Drei mal wir - Laura Barnett - E-Book
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Drei mal wir E-Book

Laura Barnett

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Beschreibung

Das erfolgreichste literarische Debüt des Jahres 2015 in England: ein Buch über die Macht des Augenblicks und ein Plädoyer für die Liebe. Eva und Jim sind neunzehn und Studenten in Cambridge, als ihre Wege sich 1958 zum ersten Mal kreuzen. Eine Fahrradpanne führt die beiden zusammen. Was dann passiert, wird den Rest ihres Lebens bestimmen. Wir folgen drei unterschiedlichen Versionen ihrer Zukunft, zusammen und getrennt. Sehen Eva dabei zu, wie sie eine berühmte Schriftstellerin wird. Und Jim, wie er für die Kunst seinen Beruf als Anwalt hinter sich lässt. Wir sehen Partner kommen und gehen, reisen mit ihnen nach London, New York und Los Angeles. In all den Jahren nimmt ihre Liebe immer wieder ungeahnte Wege, von den ersten drei Treffen bis hin zum Finale: drei Liebesgeschichten, ein Paar. «Drei mal wir» ist ein reicher Roman über die Was-wäre-wenn-Momente des Lebens. Darüber, wie ein Augenblick über unser Leben entscheiden kann. Und es ist ein Plädoyer für die Liebe – auch wenn man sie nicht immer gleich erkennt. «Drei mal wir» war in England das Sommerbuch des Jahres 2015: Nummer-1-Bestseller, verkauft in 22 Länder und ein sensationeller Presseerfolg. Die deutsche Ausgabe ist besonders liebevoll gestaltet: durchgängig vierfarbig, florale Vignetten und illustrierte Zwischentitel.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 630

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Laura Barnett

Drei mal wir

Roman

Aus dem Englischen von Judith Schwaab

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein Augenblick kann alles verändern

 

Eva und Jim sind neunzehn und Studenten in Cambridge, als ihre Wege sich 1958 zum ersten Mal kreuzen. Eine Fahrradpanne führt die beiden zusammen. Was dann passiert, wird den Rest ihres Lebens bestimmen.

Wir folgen drei unterschiedlichen Versionen ihrer Zukunft, zusammen und getrennt. Sehen Eva dabei zu, wie sie Kinder bekommt und eine berühmte Schriftstellerin wird. Und Jim, wie er für die Kunst seinen Beruf als Anwalt hinter sich lässt. Wir sehen Partner kommen und gehen, reisen mit ihnen nach London, New York und Los Angeles. In all den Jahren nimmt ihre Liebe immer wieder ungeahnte Wege, von den ersten drei Treffen bis hin zum Finale.

Über Laura Barnett

Inhaltsübersicht

WidmungMotto1938 – So fängt alles an.Erster TeilPannePierrotHerbstRegenMutterKathedraleZuhauseGypsophilaFlutBrückeGesichtRosa HausGastgeberinTänzerinAlgonquinAlgonquinZweiter TeilAusstellungLagerhausWattwürmerWunderAbschiedFrostDreißigDreißigDreißigEinladungEinladungErwartungMontmartreInterviewInselHeimkehrGeranienDichterPfefferkuchenNachglühenErdeFrühstückErdeDritter TeilBellaPronto soccorsoLandungMan RayVaterHamletSchneeballRatVermisstSechzigUmwegSechzigRettungPinienStrandKaddischKaddischKaddisch2014 – Und so endet es.DanksagungQuellenangaben

Für meine Mutter Jan Bild, die viele Leben gelebt hat.

Und für meinen Patenonkel Bob Williamson, der sehr vermisst wird.

Manchmal phantasierte er, dass er in der Stunde seines Todes, wie in einem Amateurfilm, all die Wege gezeigt bekäme, die er nicht eingeschlagen hatte, und wohin sie ihn geführt hätten.

Anne Tyler, Im Krieg und in der Liebe

You and me making history.

This is us.

Mark KnopflerundEmmylou Harris

1938

So fängt alles an.

Eine Frau steht an einem Bahnsteig, einen Koffer in der rechten Hand, ein gelbes Taschentuch in der linken, mit dem sie sich das Gesicht abtupft. Die von feinen Äderchen durchzogene Haut um ihre Augen ist feucht, der Kohlerauch kratzt sie in der Kehle.

Niemand ist da, um ihr hinterherzuwinken. Sie wollte nicht, dass sie sie begleiteten, obwohl ihre Mutter geweint hat, was sie jetzt bestimmt auch tut. Und doch steht sie jetzt auf Zehenspitzen und blickt suchend über das Gewusel von Hüten und Fuchspelzen. Vielleicht hatte ja Anton genug von Mamas Weinen, hat sie auf ihrem Toilettenstuhl die lange Treppe heruntergetragen und ihr die Handschuhe übergezogen. Doch es ist kein Anton da und auch keine Mama. Nur unbekannte Gesichter in der Bahnhofshalle.

Miriam steigt in den Zug und steht blinzelnd im schummrigen Licht des Ganges. Ein Mann mit einem schwarzen Schnurrbart und einem Geigenkasten schaut ihr ins Gesicht und dann auf ihren Bauch, der eine gewaltige Kugel ist.

«Wo ist Ihr Mann?», fragt er.

«In England.» Der Mann sieht sie an, legt den Kopf schief, wie ein Vogel. Dann beugt er sich vor und nimmt mit der freien Hand ihren Koffer. Sie will protestieren, doch er geht ihr bereits voraus.

«In meinem Abteil ist ein Platz frei.»

Sie reden auf der gesamten, langen Fahrt nach Westen. Er bietet ihr Hering und Gurken aus einer feuchten Papiertüte an, und Miriam bedient sich, obwohl sie Hering nicht ausstehen kann, denn sie hat seit mindestens einem Tag nichts mehr gegessen. Sie spricht es nicht aus, dass es in England gar keinen Ehemann gibt, aber er weiß es. Als der Zug an der Grenze ruckelnd zum Stehen kommt und die Grenzposten alle Fahrgäste auffordern auszusteigen, hält sich Jakob dicht bei ihr. Zitternd stehen sie da, der getaute Schnee durchweicht ihre undichten Schuhsohlen.

«Ihre Frau?», fragt einer der Soldaten Jakob und greift nach ihren Papieren.

Jakob nickt. Sechs Monate später, an einem strahlend klaren Tag in Margate, schläft das Baby in den kräftigen Armen seiner Ehefrau – denn das ist es, was Miriam wird.

 

Und auch hier fängt es an.

 

Eine andere Frau steht in einem Garten, inmitten der Rosen, und reibt sich das Kreuz. Sie trägt einen langen blauen Malerkittel, der ihrem Mann gehört. Er ist drinnen und malt, während sie über die große Kugel ihres Bauches streicht.

Es hat sich bewegt, ganz kurz, doch dann war es wieder vorbei. Ein Gartenkorb, halb gefüllt mit Schnittblumen, liegt zu ihren Füßen. Sie holt tief Luft und saugt den klaren, apfelartigen Duft nach frischem Gras ein. Vorhin, gleich in der Frühe, hat sie den Rasen mit einer Gartenschere getrimmt. Sie muss immer irgendetwas tun. Stillstand macht ihr Angst, die Leere legt sich dann über sie wie ein weißes Laken, so weich, so tröstlich. Und sie fürchtet, dass sie darunter einschläft und das Baby mit ihr.

Vivian bückt sich, um den Korb hochzuheben. In dem Moment verspürt sie ein heftiges Ziehen. Sie taumelt, stößt einen Schrei aus. Lewis kann sie nicht hören: Er lässt immer Musik laufen, wenn er arbeitet. Meistens Chopin, manchmal Wagner, wenn die Farben dunkler werden. Sie fällt zu Boden, der umgekippte Korb neben ihr. Rosen liegen verstreut auf dem Gartenweg, rot und rosa, die Blütenblätter zerdrückt und welk, und verströmen einen widerlich süßen Duft. Da ist der Schmerz wieder, Vivian schnappt nach Luft. Ihr fällt ihre Nachbarin, Mrs. Dawes, ein, und sie ruft nach ihr.

Kurze Zeit später packt Mrs. Dawes Vivian sicher an den Schultern und hievt sie auf die Bank neben der Tür, die im Schatten liegt. Sie schickt den Jungen vom Kaufmannsladen, der am Zaun gestanden und geglotzt hat, zum Arzt, während sie nach oben zu Mr. Taylor eilt. Was für ein sonderbarer kleiner Mann, mit seinem Schmerbauch und der Stupsnase; überhaupt nicht, wie sie sich einen Künstler vorstellen würde. Aber er ist liebenswert. Und charmant.

Vivian nimmt nichts mehr wahr außer den Wehen, der plötzlichen Kühle von Bettlaken auf ihrer Haut und wie sich Minuten zu Stunden dehnen, endlos, bis schließlich der Arzt zu ihr sagt: «Ihr Sohn. Da ist er, Ihr Sohn.» Dann blickt sie hinab und sieht ihn, erkennt ihn, wie er mit den wissenden Augen eines alten Mannes zu ihr emporblinzelt.

Erste Version

Panne

Cambridge, Oktober 1958

Später wird Eva denken: Wenn dieser rostige Nagel nicht gewesen wäre, hätten Jim und ich uns nie kennengelernt.

