede Traumkunst …«, brummte Kiki verschnupft.
»Traumkunst?« Fragend runzelte Elias die Stirn.
»Oh, ich meine … träumen, es ist viel schwieriger, als davon zu träumen«, korrigierte sich Kiki hastig.