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Armin Leineweber, Kriminalhauptkommissar aus Bielefeld, kannte Warburg bisher nicht. Aber nun lag dort eine Leiche und verdarb ihm das Wochenende, mindestens. Eine männliche Leiche, hingebreitet zu den Füßen eines steinernen Kreuzes, die sich zunächst weigert, ihre wahre Identität preiszugeben. Es ist zwar nicht Bestandteil seiner Ermittlungen, aber es stellt sich heraus, dass es mehr als nur ein Kreuz in dieser - aus Bielefelder Sicht - doch abgelegenen Landschaft gibt. Natürlich findet sich nicht vor jedem Kreuz eine Leiche, aber der Tote am Bittkreuz bleibt nicht das einzige Opfer. Mörderische Provinz? Nein, es gibt nicht nur Tote hier, sondern auch eine Menge Leben, wie er schnell lernt. Interessantes Leben mit interessanter Geschichte, wobei dann doch wieder Tote eine Rolle spielen. Was könnte ein vierhundert Jahre altes Skelett mit den aktuellen Morden zu tun haben? Immerhin, bei der Lösung des Falls kann er sich auf ein engagiertes Team vor Ort verlassen.
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Seitenzahl: 413
Veröffentlichungsjahr: 2020
Dieses Buch erschien 2018 unter dem gleichen Titel im Podszun-Verlag und wurde für diese Ausgabe noch einmal durchgesehen.
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI
Kapitel XXVII
Kapitel XXVIII
Kapitel XXIX
Kapitel XXX
Kapitel XXXI
Kapitel XXXII
Kapitel XXXIII
Kapitel XXXIV
Kapitel XXXV
Kapitel XXXVI
Kapitel XXXVII
Kapitel XXXVIII
Kapitel XXXIX
Kapitel XL
Kapitel XLI
Kapitel XLII
Kapitel XLIII
Kapitel XLIII
Kapitel XLIV
„Scheiße!“
Eine solche Begrüßung hatte dieser sommerliche Samstagmorgen eigentlich nun wirklich nicht verdient. Eine leicht orangefarbene Sonne drängte sich vielversprechend durch die Caféhausgardinen des Küchenfensters, und in wenigen Sekunden würde der Wasserkocher anzeigen dass er bereit sei, das erste Heißgetränk des Tages zuzubereiten. Ein Morgen, wie ihn sich Kriminalhauptkommissar Armin Leineweber kaum schöner hätte malen können. Eigentlich. Es musste also etwas anderes gewesen sein, was ihn kurz hatte vergessen lassen, dass ihm seine Eltern irgendwann einmal die schöne Regel `Du sollst nicht fluchen` mit auf seinen Lebensweg gegeben hatten
Und obwohl er wusste, dass niemand da war, der ihn hätte hören und nach dem Grund seines Wutausbruchs hätte fragen können, fluchte er ausgiebig, wenn auch ein wenig phantasielos weiter.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße. Scheiße, verdammt!“, ließ sich er dann doch zu einer kleinen Variation hinreißen. Wütend wechselte sein Blick von seinem Telefon zur Uhr, die er irgendwann wegen ihres avantgardistischen Designs auf einem Flohmarkt gekauft hatte und die nun ein außer von ihm selbst eher unbeachtetes Dasein über der Tür zum Korridor fristete. Das avantgardistische Design hatte seine Nachteile. Durch die Gestaltung des Zifferblattes, das ein wenig an Dalis verflossene Zeiten erinnerte, und die welligen Zeiger war die Uhrzeit nicht immer eindeutig ablesbar, aber es musste wohl halb acht sein.
Halb acht, Samstagmorgen. Bis vor fünf Minuten hatte sein Plan für diesen Tag noch eine wunderbare Struktur gehabt, beginnend mit einem ausgiebigen Frühstück mit seinen Kumpels Kalle und Manni beim Hüttenwirt in der Bielefelder Altstadt. Zehn Minuten später, und er wäre auf dem Weg gewesen, um einigermaßen pünktlich um acht Uhr dort zu sein. Gut, das hätte wenig bis gar nichts genützt, das wusste er auch, aber der Gedanke war zu aufdringlich, als das er sich durch schnöde Logik von seinen Weg in Armins Bewusstsein hätte abbringen lassen.
Er hatte Bereitschaft, und damit hatte er erreichbar zu sein, so war das nun mal. Zum Beispiel in Vertretung. Oder nachts. Oder, wie jetzt, am Wochenende. Notfalls eben auch über sein Handy, wie die Kollegen auch. Und jetzt kam da dieser Anruf aus der Zentrale und beorderte ihn nach … wohin nochmal? Ein wenig Hoffnung machte sich bei ihm breit. Das war doch gar nicht sein Bereich! Dafür gab es doch die Bereitschaftsdienste, aufgeteilt nach Kommissariaten, überall im Land. Andere Kollegen, die für dieses Gebiet zuständig waren. Sollten die doch … hastig griff er zum Telefon und drückte die Antworttaste.
„Heike, was soll der Blödsinn?“, begann er so höflich und ruhig, wie es ihm in dieser Situation nur eben möglich war, als sich die Einsatzleitstelle meldete. Er wusste, dass Heike nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen war, aber dass sie aus lauter Boshaftigkeit ihn anstelle der anderen Kollegen verständigt hatte, konnte er sich nun wirklich nicht vorstellen. Heike tat in der Telefonzentrale Dienst, und es hatte mal eine Zeit gegeben, in der sie sich näher gestanden hatten.
30 Prozent aller Beziehungen beginnen am Arbeitsplatz, und wenn die Statistik stattdessen nur ein Prozent ausgewiesen hätte, er hätte sich nicht noch mehr wie ein Lottogewinner fühlen können, damals, nach dieser Betriebsfeier. Heike war einfach eine Wucht, das fühlte er irgendwie auch heute noch. Er war schon ein wenig stolz gewesen, dass sich Heike, die Heike, mit ihren langen lockigen schwarzen Haaren, einer tollen Figur und auch einem gehörigen Maß an Intelligenz und Witz trotz der Avancen anderen Kollegen für ihn entschieden hatte, obwohl er doch einige Jährchen älter war als sie. Am Anfang war es ihm ein wenig peinlich gewesen, wenn sie sich neben ihrer privaten Beziehung dienstlich im Kommissariat begegneten, aber ihr und ihrem offenen Naturell hatte das nie etwas ausgemacht. Heike war ein besonderer Mensch, ehrlich, unkompliziert, und mit einem eigenen Kopf und konkreten Vorstellungen, die einen Tagträumer, wie sie ihn zuweilen gerne nannte, mitunter auch überforderten. Aber er mochte das, es stellte ihn oft vor ungewohnte Aufgaben, die er manchmal als lächerlich abtat, manchmal mit Ehrgeiz zu erfüllen versuchte. Möbel aussuchen, sich mit Krediten und Versicherungen beschäftigen, Telefon-, Gas- und Wasseranbieter zu vergleichen war seiner Lebenseinstellung eher fremd. Seiner Meinung nach war der Ertrag im Vergleich zum Aufwand zu gering, da er insgeheim allen Konzernen geheime Preisabsprachen unterstellte. Das Ergebnis war ein klarer Punkt für Heike, nachdem sie diese Sachen in die Hand genommen und in die entsprechende Richtung, nein, nicht gedrängt, sondern eher gelotst hatte. Und danach hatte sie immer noch genug Phantasie, ihn mit besonderen Zuwendungen zu belohnen, wenn er mal wieder eine ihrer Ideen umgesetzt hatte. Da hatte ihn auf einmal so etwas wie ein klar strukturiertes Leben überfallen.
Irgendwann, zumindest in seinem Augen, vielleicht zu strukturiert.
