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Hans de Man

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Beschreibung

Dreht euch nicht um

Vor tausend Jahren fielen wilde Männer in dieses Land ein. Sie kamen in zwanzigsitzigen Langboten und sie machten wahrlich keine Gefangenen. Im Schutz des morgendlichen Nebels durchschifften sie das Uferschilf, schlichen an Land und setzten die Pechfackeln in Brand. Was danach folgte war ein Exzess an Plünderung, Vergewaltigung und Mord. Die Grausamkeit ihrer Taten erschrecken uns noch heute. Doch egal wie wir über sie denken, ihr Vermächtnis ist in uns. Denn die Nordmänner, auch Wikinger genannt, ließen ihren genetischen Code hier, sie schrieben sich in unser biologisches und kulturelles Gedächtnis ein. Wenn wir grimmig schweigen, uns erbarmungslos betrinken und uns grundlos prügeln; immer dann handeln wir wie unsere wilden Vorfahren. Es ist wie ein Tumult, der unser Inneres durchrüttelt, ein unerklärlicher Aufruhr. Es fühlt sich grauenvoll an, widersprüchlich, niederträchtig, aber manchmal auch zart. Vom Erbe dieser Männer handeln die nachfolgenden Erzählungen. Es sind schlimme Geschichten – die Geschichten des grauen Nordens.

Wohlan, Leser.

 

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Hans de Man

Dreht euch nicht um

Erzählungen

Diese Texte sind allen Menschen gewidmet, die sich fragen, warum ein Sturm in ihrem Inneren tobt.BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Titel

Hans de Man

 

 

 

 

Dreht euch nicht um

 

 

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Der graue Norden

 

Vor tausend Jahren fielen wilde Männer in dieses Land ein. Sie kamen in zwanzigsitzigen Langboten und sie machten wahrlich keine Gefangenen. Im Schutz des morgendlichen Nebels durchschifften sie das Uferschilf, schlichen an Land und setzten die Pechfackeln in Brand. Was danach folgte war ein Exzess an Plünderung, Vergewaltigung und Mord. Die Grausamkeit ihrer Taten erschrecken uns noch heute. Doch egal wie wir über sie denken, ihr Vermächtnis ist in uns. Denn die Nordmänner, auch Wikinger genannt, ließen ihren genetischen Code hier, sie schrieben sich in unser biologisches und kulturelles Gedächtnis ein. Wenn wir grimmig schweigen, uns erbarmungslos betrinken und uns grundlos prügeln; immer dann handeln wir wie unsere wilden Vorfahren. Es ist wie ein Tumult, der unser Inneres durchrüttelt, ein unerklärlicher Aufruhr. Es fühlt sich grauenvoll an, widersprüchlich, niederträchtig, aber manchmal auch zart. Vom Erbe dieser Männer handeln die nachfolgenden Erzählungen. Es sind schlimme Geschichten – die Geschichten des grauen Nordens.

Wohlan, Leser.

 

Kapitel 2

 

Dreht euch nicht um

 

Erzählung

 

Lennartsfors. Ein vergessenes Gebiet zwischen Schweden und Norwegen. Ich weiß kaum, wie ich hierherkam. Aber das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass es in dieser menschenleeren Gegend kaum mehr als Seen, Nadelwälder und eine große Stille gibt. Während ich durch die verzweigte Seenlandschaft des Naturschutzgebiets paddele, entdecke ich Barön, eine winzige Insel mit Windschutzhütte, Feuerstelle, Käfern, Fichten und eine Milliarde Mücken. Das Paddel meines Kanus gleitet sanft in das eisige Wasser des Foxensees. Ruhig nähere ich mich der Insel. Ich lande an einem entlegenen Sandstrand an und verstecke mein Kanu in der Bucht. Mit faustgroßen Steinen friede ich eine Feuerstelle ein, wenige Meter davon entfernt, grabe ich eine kleine Mulde, in die ich meinen Schlafsack lege. Daneben stelle ich mein Zelt auf. Nachdem ich ein Feuer entzündet habe, lege ich mich in die Sandmulde, schaue auf das Wasser und lausche dem Knistern der Flammen. Bis tief in die Nacht lasse ich das Feuer mannshoch in den Himmel lodern. An Brennholz ist schließlich kein Mangel auf Barön. Ich liege in meinem Schlafsack, und höre auf das leise Plätschern des Wassers und das Knacken des brennenden Holzes. Die Fichten zeichnen sich wie schwarze Wachsoldaten vor dem Horizont ab. Ich rauche eine Zigarette und trinke eine Dose Karlsberg, die ich im Seewasser gekühlt habe. Irgendwann nehme ich meinen Schlafsack, gehe in mein Zelt und falle in bizarre Träume.