Manchmal wird ihr dieser Gedanke mit einer Wucht durch den Kopf gehen, dass ihr der Atem stockt. Dann wird sie ganz still daliegen, zusehen, wie sich das Licht an den Vorhängen vorbeistiehlt, und über den genauen Winkel ihres Reifens auf dem holprigen, grasbewachsenen Weg nachdenken; über den Nagel selbst, rostig und krumm; über den kleinen Hund, der am Wegrand schnüffelte und das Geräusch ihrer Gangschaltung und der Reifen auf dem Boden überhaupt nicht wahrnahm. Sie hatte dem Tier ausweichen müssen und war dann genau über den rostigen Nagel gefahren. Wie leicht – und wie viel wahrscheinlicher – wäre es gewesen, dass all diese Dinge nicht passiert wären?

Doch das wird später sein, wenn ihr ganzes Leben vor Jim wie tonlos erscheint, ohne Farbe, als wäre es kaum eines gewesen. Jetzt, im Moment der Panne, ist da nur ein kleiner Riss und das Zischen von entweichender Luft.

«Verdammt», sagt Eva. Sie tritt in die Pedale, doch ihr Vorderrad schlackert. Sie bremst, steigt ab, kniet vor dem Rad, um den Schaden zu begutachten. Der Hund hält sich reumütig im Hintergrund, bellt, als wollte er sich entschuldigen, tippelt dann seinem Besitzer hinterher, der mittlerweile ein gutes Stück weiter vorne ist – eine kleiner werdende Gestalt in sandfarbenem Trenchcoat.

Da ist der Nagel. Er sitzt an einem gezackten, mindestens fünf Zentimeter langen Riss im Reifen. Eva drückt die Ränder des Lochs zusammen, weitere Luft entweicht, ein raues Zischen. Der Reifen ist fast platt. Sie wird das Fahrrad zum College zurückschieben müssen, obwohl sie jetzt schon zu spät dran ist für das Tutorium. Professor Farley wird denken, dass sie ihren Aufsatz über die Vier Quartette nicht fertigbekommen hat, dabei hat sie sich zwei ganze Nächte damit um die Ohren geschlagen. Er liegt in ihrem Rucksack, ordentlich kopiert, fünf Seiten plus Fußnoten. Sie war ziemlich stolz darauf, hatte sich gefreut, ihn vorzulesen und den alten Farley aus dem Augenwinkel dabei zu beobachten, wie er sich vorbeugt und mit den Augenbrauen zuckt, was er immer tut, wenn ihn etwas wirklich interessiert.

«Scheiße», sagt Eva. In schwierigen Situationen kommt ihr Deutsch durch.

«Alles in Ordnung?»

Sie kniet noch immer, das Fahrrad lehnt schwer an ihr. Sie betrachtet den Nagel, fragt sich, ob sie größeren Schaden anrichtet, wenn sie ihn herauszieht, anstatt ihn drinzulassen. Sie blickt nicht auf.

«Alles klar, danke. Ist nur ein Loch.»

Der Mann, wer auch immer es ist, sagt nichts. Sie vermutet, dass er weitergegangen ist, doch dann bewegt sich sein Schatten auf sie zu: ein hutloser Mann, der in seine Jackentasche greift. «Vielleicht kann ich dir helfen. Ich hab Flickzeug dabei.»

Jetzt blickt sie auf. Hinter einer Baumreihe geht gerade die Sonne unter – in wenigen Wochen ist Michaelistag, und schon werden die Tage wieder kürzer –, wodurch der Mann im Gegenlicht steht und sein Gesicht nicht zu erkennen ist. Sein Schatten, der wie angewachsen an den Füßen mit den abgetragenen Halbschuhen wirkt, ist überdimensional lang, obwohl der Mann ganz normal groß ist. Er ist etwa in ihrem Alter, hat hellbraunes Haar, das einen Schnitt brauchen könnte. In der freien Hand hält er ein Penguin-Taschenbuch. Eva kann den Titel auf dem Rücken erkennen, Schöne neue Welt, und erinnert sich sofort an den Nachmittag, an dem sie sich vollkommen in Huxleys sonderbar erschreckender Zukunftsvision verloren hatte. Es war ein Wintersonntag, ihre Mutter buk in der Küche Vanillekipferl, und aus dem Musikzimmer stiegen die Geigenklänge ihres Vaters nach oben.

Sie legt das Fahrrad behutsam auf dem Boden ab und steht auf. «Das ist sehr freundlich von dir, aber ich weiß überhaupt nicht, wie man einen Reifen flickt. Bei mir macht das immer der Sohn von unserem Hausmeister.»

«Klar.» Er klingt heiter, kramt jetzt aber stirnrunzelnd in seiner Tasche. «Fürchte, da war ich etwas voreilig. Keine Ahnung, wo das Flickzeug ist. Tut mir leid, sonst hab ich immer welches dabei.»

«Auch wenn du gar nicht mit dem Rad unterwegs bist?»

«Ja.» Er trägt einen College-Schal – gelb und braun gestreift, wie eine Biene –, locker um den Hals geschlungen. Bestimmt ist er Student: Gewöhnliche Jungen aus der Stadt klingen irgendwie anders und tragen bestimmt keine Ausgabe von Schöne neue Welt mit sich herum. «Man soll im Leben immer auf alles vorbereitet sein. Außerdem bin ich meistens mit dem Rad unterwegs.»

Er lächelt, und Eva bemerkt, dass seine Augen dunkelblau, fast violett sind und seine Wimpern länger als ihre. Bei einer Frau würde man das als schön bezeichnen, bei einem Mann hat es etwas Beunruhigendes. Jedenfalls fällt es ihr schwer, seinem Blick zu begegnen.

«Dann bist du also Deutsche?»

«Nein», sagt sie etwas zu streng. Er schaut verlegen zur Seite.

«Oh. Entschuldigung. Hab dich fluchen gehört: Scheiße.»

«Verstehst du Deutsch?»

«Eigentlich nicht. Aber ich kann ‹Scheiße› in zehn Sprachen sagen.»

Eva lacht. Sie hätte nicht so schnippisch sein sollen. «Meine Eltern sind Österreicher.»

«Ach so.»

«Dann sprichst du ja doch Deutsch!»

«Nein, Liebling. Nur ein bisschen.»

Ihre Blicke begegnen sich, und auf einmal hat Eva das Gefühl, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben, aber sein Name fält ihr nicht ein. «Studierst du Anglistik? Wer hat dich denn auf Huxley gebracht? Ich dachte, was Moderneres als Tom Jones lassen sie uns gar nicht lesen.»

Er schaut auf sein Taschenbuch hinab und schüttelt den Kopf. «Nein, nein, den Huxley lese ich nur so. Ich studiere Jura. Aber wir dürfen trotzdem Romane lesen, weißt du.»

Sie lächelt. «Klar.» Dann hat sie ihn also nicht bei den Anglisten gesehen. Vielleicht hat ihn ihr mal jemand auf einer Party vorgestellt. David kennt so viele Leute – wie hieß noch dieser Freund von ihm, mit dem Penelope auf dem Caius-May-Ball getanzt hat, bevor sie mit Gerald zusammenkam? Der hatte allerdings himmelblaue Augen, ganz anders als diese hier. «Du kommst mir irgendwie bekannt vor. Sind wir uns schon mal begegnet?»

Der Mann legt den Kopf schief und schaut sie an. Er ist blass und sieht mit den Sommersprossen auf der Nase ziemlich englisch aus. Bestimmt werden sie beim ersten Sonnenschein sofort dichter und vermehren sich, und er hasst es und verflucht seine empfindliche Haut.

«Ich weiß nicht», sagt er. «Ich hab auch das Gefühl, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mich an dich erinnern würde.»

«Ich heiße Eva. Eva Edelstein.»

«Aha.» Er lächelt wieder. «An den Namen würde ich mich bestimmt erinnern. Ich bin Jim Taylor. Zweites Jahr, am Clare. Bist du am Newnham?»

Sie nickt. «Auch zweites Jahr. Und ich habe ein Problem, weil ich gerade mein Tutorium verpasse, nur weil irgendein Idiot hier einen rostigen Nagel hingeschmissen hat.»

«Ich müsste eigentlich auch in einem Tutorium sein. Aber ich hatte mir sowieso überlegt, heute nicht hinzugehen.»

Eva sieht ihn skeptisch an. Sie hat wenig übrig für Leute, die ihr Studium auf die leichte Schulter nehmen, weil sie es im Grunde für nebensächlich halten – meistens Jungs, und noch dazu solche, die auf einer teuren Privatschule waren. Doch ihn hatte sie eigentlich nicht für so einen gehalten. «Machst du das öfter?»

Er zuckt mit den Achseln. «Normalerweise nicht. Ich hab mich heute nicht besonders gut gefühlt. Aber jetzt geht es mir plötzlich schon viel besser.»

Einen Moment lang schweigen sie. Beide haben das Gefühl, sie müssten jetzt eigentlich gehen, doch keiner macht Anstalten dazu. Ein Mädchen in einem marineblauen Dufflecoat läuft vorbei und wirft ihnen einen kurzen Blick zu, dann noch einen: Sie hat Eva erkannt. Es ist diese Girton, die bei der Othello-Inszenierung am ADC-Theater, wo David den Iago gab, die Rolle seiner Frau spielte. Sie hatte ein Auge auf David geworfen, was jeder Idiot mitbekam. Doch Eva hat keine Lust, jetzt über David nachzudenken.

«Nun», sagt Eva, «am besten, ich mach mich mal auf den Weg. Vielleicht kann mir ja der Hausmeistersjunge den Reifen flicken.»