Dass es diese Herausforderungen und Belohnungen nun nicht mehr gab, dass ihre Beziehung jetzt nur eine weitere Randnotiz im grossen Buch der Irrungen und Wirrungen war, war seiner Meinung nach nicht seine Schuld. Natürlich nicht. Dass sie ihrerseits nicht bereit war, die Gründe für das Auseinanderleben zumindest ansatzweise auch bei sich zu suchen, konnte er leicht aus ihrem Verhalten erschließen, das sie nach ihrer Trennung an den Tag gelegt hatte. Für das Getuschel auf den Fluren des Kommissariats war er genau so empfänglich, wie es Männern manchmal nachgesagt wird, soll heißen, er hörte es einfach nicht. Und in der alltäglichen Arbeit verhielt er sich sowieso so dienstlich-distanziert, wie er es für selbstverständlich hielt. Dienst ist Dienst und … o.k. Seine Einstellung. Die ihm Heike aber oft als Desinteresse an ihrer Person ausgelegt hatte, wenn sie dann doch mal einfach so mit ihm über die Zeit nach Feierabend oder über das Wochenende hatte plaudern wollen. Die Trennung von Beruf und Privatleben wird in einer Beziehung nicht immer einfacher, wenn man den gleichen Arbeitsplatz hat. Armin machte sich zu wenig Gedanken darüber, sein Verhalten etwa als egozentrisch zu bezeichnen, aber uneingestanden war diese Einstellung eines seiner Handicaps im Umgang mit Heike. Und ebenso uneingestanden ein Grund für das Ende ihrer Beziehung. Er hatte es nicht gewollt, nicht nach diesen tollen sechs Monaten, in denen sie sich näher gekommen waren, als es vielleicht viele Ehepaare schafften. Den Punkt, diese Beziehung zu stabilisieren, sie dauerhaft zu machen, hatte er irgendwann verpasst, ohne es bemerkt zu haben. Ohne wirklich jemals bei ihm eingezogen zu sein, war Heike dann irgendwann schon wieder ausgezogen. Perspektive war etwas, was er mit Ideen verband, und Heike mit konkreten Vorstellungen. Und das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Aber das war jetzt nicht das Problem.
Sie hatte, aus Absicht, Rache oder Kalkül, seine Einstellung zu ihrer Beziehung übernommen. Dienst ist Dienst und ... naja. Tatsache war, dass sich Heike ihm gegenüber mittlerweile betont kühl und reserviert gab und sich ausschließlich auf administrative Kontakte beschränkte. Von wegen `Las´ uns Freunde bleiben`, hatte Armin oft genug gedacht, wenn innerhalb des Kommissariats irgendetwas geplant war, was man unter `Geselliges Beisammensein` zusammenfassen konnte, sei es nun ein Kegel- oder Kneipenabend oder das Jubiläum eines Kollegen. Der Bruch war tief. Er hätte ihrer Beziehung gerne eine zweite Chance gegeben. Herber norddeutscher Charme trifft ostwestfälische Reserviertheit, das hörte sich doch eigentlich vielversprechend an.
Aber sie hatten sich eben mit verschiedenen Erwartungen aufeinander eingelassen, und solange sie das nicht bemerkt hatten, hatte es gut funktioniert. Doch irgendwann kam die Zeit, in der nicht mehr nur die Nähe des anderen wichtig ist, sondern auch, wieviel Nähe akzeptabel ist, um sich selber treu zu bleiben. So hatte er das gesehen. Oder wieviel Nähe man bereit ist, dem Partner zuzugestehen. So hatte Heike das gesehen. Oder wieviel Freiheit. Dabei war da bei ihm nie etwas Anderes gewesen, schon gar nicht mit Angelika, wie Heike ihm vorgeworfen hatte. Armin sah sich selbst als eher schüchternen Menschen, der nicht so leicht Kontakt zu Frauen fand, schon gar nicht intimeren. Schließlich kam er aus dem hohen Norden, aus Schleswig-Holstein, und die Nordmänner, fand er, konnten mindestens so stur und unzugänglich sein, wie man es den Ostwestfalen nachsagt. Und dass Heike eine Art Besitzanspruch auf ihn angemeldet hatte, war ihm ein wenig zu weit gegangen.
Dagegen hatte Armin nach der Trennung manchmal das Gefühl, dass Heike umso heftiger mit Anderen flirtete, je näher er ihr war. Also hatte er irgendwann doch resigniert, sich kurz in sein Privatleben zurückgezogen, festgestellt, dass es da außer Fußball nicht viel gab, das so akzeptiert und sich ansonsten auf seine Arbeit konzentriert.
In einer Stadt wie Bielefeld ist man nicht hauptberuflich Kommissar der Mordkommission. Das Kapitalverbrechen sucht sich andere Zentren, um in geballter Form zuzuschlagen. Natürlich hatte er auch andere Polizeiarbeit zu verrichten, und die brachte ihn zwangsläufig immer wieder in Kontakt mit Heike. Das war der Nachteil bei Beziehungen, die am Arbeitsplatz entstanden, dachte er häufig. Aber ihre Trennung war jetzt auch schon wieder ein halbes Jahr her, und es konnte doch nicht sein, dass sie ihm deshalb …
„Haben Sie irgendein Problem mit dienstlichen Anweisungen, Herr Leineweber?“ antwortete die Heike, die er in den letzten sechs Monaten hatte kennenlernen müssen, und die sich so sehr von der Heike der sechs Monate davor unterschied. Er musste auf der Hut sein.
„Heike, bitte … soll ich Dich jetzt wieder mit Fräulein Zwarowski anreden?“ versuchte er einen neuen Ansatz, die Situation zu entschärfen, was ihm aber eindeutig nicht gelang. „Wenn, dann wäre ja wohl Frau Zwarowski die korrekte Anrede. Wir sind im Dienst. Und genau deshalb ist es Ihre Aufgabe, den Anweisungen so schnell wie möglich Folge zu leisten!“ klang es sachlich-dienstlich aus dem Telefon. „Aber darum geht es doch!“ wollte Armin vorsichtig weiter seine Einwände vorbringen und versuchte, sich seine Argumente zurecht zu legen. „Ich sitze hier in Bielefeld, und dafür bin ich gar nicht zuständig. Vielleicht werde ich hier ja auch noch gebraucht. Ich meine, da muss es doch Kollegen geben, die viel näher vor Ort sind. Was weiß denn ich, Paderborn, Kassel, Hameln, Detmold, da gibt es doch andere Zuständigkeiten?“ spazierte er, zugegebenermaßen ein wenig planlos, in der regionalen Landkarte herum.
Heike antwortete, als würde sie auf einer Pressekonferenz Journalisten Rede und Antwort stehen.
„Das tut mir sehr leid, Herr Leineweber, aber der Kollege aus Paderborn ist in einem Einsatz, sein Vertreter hat sich plötzlich krank gemeldet. Und Kassel liegt, wie auch Sie eigentlich wissen müssten, in einem anderen Bundesland. Hessen. Also nicht zuständig. Das selbe gilt natürlich für Hameln. Niedersachsen. Und viel zu weit weg. Zuständig wäre eigentlich der Kollege aus Höxter, aber der …“
Armin hörte eine leichte Verunsicherung in ihrer Stimme, als sie nach einer kurzen Pause fortfuhr: „Also, der Kollege aus Höxter ist momentan leider nicht erreichbar. Auch über sein Handy nicht. Das hat er wohl aus Versehen zu Hause liegen gelassen, sagt seine Frau, und er ist gerade unterwegs zu, äh, zu einem Fußballspiel.“
Armin war erschüttert. Zu einem Fußballspiel? „Heike, bitte“, bestand er fast flehentlich auf seiner Anrede, „Zu einem Fußballspiel? Zu welchem?“ Nicht, dass ihre Antwort irgend etwas an der Situation ändern würde, das wusste er. Und die Erklärung trug nicht zu seiner Entspannung bei. Heike versuchte tapfer, die Situation in den offiziellen Dienstsprachgebrauch zu retten. „Der örtliche Verein hat wohl ein Auswärtsspiel. Und die Anstoßzeit wurde wegen des anschließend stattfindenden Sportfestes vorverlegt, so dass sie jetzt schon unterwegs sind. Wo, wissen wir nicht. Und, wie gesagt, er hat sein Handy eben nicht dabei.“
Langsam nahm die Situation pittoreske Züge an, fand Armin, und begann, Hoffnung auf einen verspäteten Aprilscherz zu hegen. Er war auf dem Sprung zu einem Heimspiel seiner Arminia, Arminia Bielefeld, immerhin noch Zweite Bundesliga, für das er für sich und ein paar Kumpels Karten besorgt hatte, und der zuständige Kollege aus … Höxter? hatte sein Handy liegen gelassen und war nicht erreichbar, weil er zusehen wollte, wie auf irgendeinem Stoppelacker minderbegabte Dorfjungs das schöne Spiel Fußball mit American Football verwechselten und den Ball mit erstaunlicher Präzision immer wieder über den Querbalken jagten? Das konnte er wirklich nicht fassen, versuchte aber, seinen Unglauben in freundliche Worte zu kleiden. Im Rahmen seiner Möglichkeiten.
