Drei Menschen - Maxim Gorki - E-Book

Drei Menschen E-Book

Maxim Gorki

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Beschreibung

Drei Männer suchen den Erfolg. Gorki's Roman schildert ihre dramatischen Geschichten, erzählt, wie der eine schließlich doch noch seinen Erfolg findet - für einen der drei Männer endet diese Suche aber mit einem frühen Tod.

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Maxim Gorki

Drei Menschen

Impressum

Cover: Drei Portraits von Walentin Alexandrowitsch Serow (1865-1911)

Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2017

ISBN/EAN: 9783958706033

2. Auflage

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.

Übersetzer: August Scholz

www.nexx-verlag.de

I

Mitten in den Wäldern von Kershenez finden sich zahlreiche einsame Gräber zerstreut; in ihnen modern die Gebeine frommer Greise, die sich zur Lehre der Altgläubigen bekannten, und von einem dieser Greise – Antipa hieß er – erzählt man sich in den Dörfern der Umgegend noch heute mancherlei.

Antipa Lunew, ein reicher Bauer von strengem Charakter, war bis an sein fünfzigstes Jahr in weltlicher Sünde versunken gewesen, hatte dann Einkehr bei sich gehalten und, von Schwermut ergriffen, seine Familie verlassen, um sich in die Waldeinsamkeit zu begeben. Dort, am Abhang einer steilen Schlucht, hatte er seine Einsiedlerzelle zurechtgezimmert, und hier lebte er acht Jahre lang, Sommer und Winter, ohne irgendjemand, seien es Bekannte oder Verwandte, Einlass zu gewähren. Zuweilen stießen Leute, die sich im Wald verirrt hatten, zufällig auf seine Zelle und sahen Antipa, im Gebet versunken, an ihrer Schwelle knien. Sein Anblick erregte Furcht: er war ausgemergelt vom Fasten und Beten und ganz mit Haaren bedeckt wie ein Tier. Wenn er einen Menschen sah, stand er auf und verneigte sich schweigend vor ihm bis zur Erde. Fragte man ihn, wie man aus dem Wald hinausgelangen könne, wies er, ohne ein Wort zu sagen, mit der Hand den Weg, verbeugte sich nochmals bis zur Erde, ging in seine Zelle und verschloss sich darin. Man hatte ihn häufig gesehen in den acht Jahren, aber kein Mensch hatte jemals seine Stimme vernommen. Seine Gattin und seine Kinder besuchten ihn; er nahm Speise und Kleidung von ihnen an und verneigte sich vor ihnen bis zur Erde, wie vor allen andern, doch sprach er auch zu ihnen, wie zu allen andern, nicht ein Wort.

Er starb in demselben Jahr, in dem die Einsiedeleien der Altgläubigen zerstört wurden, und sein Tod erfolgte auf solche Weise:

Der Polizeimeister kam mit einem Soldatenkommando in den Wald, und da sahen sie, wie Antipa mitten in seiner Zelle kniete und still für sich betete.

»Du!« schrie der Polizeimeister – »Mach', dass du fortkommst! Wir wollen deine Höhle hier zerstören! ...«

Doch Antipa hörte seine Stimme nicht. Und so laut auch der Polizeimeister schrie – der fromme Greis erwiderte ihm nicht ein Wort. Der Polizeimeister lies Antipa aus der Zelle herausschleppen. Aber seine Leute wurden verwirrt bei dem Anblick des Alten, der so andächtig und unentwegt im Gebet verharrte, ohne auf sie acht zu geben, und sie zögerten, von solcher Seelenstärke erschüttert, den Befehl des Polizeimeisters auszuführen. Nun gebot der Polizeimeister, die Zelle abzubrechen, und sie begannen behutsam, um dem Betenden nicht wehzutun, das Dach der Zelle abzutragen.

Die Beilhiebe erklangen über Antipas Haupt, die Bretter stürzten krachend zur Erde nieder, das dumpfe Echo der Schläge hallte durch den Wald, rings um die Zelle schwirrten unruhig die durch den Lärm aufgescheuchten Vögel, und das Laub der Bäume erzitterte. Der fromme Greis aber betete, als wenn er nichts sähe noch hörte ... Schon begannen sie die Balkenlagen der Zelle abzutragen, und immer noch lag ihr Bewohner unbeweglich auf den Knien. Und erst, als die letzten Balken zur Seite geworfen waren und der Polizeimeister selbst an Antipa herantrat und ihn bei den Haaren fasste, sprach Antipa, die Augen gen Himmel gewandt, leise zum Herrn: »Gnädiger Gott, verzeih ihnen!«

Und dann fiel er rücklings hin und war tot.

Als dies geschah, war Jakow, Antipas älterer Sohn, dreiundzwanzig Jahre und Terentij, der jüngere, achtzehn Jahre alt. Der stattliche, kräftige Jakow hatte schon als ganz junger Bursche den Spitznamen »Brausekopf« erhalten, und zur Zeit, da sein Vater starb, galt er als der tollste Zechbruder und Raufbold weit und breit in der Runde. Alle Welt beklagte sich über ihn – die Mutter, der Dorfälteste, die Nachbarn; man sperrte ihn ein, bestrafte ihn von Gerichts wegen mit Rutenhieben und prügelte ihn auch so, ohne Urteil der Dorfrichter, doch alles das vermochte Jakows leichtfertige Natur nicht zu zähmen, und immer enger wurde es ihm im Dorf, unter seinen altgläubigen Landsleuten, die so emsig und arbeitsam waren wie die Maulwürfe, jede Neuerung streng verdammten und trotzig an den Geboten des alten Glaubens festhielten. Jakow rauchte Tabak, trank Branntwein, kleidete sich auf deutsche Art, nahm an den Gebeten und Religionsübungen der Gemeinde nicht teil, und wenn ehrbare Leute ihm ins Gewissen redeten und ihn auf seinen frommen Vater verwiesen, dann meinte er nur spöttisch:

»Habt Geduld, meine verehrten Alten – alles hat seine Zeit. Ist erst das Maß meiner Sünden voll, dann will auch ich Buße tun. Jetzt ist es mir noch zu früh. Könnt mir auch mein Väterchen nicht als Beispiel vorhalten – der hat fünfzig Jahre lang gesündigt und nur acht Jahre Buße getan! ... Bis jetzt ist nur so viel Sünde an mir, wie Flaum am Leibe des jungen Nestvogels; sind mir erst richtig die Sündenfedern gewachsen – dann ist die Zeit zur Buße gekommen ...«

»Ein schlimmer Ketzer!« hieß es von Jakow Lunew im Dorf, und man hasste und fürchtete ihn. Zwei Jahre nach dem Tod des Vaters heiratete Jakow. Er hatte durch sein ausschweifendes Leben die schöne Wirtschaft, die sein Vater in dreißigjähriger, fleißiger Arbeit eingerichtet hatte, von Grund aus ruiniert, und kein Mensch im Dorf wollte ihm seine Tochter zur Frau geben. Irgendwoher, aus einem entfernten Dorf, hatte er eine hübsche Waise genommen, und um die Hochzeit auszurichten, hatte er den vom Vater angelegten Bienengarten verkauft. Sein Bruder Terentij, ein schüchterner, schweigsamer Mensch mit einem Buckel und ungewöhnlich langen Armen, hinderte ihn nicht in seinem wüsten Treiben; die Mutter lag krank auf dem Ofen und rief ihm mit unheilverkündender, heiserer Stimme zu:

»Ruchloser! Hab' Mitleid mit deiner Seele! ... Komm zur Vernunft!«

»Sorgt euch nicht, liebes Mütterchen!« versetzte Jakow. »Der Vater wird bei Gott mein Fürsprecher sein ...«

Anfänglich, fast ein ganzes Jahr hindurch, lebte Jakow mit seinem Weib still und friedlich, sogar zu arbeiten begann er. Dann aber wurde er wieder liederlich, verschwand für ganze Monate aus dem Haus und kehrte zerschlagen, abgerissen und verhungert zu seinem Weib zurück ... Jakows Mutter starb, und beim Leichenschmause schlug Jakow in der Trunkenheit den Dorfältesten, seinen alten Feind, blutig, wofür er in die Arrestanten-Kompanie gesteckt wurde. Als er seine Zeit abgesessen hatte, erschien er wieder im Dorf – mit glattgeschorenem Kopf, finster, voll Bosheit. Das Dorf hasste ihn immer mehr und übertrug seinen Hass auch auf Jakows Familie, namentlich auf seinen harmlosen Bruder Terentij, der von klein auf den Knaben und Mädchen zum Gespött gedient hatte. Jakow nannte man einen Verbrecher und Räuber, Terentij eine Missgeburt und einen Hexenmeister. Terentij schwieg zu allen Schmähungen, die ihm zuteilwurden, Jakow dagegen drohte offen jedermann:

»Lasst gut sein! Wartet nur! ... Ich will's euch anstreichen!«

Er war gegen vierzig Jahre alt, als im Dorf eine Feuersbrunst ausbrach; man beschuldigte ihn der Brandstiftung, und er wurde nach Sibirien verschickt.

In Terentijs Obhut verblieb nun Jakows Weib, das zur Zeit der Feuersbrunst den Verstand verloren hatte, und sein Sohn Ilja, ein ernster, kräftiger, schwarzäugiger Knabe von zehn Jahren. Sooft dieser Knabe sich auf der Dorfstraße zeigte, liefen die andern Kinder ihm nach und warfen ihn mit Steinen, die Großen aber riefen bei seinem Anblick:

»Hu, der junge Teufel! Die Sträflingsbrut! ... Krepieren sollst du! ...«

Zu schwerer Arbeit ungeeignet, hatte Terentij vor dem Brand mit Teer, Zwirn, Nadeln und allerhand Kleinkram Handel getrieben, aber der Feuersbrunst, die das halbe Dorf vernichtet hatte, war auch das Haus der Lunews und Terentijs ganzer Warenvorrat zum Opfer gefallen, so dass nach dem Brand die Lunews nichts weiter besaßen als ein Pferd und dreiundvierzig Rubel an barem Geld. Da Terentij einsah, dass er in seinem Heimatdorf auf keine Weise seinen Unterhalt finden konnte, ließ er die Schwägerin für fünfzig Kopeken monatlichen Pflegegeldes in der Obhut einer armen Bäuerin, erstand einen elenden alten Karren, setzte seinen Neffen hinein und beschloss, in die Gouvernementsstadt zu fahren, in der Hoffnung, dass ihm dort ein entfernter Verwandter der Lunews, Petrucha Filimonow, der in einem Wirtshaus Büfettier war, bei seinem Fortkommen behilflich sein würde.

Zur Nachtzeit, ganz heimlich wie ein Dieb, verließ Terentij mit seinem Wägelchen den heimischen Herd. Schweigend lenkte er sein Pferd und schaute mit seinen großen schwarzen Kalbsaugen immer wieder zurück. Das Pferd trottete im Schritt daher, der Wagen wurde tüchtig gerüttelt, und Ilja, der sich ins Heu eingewühlt hatte, war bald in kindlich festen Schlaf gesunken ...

Mitten in der Nacht wurde der Knabe durch einen beängstigenden, sonderbaren Ton geweckt, der wie das Heulen eines Wolfes klang. Die Nacht war hell, der Wagen hielt am Saum eines Waldes; das Pferd rupfte schnaubend das taufeuchte Gras in der Nähe des Wagens ab. Eine mächtige Kiefer stand einsam weit im Feld, wie wenn sie aus dem Wald vertrieben worden wäre. Die scharfblickenden Augen des Knaben spähten unruhig nach dem Onkel aus; in der Stille der Nacht vernahm man deutlich das dumpfe, vereinzelte Aufschlagen der Pferdehufe gegen den Boden, und das Schnauben des Gaules, das wie ein schweres Seufzen klang, und jenen unerklärlichen, bebenden Ton, der Ilja so in Schrecken setzte.