«Oder ich mache das. Wir sind sowieso viel näher am Clare als am Newnham. Ich suche mein Flickzeug, kümmere mich um den Reifen, und dann kannst du mir einen Drink ausgeben.»

Sie schaut ihm ins Gesicht, und auf einmal weiß Eva mit einer Gewissheit, die sie sich nicht erklären kann, dass das der Moment ist: der Moment, nach dem nichts mehr so sein wird, wie es vorher war. Sie könnte – nein, sollte – nein sagen, sich umdrehen, ihr Fahrrad durch die spätnachmittäglichen Straßen bis ans Tor des College schieben und dem errötenden Sohn des Hausmeisters ein Trinkgeld von vier Schilling anbieten, damit er ihr hilft. Doch das tut sie nicht. Stattdessen dreht sie ihr Fahrrad in die entgegengesetzte Richtung und läuft neben diesem jungen Mann her, diesem Jim, gefolgt von ihren Schatten, die sich auf dem langen Gras berühren und miteinander verschmelzen.

Zweite Version

Pierrot

Cambridge, Oktober 1958

In der Garderobe sagt sie zu David: «Ich hätte heute beinahe einen Hund mit dem Fahrrad überfahren.»

David blinzelt sie im Spiegel an. Er trägt gerade eine dicke Schicht weiße Schminke auf. «Wann?»

«Auf dem Weg zu Farley.» Seltsam, dass ihr das gerade jetzt wieder einfällt. Es war ziemlich heikel gewesen: Der kleine weiße Hund am Wegrand war nicht ausgewichen, als sie näher kam, sondern ihr sogar noch entgegengelaufen und hatte dabei mit seinem Stummelschwänzchen gewedelt. Sie wollte schon ausweichen, doch im allerletzten Moment, nur wenige Zentimeter von ihrem Vorderreifen entfernt, war der Hund plötzlich doch noch mit einem ängstlichen Fiepen zur Seite gesprungen. Eva war völlig perplex, bremste stark, jemand rief: «He, können Sie nicht aufpassen, wo Sie hinfahren?» Als sie sich umdrehte, sah sie ein paar Meter entfernt einen Mann in einem sandfarbenen Trenchcoat, der sie zornig anstarrte.

«Tut mir leid», sagte sie, obwohl sie eigentlich hatte sagen wollen: Nehmen Sie Ihren verdammten Köter gefälligst an die Leine!

«Alles in Ordnung?» Ein anderer Mann war aus der entgegengesetzten Richtung auf sie zugekommen. Er war jung, in ihrem Alter, trug eine Tweedjacke und einen College-Schal, den er sich lässig um den Hals geschlungen hatte.

«Geht schon, danke», sagte sie förmlich. Während sie wieder aufstieg, begegneten sich kurz ihre Blicke – er hatte ungewöhnlich dunkelblaue Augen mit mädchenhaft langen Wimpern –, und eine Sekunde lang war sie sich sicher, ihn von irgendwoher zu kennen. So sicher, dass sie schon zu einem kurzen Gespräch ansetzen wollte. Doch dann bekam sie, ebenso schnell, Zweifel, sagte nichts und radelte fort. Als sie einige Zeit später in Professor Farleys Tutorium saß und begann, ihren Aufsatz über die Vier Quartette vorzulesen, war ihr das Ganze bereits entfallen.

«Ach, Eva», sagt David jetzt. «Du bringst dich aber auch immer in die absurdesten Situationen.»

«Meinst du?» Stirnrunzelnd denkt sie, wie groß doch der Unterschied zwischen seiner Einschätzung ihrer Person – unorganisiert und liebenswert schusselig – und ihrer eigenen ist. «Es war nicht meine Schuld. Der blöde Köter ist mir reingelaufen.»

Doch David hört gar nicht zu. Er starrt angestrengt auf sein Spiegelbild, während er die Schminke auf dem Hals verstreicht. Er sieht lustig und melancholisch zugleich aus, wie ein französischer Pierrot.

«Hier», sagt sie. «Da hast du ein bisschen was ausgelassen.» Sie beugt sich vor, reibt mit der Hand an seinem Kinn herum.

«Nicht», sagt er scharf, und sie nimmt die Hand weg.

«Katz.» Gerald Smith steht an der Tür. Wie David trägt er ein langes weißes Gewand, und sein Gesicht ist nicht sehr gleichmäßig weiß geschminkt. «Aufwärmen für die Schauspieler. Ach, hallo, Eva. Könntest du mal Pen holen? Sie muss irgendwo draußen sein.»

Sie nickt. Zu David sagt sie: «Wir sehen uns dann später. Hals- und Beinbruch.»

Er greift sie am Arm, als sie gehen will, und zieht sie an sich. «Tut mir leid», flüstert er. «Sind bloß die Nerven.»

«Ich weiß. Mach dir keinen Kopf. Du wirst großartig sein.»

Er ist großartig, wie immer, denkt Eva eine halbe Stunde später. Sie sitzt auf einem der vorderen Plätze und hält die Hand ihrer Freundin Penelope. Während der ersten paar Szenen sind sie immer nervös, können kaum auf die Bühne schauen. Stattdessen spähen sie ins Publikum, versuchen die Reaktion der Leute einzuschätzen, gehen in Gedanken noch einmal den Text durch, den sie so oft geprobt haben.

In seiner Rolle als Ödipus hat David einen fünfzehnminütigen Monolog. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis er ihn auswendig konnte. Gestern Abend, nach der Kostümprobe, hat Eva bis Mitternacht in der leeren Garderobe mit ihm gepaukt, wieder und wieder, obwohl ihr Aufsatz noch nicht fertig war und sie sich eine weitere Nacht damit um die Ohren würde schlagen müssen. Heute Abend kann sie es kaum ertragen, David zuzuhören, doch seine klare Stimme stockt kein einziges Mal. Sie sieht, wie zwei Männer in der vorderen Reihe sich gebannt vorbeugen.

Hinterher treffen sie sich in der Bar und trinken warmen Weißwein. Eva steht bei Penelope. Sie ist groß, kurvig und hat scharlachrot geschminkte Lippen. Ihre ersten Worte an Eva, beim Erstsemesterdinner über den blitzblank gewischten Tisch hinweg, waren: «Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich würde jetzt sterben für eine Zigarette!» Susan Fletcher gesellt sich zu ihnen. Sie ist erst kürzlich vom Regisseur des Stückes, Harry Janus, für eine ältere Schauspielerin verlassen worden, die er bei einer Aufführung in London kennengelernt hat.

«Sie ist fünfundzwanzig!», sagt Susan, den Tränen nahe, als sie Harry mit schmalen Augen beobachtet. «Ich hab mir ihr Bild in der Spotlight angesehen. Sie sieht phantastisch aus. Wie soll ich da mithalten können?»

Eva und Penelope tauschen einen verstohlenen Blick. Eigentlich sollten sie auf Susans Seite sein, aber sie haben beide das Gefühl, dass die solche Dramen insgeheim genießt.

«Dann halt einfach nicht mit», sagt Eva. «Zieh dich aus dem Spiel zurück. Such dir jemand anders.»

Susan blinzelt sie an. «Du hast gut reden. David ist vollkommen besessen von dir.»

Eva folgt Susans Blick durch den Raum zu David, der ins Gespräch mit einem älteren Mann in Weste und Hut vertieft ist – gewiss kein Student, aber er hat auch nicht das leicht verstaubte Aussehen eines Professors. Vielleicht ist er ein Londoner Agent. Er sieht David mit der Miene eines Mannes an, der damit gerechnet hat, einen Penny zu finden, und auf einmal eine druckfrische Pfundnote in der Hand hält. Und warum auch nicht? David ist wieder in Zivil, das Revers seines Sportjacketts ist lässig arrangiert und sein Gesicht frisch abgeschminkt: groß, gutaussehend, charismatisch.

Während Evas gesamten ersten Studienjahrs war der Name «David Katz» auf den Fluren und in den Gemeinschaftsräumen von Newnham in aller Munde, wurde gewöhnlich in einem erregten Flüstern geäußert. Er ist jetzt am King’s, weißt du. Er ist Rock Hudson wie aus dem Gesicht geschnitten. Er hat Helen Johnson auf Cocktails eingeladen. Als sie sich dann endlich kennenlernten – er spielte im Sommernachtstraum den Lysander und Eva die Hermia, in einem frühen Versuch auf der Bühne, bei dem sich ihr Verdacht bestätigte, dass aus ihr nie eine Schauspielerin werden würde –, wusste sie, dass er sie beobachtet hatte und mit dem üblichen Erröten, dem koketten Lachen rechnete. Doch sie hatte nicht gelacht, fand ihn geckenhaft, selbstverliebt. David schien es gar nicht zu bemerken. Als sie alle zusammen nach der Leseprobe im Eagle etwas trinken gingen, hatte er sie nach ihrer Familie gefragt, nach ihrem Leben, und das mit einem Interesse, das vielleicht doch nicht gespielt sein konnte. «Du möchtest Schriftstellerin werden?», hatte er gefragt. «Wie wundervoll.» Er hatte mit geradezu unheimlicher Genauigkeit ganze Szenen aus Hancock’s Half Hour für sie zum Besten gegeben, bis sie nicht mehr anders konnte als lachen. Ein paar Tage später, nach den Proben, hatte er vorgeschlagen, zu zweit etwas trinken zu gehen, und Eva hatte, in einem plötzlichen Ansturm von Erregung, zugestimmt.