„Höxter? Wo spielen die denn? Bezirksliga? Oder doch nur Kreisklasse?“ Natürlich hatte er von diesem Verein noch nie etwas gehört. Seine Aufmerksamkeit bei der Lektüre des Sportteils der Tageszeitung endete normalerweise bei der dritten Liga, mit der er sich eigentlich schon deshalb nicht beschäftigen wollte, weil sie seiner Arminia viel zu nahe war. Oder andersherum. Und da kam Höxter ganz sicher nicht vor.
Heike dagegen gab sich sportkundig, als müsste jeder diesen Verein kennen. Dabei hatte Armin es nie geschafft, sie zu einem Beuch auf der Alm zu überreden. „Landesliga, soweit wir wissen. Und sein Sohn spielt in der ersten Mannschaft. Im Tor“, fügte sie noch hinzu, als ob das irgend etwas erklären würde. Für eine Weile war der Grund dieses Telefonats völlig in den Hintergrund getreten. „Und das wird auch der Grund sein, warum er sein Handy …“ – „Ich weiß, dass er sein Handy nicht dabei hat, danke!“ Armin stöhnte. Landesliga! Das waren … wie viele Klassen unter der Arminia? Fünf? Sechs? Er wusste es nicht, und er wollte es auch gar nicht ausrechnen. Landesliga! Und deshalb sollte er … Er gab sich geschlagen, das Leben hatte ihn wieder.
„OK, sag mir bitte nochmal, wo genau ich hin muss!“, fragte er resigniert. Die Antwort klang wieder ganz professionell: „Warburg. Männliche Leiche. Auf dem, äh, nein, Am Bittkreuz. Die Kollegen sind schon vor Ort“
Warburg wusste noch nichts von einem Hauptkommissar Leineweber aus Bielefeld. Warburg wusste auch noch nichts von einem Verbrechen, das innerhalb seiner historischen Mauern geschehen war. Möglicherweise nahm sich sogar die Sonne in Warburg mehr Zeit, ihren Weg über das Firmament aufzunehmen. Auch das sonstige Leben hatte noch keine Eile, sich in der Stadt breitzumachen. Der frühe Samstagmorgen ist eine angenehme Zeit in einer Stadt wie Warburg. Manchen Großstädten sagt man nach, sie würden niemals schlafen. Und natürlich gibt es auch in Warburg genug Berufsgruppen, die um diese Zeit tätig waren, Klinikpersonal, Pflegekräfte, Angestellte in den Seniorenheimen, Postboten, Polizei, aber auch Tankstellen, die einen 24-Stunden-Sevice bieten. Und damit hier wie überall auch den Bäckereien einen Teil der Kundschaft abspenstig machten, obwohl auch die sich für das Wochenende rüsteten. Die Supermärkte und auch der Einzelhandel hatten großteilig noch geschlossen, weshalb sich auch die Kunden nur spärlich auf den Weg gemacht hatten, sich für das Wochenende mit allem Nötigen einzudecken oder einfach nur gemütlich durch die Stadt zu schlendern und zu schauen und zu shoppen. Wer etwa auf die Idee käme, um diese Zeit eine Radtour durchzuführen, fände nicht nur die Stadt, sondern auch die Zufahrtsstraßen leerer als zu anderen Zeiten. Die wenigen Spaziergänger waren fast unweigerlich von ihren Hunden begleitet, die den größeren Freiraum gelassen nahmen, und auch wenn die meisten Herrchen und Frauchen bei einer Befragung geantwortet hätten, es sei einfach eine wunderschöne Zeit, diese Ruhe zu genießen, sehnte sich doch mit Sicherheit ein nicht unbeträchtlicher Anteil zu seinem gemütlichen Bett zurück.
Der Tisch war gedeckt für ein angenehmes, ruhiges Wochenende, das Wetter versprach, das seine dazu beizutragen. Dass es anders wurde, hatte es sicher nicht zu verantworten.
Zu den Menschen, die um diese Uhrzeit schon wach waren, zählte auch Marion Durland, uneins mit sich, ob ihr Kopf ihrem Körper befahl, sich mit maximal sechs Stunden Schlaf zufrieden zu geben, oder ob andersherum ihr Körper sie wieder aus dem Bett getrieben hatte. Allerdings belastete sie dieser Zwiespalt nur marginal, viel wichtiger war ihr um diese Uhrzeit ein starker Kaffee, gerne ohne Milch und Zucker oder so etwas Profanem wie einem Toast dazu. Mit der dampfenden Tasse in der Hand setzte sie sich an den kleinen Tisch unter dem Fenster. Ihre Dachgeschosswohnung befand sich in einem Mehrparteienhaus in der Nähe des Zentrums, und sie sah über die Dächer der Stadt hinweg auf das Krankenhaus, mit seiner achtstöckigen Silhouette fast schon stadtbildprägend. Unter den meisten Dächern schienen die Menschen noch zu schlafen. Ach, Warburg.
Sie war hier zur Schule gegangen, nur wenige Meter weiter, auf das Gymnasium Marianum. Und wie vielen jungen Menschen war ihr die Stadt bald zu eng geworden, zu klein, sie wollte weg, schnell weg. Weit weg. Bei ihr war noch ein besonderer Umstand hinzugekommen, aber darüber redete sie nicht gerne. Also hatte sie sich mit einem überraschend gutem Abitur an der Uni Bamberg eingeschrieben, für den Studiengang Archäologie. Ihre Mutter und ihr Stiefvater hatten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, aber das gehörte zu ihrem Ausbruch dazu. Einen Masterplan für die Zeit nach dem Studium hatte sie nicht, aber sie war engagiert, ehrgeizig, was auch den Dozenten auffiel. Und als ihr Mentor Professor Haselsberger nach einem Projekt suchte, in dem sie sich profilieren konnte, das ihr als Grundlage für ihre Dissertation dienen könnte, war er irgendwie über diese Ausgrabung hier gestolpert. Und er wusste, dass sie aus Warburg stammte, und hatte sich für sie eingesetzt. So war sie in diese Stadt zurückgekehrt, etwas, was sie sich niemals hatte vorstellen können. Ihre pensionierten Eltern hatten inzwischen ihren Wohnort dauerhaft in das wärmere Spanien verlegt, wegen des Rheumas ihres Stiefvaters. Sie wussten noch gar nicht, dass sie zurückgekehrt war. Geschwister gab es nicht, aber erstaunlich viele alte Klassenkameraden.