»Onkelchen!« rief er leise.

»Was gibt's?« versetzte Terentij hastig, während jenes Heulen plötzlich verstummte.

»Wo bist du?«

»Hier bin ich ... Schlaf nur ruhig! ...«

Ilja sah, dass der Onkel, ganz schwarz und einem aus der Erde emporgerissenen Baumstumpf gleichend, auf einem Hügel am Waldrand saß.

»Ich fürchte mich«, sagte der Knabe.

»Wovor kann man sich hier fürchten? ... Wir sind doch ganz allein ...«

»Es heult jemand so ...«

»Hast wohl nur geträumt ...«

»Bei Gott – er heult!«

»So ... vielleicht war's ein Wolf ... Doch er ist weit ... Schlaf nur! ...«

Aber dem kleinen Ilja war der Schlaf vergangen. Von der nächtlichen Stille wurde ihm so bang ums Herz, und in den Ohren klang ihm in einem fort jener seltsam klagende Ton. Er betrachtete mit Aufmerksamkeit die Gegend und sah, dass der Onkel dahin schaute, wo auf dem Berg, weit, weit im Wald, die weiße Kirche mit ihren fünf Kuppeln sich erhob, über der hell der große, runde Mond erglänzte. Ilja erkannte, dass es die Kirche des Dorfes Romodanowsk war; zwei Werst von ihr entfernt lag oberhalb einer Schlucht mitten im Wald ihr Heimatort Kiteshnaja.

»Wir sind noch nicht weit fort«, sagte Ilja nachdenklich.

»Was?« fragte der Onkel.

»Wir sollten doch weiter fahren, mein' ich ... Es wird noch jemand von dort herkommen ...«

Ilja nickte mit feindseligem Ausdruck in Richtung des Dorfes.

»Wir werden schon weiterfahren ... wart' nur! ...« versetzte der Onkel.

Wiederum wurde es still. Ilja stützte sich mit den Ellbogen auf den Vorderteil des Wagens und begann gleichfalls dahin zu schauen, wohin der Onkel schaute. Das Dorf konnte man in dem dichten, schwarzen Waldesdunkel zwar nicht sehen, doch es schien Ilja, dass er es wirklich sah, mit allen Häusern und Menschen und der alten Weide mitten auf der Straße, dicht neben dem Brunnen. Auf dem Boden, am Stamm der Weide, liegt sein Vater, mit Stricken gebunden, im zerrissenen Hemd; seine Arme sind auf dem Rücken gefesselt, die entblößte Brust tritt hervor, und der Kopf scheint an dem Baum festgewachsen. Unbeweglich, wie ein Toter, liegt er da und schaut mit schrecklichem Ausdruck in den Augen auf die Bauern. Es sind ihrer so viele, und sie alle schauen so böse drein, und sie schreien und schelten. Diese Erinnerung stimmte den Kleinen traurig, und es kitzelte ihn etwas in der Kehle. Es war ihm, als ob er im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen müsste, aber er wollte den Onkel nicht beunruhigen, und so hielt er an sich und krümmte, um sich zu erwärmen, seinen kleinen Körper noch mehr zusammen ...

Plötzlich vernahm er wieder jenen seltsamen, heulenden Ton. Wie ein schwerer, schluchzender Seufzer klang er zuerst, und dann wie ein unsagbar trauriges Wehklagen:

»O–o–u–o–o! ...«

Der Knabe fuhr ängstlich zusammen und horchte. Der Ton aber klang noch immer zitternd durch die Luft und nahm an Stärke zu.

»Onkelchen! Bist du es, der so heult?« schrie Ilja.

Terentij antwortete nicht und regte sich nicht. Da sprang der Knabe vom Wagen, lief zum Onkel hin, schmiegte sich fest an ihn und begann gleichfalls zu schluchzen. Mitten durch sein Schluchzen vernahm er die Stimme des Onkels:

»Ausgestoßen ... haben sie uns ... oh Gott! Wohin sollen wir gehen? ... Wohin?«

Und der Knabe sprach mit tränenerstickter Stimme:

»Wart' nur ... wenn ich groß bin ... will ich's ihnen vergelten! ...«

Als er sich ausgeweint hatte, schlief er ein. Der Onkel nahm ihn auf seine Arme und trug ihn in den Wagen, er selbst aber ging wieder auf die Seite und begann von neuem zu heulen, so langgezogen, kläglich ... wie ein kleiner Hund.

II

Ganz deutlich erinnerte sich später Ilja seiner Ankunft in der Stadt. Er erwachte früh am Morgen und sah vor sich einen breiten, trübfließenden Strom und jenseits desselben, auf einem hohen Berg, einen Häuserhaufen mit roten und grünen Dächern und dichte Gärten. Die Häuser stiegen dichtgedrängt und malerisch an dem Bergrücken immer höher empor, und oben auf dem Kamme des Berges zogen sie sich in gerader Linie hin und schauten von dort stolz über den Fluss hinweg. Die goldenen Kreuze und Kuppeln der Kirchen ragten über die Dächer hoch zum Himmel auf. Soeben war die Sonne aufgegangen; ihre schrägen Strahlen spiegelten sich in den Fenstern der Häuser, und die ganze Stadt flammte in grellen Farben, glänzte in lauter Gold.