Das war vor sechs Monaten gewesen, um Ostern herum. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob ihre Beziehung den Sommer über halten würde. David hatte einen ganzen Monat bei seiner Familie in Los Angeles verbracht (sein Vater war Amerikaner und hatte irgendwelche glamourösen Beziehungen zu Hollywood), und sie selbst hatte bei einer archäologischen Exkursion in der Nähe von Harrogate vierzehn Tage lang im Dreck herumgewühlt (was tödlich langweilig gewesen war, aber immerhin hatte sie in den langen Dämmerstunden zwischen Abendessen und Zubettgehen Gelegenheit zum Schreiben gefunden). Doch er meldete sich oft aus Amerika, schrieb, rief sogar an. Und als er wieder zurück war, war er nach Highgate zum Tee gekommen, hatte ihre Eltern bei Lebkuchen bezaubert und war mit Eva in den Ponds schwimmen gegangen.

An David Katz, fand Eva mittlerweile, war wesentlich mehr dran, als sie zuerst gedacht hatte. Sie mochte seine Intelligenz, seine kulturelle Bildung. Er nahm sie mit zu Chicken Soup With Barley im Royal Court, was ihr ausnehmend gut gefiel. David schien mindestens die Hälfte der Besetzung zu kennen. Ihr gemeinsamer familiärer Hintergrund machte alles leichter. Die Familie seines Vaters war von Polen in die USA ausgewandert, die seiner Mutter von Deutschland nach London, und sie wohnten in einer ansehnlichen edwardianischen Villa in Hampstead, durch den Park einen Katzensprung entfernt vom Haus ihrer Eltern.

Und dann war da auch noch, wenn Eva ganz ehrlich war, sein Aussehen. Sie selbst war nicht gerade eitel. Von ihrer Mutter hatte sie zwar ein gewisses Stilempfinden geerbt – ob es nun um den Schnitt einer Jacke oder die Einrichtung eines Zimmers ging –, aber man hatte ihr auch schon früh beigebracht, den Intellekt höher zu schätzen als körperliche Schönheit. Und doch genoss Eva, wie sich die meisten Köpfe drehten, wenn David den Raum betrat. Wie allein seine Anwesenheit auf einer Party den Abend irgendwie strahlender und aufregender machte. Bis zum Herbstsemester waren sie ein Paar geworden – sogar ein gefeiertes, mitten in Davids illustrem Bekanntenkreis aus frischgebackenen Schauspielern, Theaterautoren und Regisseuren –, und Eva war hin und weg von seinem Charme und seinem Selbstvertrauen, von den Flirtversuchen seiner Freunde, von deren Insiderwitzen und unerschütterlichem Glauben an den eigenen Erfolg.

Vielleicht entsteht Liebe ja genau so, schrieb sie damals in ihr Notizbuch: aus diesem unmerklichen Übergang von bloßer Bekanntschaft zu Intimität. Eva ist nicht gerade erfahren mit Männern. Den einzigen Freund, den sie vorher hatte, Benjamin Schwartz, hatte sie bei einer Tanzveranstaltung an der Highgate Boys’ School kennengelernt. Er war schüchtern, hatte den Blick einer Eule und war der felsenfesten Überzeugung, eines Tages ein Mittel gegen den Krebs zu entdecken. Er hatte niemals mehr versucht, als sie zu küssen oder ihre Hand zu halten. Oft fühlte sie in seiner Anwesenheit Langeweile aufkommen, wie ein unterdrücktes Gähnen. David hingegen ist nie langweilig. Er ist voller Energie, ein Mensch in Technicolor.

Jetzt, quer durch die Bar des ADC, begegnen sich ihre Blicke. Er lächelt, haucht ein «Tut mir leid».

Susan bemerkt es und sagt: «Siehst du?»

Eva nippt an ihrem Wein und genießt dieses verbotene Gefühl, auserwählt zu sein; etwas, das köstlich und begehrt ist, in greifbarer Nähe zu haben, als müsste sie nur die Hand danach ausstrecken.

Als sie David zum ersten Mal in seinem Zimmer am King’s College besuchte (es war ein schwülheißer Junitag, am Abend würden sie zum allerletzten Mal zusammen im Sommernachtstraum aufreten), hatte er sie vor seinen Badezimmerspiegel geführt, als wäre sie ein Mannequin. Dann war er hinter sie getreten, hatte ihr Haar so zurechtgeschoben, dass es ihr in großen Wellen über die nackten Schultern fiel, denn sie trug ein ärmelloses Baumwollkleid.

«Siehst du, wie schön du bist?», sagte er.

Eva hatte ihr zweiköpfiges Spiegelbild durch seine Augen erblickt, wusste plötzlich genau, was er meinte, und hatte einfach gesagt: «Ja.»

Dritte Version

Herbst

Cambridge, Oktober 1958

Er sieht sie von weitem fallen: ganz langsam, bedächtig, wie in einer Abfolge von Einzelbildern. Ein kleiner weißer Hund, ein Terrier, der am Wegesrand schnüffelt, hebt den Kopf und schickt seinem Herrchen, einem Mann im sandfarbenen Trenchcoat, der bereits ein gutes Stück voraus ist, ein vorwurfsvolles Bellen hinterher. Die junge Frau kommt angeradelt. Sie ist viel zu schnell, das dunkle Haar flattert hinter ihr wie eine Fahne. Er hört, wie sie das helle Geräusch ihrer Fahrradklingel mit ihrer Stimme übertönt: «Weg da!» Doch der Hund, angelockt von irgendeiner Attraktion, denkt gar nicht daran, ihr auszuweichen, sondern läuft ihr schnurstracks direkt vor den Vorderreifen.

Die Frau weicht aus, kommt vom Weg ab, gerät ins Straucheln und fällt zu Boden. Sie landet mitten im hohen Gras, sie verdreht sich den Fuß, der in einem seltsamen Winkel absteht. Jim, der mittlerweile nur noch ein paar Meter entfernt ist, hört sie auf Deutsch fluchen: «Scheiße.»

Der Terrier wartet einen Moment, wedelt betrübt mit dem Schwanz und flitzt dann seinem Herrchen hinterher.

«He, alles in Ordnung?»

Die Frau schaut nicht auf. Jetzt kann er aus der Nähe sehen, dass sie klein und schmal ist, etwa in seinem Alter. Ihr Gesicht ist hinter den Haaren verborgen.

«Ich bin mir nicht sicher.»

Ihre Stimme klingt atemlos, abgehackt: der Schock natürlich.

Jim verlässt den Weg, geht auf sie zu. «Ist was mit deinem Knöchel? Möchtest du mal versuchen, ob du ihn belasten kannst?»

Und da ist ihr Gesicht: schmal, wie der ganze Rest von ihr. Ihre flinken Augen mustern ihn abschätzend, ihre Haut ist dunkler als seine, leicht gebräunt. Er hätte sie für eine Italienerin oder Spanierin gehalten, niemals für eine Deutsche. Sie nickt, zuckt leicht zusammen, als sie versucht hochzukommen. Sie reicht ihm nur bis knapp unter die Schulter. Eine Schönheit ist sie vielleicht nicht, aber sie kommt ihm irgendwie bekannt vor, vertraut. Nein, er kennt sie ganz bestimmt nicht. Jedenfalls noch nicht.

«Dann ist also nichts gebrochen.»

Sie schüttelt den Kopf. «Scheint nicht so. Es tut ein bisschen weh. Aber ich werd’s wohl überleben.»

Jim versucht zu lächeln, sie erwidert es nicht recht. «Das war ein ganz schöner Sturz. Bist du irgendwo gegengefahren?»

«Ich weiß nicht.» An ihrer Wange klebt etwas Dreck. Er muss gegen den Impuls ankämpfen, ihn wegzuwischen. «Muss ja eigentlich sein. Normalerweise fahre ich eher vorsichtig. Der Hund ist mir genau reingelaufen.»

Er blickt auf ihr Fahrrad, das wie besiegt am Boden liegt. Ein paar Zentimeter vom Vorderreifen entfernt liegt ein großer grauer Stein, kaum sichtbar im Gras. «Da ist er ja, der Übeltäter. Du musst mit dem Reifen drübergefahren sein. Soll ich mal nachschauen? Ich hab Flickzeug dabei.» Er nimmt sein Buch in die eine Hand – eine Ausgabe von Mrs. Dalloway, die er auf dem Nachttisch seiner Mutter gefunden hat, als er gerade fürs Herbstsemester packte; er hat es sich von ihr ausgeliehen, weil er hoffte, durch die Lektüre etwas über ihren Geisteszustand zu erfahren. Mit der anderen Hand greift er in seine Jackentasche.

«Das ist sehr nett von dir, aber wirklich, ich krieg das schon …»

«Es ist das Mindeste, was ich tun kann. Unglaublich, dass sich der Hundebesitzer nicht mal mehr umgeschaut hat. Nicht gerade galant, oder?»

Jim schluckt, denn er hat soeben angedeutet, dass seine Absichten durchaus galant waren. Der Held der Stunde scheint er aber nicht zu sein, sein Flickzeug ist nämlich nicht da. Er kramt in der anderen Tasche, doch dann fällt es ihm wieder ein: Veronica. Als er sich heute Morgen in ihrem Zimmer auszog, hatte er den gesamten Inhalt seiner Taschen auf ihre Spiegelkommode gelegt. Später hatte er dann nur seine Brieftasche, die Schlüssel und etwas Kleingeld eingesteckt. Das Flickzeug musste folglich noch dort liegen, zwischen ihren Parfümfläschchen, ihren Strassketten, ihren Ringen.