Und die hatten sie erstaunlich erfreut in ihrem Kreis wieder aufgenommen, sogar die, die sie zu Schulzeiten an liebsten nur mit der Rückseite angeschaut hatten. Sie hatte sich vorgenommen, sich, wenn überhaupt, einen neuen Freundeskreis aufzubauen, aber natürlich war sie auf den Straßen der kleinen Stadt sofort erkannt worden. Presseberichte über die neue Ausgrabungsleiterin taten ein Übriges, und so wurde sie bald und oft angesprochen oder zumindest gegrüßt. Sie war erstaunt, wer alles da geblieben war. Und die Freundlichkeit irritierte sie. Es schien ihr so, als würden sie alle heimlich sagen: ´Schau, Du hast es auch nicht geschafft, dieser Stadt zu entrinnen, Du bist nicht besser als wir. Ja, auch in unserem Jahrgang gibt es erfolgreiche Mediziner, Professoren, Politiker, Unternehmer, weit weg von hier, auch im Ausland, aber über die reden wir nicht. Wir haben uns hier eingerichtet, wir loben die Vorzüge des Kleinstädtischen Lebens. Natürlich kritisieren wir die ein- oder andere Sache, aber nie zu laut, wir wollen doch nichts verändern, nur unser Gewissen beruhigen, uns wohlfühlen. Schwachpunkte in der Gesellschaft finden, um von unserer Schwäche abzulenken. Auch die Schwäche, nichts dagegen zu tun.´
Und dagegen reichte es nicht zu sagen, dass ihr Aufenthalt ja nur befristet war, und sie die Stadt wieder verlassen würde. Gewährte einem diese Stadt wirklich keine zweite Chance zu entfliehen? Doch, sie würde nicht hierbleiben. Sie hatte das Gefühl, das wäre ein Triumpf derjenigen, die ihr einen Erfolg schon früher nicht zugetraut hatten, und so etwas konnte sie nicht akzeptieren. Sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Und hatte sie mit dem Krankenhaus vor ihrem Fenster fast im Blick. Damit war sie wieder am Samstag Morgen angekommen. Im Hintergrund lief das Radio, und die Lektüre der Tageszeitung fiel vielleicht ein wenig kürzer aus als sonst. Sie begann, ihren Tag zu planen, und der würde nichts mit ihrer Arbeit zu tun haben. Wer Städtereisen unternimmt, besucht dort in der Regel Museen, Schlösser, Parks oder historische Altstädte. Der Genuss von Bädern steht eher in den Städten auf dem Programm, die dieses auch im Namen tragen. Ein Fehler, was Warburg betrifft. Meint zumindest Marion. Irgendwann nach dem Krieg hatte man am damals äußersten Rand der Stadt ein Gelände gesucht und gefunden, um ein Freibad zu errichten. Die Hanglage bot erstens den Vorteil, nicht das ganze Becken ausheben zu müssen und zweitens später den Besuchern einen wunderbaren Blick auf die Anlage. Es wurde am Waldrand errichtet und vermittelte den Eindruck, der Wald habe den Kampf um das Areal noch nicht ganz verloren gegeben. Zahlreiche schattenspendende Bäume belegten, dass der Name ´Waldbad´ absolut zurecht gewählt worden war. Marion gehörte oft zu den Frühschwimmern, die sich schon ab 7 Uhr morgens eine Erfrischung gönnten, heute wollte sie den ganzen Tag dort verbringen. Das Handy? Das blieb zuhause, nicht nur aus Sicherheitsgründen. Es war Wochenende, sie sah keinen Grund, erreichbar zu sein. Auch am Abend nicht, da war sie eingeladen. Das führte dazu, dass sie an diesem Samstag nichts mehr von dem Unerhörten vernahm, was sich in Warburg zugetragen hatte.
Nein, nicht die Leiche. Dieser Information zu entgehen war unmöglich.
`Dass die Verbrecher heutzutage überhaupt keine Rücksicht mehr nehmen`, fuhr es Armin durch den Kopf, als er sich auf den Weg zu seinem Wagen machte. Außenstehende hätten diesen Gedanken wohl auf den offensichtlich verübten Mord bezogen, dabei dachte er eher daran, dass er nun das Heimspiel seiner Arminia aus Bielefeld verpassen würde. Dieser Tag war eigentlich perfekt durchgeplant. Unter der Woche machten ihm sein Single-Dasein und die einsamen Frühstücke wenig aus, zumal ihm meistens eine Tasse Tee und ein wenig Zeitungslektüre reichten, man musste ja auf dem Laufenden bleiben. Die Wochenenden sahen schon anders aus, und so hatte er um seine Fußball-Leidenschaft einen kleinen Kult aufgebaut. Je nachdem, an welchem Tag und zu welcher Zeit Arminia Bielefeld spielte – dank der unheiligen Koalition von DFL und den verschiedenen Fernsehsendern wurden einem die Spieltage ja nur noch häppchenweise serviert – hatten sich kleine Rituale herausgebildet. Dazu gehörte bei einem Samstagspiel zum Beispiel ein gemeinsames Frühstück mit seinen Kumpels, die übrigens nicht bei der Polizei arbeiteten und deshalb manchmal wenig Verständnis für seine Situation aufbrachten. Und dieses Frühstück fand dann auch nicht in irgendeinem Café statt, sondern eben beim Hüttenwirt, wo schon die Fußmatte darauf hindeutete, dass man nun eine Kneipe betrat, deren Gäste es bedauerten, dass das Pils nicht blau und der Schaum nicht schwarz waren. Vermutlich hätten Manni und Kalle wohl trotz der frühen Uhrzeit schon mal beim Wirt nachgefragt, ob er denn nicht seinen Zapfhahn mal sauber spülen müsste. `Mit genuch Mettbrötchen geht das immer`, war Mannis Meinung, Armin bestand in der Regel auf einem konventionellen Frühstück. Aber das tat ihrer Freundschaft – und tatsächlich auch ihrer Konversation – keinen Abbruch. Sie konnten wunderbar über Spieler (´Stürmer?
Hör mir auf! Und warum schießt der dann keine Tore?´), Trainer (´Den Michalsky in die Abwehr stellen? Das ist doch verschenkt, der gehört auf die 6, der Trainer hat doch keine Ahnung!´) und Vorstand (´Ey, was die alles vermurksen, das kannse dir gar nich´ schönsaufen, verstehste?´) ablästern, um dann doch das Hohelied auf die Arminia zu singen und vor allem über das bevorstehende Spiel und die Chancen der Arminia. vielleicht doch mal zu gewinnen (´Mal ehrlich, warum bezahlen wir eigentlich Eintritt? Eigentlich müssten die uns doch Schmerzensgeld bezahlen, wenn man das so sieht!´). Fußballfans eben, unter der Woche weitgehend unauffällig, am Wochenende oft das Rudel suchend, um gemeinsam zu schimpfen und zu feiern, eine Ambivalenz, wie man sie sonst manchmal nur noch in der Partnerschaft findet. Und wehe, es ist Sommerpause, das kann dann schon mal auf die Fingernägel gehen.
Soweit der Plan
Und jetzt liegt da irgendwo in der ostwestfälischen Pampa eine Leiche, und er hatte sich darum zu kümmern. Manchmal haben es Schichtarbeiter doch einfacher, fand er. Scheiß auf das Frühstück, auch den Besuch des Spiels konnte er wohl knicken. Seine Geographiekenntnisse waren nicht die besten, da musste er Heike Recht geben, aber hier schätzte er die Anreise zu diesem Kaff am Ende der Welt auf mindestens eineinhalb Stunden. Und wenn die Kollegen vor Ort nicht den Mörder oder zumindest einen dringend Tatverdächtigen neben der Leiche gefunden hatten, kam neben der ebenfalls eineinhalbstündigen Rückfahrt noch ein Aufenthalt unbestimmter Dauer hinzu. Was ihm noch blieb, war die Freunde zu informieren, dass sie eine überzählige Karte weiterreichen durften. Scheiße.
Warburg.
Die Verbrecher nehmen heutzutage absolut keine Rücksicht mehr.
Laut Google (oder einem beliebigen anderen Lexikon) ist Warburg eine Kleinstadt in Nordrhein-Westfahlen am südöstlichen Rand des Eggegebirges, Teil des Teutoburger Waldes, am Tal der Diemel gelegen und von ungefähr zehntausend Menschen bewohnt. Zucker-, Papier und chemische Industrie, ebenso Kunststoff und Stahl, sowie eine Keksfabrik, eine Brauerei und ein Mineralbrunnen, historische Altstadt, denkmalgeschützte Gebäude und Kirchen, verschiedene Grund- und weiterführende Schulen, Teilstandort der Hochschule OWL und auf vielen Straßenkarten mindestens als ´Sehenswert´ gekennzeichnet, insoweit also eine ganz normale Kleinstadt.