»Ach, wie hübsch das ist!« rief der Knabe, während er mit weitgeöffneten Augen das wunderbare Bild betrachtete, und war ganz in schweigende Bewunderung versunken. Dann tauchte in seiner Seele der beunruhigende Gedanke auf, wo sie denn in diesem Häuserhaufen wohnen würden – er, der kleine Junge in den Höschen aus buntem Hanfleinen, und sein unbeholfener, buckliger Onkel? Wird man sie überhaupt da hineinlassen, in die saubere, reiche, große, goldschimmernde Stadt? Er glaubte, ihr Wägelchen stehe nur darum hier am Ufer des Flusses, weil man so arme Menschen nicht in die Stadt hineinlasse. Der Onkel, dachte er, war wohl nur fortgegangen, um Einlass zu erbitten.

Mit bekümmertem Herzen schaute Ilja nach dem Onkel aus. Rings um ihren Karren stand noch viel anderes Fuhrwerk: hier sah man hölzerne Fässer mit Milch, dort große Körbe mit Geflügel, Gurken, Zwiebeln, Rindenkörbe mit Beeren, Säcke mit Kartoffeln. Auf den Wagen und um sie herum saßen und standen Männer und Frauen von ganz besonderer Art. Sie sprachen laut, mit harter Betonung, und ihre Kleider waren nicht aus blauem Hanfgewebe, sondern aus buntem Zitz und grellrotem Baumwollstoff gefertigt. Fast alle trugen Stiefel an den Füßen, und obschon ein Mann mit einem Säbel an der Seite neben ihnen auf und ab ging, hatten sie doch nicht nur keine Angst vor ihm, sondern grüßten ihn nicht einmal. Das gefiel Ilja ganz besonders. Er saß auf dem Wagen, betrachtete das in hellen Sonnenschein getauchte, lebensvolle Bild und träumte von der Zeit, da auch er Stiefel und ein Hemd aus rotem Baumwollstoff tragen würde.

In der Ferne, mitten unter den Bauern, tauchte jetzt Onkel Terentij auf. Er kam mit großen, festen Schritten durch den tiefen Sand daher und trug den Kopf hoch erhoben; sein Gesicht hatte einen heiteren Ausdruck, und schon von weitem lächelte er Ilja zu, wobei er ihm die Hand entgegenstreckte und ihm irgendetwas zeigte:

»Der Herr ist uns gnädig, Iljucha! Hab' den Onkel gleich gefunden ... Da, nimm, kannst vorläufig was verbeißen! ...«

Und er reichte Ilja einen Kringel hin.

Der Knabe nahm ihn fast ehrfürchtig entgegen, steckte ihn hinter sein Hemd und fragte besorgt:

»Sie wollen uns wohl nicht 'reinlassen in die Stadt?«

»Gleich werden sie uns 'reinlassen ... Die Fähre wird kommen – dann setzen sie über den Fluss.«

»Wir auch?«

»Gewiss, auch wir werden 'rüberfahren ...«

»Ach! Und ich dachte schon, sie wollten uns nicht aufnehmen ... Und wo werden wir wohnen?«

»Das weiß ich nicht ...«

»Vielleicht in dem großen Haus dort, in dem roten ...«

»Das ist eine Kaserne! ... Dort wohnen Soldaten ...«

»Oder in diesem hier – da, in dem!«

»Nicht doch! Das ist für uns zu hoch! ...«

»Tut nichts,« meinte Ilja in überzeugtem Ton – »wir werden schon hinaufkriechen! ...«

»Ach, du!« seufzte Onkel Terentij und verschwand wieder irgendwohin.

Sie fanden ein Unterkommen ganz am Ende der Stadt, in der Nähe eines Marktplatzes, in einem großen, grauen Haus. Von allen Seiten lehnten sich an die Wände dieses Hauses allerhand Anbauten, die einen aus neuerer Zeit, die andern ebenso schmutziggrau wie das Haus selbst. Die Fenster und Türen in diesem Haus waren schief, und alles knarrte Und knackte darin. Die Anbauten, der Zaun, das Tor – alles stützte sich gleichsam gegenseitig und vereinigte sich zu einem großen Haufen halb verfaulten Holzes. Die Fensterscheiben waren trüb vom Alter, und ein paar Balken der Fassade standen weit vor, wodurch das Haus ein Ebenbild seines Besitzers wurde, der in ihm eine Schankwirtschaft betrieb. Dieser Besitzer war gleichfalls alt und grau; die Augen in seinem verlebten Gesicht glichen den Glasscheiben in den Fenstern; er stützte sich beim Gehen auf einen dicken Stock – offenbar war es ihm nicht leicht, seinen weitvorspringenden Bauch zu tragen.

In den ersten Tagen, die Ilja in diesem Haus verlebte, kroch er überall herum und beschaute sich alles. Das Haus setzte ihn durch seine außerordentliche Geräumigkeit in Erstaunen. Es war so dicht mit Menschen vollgepfropft, dass man glauben konnte, es wohnten mehr Leute darin als im ganzen Dorf Kiteshnaja.

Beide Stockwerke wurden für die Schankwirtschaft benutzt, die stets von zahlreichen Gästen besucht war, während in den Dachstuben eine Art ewig betrunkener Weiber logierte, von denen eine, Matiza mit Namen, eine mächtig große, schwarze Person mit tiefer Bassstimme, dem Knaben mit ihren dunklen, wild blickenden Augen Angst einjagte. Im Keller lebte der Schuster Perfischka mit seinem kranken, gelähmten Weib und seinem siebenjährigen Töchterchen, ferner ein alter Lumpensammler, »Großvater« Jeremjej, eine magere alte Bettlerin, die wegen ihrer Gewohnheit, immer laut zu keifen, der »Schreihals« genannt wurde, und der Droschkenkutscher Makar Stepanytsch, ein bejahrter, gesetzter, schweigsamer Mensch. In einer Ecke des Hofes befand sich eine Schmiede; hier flammte vom Morgen bis zum Abend das Feuer, Radschienen wurden zusammengeschweißt, Pferde beschlagen, die Hämmer erklangen, und der hochgewachsene, sehnige Schmied Ssawel Gratschew sang mit seiner tiefen, schwermütigen Stimme endlos lange Lieder. Zuweilen erschien in der Schmiede Ssawels Gattin, eine kleine, üppige Frau, dunkelblond, mit blauen Augen, Sie trug stets ein weißes Tuch auf dem Kopf, und dieser weißumhüllte Kopf nahm sich ganz seltsam aus in der dunklen Höhle der Schmiede. Sie ließ ein silbernes Lachen hören, während Ssawels Lachen ihr laut, als wenn er mit dem Hammer aufschlüge, antwortete. Öfter jedoch hörte man ihn brüllen als Antwort auf ihr Lachen.