 

Am nächsten Morgen steige ich in den Kanadier und fahre bis in die Mitte des Foxensees. Haubentaucher stürzen sich auf die Wasseroberfläche. Ich hole meine Angelrute hervor, die längsseits im Boot liegt. Aus einer kleinen Tupperdose nehme ich einen glitschigen Wurm. Er windet sich, während ich seinen gummiartigen Körper mit dem Haken durchstoße. Dann werfe ich die Rute aus und gebe sehr viel Leine. Der Verkäufer des Angelgeschäfts sagte mir, dass um diese Jahreszeit die Fische sehr tief schwämmen. Ich tauche meine Hand in das eisige, klare Wasser, und trinke aus der hohlen Handfläche einen Schluck. Es fließt weich durch meinen Mund und schmeckt leicht metallisch. Ich will nur noch dieses Wasser trinken – das kalte Wasser des Foxensees. Es vergeht eine Stunde, ohne dass ich etwas fange. Ich hole die Leine ein und überprüfe den Köder. Dann werfe ich die Leine wieder aus und warte.

Ich denke an Christian und sein Angebot. Die Aussicht auf einen Job in einem Großkonzern mit seinen Hierarchien und seinem Verhaltenskodex verunsichert mich. Ich kann keinen Krawattenknoten binden, geschweige denn, dass ich einen vernünftigen Anzug besitze. Was will ich also mit einem Job in einem DAX-Konzern?

Es beginnt ein wenig zu regnen. Nach und nach kleben meine Haare in Strähnen an der Kopfhaut. Ich hole die Leine ein, lege die Angel zurück in den Kanadier, nehme das Paddel und stoße es kraftvoll ins Wasser. Das Boot nimmt Fahrt auf. Mit gleichmäßigem Tempo durchschneidet der Bug die seichten Wellenkämme des Sees. Nach einer halben Stunde kommt Barön wieder in Sicht. Ich steuere die kleine Bucht an. Schon von weitem sehe ich, dass ein Feuer brennt. Die Flammen schlagen hoch in die Luft. Jemand muss es vor kurzem angefacht und sehr viel Holz nachgelegt haben. Ich lande an, steige aus dem Boot und ziehe das Kanu mehrere Meter hinauf an Land. Ich lege das Paddel in den Bug und gehe zur Feuerstelle. Es ist niemand zu sehen.

„Hallo, Haaalloooo!" Stille.

 

Barön ist eine kleine Insel, länglich und schmal, vielleicht fünf Fußballfelder groß. Von meiner Bucht führt eine Anhöhe durch dichtes Nadelholz zum westlichen Ende des Eilands, wo eine schroffe Felswand tief abfällt. Ich bewegte mich leise über einen schmalen Weg. Meine Sohlen federn über den von Moos und braunen Tannennadeln ausgelegten Boden. Wer ist hier? Ich sehe nur Vögel, Spinnen, Ameisen und viele Mücken. Irgendwann gelange ich wieder zurück an die Windschutzhütte, aber auch hier kein Mensch, nirgends. Ich durchstreife das kleine Waldstück. Die Fichten geben ihr Geheimnis nicht preis. Meine Schritte führen mich zurück auf den Weg, bis an die Spitze der westlichen Anhöhe. Von dem Felsvorsprung, der Barön begrenzt, hat man einen weiten Blick auf den See und die umliegenden Inseln. Kein Boot auf dem Wasser.

Ich lege mich auf den Felsen. Die Sonne hat den Schiefer angewärmt. Mit der linken Hand berühre ich die Oberfläche des verwitterten Steins. Ich schließe die Augen. Als es zu Dämmern beginnt, mache ich mich auf den Rückweg zu meiner Bucht. Das Feuer ist runter gebrannt. Ich lege einige dünne Scheite nach und blase in die kribbelige Glut. Flammen züngeln auf. Ich richte einen Schwenkrost über dem Feuer aus, hole einige Würstchen aus meinem Proviant und brate sie. Dazu öffnete ich eine Dose Kidneybohnen, nehme drei Scheiben Graubrot und lege sie neben das Fleisch auf den Rost. Ich gehe zum See. Mein Biervorrat liegt unangetastet auf dem Grund. Mit drei Dosen Karlsberg kehre ich zum Lagerfeuer zurück.