Wobei an den Wochenenden dem Vorurteil der verschlafenen ländlichen Idylle entgegen auch durchaus Party angesagt ist. Wenn es ganz groß werden soll, ist die Stadthalle die erste Adresse. Aber gerade im Sommer ist auch die Diemelhütte sehr beliebt, eine Art Blockhaus, mit einer Wiese zum Fluss hin als Außengelände. Auf der anderen Seite Wald, also weitab von irgendwelchen Nachbarn, die sich durch Lärm gestört fühlen könnten. Diese Hütte ist fast jedes Wochenende gebucht, Nachfragen bitte mindestens ein halbes Jahr im Voraus anmelden. Da gilt auch für die Stadtverwaltung keine Ausnahme, wenn sie ihre Betriebsfeier dort ausrichten möchte.
DJ Balu – ja, wie der aus dem Dschungelbuch. Gut, der Musikalische war der Affe, aber DJ King Louis hörte sich einfach nur bescheuert an – war seit einiger Zeit dabei, die Abgeschiedenheit der Hütte richtig auszunutzen. Ältere Menschen müssen früher ins Bett, was dazu führte, dass die Hütte immer leerer und die Musik immer lauter wurde, was den Verbliebenen aber absolut recht war. Schließlich hatte Balu auch seinen Giftkoffer, wie er ihn nannte, geöffnet. Diesen Giftkoffer machte er nicht immer auf, dazu musste die Stimmung schon passen. Die der Gäste, und seine auch. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass dies seinen Arbeitstag um mindestens zwei Stunden verlängerte, aber heute war so ein Abend. Er arbeitete immer noch am liebsten mit CDs, aber ab und zu ließ er auch seinen Laptop die Arbeit machen, um draußen eine Zigarette rauchen zu können.
Neben den Hits der 80er, die fast alle mitsingen konnten, obwohl die Meisten zu der Zeit erst knapp auf der Welt gewesen sein konnten, mischte er eben alles, was ankam, in die Fete. In der Regel wusste er, was sein Publikum wollte. Dafür war er DJ. Und an diesem Abend gab es keine Probleme mit den Wünschen der Gäste, so dass er die Vorzüge der Technik noch einmal nutzte, um vor die Tür zu gehen.
Der Mond beschien neben der lieblichen Flusslandschaft auch immer noch ein rundes Dutzend Autos, von denen die meisten wohl die Nacht hier verbringen würden. Den meisten Gästen würde er auch entschieden abraten, jetzt noch selbst fahren zu wollen, und aus diesem Grund war eines der Autos wohl auch ein Taxi, das auf die nächste Fuhre wartete.
Das Rauchverbot in Kneipen und Hallen bewirkte, dass sich immer eine Anzahl von Gästen draußen an einem der Stehtische aufhielt, eine wunderbare Gelegenheit zu unverbindlicher Konservation, was in der Hütte – auch wegen seiner Musik – nicht immer so einfach war, weshalb er diese Regelung durchaus begrüßte. Die Luft war besser, und draußen, weg von seinem Arbeitsplatz und in kleinerer Runde ergab sich ja vielleicht auch mal die Gelegenheit zu einem kleinen Flirt. Jetzt schien sich am Tisch nebenan aber ein kleiner Streit anzubahnen. Irgend so ein Typ in grauem Anzug, für diesen Abend eigentlich overdressed, redete immer heftiger auf eine junge blonde Frau ein, die sich für diesen Abend ein fesches Dirndl-Outfit ausgesucht hatte, und, verdammt noch mal, es stand ihr richtig gut. Es sah überhaupt nicht gekünstelt aus, vielleicht deshalb, weil dies eben kein bayrischer Abend und sie die einzige mit dieser Tracht war. Marco, wie er eigentlich hieß, drehte sich ein wenig zur Seite.
Er war nicht neugierig, und dies ging ihn überhaupt nichts an. Tatsächlich konnte er sich auch nicht länger damit beschäftigen, weil er in diesem Augenblick gesucht wurde. „Hey, Balu, wo bist Du? Wir wollen Achim Reichel hören! A-loha-heja-hey! Hey, Balu! Mach hinne!“
Marco seufzte innerlich und drückte die Zigarette aus. Dabei hatte Achim Reichel so tolle songs geschrieben. Gut, die meisten waren nicht immer fetentauglich, aber er fragte sich schon, ob die Gäste den ein oder anderen davon wenigsten kennen würden. Aber er gönnte ihm die Tantiemen. Und für Feten war es immer eine gute Nummer, dachte er und machte sich auf den Weg zu seiner Arbeit. Irgendwann später war ihm das Dirndl noch mal aufgefallen, möglicherweise bei ´Ein Bett im Kornfeld´ (´Entschuldigung, Achim´, musste er dann immer wieder denken), bester Laune und offenbar unbegleitet. Der Streit war entweder vertagt oder ein- für allemal beendet, dachte er bei sich. Wie sehr er sich irrte, sollte er später von der Polizei erfahren.
In der Einsatzleitstelle der Polizei Bielefeld in der Kurt-Schuhmacher-Straße lehnte Heike sich in ihren bequemen Bürostuhl zurück. Warum war Armin nur immer so uneinsichtig? Natürlich wusste sie, warum er so ausgeflippt war. Der und seine Arminia! Aber das änderte doch nichts, und es gab doch bestimmt irgendeine Möglichkeit, sich das Spiel später im Fernseher anzuschauen, wo man doch sowieso viel besser sah, dachte sie. Natürlich hatte sie Armin nicht angefunkt, um ihn zu ärgern. Sie war im Dienst, die anderen Kollegen wirklich nicht erreichbar oder im Einsatz, und er hatte nun mal Bereitschaft. Sie legte den Kopfhörer mit dem Mikrophon ab und ging zum Fenster. Warburg. Hatte sie in ihrer kurzen Beziehung Armin gegenüber erwähnt, dass sie dort einmal einige Jahre gelebt hatte? Heike war 10 gewesen, als ihr Vater sie und ihre Mutter Hals über Kopf verlassen hatte. Zumindest war es ihr so vorgekommen. Ihre Familie war ihr bis dahin als Ort sicherer Zuflucht erschienen und irgendwelche Streitereien kein Thema. Ihre Mutter hatte nie mit ihr darüber geredet. Und sie war 13, als ihre Mutter ihrem neuen Lebensgefährten nach Warburg folgte, dem dort eine gutbezahlte Stellung in einem Mineralbrunnenbetrieb angeboten worden war. Sie hatte Hans nie gemocht. Mochten Psychologen das auch Schuldzuweisung für den Verlust des Vaters deuten, sie kamen ganz einfach nicht miteinander klar. Und er hatte sie nie akzeptiert, hatte sie als störendes Element in seiner Beziehung zu ihrer Mutter gesehen, und sie hatte diese Abneigung aus tiefstem Herzen erwidert. Aber daran lag es nicht, dass vier Jahre später schon wieder alles vorbei war, der Job und die Liebe. Sie wusste noch, wie sehr ihre Mutter damals gelitten hatte, vielleicht mehr als bei der Trennung von ihrem Mann. Natürlich kann auch eine große Liebe scheitern. Aber wenn man dann von jemanden aufgefangen wird, getröstet zuerst, dann respektiert und anerkannt und daraus neue Kraft schöpft, und dann auch der das Weite sucht, das kann einen schon schwer treffen. Und Heike selbst? Sie waren aus Essen in diese Kleinstadt gezogen, aus allen Möglichkeiten, die eine Großstadt mit einem überwältigenden Angebot in erreichbarer Nähe einem frühpubertierenden Mädchen bot, in die Provinz. Nicht, dass sie sich das Angebot der Großstadt je hätte leisten können. Dazu verdiente ihre plötzlich alleinerziehende Mutter doch zu wenig, als dass sie ihr den Lebensstil, den sie sich wünschte, hätte finanzieren können. Aber es war schön, in einer Umwelt zu leben, die so viel Zerstreuung und Vergnügen, ja fast ein wenig Glamour versprach. Und dann Warburg. Was versprach Warburg? Überschaubare Einkaufsmöglichkeiten, keine Nobelboutiquen, wo man wenigstens vor den Fenstern träumen konnte. Keine Disko. Stattdessen Radtouren mit ihrer Mutter und deren neuen Freund als Sonntagsnachmittagspflichtprogramm. Meistens entlang dieses Flusses, dieser … egal. Oder durch endlose Ackerflächen einer ausgedehnten, flachen Agrarkulturlandschaft, die wenig Abwechslung bot. Für ein junges Mädchen aus der Großstadt waren diese Ausflüge totlangweilig. Dazu die Schwierigkeiten in der Schule, weil wohl für die anderen Kinder die Schule der einzige Ort war, an dem sie sich von ihren Eltern unabhängig entwickeln konnten. Bis dann der Neue in die Klasse kam. Lars. Lars, der Sitzenbleiber. Lars, der Versager. Lars, der Träumer. Lars, dem es nicht genug war, ein Leben zu planen, der auch noch ein Leben leben wollte.