In jeder Ritze des Hauses saß ein Mensch, und vom frühen Morgen bis zum späten Abend erzitterte das Haus von Lärm und Geschrei, wie wenn in ihm gleichwie in einem alten, rostigen Kessel irgendetwas siedete und kochte. An den Abenden krochen alle diese Menschen aus den Ritzen auf den Hof heraus, zur Bank, die neben dem Haustor stand; der Schuster Perfischka spielte auf seiner Harmonika, Ssawel brummte seine Lieder, und Matiza sang – wenn sie betrunken war – irgendetwas ganz Besonderes, sehr Trauriges, mit Worten, die niemand verstand – sang und weinte dazu bitterlich.

Irgendwo in einem Winkel des Hofes sammelten sich im Kreise um Großvater Jeremjej alle Kinder des Hauses und baten ihn:

»Großväterchen! Erzähl' uns doch eine Geschichte!«

Der alte Lumpensammler schaute sie mit seinen kranken roten Augen an, aus denen beständig über das runzelige Gesicht trübe Tränen rannen; dann zog er seine fuchsige alte Mütze tiefer in die Stirn und begann mit zitternder, dünner Stimme in singendem Ton zu erzählen:

»In einem Land, ich weiß nicht wo, wurde, ich weiß nicht wie, ein Freimaurer-Ketzerkind von unbekannten Eltern geboren, die für ihre Sünden von Gott dem Allwissenden mit diesem Sohn gestraft wurden ...«

Der lange graue Bart Großvater Jeremjejs bewegte sich zitternd, wenn er seinen schwarzen, zahnlosen Mund öffnete, sein Kopf wackelte hin und her, und über die Runzeln seiner Wangen rollte eine Träne nach der andern.

»Und gar vermessen war dieses Ketzerkind: glaubte nicht an Christus den Herrn, liebte die Mutter Gottes nicht, ging an den Kirchen vorüber, ohne den Hut zu ziehen, wollte Vater und Mutter nicht gehorchen ...«

Die Kinder hörten auf die dünne Stimme des Alten und schauten ihm schweigend ins Gesicht.

Aufmerksamer als alle andern hörte der blonde Jakow zu, der Sohn des Büfettiers Petrucha, ein mageres, spitznäsiges Bürschchen mit einem großen Kopf auf dem dünnen Hals. Wenn er lief, schwankte sein Kopf immer von einer Schulter zur andern, als wenn er sich losreißen wollte. Seine Augen waren gleichfalls groß und auffallend unruhig. Sie schweiften ängstlich über alle Gegenstände, wie wenn sie sich fürchteten, irgendwo haften zu bleiben, und wenn sie endlich auf irgendetwas ruhten, traten sie seltsam rollend aus den Höhlen und gaben den Zügen des Knaben einen schafsmäßigen Ausdruck. Er fiel in der Schar der Kinder sogleich durch sein zartes, blutleeres Gesicht und seine saubere, solide Kleidung auf. Ilja befreundete sich sehr schnell mit ihm; gleich am ersten Tag ihrer Bekanntschaft fragte Jakow seinen neuen Kameraden mit geheimnisvoller Miene:

»Gibt's bei euch im Dorf Zauberer?«

»Gewiss gibt's welche«, antwortete ihm Ilja. »Unser Nachbar konnte zaubern.«

»War er rothaarig?« erkundigte sich Jakow im Flüsterton.

»Nein, grau ... Sie haben alle graue Haare.«

»Die Grauen sind nicht schlimm, die sind gutherzig ... Aber die mit roten Haaren – ach, ich sag' dir! ... Die trinken Blut ...«

Sie saßen im hübschesten, gemütlichsten Winkel des Hofes, hinter einem Schutthaufen, unter den Holunderbüschen, die sich dort befanden. Auch eine große, alte Linde stand da. Man gelangte dahin durch eine schmale Spalte zwischen dem Schuppen und dem Haus; hier war es still, und außer dem Himmel über dem Kopf und der Wand des Hauses mit den drei Fenstern, von denen zwei vernagelt waren, konnte man aus diesem Winkel nichts sehen. Auf den Zweigen der Linde hüpften zwitschernd die Spatzen hin und her, und unten, am Fuß des Stammes, saßen die Knaben und plauderten über alles, was sie interessierte.

Ganze Tage lang wälzte sich gleichsam vor Iljas Augen lärmend und schreiend irgendein großes, buntes Etwas, das ihn blendete und betäubte. Anfangs war er ganz verwirrt in dem wüsten Durcheinander dieses Lebens. In der Schenke neben dem Tisch, auf dem Onkel Terentij, schweißtriefend und nass vom Aufwaschwasser, das Geschirr spülte, stand Ilja oftmals und sah zu, wie die Leute kamen, tranken, aßen, schrien, sangen, sich küssten und prügelten. Wolken von Tabaksqualm umwogten sie, und in diesem Qualm tummelten sie sich wie Halbverrückte.