Die Würstchen schmeckten rauchig, einige Stellen sind angebrannt. Ich beiße in das Graubrot und nehme einen Löffel Bohnen. Ich kaue das würzige Essen, trinke einen Schluck eiskaltes Bier. Der Schaum läuft mir über das unrasierte Kinn. Der Foxensee schwappt wie eine auffliegende Tischdecke an den Strand. Warum auch immer, erinnere ich mich plötzlich an ein Kinderlied.

Dreht euch nicht um, der Plumpsack geht herum.

Die Nacht ist so kalt, dass ich das Kopfteil meines Schlafsacks über dem Gesicht schließe. Nur meine Nase schaut aus dem olivgrünen Stoff hervor. Ich atme die kalte Luft des Nordwinds ein. Es kommt ein Sturm auf. Tropfen prasseln wütend gegen die weiche, synthetische Außenhaut des Zelts. Es wird schlimmer. Wind, Regen, Sturm. Die halbe Nacht kämpfe ich damit, dass mein Zelt nicht davonfliegt. Doch dann, in den frühen Morgenstunden, beruhigt sich plötzlich das Wetter und ich schlafe ein. Wovon ich träume, vergesse ich, so tief schlafe ich. Gegen Mittag öffne ich von innen den Reißverschluss des Zelts und blinzele in die Sonne. Die Welt ist schon lange auf den Beinen. Nach einem kurzen Frühstück fahre ich wieder zum Angeln raus. Ich nehme eine Thermoskanne mit schwarzem Tee und eine Rolle Schokoladenkekse als Proviant mit. Dann setze ich mich in mein Kanu und paddele los. Nachdem Barön außer Sicht ist, passiere ich Trolön und halte auf die norwegische Grenze zu. Irgendwo draußen, wo meine Orientierung endet, werfe ich die Angel aus. Der Haken mit dem Blei schießt hinaus, die Schnur sirrt erregt durch die Luft. Platsch. Der Köder versinkt in der Tiefe. Ich gebe mehr Schnur. Der Wurm, wenn er denn noch lebt, durchmisst eine dunkle geräuschlose Welt, die keinen Boden zu kennen scheint.

Eine Stunde später nehme ich meine Thermoskanne hervor und gieße mir das heiße Getränk in den Deckel. Ich wärme mir die Hände, beiße in den Keks und trinke dazu einen Schluck Tee. In einiger Entfernung beobachte ich einen Greifvogel, der seine Runden dreht. Am Ufer rote Holzhäuser mit weißen Fenstern, davor alte, verlassene Boote mit verrotteten Außenbordmotoren. Es ist so wahnsinnig still. Aus meiner Jackentasche nehme ich einen kleinen Einband hervor.

Tomas Tranströmer, Gesammelte Gedichte. Ich lese.

Dezember. Schweden ist ein an Land gezogenes, abgetakeltes Schiff.

 

Schon von weitem sehe ich das Feuer. Die Flammen lodern noch höher als am Vortag. Ich beschleunige die Paddelstöße, nähere mich der Bucht. Es sieht so aus, als würde eine Person am Feuer sitzen, aber es dämmert bereits so stark, dass ich nicht sicher bin. Ich komme näher. Tatsächlich. Dort sitzt ein Mann. Er stochert mit einem dünnen Ast in den Flammen herum. Selbst als ich anlande, das Boot an Land ziehe, und mich ihm nähere, blickt er nicht auf. Ich setze mich ihm gegenüber. Er trägt einen grünen Militärparka, Jeans und feste Stiefel. Seine Gestalt ist schlank und muskulös, sein Gesicht schmal und kantig. Die weißen, kurzen Haare bedecken die Seiten seines gebräunten Schädels. Ich kann sein Alter schwer schätzen. Vielleicht ist er über sechzig war. In jedem Fall hat er sich gut gehalten.

„Hast du wieder nichts gefangen?" Er redet mit skandinavischem Akzent. Seine Stimme klingt dunkel und knarzig und verrät ein höheres Alter.

„Nichts zu machen dieser Tage", antworte ich betont jovial. „Wie heißen Sie? Ich bin Felix aus Deutschland." Ich halte ihm die Hand hin. Er schaut mich kurz an, ich fühle seinen kräftigen, trockenen Händedruck. „Hallo, Felix aus Deutschland."