Schlaksig, und völlig uncool in Jeansjacke (mit Fransen!) gekleidet, war er in ihrer Klasse erschienen. Er würde Drogen nehmen, wurde gemunkelt. Er war nicht aufsässig, aber er widersprach den Lehrern. Meistens tat er das gut. Er wollte halt immer eine andere Seite aufzeigen, und deshalb war es nicht immer klar, ob er seine Überzeugung darlegte oder nur Opposition artikulierte. Aber da war jemand, für den diese Stadt auch zu klein schien, wie ihr. Als sie sich annäherten, brachte er ihr erst die Literatur näher, von Hermann Hesse bis Brecht. Dann die Musik, Pink Floyd mit Dark Side oft the Moon und die Eagles mit Hotel California. Und natürlich Dreamer von Supertramp, als wenn es über ihn geschrieben worden wäre. Alles Dinge, die so überhaupt nicht in die 90er passten, die ihr aber gefielen.
Und die Liebe. Ach, Lars.
Der Traum dauerte zwei Jahre, dann hatte er sich noch weiter weg geträumt. Auch weg von ihr. Er war einfach verschwunden. Verschwunden aus der Stadt, der Familie, der Schule, ihrem Leben. Und obwohl er ja auch sie verlassen hatte, hatte sie damals das Gefühl, seine Eltern würden ihr einen Teil der Schuld an seinem Verschwinden geben. Sie hatte nie erfahren, ob er wieder Kontakt zu seinen Eltern aufgenommen hatte, sie redeten nicht mehr miteinander. Aber er war ihre erste große Liebe gewesen, und das ist etwas, was man auch mit dem Ort verbindet, an dem man sie erlebt hat. Für einen kurzen Moment fühlte Heike sich zwischen Woodstock, Warburg und Bielefeld-Werther hin- und hergerissen und zupfte gedankenverloren an den Blättern eines kleinen Ficus, der es irgendwie schaffte, zwischen einem veralteten Kofferradio und einem seit wahrscheinlich seit drei Monaten unberührten Stapel Papieren auf der Fensterbank, die als Zweitablage diente, zu überleben.
Sie war noch zwei Jahre in Warburg geblieben, zum Teil, weil sie es als Verrat empfunden hätte, wenn nach Lars jetzt auch sie noch diese Stadt ihrer großen Liebe verlassen hätte, aber natürlich auch, weil ihre Mutter darauf bestanden hatte, erst einmal den Schulabschluss zu machen. Danach hatte sie noch ein Jahr in einer Keksfabrik gejobbt, ehe auch sie fortgezogen war.
Warburg.
Sie seufzte noch einmal, setzte sich wieder auf ihre Stuhl und ihren Kopfhörer gerade noch rechtzeitig auf, um den nächsten Anruf entgegen zu nehmen. Ein Unfall auf dem Ostwestfalendamm. Die Realität hatte sie wieder.
Obwohl er jetzt schon drei Jahre in Bielefeld lebte, war Armin für die Erfindung der Navigationsgeräte vor allem für den Innenstadtverkehr extrem dankbar. Wie üblich brauchte er fast eine Viertelstunde, bis er von seiner Wohnung in Babenhausen die Brackweder Straße und dann die Anschlussstelle zur A2 erreicht hatte. Man hatte ihm davon erzählt, das vor allem die Auswärtigen in Anlehnung an einen Marketingspruch der Stadt früher gerne von ´Bielefeld – die freundliche Baustelle am Teutoburger Wald´ gesprochen hatten, und konnte sich keinen rechten Reim darauf machen, warum das heute nicht mehr der Fall war. Die Babenhausener Straße war zu, ebenso die Ausweichstrecken. Heute schien wirklich alles nach Bielefeld zu wollen, oder hatte er irgendetwas verpasst? Bei seinen vielen Versuchen, über Nebenstraßen auszuweichen, kapitulierte auch sein Navi, das sich einfach nicht schnell genug einstellte und ihn sowieso auf die Hauptverkehrsstraßen leiten wollte. Der Klügere gibt nach, dachte er mit ein wenig Überheblichkeit, und folgte zurück auf die Hauptstrecke. Hier im Stau zu stehen oder Nebenwege zu erkunden, lief wohl auf`s Gleiche raus. Und das Aufsetzen eines magnetischen Blaulichts auf das Autodach mit anschließendem Spurt über plötzlich freie Straßen oder am besten Bürgersteige funktioniert vor allem in Fernsehkrimis. Im einspurigen Verkehr vor einer ampelgesteuerten Umleitung nützt das gar nichts. Vergeblich versuchte er während der zweiten Rotphase seinen Ärger über die Kollegen zu dämpfen, um dann bei der nächsten Umleitung wieder an seine Arminia zu denken. Verdammt, er hatte vergessen, Manni anzurufen. Sein Handy war wahrscheinlich in der Innentasche seiner Jacke, die auf dem Beifahrersitz lag, aber in dem Augenblick ging es dann doch weiter.
Irgendwann hatte er dann tatsächlich Brackwede hinter sich gelassen. Die A2 war immer voll, aber heute hielt sich das erstaunlicherweise in Grenzen. Und ab der A33 konnte er seine Konzentration etwas vom Verkehr und dem Navi lösen. Natürlich kannte er die 33, zumindest bis Paderborn, wo er manchmal in einem Anfall von kulturgeschichtlichem Interesse hingefahren war. Interessante Stadt. Aber die Strecke war fast topfeben und langweilig und erstaunlich frei. Das gab ihm Gelegenheit zum Nachdenken über das, was ihn wohl erwartete. Heike hatte nur von einer männlichen Leiche gesprochen. So weit, so schlecht. Bei Gewaltverbrechen waren Männer häufiger anzutreffen als Frauen, sowohl unter den Opfern als auch unter den Tätern, also insofern nichts Besonderes. Wenn sie nicht mehr gesagt hatte, bedeutete das eigentlich nur, dass die Kollegen vor Ort auch noch nicht mehr wussten und ihn also nicht sofort in ein Vernehmungszimmer führen würden, wo er nur noch das Geständnis aufnehmen musste. Mein Gott, die Kollegen hatten wahrscheinlich noch nie mit einem Mord zu tun gehabt! Wer weiß, was die mittlerweile alles am Tatort angestellt hatten! Die Spusi wird sich freuen! Immerhin würde Heike sich schon um alles andere gekümmert haben, dafür war sie Profi.
Verdammt, dafür war sie eingestellt worden, empfand er erstmal wenig Dankbarkeit.