«Ich fürchte, ich habe gerade zu viel versprochen. Keine Ahnung, wo das Flickzeug ist. Tut mir leid, ich habe es sonst immer dabei.»

«Auch wenn du nicht mit dem Rad unterwegs bist?»

«Ja. Man soll im Leben auf alles vorbereitet sein. Und normalerweise bin ich das auch. Mit dem Rad unterwegs, meine ich.»

Sie schweigen einen Moment lang. Sie hebt den linken Fuß, lässt ihn langsam kreisen. Die Bewegung ist geschmeidig, elegant, wie bei einer Tänzerin.

«Wie fühlt es sich an?» Es überrascht ihn selbst, wie sehr er das wirklich wissen will.

«Es schmerzt ein bisschen.»

«Vielleicht solltest du zum Arzt gehen.»

Sie schüttelt den Kopf. «Ich bin mir sicher, etwas Eis und ein ordentlicher Gin tun es auch.»

Er betrachtet sie, wird nicht recht schlau aus ihr. Sie lächelt. «Dann bist du Deutsche?», fragt er.

«Nein.»

Mit so einem strengen Ton hat er nicht gerechnet. Er blickt zur Seite. «Oh. Tut mir leid. Ich hab dich fluchen hören. Scheiße.»

«Du sprichst Deutsch?»

«Eigentlich nicht. Aber ich kann ‹Scheiße› in zehn Sprachen.»

Sie lacht und zeigt eine beachtliche Reihe von schneeweißen Zähnen. Vielleicht doch zu gesund, denkt er, um mit Bier und Sauerkraut aufgewachsen zu sein.

«Meine Eltern sind Österreicher.»

«Ach so.»

«Du kannst es also doch!»

«Nein, Liebling. Nur ein bisschen.»

Während er ihr ins Gesicht blickt, wird Jim klar, wie gern er sie zeichnen würde. Er sieht sie beide mit ungewohnter Lebhaftigkeit vor sich: sie, lesend auf einer Ottomane zusammengerollt, ein Lichtstrahl fällt auf ihr Haar; er mit dem Zeichenblock, vollkommene Stille in dem hellen Raum bis auf das Kratzen des Bleistifts auf Papier.

«Studierst du auch Englisch?»

Ihre Frage holt ihn in die Wirklichkeit zurück: Dr. Dawson in den Sälen des Old Court, seine Kommilitonen aus dem Tutorium mit den fleischigen Gesichtern und dem akkurat gekämmten Haar, wie sie sich eifrig Notizen zum Thema «Ziele und Angemessenheit des Deliktrechts» machen. Er ist schon spät dran, aber es ist ihm egal.

Er blickt auf das Buch in seiner Hand und schüttelt den Kopf. «Jura, tut mir leid.»

«Oh. Ich kenne nicht viele Männer, die zum Vergnügen Virginia Woolf lesen.»

Er lacht. «Ich hab’s nur dabei, um etwas anzugeben. Es eignet sich super, um bei schönen Anglistinnen zu punkten. Die Frage ‹Findest du Mrs. Dalloway nicht auch großartig?› kommt anscheinend immer gut an.»

Sie lacht mit ihm, und er betrachtet sie noch einmal genauer. Ihre Augen sind nicht wirklich braun, an der Iris sind sie fast schwarz, am Rand eher grau. Den Ton hat er auf einem Gemälde seines Vaters gesehen: eine Frau mit englischem Himmel im Hintergrund. Mittlerweile weiß er, dass es sich bei der Frau um Sonia handelt; der Grund, warum seine Mutter das Bild nicht an der Wand haben will.

«Und du?», fragt er.

«Was denn?»

«Findest du Mrs. Dalloway nun großartig oder nicht?»

«Absolut.» Kurzes Schweigen. Dann: «Du kommst mir irgendwie bekannt vor. Ich dachte, ich hätte dich vielleicht in einer Vorlesung gesehen.»

«Höchstens, wenn du heimlich in Watsons spannende Vorlesungsreihe über römisches Recht reinhörst. Wie heißt du eigentlich?»

«Eva. Eva Edelstein.»

«Aha.» Es ist der Name einer Opernsängerin, einer Ballerina, und passt nicht recht zu dieser schmächtigen Frau, deren Gesicht er, das weiß Jim, später zeichnen und dann seine Konturen verwischen wird: die kantigen Wangenknochen, die tiefliegenden Augen mit den dunklen Schatten darunter. «Den hätte ich mir bestimmt gemerkt. Ich heiße Jim Taylor. Zweites Studienjahr, Clare. Ich würde sagen, du bist … am Newnham. Stimmt’s?»

«Volltreffer. Auch im zweiten Jahr. Ich bin gerade dabei, mir ziemlichen Ärger einzuhandeln, weil ich ein Tutorium über Eliot verpasse. Dabei habe ich meinen Aufsatz gestern Nacht noch fertiggekriegt.»

«Doppelt ärgerlich. Aber ich bin mir sicher, unter diesen Umständen wird man dir verzeihen.»

Sie blickt ihn an, den Kopf zur Seite geneigt. Aus ihrem Gesichtsausdruck könnte er nicht schließen, ob sie ihn interessant findet oder bloß sonderbar. Vielleicht fragt sie sich auch nur, warum er noch da ist. «Ich müsste eigentlich auch in einem Tutorium sein», sagt er. «Aber ich hatte mir sowieso überlegt, heute nicht hinzugehen.»

«Machst du das öfter?» Da ist er wieder, dieser strenge Unterton. Er möchte ihr erklären, dass er eigentlich nicht einer von denen ist, die ihr Studium vernachlässigen, ob nun aus Faulheit, Antriebslosigkeit oder aus dem dünkelhaften Gefühl heraus, es nicht nötig zu haben. Er möchte ihr so gerne sagen, wie es sich anfühlt, wenn man einen Lebensweg eingeschlagen hat, den man sich nicht selbst aussuchen konnte. Aber das geht natürlich nicht.

«Normalerweise nicht. Ich hab mich heute nicht besonders gut gefühlt. Aber jetzt geht es mir plötzlich schon viel besser.»

Einen Moment lang hat es den Anschein, als wäre damit alles gesagt. Jim weiß schon, was jetzt kommen wird: Sie wird ihr Fahrrad aufheben, sich umdrehen und es zurück zum College schieben. Er sucht verzweifelt nach irgendetwas, womit er sie aufhalten kann. Doch noch geht sie nicht. Sie schaut an ihm vorbei. Er folgt ihrem Blick und sieht ein Mädchen in einem marineblauen Dufflecoat, das sie anstarrt und dann hastig weitergeht.

«Kennst du die?», fragt er.

«Flüchtig.» Etwas an ihr hat sich verändert, er kann es spüren. Sie macht zu. «Ich muss jetzt weiter. Ich bin später noch mit jemandem verabredet.»

Ein Mann – natürlich gibt es da einen Mann. Langsam steigt Panik in ihm auf. Nein, er darf und wird sie nicht gehen lassen. Er streckt die Hand aus, berührt ihren Arm. «Geh nicht. Komm mit mir. Ich kenne da einen Pub. Da gibt’s jede Menge Eis und Gin.»

Er lässt die Hand auf dem rauen Baumwollstoff ihrer Bluse ruhen. Sie schüttelt sie nicht ab, sondern betrachtet ihn nur mit diesen wachsamen Augen. Er ist sich sicher, dass sie nein sagen und weggehen wird. Doch dann sagt sie: «Na gut. Warum nicht?»

Jim nickt, mit einer gespielten Lässigkeit, die er gar nicht empfindet. Er hat einen Pub in der Barton Road im Kopf, und er wird dieses verdammte Rad wenn nötig eigenhändig dorthin schieben. Er kniet sich hin, schaut sich das Fahrrad an. Ein Schaden ist nicht zu sehen, bis auf einen schmalen, spitz zulaufenden Kratzer am vorderen Schutzblech. «Sieht nicht so schlimm aus», sagt er. «Ich schiebe es für dich, wenn du magst.»

Eva schüttelt den Kopf. «Danke, aber das schaff ich schon.»

Und dann gehen sie gemeinsam los, verlassen die vertrauten nachmittäglichen Pfade und tauchen ein in die Dämmerung, jenes schummrige Grenzland, wo ein Weg eingeschlagen und ein anderer verpasst wird.

Erste Version

Regen

Cambridge, November 1958

Der Regen setzt ganz plötzlich ein, um kurz nach vier. Über dem riesigen Dachfenster haben sich die Wolken verdichtet. Ohne dass Jim es gemerkt hat, sind sie schiefergrau geworden, fast lila. Jetzt prasseln dicke Tropfen gegen das Glas, und im Raum wird es unnatürlich dunkel.

Jim legt seine Palette neben die Staffelei auf den Boden, geht durchs Zimmer und schaltet die Lampen ein. Doch bei dem künstlichen Licht wirken die Farben flach, uninspiriert. An vielen Stellen hat er zu dick aufgetragen, sind die Pinselstriche zu deutlich sichtbar. Sein Vater hat bei Nacht nie gemalt, er stand lieber früh auf und stieg hoch in sein Dachatelier, um die Morgenstunden zu nutzen. «Tageslicht lügt nie, Sohn», sagte er oft. Manchmal murmelte seine Mutter dann, so leise, dass Jim es gerade noch hören konnte: «Im Gegensatz zu manchen Leuten hier im Raum.»