„Sind Sie auch zum Angeln hier?", versuche ich ein Gespräch.

„Ende September. Die Fische beißen nicht mehr."

„Im Angelladen gab man mir den Rat, viel Schnur zu geben. Die Fische schwämmen tief."

„Du bist zu leichtgläubig.“

„Waren Sie gestern schon mal hier?“, wechsle ich das Thema.

„Ich bin immer hier. Und auch nicht. Du siehst mich nicht. Niemand sieht mich, wenn ich nicht will.“

„Was sind Sie? So eine Art Einzelkämpfer, ein skandinavischer Rambo?“, frage ich forsch.

„Machst du dir Sorgen?“

„Muss ich mir Sorgen machen?“ Langsam nervt mich seine Geheimnistuerei. Was will er? Mir Angst machen? Das wäre ihm schon mal gelungen.

„Was machst du hier draußen?“, fragt er mich schroff.

„Urlaub.“

„Für euch Kids ist das ganze Leben ein Abenteuerurlaub.“

„Das stimmt nicht“, murmele ich verlegen.

„Ihr glaubt, man lebt hier draußen zwei Wochen im Zelt, paddelt ein bisschen über den See und kennt dann die Wildnis.“

„Und?“, frage ich gereizt.

Er beugt sich zu mir herüber und sagt in einem weichen, liebenswerten Tonfall: „Felix, wenn du wissen willst, was die Wildnis ist, dann musst du ein wildes Tier töten.“

Ich bin sprachlos.

„Töte ein Tier!“ beschwört er mich.

„Hier draußen sind nur Stechmücken und Käfer. Selbst Rentiere sucht man vergeblich. Wo soll ich hier ein wildes Tier massakrieren?“, sprudelt es aus mir hervor.

„Töte mich“, faucht er, und holt ein gewaltiges Bowiemesser aus der Innentasche seines Parkers hervor. Er hält mir den Griff hin.

„Warum soll ich Sie töten?“, frage ich in Panik.

„Weil ich ein wildes Tier bin. Es wird Zeit, für mich zu gehen“, flüstert er.

„Ich ... ich ... kann das nicht. Unmöglich.“

Er schaut mir unvermindert in die Augen. Ich sehe nur das Messer mit der blauen Stahlklinge. Das ultrascharfe Blatt. Die gewaltigen Sägezacken an der breiten Seite.

„LOS!“

„Lassen Sie mich!!!“

Blitzschnell stehe ich auf. Renne los. Irgendwo hin. Es ist stockdunkel. Ich sprinte den Strand entlang. Schlage mich in den Wald. Stürze mehrfach. Äste schlagen mir ins Gesicht. Ich renne. Renne. Renne. Folgt er mir? Ich bleibe stehen. Doch alles, was ich höre, sind die pumpenden Schläge meines rasenden Herzens. Hinter mir keine Schritte, kein Knacken im Unterholz. Ich sprinte weiter. In der Nähe der Klippe klettere ich auf einen Baum. Meine Schuhe suchen Tritt auf den dünnen Nadelholzästen. Einige brechen, ich rutsche ab. Shit. Doch ich finde wieder Halt. Meine Hände umfassen den nadeligen Stamm. Ich klettere weiter, gelange bis knapp unter die Spitze. Sieht man mich hier oben? Mein Atem beruhigt sich. Es ist still – kein Verfolger in Sicht. Etwas klebriges, warmes läuft über meine Hand. Ich suche nach einem Taschentuch in meiner Hosentasche und verbinde notdürftig die Blutung.

Es vergeht eine Stunde. Nichts geschieht. Und jetzt? Es ist stockdunkel. Ich höre keine Geräusche. Nur das Rauschen des Windes, das Plätschern des Seewassers. Meine Arme werden müde. Die Hände beginnen zu brennen. Ich versuche mich auf irgendeinen Ast zu setzen. Doch sie sind alle zu dünn. Fichten sind schwache Beschützer. Nach einer Weile senken sich Augenlieder wie schwere Garagentore. Voller Angst schrecke ich dann hoch, verscheuche den Schlaf, um nicht aus dem Baum zu fallen. Kurz vor dem Morgengrauen höre ich Schritte. Er stampft über den Hauptweg der Insel. Gibt sich keine Mühe, unentdeckt zu bleiben. Irgendwas sagte mir, dass er meine Biervorräte geplündert hatte. Er ruft: „Felix aus Deutschland! Hörst du mich? Ja, du hörst mich! Wo hast du dich verkrochen?! Komm, komm, komm! Hahaha!“ Ich höre die schweren Absätze seiner Lederboots. Sie kommen näher. „Du kannst dich nicht ewig verstecken. Ich kriege dich! Hahaha! Komm schön raus, mein Kleiner! Ich finde dich! Hahahaha!“