Im Stadtverkehr ließ Armin das Autoradio normalerweise aus, weil er sich lieber auf den Verkehr konzentrierte, aber auf der Autobahn stellte er es dann doch an. Weniger wegen der Staunachrichten, sondern weil er das Radio immer noch als den schnellsten Weg empfand, Informationen zu erlangen, auch und gerade aus der Region. Manchmal hört er Radio Hochstift, aber in der Regel wdr2 wegen der immer um halb gesendeten Regionalnachrichten. Die Hauptnachrichten hatte er gerade verpasst, aber Ugly Kid Joe mit ´Cats in the craddle´ konnten ihn für den Moment durchaus darüber hinwegtrösten. ein song mit genug speed und den richtigen Ablenkungsfaktor. Was er dagegen gar nicht gebrauchen konnte, war der Wortbeitrag über das Fußball-Wochenende, Schwerpunkt natürlich erste Liga, aber auch Arminia wurde angesprochen. Scheiße, er musste Manni anrufen. In dem Augenblick hörte er sein Handy klingeln. Wahrscheinlich Manni, der ihn vermisste. Oder doch Heike? War der Mann vielleicht doch nur überfahren worden, und das hatte man erst jetzt bemerkt? Der Standstreifen musste als Haltemöglichkeit reichen, es war eh nichts los auf der Autobahn. Schon nach dem fünften Klingeln hatte er das Gerät am Ohr: „Hallo?“ – „Guten Tag, Herr Leineweber: Dürfen wir Ihnen als treuen Kunden unseres Mobilfunknetzes heute ein ganz besonderes Ange …“ – „NEIN! NICHT JETZT!“, zeigte Armin sich wenig begeistert und bemerkte dabei gar nicht, dass er die Auflegen-Taste schon vor seiner Antwort gedrückt hatte. War das Alltag? Oder, anders gefragt, war es wirklich alltäglicher, Mörder zu suchen? Egal, genau das musste er jetzt tun.
Zurück auf die Bahn, Einfädeln war überflüssig. Immerhin, auch nach einer Viertelstunde war der Vorfall in Warburg noch mit keinem Wort im Radio erwähnt worden, und er hoffte, dass das so blieb. Er wollte nicht erst eine Meute Journalisten abwehren müssen, ehe er sich um den Tatort kümmern konnte. Wobei die Schaulustigen wahrscheinlich das größere Problem darstellen würden. aber immerhin konnten so die Verbrechenstouristen noch nicht die Straßen verstopfen und die Zufahrten zuparken. Er hoffte inständig, dass das so bliebe.
Hinter Paderborn wurde die Landschaft hügeliger, abwechslungsreicher, wofür er allerdings jetzt kein Auge hatte, und auf der A44 ab dem Autobahnkreuz Wünnenberg/Haaren auch der Verkehr wieder dichter.
Trotzdem genug Zeit, sich seine Vorgehensweise zurechtzulegen. Nicht, dass es da viele Alternativen gegeben hätte. Es kam viel darauf an, wie sich die örtliche Polizei am Tatort verhalten hatte. Irgendein hyperventilierender, übereifriger und völlig überforderter Ortspolizist konnte eine ganze Menge kaputt machen. Er stellte sich gerade vor, wie der Dorfsheriff, bemüht, Schaulustige vom Tatort fernzuhalten, alle Spuren zertrampelte, und stöhnte. Fast unwillkürlich trat er das Gaspedal noch ein wenig weiter durch, und die alte Maschine reagierte mit einem kraftvollen Brummen. Die Straße war frei genug, und er war ein sicherer Fahrer, also achtete er nicht auf den Tacho, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf den Verkehr. Er war von der A2 anderes gewohnt, hier zog lediglich eine lange Reihe LKW auf dem rechten Fahrstreifen dahin, die Art rollender Landstraße, die die Erfinder dieser Idee sicher nicht im Kopf gehabt hatten. Irgendetwas am Samstagfahrverbot für LKW hatten die Jungs nicht begriffen, aber das war jetzt nicht sein Problem. Der PKW – Verkehr war zu vernachlässigen, er musste nur auf eventuelle Elefantenrennen achten, aber sein Motor hatte immer noch Reserven. Durch das ständige Fahren auf der linken Spur und der Kette der LKW auf der rechten hatte er allerdings Schwierigkeiten einzufädeln, als sein Navi die Ausfahrt ankündigte. Gerade noch rechtzeitig fand er eine Lücke zwischen einem DHL-Gespann und einem Langholztransporter, um die Autobahn zu verlassen.
Von Warburg oder überhaupt irgendeiner Form menschlichen Habitats war nichts zu sehen. Also folgte er dem Navi und der Beschilderung nach links, wo sich hinter der Kuppe ein weites Tal und einen Kilometer weiter immerhin Anzeichen von Besiedlung zeigten. Anfangs war die Bundesstraße hier noch zweispurig, was ihm ermöglichte, zwei weitere LKW mit gefühlt nur wenig mehr als der erlaubten 100 Km/h zu überholen. Aber wo um alles in der Welt war dieses Kaff? Nach drei Kilometern forderte ihn sein Navi, dem er nie einen Namen gegeben hatte, auf, rechts abzubiegen, was erstaunlicherweise wieder mit der Beschilderung übereinstimmte. Als erstes Anzeichen von Zivilisation entdeckte er backbord eine Tankstelle und die Filiale einer amerikanischen Burger-Kette. Und eine Ampel, an der er sich wieder rechts orientieren musste. Er erreichte Warburg über die Straße ´Paderborner Tor´.
An dieser Ausfallstraße sah er die übliche Mischung aus randlagebedingtem Angebot: einen Baumarkt, ein Möbelhaus, eine weitere Tankstelle, ein Autohaus, ein Supermarkt. Andere Dienstleister und Serviceunternehmen, die nicht auf Laufkundschaft bauten, sondern denen Parkplätze wichtiger waren. Bäume begannen die Straße zu säumen, aber zu unregelmäßig, um eine Allee zu bilden. Als das Autoradio ´Crime oft he Century´ von Supertramp spielte, schaltete er es aus. So weit musste es dann doch nicht gehen. Nach kaum hundert Metern kam ihm ein Martinshorn entgegen: Auch die Feuerwehr musste hier in der Nähe beheimatet sein, hatte aber offensichtlich ein anderes Ziel als er. Auf der rechten Straßenseite verrieten Wohnhäuser, dass hier auch Menschen lebten, die die Angebote in Anspruch nehmen könnten. Dann öffnete sich hinter der Baumreihe eine freie Fläche, wohl Parkplätze, im Hintergrund von einem Hochhaus überragt. Wieder forderte ihn sein Navi auf, nach rechts auf die Hüffertstraße abzubiegen. Sehr knapp angebrachte Schilder gaben als mögliche Ziele ´Sportlatz Hüffert´, ´Hallenbad´ und ´Krankenhaus´ an. Letzteres musste wohl das Hochhaus sein. Dem gegenüber sah er so etwas wie einen zu groß geratenen Heuschober, ein durchaus ansehnliches Gebilde, das aber allein aufgrund der Größe den Kampf um die Dominanz des Areals gegen das Hospital von vornherein verloren hatte. Von so etwas wie einem Stadtzentrum war immer noch nichts zu sehen, also hoffte er, wenigstens der Tatort wäre mit einem großen roten Pfeil markiert.
Die Anweisungen seines Navi waren eindeutig, die örtlichen Gegebenheiten nicht. Natürlich hatte es ihm gesagt, links abzubiegen, aber nach hundert Metern urbaner Bebauung wich diese plötzlich zurück und gab einen weiten Blick über ein ausgedehntes, ansehnliches Tal frei, dessen offensichtlich neuere Bebauung am gegenüberliegenden Hang verriet, dass die Stadt mittlerweile weit über ihre alten Grenzen hinaus gewachsen war. Dadurch abgelenkt, hatte er die empfohlene Abfahrt lediglich für eine Parkplatzzufahrt gehalten und musste 50 Meter weiter wenden. Hinter der Abfahrt fand er einen Parkplatz und sah Absperrband. Er war da, Am Bittkreuz. In Warburg.