Er legt die Palette ins Waschbecken, wischt die Pinsel an einem Lappen ab und stellt sie in ein mit Terpentin gefülltes Marmeladenglas. Farbspritzer landen auf dem Emaille. Bestimmt wird sich die Zugehfrau morgen wieder beschweren. «Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, diese Sauerei wegzumachen», wird sie sagen und die Augen verdrehen. Aber sie lässt sich mehr bieten als Mrs. Harold, die Frau, die letztes Jahr bei ihm sauber gemacht hat. Die hatte sich schon nach kurzer Zeit über Jim beschwert, und es dauerte nicht lange, bis er zu seinem Studienleiter zitiert wurde.

«Passen Sie doch ein bisschen besser auf, Taylor», hatte Dr. Dawson müde gesagt. «Wir sind hier nicht an der Kunstakademie.» Sie wussten beide, dass Jim gut weggekommen war. Dawsons Frau ist Malerin, und als Jim per Losverfahren die riesigen Räume mit den schrägen Decken und dem großen, vorhanglosen Dachfenster zugewiesen bekam, hatte er den starken Verdacht, sein Professor hätte dabei die Hand im Spiel gehabt.

Was Jims Leistungen angeht, scheint Dawsons Toleranz allerdings nachzulassen. In diesem Studienjahr hat er alle schriftlichen Arbeiten zu spät abgegeben und dafür immer nur mittelmäßige Noten bekommen. «Sie müssen darüber nachdenken», hatte der Professor erst letzte Woche gesagt, als er ihn zu sich zitierte, «ob Sie wirklich hierbleiben wollen, Mr. Taylor.» Und dann hatte er Jim mahnend über seine schwarz gerandete Brille hinweg angeschaut und gefragt: «Wollen Sie das denn?»

Natürlich will ich, denkt Jim jetzt. Allerdings nicht aus den Gründen, die Sie für mich vor Augen haben. Sie und meine Mutter.

Er fährt mit dem Finger leicht über die Leinwand, um zu prüfen, ob die Farbe getrocknet ist. Eva wird bald hier sein, er muss das Bild verhüllen, bevor sie kommt. Zu ihr wird er einfach sagen, es sei noch nicht fertig, aber in Wirklichkeit ist es das, jedenfalls so gut wie. Heute hat er an den Schattierungen ihres Gesichts gearbeitet, obwohl er sich eigentlich Treuhandverhältnissen und Teilhaberschaften hätte widmen müssen. Er hat Eva gemalt, während sie an seinem Schreibtisch saß und las. So konnten sie die lange Zeit, die sie ihm Modell saß, für beide Seiten nutzen. Das lockige Haar fiel ihr bis über die Schultern. Kaum hatte er einen groben Entwurf fertig, fiel ihm auf, dass er sie genau so angelegt hatte, wie er sie sich bei ihrer ersten Begegnung vorgestellt hatte.

Die Farbe ist trocken, Jim hängt ein altes Bettlaken über die Leinwand. Es ist Viertel nach vier. Eva ist schon eine Dreiviertelstunde zu spät, und es gießt immer noch, der Regen prasselt laut gegen die Scheibe. Auf einmal packt ihn die Angst. Vielleicht ist sie ja auf der Straße ausgerutscht, oder ein vom Platzregen überraschter Autofahrer hat sie angefahren und sie einfach auf der Straße liegen lassen. Er weiß, es ist irrational, aber so ist es nun mal jetzt mit ihm. Genauer gesagt ist es so, seit Eva vor vier Wochen in sein Leben getreten ist und er in ihres, mit der Unbeschwertheit alter Freunde, die einfach einen Gesprächsfaden wiederaufnehmen. Euphorie, gemischt mit Angst. Der Angst, sie zu verlieren, der Angst, nicht zu genügen.

An dem Tag, als sie sich kennengelernt hatten, er ihr das Rad geflickt, dann sein eigenes Rad geholt hatte und mit ihr zu einem Pub an der Grantchester Road gefahren war, hatte Eva ihm von ihrem Freund erzählt. Sie hatte David Katz vor sechs Monaten kennengelernt, bei den Proben zum Mittsommernachtstraum, wo sie gemeinsam auftraten. (Katz ist Schauspieler und hat sich bereits einen Namen gemacht, Jim hat von ihm gehört.) Aber sie sei nicht recht mit dem Herzen dabei, sagte sie, gleich am nächsten Tag wolle sie mit Katz Schluss machen. Am liebsten hätte sie es sogar sofort getan, doch am Abend war die Premiere seines neuen Stückes, Ödipus Rex. Sie hatte die Vorstellung verpasst, und es hätte ihn doppelt verletzt, wenn sie ihm auch noch gesagt hätte, aus welchem Grund.

Jim und Eva hatten im Hinterzimmer des Pubs gesessen, der Wirt kündigte die letzte Runde an. Es war genau sechs Stunden nachdem sie sich zum ersten Mal gesehen hatten, und eine Stunde und zehn Minuten nach ihrem ersten Kuss. Als Eva zu Ende gesprochen hatte, nickte Jim und küsste sie noch einmal. Er sagte ihr nicht, dass ihm in der Zwischenzeit eingefallen war, woher er Katz kannte. Dass Katz nämlich ein Freund seines alten Klassenkameraden Harry Janus war, der mittlerweile Englisch am John’s studierte. Jim war Katz mal auf einer Party begegnet und hatte ihn gleich unsympathisch gefunden, ohne dass er sagen konnte, warum. Doch vom heutigen Tag an – obwohl Katz’ beruflicher Erfolg so klar vorgezeichnet war, dass ein Scheitern eigentlich unvorstellbar war – würde Jim immer ein gewisses Mitgefühl für seinen Rivalen empfinden, die diffuse Großzügigkeit des Siegers. Schließlich war klar, dass ganz gleich, was Katz im Leben noch zustande brachte, Jim den weitaus größeren Preis mit nach Hause genommen hatte.

Dort in dem Pub hatte Jim Eva gestanden, dass es auch in seinem Leben jemanden gab, dem er beibringen musste, dass es vorbei war. Eva hatte ihn nicht nach dem Namen der Frau gefragt, und er wusste, hätte sie es doch getan, so wäre er ihm möglicherweise in dem Moment gar nicht eingefallen. Arme Veronica, konnte sie ihm wirklich so wenig bedeutet haben? Und doch war es so. Am darauffolgenden Tag hatte Jim sich mit ihr in einer Bar am Market Square auf einen Kaffee getroffen und Schluss gemacht, ohne auch nur zu warten, bis sie ausgetrunken hatte. Veronica hatte leise geweint. Die Tränen hatten ihre Schminke aufgelöst, und ein dunkler Streifen Wimperntusche lief ihr die Wange herunter. Ihre Trauer hatte ihn überrascht, aber nicht mehr als ein Gefühl von Verlegenheit in ihm hervorgerufen. Eigentlich hatte Jim gedacht, keiner von beiden hätte dem anderen etwas vorgemacht. Auf dem Rückweg zum College hatte er sich kurz gefragt, wie er so kalt sein konnte. Doch sein Unbehagen war rasch anderen, glücklicheren Gedanken gewichen. Der Erinnerung an Evas dunkelbraune Augen, als ihre Blicke sich begegneten, an den Druck ihrer Lippen, als sie sich küssten. Jim würde so gut wie nie mehr an Veronica denken.

Ein paar Tage später hatte Eva Katz verlassen. Am darauffolgenden Freitag fuhr sie zum Geburtstag ihrer Mutter allein nach London. Sie hätte Jim gerne mitgenommen, doch ihre Eltern hatten Katz erst diesen Sommer kennengelernt, und Eva wollte sie noch nicht mit der Nachricht einer neuen Beziehung konfrontieren. An genau diesem Abend war Jim zufällig beim ADC-Theater vorbeigekommen und hatte sich, einem unerklärlichen Impuls folgend, eine Eintrittskarte für die Abendvorstellung von Ödipus Rex gekauft.

Selbst unter der dicken weißen Schminke schien David Katz ein nicht zu unterschätzender Gegner zu sein: groß, charismatisch, mit einem lässigen und stolzen Auftreten, von dem selbst Jim erkannte, dass es attraktiv war. Außerdem war Katz genauso wie Eva jüdisch, und auch wenn er es niemals zugegeben hätte, fühlte sich Jim mehr als nur ein wenig eingeschüchtert von seinem Kontrahenten. Jim war ein Protestant bloß auf dem Papier, der nur getauft worden war, weil die Großmutter darauf bestanden hatte; folglich hatte er keinen rechten Begriff von jener gemeinsamen Glaubensgeschichte.

Hinterher hatte er sich aus dem Theater geschlichen, war ins College zurückgelaufen, lange in seinem Zimmer auf und ab gegangen und hatte gegrübelt, was Eva bloß an ihm, Jim, fand und was er ihr bieten konnte, worin Katz nicht besser war. Und dann war Sweeting gekommen, hatte an seine Tür geklopft und ihm gesagt, einige von den Kumpels seien auf dem Weg ins JCR, er solle aufhören, Trübsal zu blasen, und sich stattdessen lieber mit ihnen betrinken.