»Ei, ei!« sagte der Onkel zu ihm, seinen Buckel schüttelnd und mit den Gläsern klappernd. »Was suchst du denn hier? Mach', dass du auf den Hof kommst! Sonst sieht dich der Wirt und schimpft ...«

»Aha, so geht es hier zu!« dachte Ilja und lief, betäubt von dem Schenkenlärm, auf den Hof. Hier klopfte Ssawel laut mit dem Hammer auf den Amboss und zankte mit seinem Gesellen. Aus dem Keller drang das muntere Lied des Schusters Perfischka ins Freie, und von oben vernahm man das Schelten und Schreien der betrunkenen Weiber. Ssawels Sohn Paschka, der »Zankteufel« genannt, ritt auf einem Stock im Hof herum und schrie mit zorniger Stimme seinem Ross zu:

»Vorwärts, du Racker!«

Sein rundes, keckes Gesicht war ganz voll Schmutz und Ruß; auf der Stirn hatte er eine Beule; durch die unzähligen Löcher seines Hemdes schimmerte sein gesunder, kräftiger Körper. Paschka war der schlimmste Raufbold und Krakeeler auf dem Hof; er hatte den unbeholfenen Ilja schon zweimal tüchtig durchgeprügelt, und als sich Ilja darüber weinend beim Onkel beklagte, zuckte dieser nur mit den Achseln und meinte:

»Was lässt sich da schon tun? Musst es halt ertragen ...«

»Ich will ihn aber nächstens verhauen, dass er genug hat!« drohte Ilja unter Tränen.

»Tu's nicht!« warnte der Onkel ihn streng. »Das darfst du auf keinen Fall! ...«

»Er darf es also tun – und ich nicht?«

»Er! ... Er ist ein Hiesiger ... und du bist fremd am Ort ...«

Ilja fuhr fort, gegen Paschka heftige Drohungen auszustoßen, aber der Onkel wurde böse und schrie auf ihn los, was bei ihm nur sehr selten vorkam. Da dämmerte in Ilja das Bewusstsein, dass er sich den »hiesigen« Kindern nicht gleichstellen durfte, und während er fortan sein feindliches Gefühl gegen Paschka verheimlichte, schloss er sich noch mehr an Jakow an.

Jakow führte sich stets sehr anständig auf; er prügelte sich nie mit andern Kindern und schrie sogar nur selten. An den Spielen nahm er fast gar nicht teil, doch sprach er gern davon, was für Spiele die Kinder in den Höfen der reichen Leute und im Stadtpark spielten. Unter den übrigen Kindern des Hauses war Jakow, außer Ilja, nur noch mit der siebenjährigen Maschka, der Tochter des Schusters Perfischka, einem zarten, gebrechlichen Mädchen, befreundet. Ihr kleines, dunkles Lockenköpfchen huschte vom Morgen bis zum Abend auf dem Hof hin und her. Ihre Mutter saß gleichfalls beständig in der Tür, die zum Keller führte. Sie war hochgewachsen, trug einen langen Zopf auf dem Rücken und nähte immer, tief über ihre Arbeit gebeugt. Sobald sie den Kopf erhob, um nach ihrer Tochter auszuschauen, konnte Ilja ihr Gesicht sehen. Es war ein gedunsenes, bläuliches, starres Gesicht – wie das Antlitz einer Toten. Auch ihre gutmütig blickenden schwarzen Augen hatten etwas Starres, Unbewegliches. Nie sprach sie mit jemandem, und auch ihre Tochter winkte sie nur durch Zeichen zu sich heran. Selten nur rief sie mit heiserer, halberstickter Stimme:

»Mascha!«

Anfangs gefiel Ilja irgendetwas an dieser Frau. Als er jedoch erfuhr, dass sie schon seit drei Jahren gelähmt war und bald sterben würde, bekam er Furcht vor ihr.

Einstmals, als Ilja in ihrer Nähe vorüberging, streckte sie den Arm aus, fasste ihn am Ärmel und zog den ganz Erschrockenen zu sich heran.

»Ich bitte dich, mein Sohn,« sagte sie, »sei gut zu unserer Mascha! ...«

Das Sprechen fiel ihr schwer, sie kam ganz außer Atem dabei.

»Sei zu ihr ... recht gut, mein Lieber! ...«

Sie schaute dabei bittend in Iljas Gesicht und ließ ihn dann los. Von diesem Tag an nahm Ilja sich gemeinsam mit Jakow der Schusterstochter ganz besonders an und ließ ihr seinen Schutz angedeihen. Es tat ihm wohl, die Bitte eines Erwachsenen zu erfüllen, umso mehr, als sonst alle großen Leute nur befehlend zu den Kindern sprachen und sie prügelten. Der Droschkenkutscher Makar stieß mit den Füßen nach ihnen und schlug sie mit dem nassen Lappen übers Gesicht, wenn sie beim Reinigen seiner Droschke zusehen wollten. Ssawel war wütend auf alle, die ihm aus Neugier in die Schmiede sahen, und warf mit den Kohlensäcken nach den Kindern. Der Schuster schleuderte jedem, der vor seinem Kellerfenster stehen blieb und ihm das Licht verstellte, den ersten besten Gegenstand, der ihm zur Hand war, an den Kopf ... Zuweilen schlugen sie die Kinder einfach aus Langerweile, oder um mit ihnen zu spaßen. Nur Großvater Jeremjej schlug sie niemals.

Bald kam Ilja zu der Überzeugung, dass das Leben im Dorf doch angenehmer sei als das Leben in der Stadt. Im Dorf konnte man hingehen, wohin man wollte, und hier hatte ihm der Onkel verboten, den Hof zu verlassen. Dort ist es geräumiger und stiller, dort haben alle Leute dieselbe, jedem verständliche Beschäftigung – hier dagegen tut jeder, was er will, und alle sind arm, alle essen fremdes Brot und sind halb verhungert.

Eines Tages beim Mittagessen sprach Onkel Terentij tief aufseufzend zu seinem Neffen:

»Der Herbst kommt heran, Iljucha ... Er wird uns beiden den Schmachtriemen anziehen! ... Oh Gott!«

Er versank in Nachdenken und sah sorgenvoll in seine Schüssel mit Kohlsuppe. Auch der Knabe wurde nachdenklich. Sie aßen beide am dem Tisch, auf dem der Bucklige das Geschirr abwusch.