Armin Leineweber wusste, wie es sich in der Provinz lebt. Er war im tiefsten schleswig-holsteinischen Hinterland aufgewachsen, noch menschenleerer als Ostwestfalen. In Hohenwestedt, Landkreis Rendsburg-Eckernförde, mit gerade mal 5000 Einwohnern. Vor der Erfindung der Computerspiele und des Internets blieben einem Jungen nicht viele Möglichkeiten für Freizeitbeschäftigung. Fußball war natürlich eine davon. Er hatte es auch selbst ausprobiert. Aber während er auf der Straße einigermaßen akzeptiert war – es gab da immer noch den dicken Uli und den Günter mit seiner Brille wie Glasbausteine, die nach ihm in die Straßenmannschaften gewählt wurden – entpuppte er sich im Verein als Totalversager. Er stolperte immer wieder über seine eigenen Füße oder sogar den Ball, und wenn das mal nicht geschah, war er so aufgeregt, dass er nicht wusste, wohin mit der Pocke. Und dann war sie auch schon weg. Als dann die Lästereien zunahmen, von wegen er könne doch im nächsten match auch den Pfosten spielen, oder noch besser für den Gegner, hatte er die Nase voll. Also verlegte er sich aufs Zuschauen. Für einen kleinen Jungen liegt der Horizont viel näher als für einen Erwachsenen, und so galt seine erste Liebe Holstein Kiel. Eigentlich so nah, aber leider dann eben doch zu weit weg, um die Heimspiele der Störche aus eigener Kraft erreichen zu können. Und sein Vater war Handballer gewesen, mit wenig Verständnis für die Pöhlerei. Er hatte sogar Regionalliga gespielt, also eigentlich zweite Liga, für den damaligen TSV Flensburg, der später mit dem Partner-Verein Handewitter SV die erfolgreiche Spielgemeinschaft SG Flensburg-Handewitt bildete. Aber davon kann man natürlich nicht leben. Nicht im Handball, nicht in Deutschland. Also folgte er seiner Frau nach Hohenwestedt, als ihr dort eine Stelle an der örtlichen Sparkasse angeboten wurde, und suchte sich etwas frustriert einen Job als Einkäufer in einem Autohaus. Armin hätte dem Handball ja auch etwas abgewinnen können, nur gab es in diesem Dorf natürlich keinen Verein, der entsprechende Möglichkeiten anbot.
Irgendwann entdeckte die Dorfjugend die erste Fußball-Bundesliga, und er, dass es dort einen Verein gab, der fast so hieß wie er: Arminia Bielefeld! Viele seiner Freunde hatten sich den mächtigen und erfolgreichen HSV als Lieblingsverein ausgesucht, aber auch Hamburg war außerhalb jeder Reichweite, und dann konnte es auch die Arminia aus Bielefeld sein, für einen Jungen seines Alters genauso unerreichbar wie jeder andere Bundesligist auch. Arminia! Irgendwie hatte der Name was! Nicht so wie die Anderen, die fast alle einfach ein FC oder SC oder SV im Namen führen.
Um Fußball live erleben zu dürfen, blieb der Besuch der Spiele des heimischen A-Ligisten. Und Armin entdeckte bald seine Begabung, Spielsituationen einschätzen und die besonderen Fähigkeiten einzelner Spieler so beurteilen zu können, um mit entsprechenden taktischen Auswechselungen und Maßnahmen zu reagieren. Wenn man ihn denn gelassen hätte. Aber niemand erklärt einem 15jährigen, wie man Trainer wird, also ging er zur Polizei, als die Berufswahl anstand. Zu seinem Bedauern führte ihn sein Weg hartnäckig um Kiel herum, und als er dann zur Kripo wechselte, auch um die Stadien der Erstligisten, nämlich erst nach Hannoversch-Münden, und dann sogar nach Saarbrücken. Bis dann dieses Angebot aus Bielefeld kam. Einmal in einer Stadt zu wohnen, die einen Erstligisten beheimatet, und dann einfach mit dem Fahrrad zum Stadion fahren, dieser Wunsch hatte sich schon länger in ihm festgesetzt. Und als er hörte, dass die Stadt auch Leineweberstadt genannt wurde, hielt er es als ganz natürliches Vorzeichen, dass diese Stelle für ihn geschaffen worden war.
Er bewarb sich, bekam die Stelle, siedelte aus dem gemütlichen Saarland ins beschauliche Ostwestfahlen, um dann als Erstes den Abstieg seiner Arminia in die Zweite Liga zu erleben und dann mitansehen zu müssen, wie sie hoffnungslos der Dritten Liga entgegentaumelte. Trotzdem hielt er ihr weiterhin die Stange und versuchte, sie bei jedem Heimspiel zu unterstützen. Bei jedem. Außer heute. Heute musste er nach Warburg, weil der eigentlich zuständige Kollege bei einem Landesligaspiel war! Es war unfassbar!
Noch vor dem Absperrband fand Armin rund um eine kleine grüne Insel, die dem Platz den Charakter einer Sackgasse gab, genug Möglichkeiten, seinen Opel abzustellen. Er parkte neben einem Einsatzfahrzeug des THW und hoffte, dies möge kein Hinweis auf eine schwierige Einsatzlage sein. Am Absperrband runzelte eine erstaunlich junge Polizistin die Stirn, als er sich nährte. Er wäre gern höflicher oder persönlicher geworden, aber er hatte hier schließlich einen Job zu erfüllen, also zeigte er nur kurz seine Karte und ließ sich dann von ihr zum Tatort führen.
Sie betraten so etwas wie einen kleinen Park, durchschnitten von einem asphaltiertem Weg und ein paar Meter parallel dazu von einem einfachen Jägerzaun, auf dessen anderer Seite sich eine Baustelle und eine Ausgrabungsstelle um ihre Berechtigung stritten. Zwischendrin hatte wohl ein Bagger beim Zurücksetzen den Zaun übersehen und zwei Zaunelemente niedergewalzt, deren einzelne Latten jetzt scharf, aber zu zerstört, um wirklich bedrohlich zu wirken, in die Höhe ragten.
Die Polizistin führte ihn auf ein paar Sichtschutzwände zu, die offenbar von der Besatzung des THW-Lasters hier aufgestellt worden waren, zumindest entdeckte er in einiger Entfernung drei entsprechende blaue Uniformen, und die irritierenderweise mit Werbebannern örtlicher Geldinstitute und anderer Firmen behängt waren.
Auf dem Weg dorthin bemerkte Armin einen Polizisten der Motorradstreife, groß, in grüner Kluft und mit wildem rotem Haar und Bart, der relativ unbewegt mitten auf der Wiese stand. Wahrscheinlich hatte der die Leiche entdeckt, vermutete Armin, aber darum würde er sich später kümmern.
Obwohl überall Leute herumwuselten, war es erstaunlich still. Ein anderer Polizist rückte ein Zaunelement zur Seite, um ihm grußlos den Weg zum Tatort frei zu machen. Das war keine Unhöflichkeit, sondern offenbar echte Betroffenheit. In dem abgesperrten Areal fand Armin sowohl den Gerichtsmediziner als auch die Kollegen von der Spurensicherung schon bei der Arbeit.
Armin ging weiter bis zum Fuß des steinernen Kreuzes, das wohl der Namensgeber dieses Fleckchens war, und in dem er das Ziel irgendeiner sonntäglichen Prozession vermutete. Immerhin war er erfreut festzustellen, dass er den Pathologen kannte.
„Tag, Herr Polizeipräsident“, wählte der seine übliche Begrüßungsformel, wenn er und Armin sich dienstlich begegneten. Auch schon mal in Gegenwart des echten Polizeipräsidenten, was für Irritationen gesorgt hatte, aber er blieb dabei. Er schlug die Kapuze seines Schutzanzuges zurück und sah sich um, als wartete er auf noch jemand höher Gestellten. Immerhin streifte er sich den Plastikhandschuh von der rechten Hand, ehe er sie Armin reichte, und fuhr fort: “Wieso sind wir von der Spurensicherung eigentlich immer schneller vor Ort als Ihr Kommissare?“ Das war Oliver