Er nähert sich dem Baum, auf dem ich sitze, verzögert die Schritte, bewegt sich wie ein Wolf, der Witterung aufnimmt. Aber er hebt nicht den Kopf. Langsam geht er die Anhöhe hinauf bis zur Spitze der Insel. Er stellt sich mit dem Rücken zur Klippe.

„Hör zu, Felix aus Deutschland. Du willst mich also nicht töten. Gut. Deine Eltern haben dir Werte vermittelt, hahaha.“ Seine Stimme klingt so, als wäre er vollkommen übergeschnappt.

„Jaja, ihr braven Deutschen. Vor ein paar Jahrzehnten habt ihr noch die halbe Welt in Brand gesetzt, die Russen abgeschlachtet und die Juden vergast. Aber jetzt seid ihr die großen Weltverbesserer, habt Ethik. Könnt keiner Fliege was zu Leide tun. Lebt vegan. Uh! Die armen Tiere! Aber euer Opa hat ja auch nur Befehle befolgt als er als anständiger Wehrmachtssoldat die Juden in Charkow erschießen musste! Er und seine Kameraden, das waren keine Sadisten. Nein. Das waren alles anständige Kerle. Jaja, ich verstehe euch! Hahahaha!“

Mir läuft der Schweiß die Stirne herunter. Er hält einige Momente inne. Mit den Händen fährt er sich über die Glatze und das Gesicht. Stöhnt.

„Felix aus Deutschland, weiß du was am 9. April 1940 war? Nein? Dann werde ich es dir sagen. Da begann nämlich das Unternehmen Weserübung. Jaja, eine kleine Wehrübung, bei der die saubere Reichsmarine Dänemark und meine Heimat Norwegen überfiel. Ein paar Wochen später waren sie auch bei uns in Flatöy. Wir hatten dort ein Haus am Meer. Meinen Großvater und meinen Vater habt ihr noch am ersten Tag ganz friedlich erschossen. Jaja, hahaha!“

Auf meinem Ast sitzend, sehe ich wie er die Arme ausbreitet. Er schwingt sie wie die Flügel eines Bussards.

„Zu den Frauen wart ihr humaner. Meine Großmutter hab ihr nur halb totgeprügelt und meine Mutter ein bisschen vergewaltigt. Mir habt ihr mit einem Gewehrkolben ins Gesicht geschlagen. Ich war schließlich schon sechs Jahre alt, also eine echte Bedrohung. Kann sich doch keiner beschweren. Oder was meinst du, hahaha!“ Er kniet sich auf den Felsen. „Weißt du, was leider dumm ist, Felix aus Deutschland. Das Dumme ist, dass ich seitdem auch tot bin. Mein Kopf ist tot. Mein Leben ist verbrannt.“ Ich höre sein Stöhnen, seinen schweren Atem.

„Komm, Felix aus Deutschland, bring zu Ende, was deine Väter angefangen haben. Töte mich – das wilde skandinavische Tier. Sei grausam. Habe keine Skrupel. Du musst mich befreien! Ja, schaffst du das? Befreist du mich?“ Er stellt sich vor mich hin und breitet die Arme aus. Unvermittelt dreht er sich um und springt mit einem Kopfsprung hinunter ins Wasser. Klatsch. Ich klettere den Baum hinunter. Renne zum Rand der Klippe. Zwanzig Meter unter mir schäumt das an den Felsen anbrandende Wasser. Hat er das überlebt? Es ist kein menschlicher Körper zu sehen.