»Petrucha meint, du solltest zusammen mit seinem Jaschka in die Schule gehen ... Es wäre wohl nötig, glaub's schon ... Ohne Bildung ist der Mensch hier wie ohne Augen. Aber da müsstest du neue Schuhe und neue Kleider haben für die Schule ... Oh Gott, auf dich setz' ich meine Hoffnung!«

Die Seufzer des Onkels und sein trauriges Gesicht machten Ilja das Herz schwer, und er schlug mit leiser Stimme vor:

»Komm, Onkel! Wir wollen von hier fortgehen! ...«

»Wohin denn?« fragte der Bucklige düster.

»Vielleicht in den Wald?!« meinte Ilja und war plötzlich ganz begeistert von seinem Einfall. Der Großvater hat auch so viele Jahre im Wald gelebt, wie du mir erzähltest! Und wir sind doch zu zweien! Bast könnten wir von den Bäumen schälen ... Füchse und Eichhörnchen könnten wir fangen ... Du schaffst dir eine Flinte an, und ich fange die Vögel in Dohnen. Weiß Gott! Auch Beeren gibt es dort, und Pilze ... Wollen wir hin, Onkel?«

Der Onkel sah ihn freundlich an und fragte lächelnd:

»Und die Wölfe? Die Bären?«

»Wenn wir eine Flinte haben?!« rief Ilja mutig. »Ich werde mich vor wilden Tieren nicht fürchten, wenn ich groß bin! Mit den Händen werde ich sie erwürgen! Ich fürcht' mich auch jetzt schon vor nichts. Hier ist das Leben nicht leicht. Wenn ich auch klein bin – das begreif' ich schon! Hier hauen sie auch viel derber als im Dorf ... Wenn der Schmied einem ein Kopfstück gibt, brummt der Schädel davon den ganzen Tag! ...«

»Ach du, Waise Gottes!« sagte Terentij weich, legte seinen Löffel fort und ging vom Tisch weg.

Am Abend desselben Tages saß Ilja, müde von seinen Entdeckungsfahrten im Hofe, auf dem Fußboden neben dem Tisch des Onkels. Er hörte im Halbschlaf ein Gespräch zwischen Terentij und Großvater Jeremjej, der gekommen war, um in der Schenke ein Glas Tee zu trinken. Der alte Lumpensammler hatte mit dem Buckligen innige Freundschaft geschlossen und setzte sich mit seinem Tee stets in die Nähe Terentijs.

»Tut nichts«, hörte Ilja Jeremjejs knarrende Stimme. »Hab' nur immer den einen Gedanken: Gott! Wie Sein Leibeigener bist du ... ein Knecht, heißt es in der Schrift! Er sieht dein Leben. Es wird ein herrlicher Tag für dich kommen, da wird Er zu Seinem Engel sagen: Mein himmlischer Diener, geh hin, erleichtere Meinem treuen Knechte Terentij das Leben! ...«

»Ich vertraue auch auf den Herrn, Großväterchen – was bleibt mir denn sonst übrig?« sprach Terentij leise.

Mit veränderter Stimme, die fast so klang wie die Stimme des Büfettiers Petrucha, wenn er zornig wurde, sagte der Alte zu Terentij:

»Ich will dir Geld geben, damit du Iljuschka für die Schule einkleiden kannst ... Will sehen, dass ich's zusammenkratze ... Borgen will ich's dir ... Wenn du mal reich bist, gibst du es mir wieder ...«

»Großväterchen!« rief Terentij leise.

»Halt, sei still! Unterdessen kannst du mir den Jungen lassen – er hat doch sonst hier nichts zu tun. Er kann mir behilflich sein ... statt der Zinsen ... Kann mir 'nen Knochen aufheben, oder ein Stück Lumpenzeug zureichen ... Brauch' dann nicht mehr so oft meinen Rücken zu krümmen, ich alter Mann ...«

»Ach du! Der Herr segne dich!« rief der Bucklige mit freudig bewegter Stimme.

»Der Herr gibt es mir, ich gebe es dir, du – dem Jungen, und der Junge wieder dem Herrn. So geht alles bei uns im Kreis ... Und keiner wird dem andern etwas schuldig sein ... Ist das nicht gut so? Ach, Bruderherz! Ich hab' gelebt, gelebt, habe geschaut, geschaut – und habe nichts geschaut außer Gott. Alles ist Sein, alles gehört Ihm, alles ist von Ihm, alles für Ihn! ...«

Ilja schlief ein während ihres Geflüsters. Am nächsten Morgen aber weckte ihn der alte Jeremjej frühzeitig mit dem fröhlichen Ruf:

»He, steh auf, Iljuschka! Wirst mit mir kommen – na, munter, munter!«

III

Nicht übel gestaltete sich Iljas Tagewerk unter der gütigen Hand des Lumpensammlers Jeremjej. An jedem Morgen weckte er den Knaben schon frühzeitig, und sie gingen dann bis zum späten Abend in der Stadt umher und sammelten Lumpen, Knochen, altes Papier, altes Eisen, Lederstückchen und so weiter. Groß war die Stadt, und viel Merkwürdiges gab es darin zu schauen, so dass Ilja in der ersten Zeit dem Alten nur wenig half, sondern sich immer nur die Leute und Häuser anschaute, alles anstaunte und über alles den Großvater ausfragte ...