Jetzt, während es wie aus Kübeln gießt, drehen sich Jims Gedanken im Kreis, schneller und immer schneller: Katz war bei Eva; er hat sie zurückerobert; sie liegen in ihrem Zimmer, Haut an Haut. Jim greift nach seiner Jacke, läuft die Treppe hinunter, nimmt zwei Stufen auf einmal. Er wird bei der Lücke in der Hecke nachsehen – ihrer Lücke – für den Fall, dass sie doch gekommen ist und die Pförtnersloge umgehen wollte. (Der Pförtner hebt in letzter Zeit öfter tadelnd die Augenbrauen, weil Eva so häufig an ihm vorbeigeht. Dabei ist sie sicher nicht die einzige Studentin am Newnham, die ein Gutteil ihrer Zeit außerhalb ihres Colleges verbringt.) Im Parterre stößt er fast mit Sweeting zusammen.

«Na, du hast’s aber eilig, Taylor», sagt sein Freund, doch Jim läuft weiter, bemerkt nicht einmal, wie der Regen sein Haar durchnässt und ihm in den Hemdkragen fließt.

An der Hecke bleibt er stehen, flüstert ihren Namen, sagt ihn noch einmal, lauter. Und diesmal antwortet sie. «Ich bin hier», wispert sie.

Sie quetscht sich durch die Lücke, nasse Zweige streifen ihr Gesicht, ihren Mantel. Er versucht sie wegzuschieben, um es ihr leichter zu machen, doch die Äste geben nicht nach, springen zurück, zerkratzen ihm die Hände. Als sie vor ihm steht – patschnass, mit Schlamm bespritzt, atemlos, und sich entschuldigt, dass sie nach der Vorlesung noch in ein Gespräch verwickelt wurde und einfach nicht wegkonnte –, könnte er weinen vor Erleichterung. Er kämpft gegen den Impuls an, weil er ihn für unmännlich hält. Aber als er sie in die Arme nimmt, sagt er doch: «Und ich dachte, du würdest nicht kommen.»

Eva macht sich von ihm los, auf dem Gesicht genau die strenge Miene, die er lieben gelernt hat. Regen tropft von ihrer Nasenspitze auf den Boden. «Dummer Junge, mach dich nicht lächerlich. Wie könnte ich denn woanders sein wollen als hier?»

Zweite Version

Mutter

Cambridge, November 1958

«Musst du los?», fragt sie.

Jim zieht sich im Dämmerlicht ihres Zimmers an, dreht sich zu Veronica und sieht sie an. Sie hat sich auf die Seite gelegt, ihre Brüste sind zusammengedrückt, zwei feste, bleiche Hügel, wie Porzellan unter dem violetten Hemdchen. «Ja, leider. Ich muss zum Elf-Uhr-Zug.»

«Deine Mutter», sagt sie tonlos und sieht ihm dabei zu, wie er seine Socken anzieht. «Wie ist sie so?»

«Das willst du nicht wissen», sagt er und meint damit: Ich will es dir nicht sagen. Und tatsächlich liegt ihm sehr daran, jeglichen Kontakt zwischen Veronica und seiner Mutter zu vermeiden. Es sind gerade mal zehn Jahre Altersunterschied zwischen ihnen, was ihn jedes Mal entsetzt, wenn er darüber nachdenkt, und was Veronica gewiss noch mehr entsetzen muss.

Vielleicht spürt sie das, denn sie beharrt nicht auf dem Thema, sondern folgt ihm in ihrem seidenen Morgenrock nach unten, fragt ihn, ob er einen Kaffee will. Der Morgen ist trüb und wolkenverhangen, es wird bald regnen. Im dumpfen grauen Licht kommen ihm die Überreste vom gestrigen Abend erbärmlich vor. Die Weingläser, von denen ihres noch einen rosa Lippenstiftabdruck hat; die schmutzigen Teller, die in der Spüle vor sich hin gammeln. Er lehnt den Kaffee ab, küsst sie rasch auf die Lippen und überhört die Frage, wann sie sich wiedersehen.

«Nächste Woche ist Bill wieder da, denk dran», fügt sie leise hinzu, als er die Tür öffnet. «Wir haben nicht viel Zeit.»

Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss. Jim holt sein Rad, das er auf dem Weg seitlich des Hauses abgestellt hat. Als er es auf die Straße hinausschiebt, zuckt neben ihm ein Vorhang, doch er macht sich nicht die Mühe, sich umzudrehen. Auf einmal hat die Situation etwas seltsam Unwirkliches. Als wäre das gar nicht er, der jetzt in die Pedale tritt und auf den schwarzen Asphalt dieser unscheinbaren Vorstadtstraße hinausfährt und seine Geliebte zurücklässt (in Ermangelung einer besseren Bezeichnung). Eine Frau, die zwölf Jahre älter als er und mit einem Mann von der Handelsmarine verheiratet ist. Eigentlich, denkt er, als er auf die Mill Road abbiegt, um dem steten Verkehrsfluss auszuweichen, der sich vom Stadtzentrum bis zum Bahnhof schlängelt, hat doch sie damals die Initiative ergriffen, oder? Veronica war in der Universitätsbibliothek, wo sie einen Abendkurs zum Thema Alte Kulturen gab, in einer etwas staubigen Ecke zu ihm getreten und hatte ihn gefragt, ob er etwas mit ihr trinken gehen wolle. Natürlich hatte sie so etwas schon öfter gemacht, und sie würde es auch wieder tun. Das soll nicht heißen, dass er nicht freiwillig mitgegangen wäre – weit gefehlt –, doch ihm wird immer mehr bewusst, dass er sie kaum kennt und ihm auch nicht daran gelegen ist, sie besser kennenzulernen. Und dass das, was noch vor kurzem den aufregenden Geschmack des Verbotenen hatte, langsam zum dumpfen Klischee wird. Es muss aufhören, denkt er. Morgen sage ich es ihr.

Als er diesen Entschluss gefasst hat, fühlt er sich ein wenig besser. Er erreicht den Bahnhof und lehnt sein Fahrrad an ein freies Stück Mauer. Der Elf-Uhr-Zug aus King’s Cross hat Verspätung. Er setzt sich in die Cafeteria, trinkt schlechten Kaffee und isst eine Rosinenschnecke, bis der Zug endlich mit lautem Quietschen einfährt. Jim hat es nicht besonders eilig aufzustehen und schüttet gerade den letzten Rest der braunen Brühe herunter, als er aus der Bahnhofshalle seine Mutter rufen hört. Ihre Stimme klingt schrill. «James! James, mein Liebling! Deine Mummy ist hier! Wo bist du?»

Vivian ist gerade in einem Stimmungshoch, das hat er sofort gemerkt, als sie ihn vor zwei Tagen über die Pförtnerloge anrief und für Samstag ihren Besuch ankündigte. Ob das nicht eine nette Überraschung sei? Sinnlos, ihr zu sagen, dass das Studienjahr fast vorüber und er in zwei Wochen sowieso zu Hause wäre. Dass er bis dahin jede Menge Arbeit hätte, wenn Dr. Dawson in Betracht ziehen sollte, ihn nächstes Jahr wiederkommen zu lassen. Das heißt, wenn Jim das überhaupt will.

«Ja, das ist eine nette Überaschung, Mum», hatte er pflichtbewusst erwidert. Und jetzt sagt er ihr genau das Gleiche, als er sie draußen am Taxistand antrifft, wo sie immer noch nach ihm ruft. Sie trägt ein Kostüm aus hellblauer Wolle, einen rosa Schal und einen Hut, der mit roten Kunstrosen umkränzt ist. Als er sie umarmt, fühlt sie sich winzig an. Jedes Mal, wenn er sie sieht, kommt sie ihm zarter, durchsichtiger vor, als könnte sie sich irgendwann vor seinen Augen in Luft auflösen. Genau so hat sie ihm einmal ihre depressiven Phasen beschrieben. Damals war er noch klein, vielleicht neun oder zehn, es muss vor dem Tod seines Vaters gewesen sein. Er saß neben ihr auf dem Bett, bei zugezogenen Vorhängen, und sie sagte: «Es fühlt sich an, als würde ich verschwinden, jeden Tag ein bisschen mehr. Und es ist mir egal.»

Er lässt sein Fahrrad am Bahnhof stehen, bietet ihr an, ihr ein Taxi in die Stadt zu spendieren, doch sie will nichts davon wissen. «Lass uns zu Fuß gehen», sagt sie. «Es ist so ein schöner Tag.» So schön ist der Tag nun auch wieder nicht. Sie sind erst auf halber Strecke, auf der Mill Road, als die ersten Regentropfen ihre Schultern streifen, aber Vivian redet und redet, wie der buchstäbliche Wasserfall. Von ihrer gestrigen Zugfahrt von Bristol her: «Ich hab eine so reizende Dame kennengelernt, Jim. Ich hab ihr unsere Nummer gegeben. Ich glaube, wir könnten wirklich beste Freundinnen werden.» Von seiner Tante Frances, bei der sie in Crouch End übernachtet hat: «Sie hat ein Huhn gebraten, ein ganzes Huhn! Alle Kinder waren da, was für liebe kleine Wesen, und hinterher gab es Trifle, weil sie genau weiß, dass das mein Lieblingsnachtisch ist.»

Jim hat für sie einen Tisch im University Arms reservieren lassen. Vivian isst eigentlich lieber am College – «damit ich ein Gefühl dafür bekomme, wie es ist, du zu sein, Jim» –, aber als er sie das letzte Mal in die Uni-Cafeteria mitnahm, war sie schnurstracks an den Tisch der Dozenten gegangen und hatte einen von ihnen in ein Gespräch verwickelt. Es war dem verdatterten Mann erst nach einer halben Stunde gelungen, sich aus der Situation zu befreien. Für Jim war es wieder wie damals in der Schule, wenn er Vivian am Schultor winken sah, mit rotem Hut und in grünem Mantel, ein leuchtender Klecks inmitten der gedeckten Farbwelt der anderen Mütter. Und die Jungs um ihn herum gafften, rempelten sich mit dem Ellbogen an, flüsterten.