Ich taumele zurück zu meinem Zelt. Ein ungestümes, lautes Schluchzen bricht aus meinem Inneren hervor. Ich kann es nicht aufhalten. Irgendwann falle ich in einen schweren Schlaf. Es schaudert mich. Ich will niemand töten. Kein wildes Tier. Keinen wilden Mann. Niemand. Am dritten Tag nach dem Sprung des Mannes aus Flatöy von der Klippe packe ich meine Sachen zusammen, baue das Zelt ab und lade alles in mein Kanu. Ich entzünde zum Abschied ein gewaltiges Feuer. Immer mehr trockene Äste und Stämme befeuerten die Flammen bis sie baumhoch in den Himmel lodern. Es knistert und knackt. Die Hitze ist so groß, dass ich einige Meter Abstand halten muss. Meine Wangen glühen. Ich besteige das Kanu. Nach einigen Paddelstößen blicke ich zurück. Das Zucken der orange-roten Flammen überstrahlt Baröns Strand. Auf dem Festland nehme ich einen Bus, dann mehrere Züge, eine Fähre und wieder einen Zug. Vierundzwanzig Stunden später bin ich zu Hause in Deutschland. Ich lebe.

 

Kapitel 3

 

Eiskellerberg

 

---

 

Die Legende vom Eiskellerberg geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Mütter ermahnten ihre Kinder an der Kunstakademie die Butterbrote zu verstecken, sobald sie die hungrigen Maler sähen.

 

---

 

Überhaupt Elif. Tim lernte sie auf der Party eines Freundes kennen. Elif war Studentin an der Kunstakademie in Düsseldorf, schon mit Anfang Zwanzig galt sie als die neue Richter. Sie malte Bilder von erratischer Schönheit. Die Gewalttätigkeit der Leere! lautete ihr Themenkomplex beim Rundgang. Tim war neugierig auf ihre Werke und so stand er, einige Tage später, an einem eisigen Februarmorgen, in ihrem Atelierraum und atmete den unverwechselbaren Geruch der Kunstakademie ein. Zigarettenqualm, feuchte Leinwände und der Bierdunst vom Vorabend mischte sich zu einem eigenwilligen Aroma, das bitter von der hohen Decke tropfte. Elif saß still auf einem alten Holzhocker, während neben ihr der Hahn eines farbbeschmierten Waschbeckens tropfte. Tim ging schweigend von Bild zu Bild. Er wusste nicht, was er zu ihren Gemälden sagen sollte, auf denen sich beige, silberne und graue Farbflächen zu einer postapokalyptischen Landschaft formten. Mehr als ihre Bilder beeindruckte ihn jedoch ihre Person. Die nackten Füße untergeschlagen, saß sie still da und schaute in den hohen Raum. Sie trug einen großen schwarzen Zylinder, dazu ein bretonisches Fischerhemd und zerrissene Jeans. Ihr präzis geschnittener Pony rahmte ihr Gesicht wie ein altmeisterliches Fresko ein. Zur Begrüßung streckte sie Tim eine kühle Hand entgegen. Nach einem kurzen Gespräch verabredeten sich für abends im Salon des Amateurs.

 

Elif tanzte mit Drink und Zigarette in der Hand. Tim verzog sich mit einem Gin Tonic in den hinteren Bereich des Clubs, fläzte sich in einen Ledersessel und hörte den wummernden Beats zu.

Irgendwann setzte sich Elif zu ihm. „Alles gut bei dir?“

„Alles gut,“ sagte er und rieb sich die Schläfen. „Darf ich dich was fragen?“

„Schieß los.“

„Warum hast du immer den Zylinder auf?“

„Das ist der Speicher meiner Träume.“

„Dein was...?“

„Mein Traumspeicher. Da kommt alles rein, was ich so träume. Albträume, Sexträume, verrückte Träume, surreale Träume. Scheißegal. Irgendwann hol ich sie dann raus und male sie.“

„Okay. Und welcher war der letzte, den du rausgeholt und gemalt hast?“

„Guck doch selbst.“

Sie lüftete den Zylinder. Tim war sich nicht sicher, aber es war ihm, als würden sich ihre seidigen schwarzen Haare plötzlich verwandeln – zu Rabenfedern, die ihren Zylinder ins Dunkle davontrugen.

„Komm doch noch mal in meinem Atelier vorbei, alleine...“ hörte er Elifs Stimme.

Wie aus großer Ferne verbanden sich ihre Worte mit dem Bild des schwarzen Zylinders, der durch die Decke in den Nachthimmel schwebte. Er dachte noch, ich muss weniger Drogennehmen. Dann verlor er sich in einem zusammenhanglosen Strudel aus Gedanken, Gefühlen, Träumen und Musik.

 

Ein verregneter Februarmorgen. Tim düste mit seinem alten BMW über die leeren Straßen. Eine Elster fraß ungestört aus einem überquellenden Abfalleimer. Daneben lag ein Obdachloser in einem zerrissenen Schlafsack. Tim fragte sich, was er sich von dem Treffen mit Elif versprach. Sie war Künstlerin, dass bewunderte er. Er selbst liebäugelte auch seit längerem mit dem Gedanken, sich an der Akademie einzuschreiben. Vor zwei hatte er Abitur gemacht, Kunst war eines der Fächer, in denen er geprüft wurde. Er konnte gut zeichnen, hatte ein Händchen für Skulpturen, und so bestand er die Prüfung mit Bravour. Doch an der Kunst faszinierte ihn am meisten, dass sein Vater sie so sehr verabscheute. Ein Top-Manager wie er interessierte sich für Bilder nur als Wertanlage. Für Künstler hatte er nur Verachtung über. In den Augen seines Vaters waren Künstler nichts alles Spinner. Wenn Tim Kunst studieren würde, wäre das so etwas wie die maximale Provokation – und darum ging es ihm. Wollte er mit Elif darüber sprechen? Vielleicht. Vielleicht wollte er auch nur Zeit mit ihr verbringen. Ihre Ernsthaftigkeit und ihre Schaffenswut beeindruckten ihn. Neben ihr kam er sich antriebslos und banal vor.

 

Irgendwann erreichte die Kunstakademie am Eiskellerberg. Das schwere neoklassizistische Gebäude war in den Hinterhof der Düsseldorfer Altstadt gewuchtet, wo es sich, müde und abgelebt, dreißig Meter in die Höhe erhob, als müsse es sich von den Jahren erholen, in denen Joseph Beuys und seine Schüler hier ihr Unwesen getrieben hatten. Er schlüpfte durch eine offene Seitentür ins Innere. Aus den oberen Etagen vernahm er Stimmen, Schreie und Musik. An die Wände der Akademie waren Bilder gelehnt, die Tim sich kurz anschaute. Die Tür eines Atelierraums stand offen und das helle Licht beschien den Flur. Tim trat schüchtern ein. Der fast quadratische Raum war mindestens fünf Meter hoch. An einer der weißen Wände hingen abstrakte Bilder – Werke, die Elif beim letzten Akademierundgang ausgestellt hatte. Sie stand seitlich zu ihm und drückte kräftige Pinselstriche auf eine gewaltige Leinwand. Es war kein figurales Bild, an dem sie arbeitete, aber es erinnerte auch nicht an die archaischen Farbflächen ihrer letzten Werke. Tim schaute ihr schweigend bei der Arbeit zu. Sie trug eine weiße Latzhose mit einem schwarzen T-Shirt darunter. Eine Basecap schützte ihre Haare vor Farbspritzern. Sie legte den Pinsel zur Seite und drückte aus der Farbtube einige gelbliche Punkte auf das Bild. Dann nahm sie einen breiten Quast und erzeugte damit einen Farbverlauf. Tim dachte, vielleicht ist es doch ein figurales Bild, an dem sie arbeitete, wenn man den Begriff „gegenständlich“ nicht zu eng fasste. Ihn faszinierten ihre Arbeiten. Sie erzeugten einen Schwebezustand zwischen Erkennen und Imagination.

 

Es verging eine Stunde, in der Elif malte und Tim ihr schweigend zusah. Er fragte sich, warum sie diese Intimität zuließ. So gut kannten sie sich schließlich nicht. Aber vielleicht sah nur er das so, und für sie war das Malen vor Studienkollegen und Freunden etwas ganz Normales. Vor der imposanten Leinwand wirkte sie ein bisschen verloren. Dennoch drückte sie gelassen Pinselstrich für Pinselstrich auf die Fläche.

„Nimm dir doch einen Kaffee,“ sagte sie nach langem Schweigen. Tim ging in die hintere Ecke des Ateliers und schüttete sich das dampfende Getränk ein.

„Für dich auch?“ frage er.

Sie nickte, legte die Pinsel nachdenklich zur Seite und weichte einen großen Quast ein.

„Arbeitest du immer so früh?“

„Ich fang meistens um Ein Uhr nachts an, und arbeite dann bis zum Sonnenaufgang,“ sagte sie und trank einen Schluck Kaffee. „Die Nacht malt meine Bilder.“

Sie hockte sich auf dem Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.

„Ist es fertig?“ fragte Tim leise.