Nach dem Mittagessen spazieren sie durch die Stadt zum Clare, überqueren die Brücke auf ihren gewaltigen Pfeilern aus honigfarbenem Stein und drehen eine Runde im Park. Es hat aufgehört zu regnen, doch der Himmel ist noch immer bleigrau. Auch die Stimmung seiner Mutter wird zunehmend trüb. Beim Zierteich bleibt sie stehen, dreht sich zu ihm und sagt: «Du kommst doch bald heim, oder? Ich fühl mich so schrecklich allein da in der Wohnung.»

Er schluckt. Allein die Erwähnung dieses Ortes fühlt sich wie eine schwere Last auf seinen Schultern an. «In zwei Wochen bin ich daheim, Mutter. Das Studienjahr ist fast zu Ende. Weißt du nicht mehr?»

«Ach ja, natürlich.» Sie nickt, presst die Lippen aufeinander. Nach dem Mittagessen hat sie ihren Lippenstift neu aufgetragen. Er ist knallrot, was wohl zu den Blumen auf ihrem Hut passen soll, sich jedoch schrecklich mit dem Rosa des Schals beißt. Es ist ihr nicht besonders gut gelungen, die Farbe ist verschmiert. «Mein Sohn, der Anwalt. Der schlaue, schlaue Anwalt. Du bist überhaupt nicht wie dein Vater. Und du ahnst nicht, wie sehr mich das erleichtert.»

Ihre Stimmung verdüstert sich immer mehr. Auf einmal verspürt Jim den überwältigenden Drang zu schreien, seiner Mutter zu sagen, dass er es nicht mehr aushält, dass er wegmuss. Und sie zu fragen, warum sie darauf bestanden hat, dass er sich in Cambridge bewirbt statt an der Kunstakademie. Gewiss weiß sie doch, dass Malen das Einzige ist, was ihn wirklich glücklich macht. Aber er schreit nicht. Er sagt ruhig: «Übrigens, Mutter, habe ich darüber nachgedacht, nächstes Jahr nicht hierher zurückzukommen. Ich glaube wirklich nicht, dass ich …»

Vivian hat die Hände vors Gesicht geschlagen, und er weiß, dass sie weint. Im Flüsterton sagt sie: «Nicht, Jim. Bitte tu das nicht. Ich kann es nicht ertragen.»

Er sagt nichts mehr. Er nimmt sie mit in sein Zimmer in Memorial Court, damit sie sich das Gesicht waschen und ihr Make-up erneuern kann. Ihre Überschwänglichkeit ist wie weggeblasen. Langsam fällt sie wieder in das Tal hinab, und er spürt deutlich die altvertraute Mischung aus Frustration und Hilflosigkeit, den Wunsch zu helfen, der durch das Wissen gedämpft wird, dass es für ihn keinerlei Möglichkeit gibt, zu ihr durchzudringen.

Diesmal besteht Jim auf einem Taxi. Er bringt Vivian in ihr Abteil des Fünf-Uhr-Zuges, drückt sich noch einen Moment vor dem Fenster herum und überlegt, ob er einsteigen und sie zu seiner Tante begleiten soll, dafür sorgen, dass sie sicher dort ankommt. Einmal, im letzten Jahr, ist sie in einer ähnlichen Situation direkt hinter Potters Bar in einem leeren Abteil eingeschlafen und wurde, lange nachdem alle Fahrgäste den Zug verlassen hatten und dieser bereits auf einem Abstellgleis in Finsbury Park stand, vom Wachpersonal gefunden.

Doch er steigt nicht ein. Er bleibt auf dem Bahnsteig zurück, winkt sinnloserweise dem Gesicht seiner Mutter zu. Sie hat die Augen geschlossen und den Kopf gegen den Schonbezug der Nackenstütze sinken lassen. Er wartet, bis der Zug in der Ferne verschwunden ist und ihm nichts mehr zu tun bleibt, als sein Fahrrad zu holen und zurück in die Stadt zu radeln.

Dritte Version

Kathedrale

Cambridge & Ely, Dezember 1958

Am letzten Samstag im Studienjahr wachen sie in aller Frühe in Jims Zimmer auf, schlüpfen unbemerkt durch die Lücke in der Hecke und nehmen den Bus nach Ely.

Das Sumpfgebiet der Fens wird von einer dünnen, wässrigen Sonne beschienen, die so tief am Himmel steht, dass es aussieht, als würde sie fast den Horizont berühren. Der Wind kommt von Osten. Er hat auch in der Stadt geweht, schon seit Wochen haben sie ihn gespürt, haben ihre Schals fester um den Hals gebunden, haben beim Aufwachen ihren Atem als Dampfwolke in der eisigen Luft stehen sehen. Doch hier draußen gibt es keine Gebäude, die den Wind aufhalten können, nur viele Hektar Land, das aus getrocknetem Schlamm und flachen, krummen Bäumen besteht.

«Wann packst du?», fragt er. Morgen brechen sie auf. Jim nimmt den Mittagszug, er will die Fahrt für eine Nacht unterbrechen, um noch bei seiner Tante Frances in Crouch End vorbeizuschauen. Eva fährt nach dem Lunch, im Morris Minor ihrer Eltern, zusammen mit ihrem Bruder Anton, der müde und gereizt auf dem Sitz neben ihr hocken wird.

«Ich glaube, morgen früh. Dürfte höchstens ein oder zwei Stunden dauern. Und du?»

«Auch.» Er nimmt ihre Hand. Seine ist kalt, rau, der Zeigefinger schwielig vom harten Holz der Pinsel, die Fingernägel von Halbmonden verkrusteter Farbe eingerahmt. Letzte Nacht hat er ihr endlich das Porträt gezeigt. Er hat das Tuch mit der Geste eines Zauberers weggezogen, aber es war deutlich zu sehen, wie nervös er war. Eva gestand ihm nicht, dass sie schon vor ein paar Tagen heimlich einen Blick drauf geworfen hatte, als er gerade im Bad am anderen Ende des Flurs war. Sie hatte ihr Bild also schon gesehen. Und da war sie nun, in mehreren dicken Schichten Farbe und mit schwungvollen Pinselstrichen auf die Leinwand geworfen. Ganz und gar sie selbst und doch auch anders, irgendwie erhaben. Vor einer Woche war sie beim Arzt gewesen. Sie konnte es kaum ertragen, das Bild anzuschauen, ein solches Geschenk, und nichts zu sagen. Und doch, was hätte sie sagen sollen?

Auch jetzt schweigt sie, während sie aus dem Busfenster auf die gewaltige Leere des vorbeiziehenden Sumpflandes blickt. Weiter vorne schreit sich ein Baby heiser, während seine Mutter versucht, es zu trösten.

«Nun, Sie sind bereits im zweiten Monat», hatte der Arzt gesagt und ihr einen vielsagenden Blick zugeworfen. «Fast im dritten sogar. Sie müssen allmählich Vorkehrungen treffen, Miss Edelstein. Sie und Ihr …»

Er hatte den Satz absichtlich abgebrochen, und Eva sprach ihn nicht zu Ende. Sie dachte nur an Jim und an die Tatsache, dass sie ihn erst seit sechs Wochen kannte.

Selbst wenn er ihre Schweigsamkeit bemerkt, sagt er nichts. Auch er ist still und blass, tiefe Ringe unter seinen Augen verraten, wie müde er ist. Eva weiß, dass er sich nicht darauf freut, in die Wohnung in Bristol zurückzukehren, die er nicht als sein Zuhause betrachtet. Für ihn sind es einfach nur die Räume, die seine Mutter Vivian bewohnt. Sein Zuhause, hat er Eva gesagt, ist das Haus in Sussex, in dem er geboren ist. Rauer Feuerstein, davor ein Garten voller Rosen. Sein Vater, der unter dem Dach malt. Seine Mutter, die ihm Modell sitzt, Farben mischt oder in der alten Speisekammer im Erdgeschoss verschmierte Marmeladengläser mit Terpentin auswäscht. Genau dort befand sich Vivian auch, hat Jim erzählt, als sein Vater oben auf der Treppe stand, sich ans Herz griff und stürzte. Sie eilte aus der Speisekammer herbei, aber da lag er bereits leblos und mit verdrehten Gliedern am Fuße der Treppe. Jim war gerade in der Schule. Seine Tante Patsy hatte ihn abgeholt und in ein Haus zurückgebracht, das für ihn kein Zuhause mehr war. Ein Haus voller Polizisten, Nachbarn, die Tee kochten. Und seine Mutter schrie und schrie, bis die Ärzte kamen und es auf einmal ganz still wurde.

In Ely kommt der Bus vor einem Postamt ruckartig zum Stehen. «Alles aussteigen!», ruft der Fahrer, und sie stellen sich, immer noch händchenhaltend, hinter den anderen Fahrgästen an. Die Frau mit dem Baby, das endlich eingeschlafen ist. Ein älteres Paar, der Mann sauertöpfisch und mit flacher Mütze, die Frau dicklich und mit freundlichem Gesichtsausdruck. Sie begegnet Evas Blick, als sie aus dem Bus steigen. «Junge Liebe, was?», sagt sie. «Dann habt noch einen schönen Tag, ihr beiden.»

Eva dankt ihr, schmiegt sich an Jim. Die Kälte beißt ihnen ins Gesicht.