Jeremjej plauderte gern. Den Kopf nach vorn geneigt und mit den Augen den Boden absuchend, ging er von Hof zu Hof, klopfte mit der eisernen Spitze seines Stockes auf das Pflaster, wischte sich mit dem zerrissenen Ärmel oder mit einem Zipfel des schmutzigen Lumpensacks die Tränen aus den Augen und erzählte seinem kleinen Begleiter beständig mit singender, monotoner Stimme allerhand Geschichten:

»Dieses Haus da gehört dem Kaufmann Ssawa Petrowitsch Ptschelin; ein reicher Herr, der Kaufmann Ptschelin!«

»Großväterchen,« fragte Ilja – »sag' doch, wie wird man reich?«

»Man arbeitet darauf hin, man müht sich, heißt das ... Tag und Nacht arbeiten sie und häufen Geld auf Geld. Dann bauen sie sich ein Haus, schaffen sich Pferde an und allerhand Geräte, und was sonst noch alles ... Lauter neue Sachen! Und dann mieten sie sich Kommis, Hausknechte und andere Leute, die statt ihrer arbeiten – sie selbst aber ruhen aus und leben einen guten Tag. Wenn's einer so gehalten hat, sagt man von ihm: er hat es mit ehrlicher Arbeit zu etwas gebracht ... Hm ja! ... Aber es gibt auch solche, die durch die Sünde reich werden. Vom Kaufmann Ptschelin erzählen die Leute, dass er eine Seele auf dem Gewissen habe, noch von seiner Jugend her. Vielleicht ist's nur Neid, dass sie so reden; vielleicht ist's auch Wahrheit. Ein böser Mensch, dieser Ptschelin; seine Augen gucken so scheu – immer irren sie hin und her, als ob sie sich verstecken wollten ... Aber vielleicht ist's Lüge, wie gesagt, was sie von Ptschelin erzählen ... Manchmal kommt's auch vor, dass ein Mensch mit einem Mal reich wird ... wenn er nämlich Glück hat ... Das Glück lächelt ihm eben ... Ach – nur Gott allein lebt in der Wahrheit, und wir alle wissen gar nichts! ... Wir sind eben Menschen, und die Menschen sind der Same Gottes, Samenkörner sind die Menschen, mein Lieber! Gott hat uns ausgesät auf der Erde – wachset nun! Und ich will sehen, was für ein Brot ihr ergeben werdet ... So steht's! Und jenes Haus dort gehört einem gewissen Ssabanjejew, Mitrij Pawlytsch mit Namen ... Er ist noch reicher als Ptschelin. Das ist nun freilich ein richtiger Spitzbube – ich weiß es! ... Ich urteile nicht, denn zu urteilen ist Gottes Sache, aber ich weiß es ganz bestimmt ... Er war nämlich in unserem Dorf Gutsvogt und hat uns alle ausgeplündert, alle verkauft! ... Lange hat Gott Geduld mit ihm gehabt, dann aber begann er mit ihm abzurechnen. Zuerst ist Mitrij Pawlytsch taub geworden, dann wurde sein Sohn von einem Pferd erschlagen. Und neulich ist ihm die Tochter aus dem Haus gelaufen ...«

Ilja hörte aufmerksam zu, während er zugleich die großen Häuser betrachtete, und warf zuweilen ein:

»Wenn ich doch nur mal mit einem Auge hineinschauen könnte!«

»Wirst schon hineinschauen! Lern' nur fleißig! Bist du erst groß geworden, dann wirst du schon da hineinschauen. Vielleicht wirst du auch selbst einmal reich ... Lern' erst mal leben und schauen ... ach ja, auch ich hab' gelebt, gelebt, habe geschaut, geschaut! ... Die Augen habe ich mir dabei verdorben. Da fließen nun meine Tränen ... und davon bin ich so mager und schwächlich geworden. Ausgeflossen, scheint's, ist meine Kraft mit den Tränen ...«

Angenehm war es Ilja, den Alten mit so viel Überzeugung und Liebe von Gott reden zu hören. Es erwuchs beim Anhören dieser Reden in seinem Herzen ein starkes, erfrischendes Gefühl der Hoffnung auf irgendetwas Gutes, Frohes, das ihn in der Zukunft erwartete. Er wurde heiterer und war jetzt mehr Kind als während der ersten Zeit seines Aufenthalts in der Stadt.

Mit Eifer half er dem Alten in den Schutthaufen wühlen. Sehr anziehend war es für ihn, mit dem Stock diese Haufen von allerhand Plunderkram zu untersuchen, und ganz besonders angenehm war es Ilja, die Freude des Alten zu sehen, wenn er in dem Müll irgendeinen ungewöhnlichen Fund machte. Eines Tages hatte Ilja einen großen silbernen Löffel gefunden, der Alte kaufte ihm dafür ein halbes Pfund Pfefferkuchen. Dann buddelte er einmal einen kleinen, mit grünem Schimmel bedeckten Geldbeutel aus, in dem mehr als ein Rubel Geld enthalten war. Öfter fand er auch Messer, Gabeln, Metallringe, zerbrochene Messingsachen, und in einer Schlucht, in der der Schutt aus der ganzen Stadt abgeladen wurde, grub er einmal einen unversehrten, schweren Messingleuchter aus. Für jeden kostbaren Fund dieser Art erhielt Ilja von dem Alten irgendeine Näscherei zum Lohn.

Hatte Ilja etwas Besonderes gefunden, dann schrie er freudig:

»Großväterchen! Guck' doch mal, guck' – wie hübsch!«

Der Alte aber sah sich unruhig nach allen Seiten um und ermahnte ihn flüsternd:

»So schrei doch nicht so, schrei nicht! ... Ach Gott!«

Er war stets in Angst, wenn sie solch einen seltenen Fund machten, nahm den gefundenen Gegenstand rasch aus Iljas Händen und versteckte ihn in seinem großen Sack.

Auch für Ilja hatte Großvater Jeremjej einen kleinen Sack genäht, und auch einen Stock mit eiserner Spitze hatte er ihm geschenkt. Der Junge war nicht wenig stolz auf diese Ausrüstung. In seinen Sack sammelte er allerhand Schachteln, zerbrochenes Spielzeug, hübsche Scherben, und es machte ihm Vergnügen, alle diese Sächelchen in dem Sack auf seinem Rücken zu wissen und zu hören, wie sie klapperten und klirrten. Der alte Jeremjej hatte ihn dazu angehalten, all diesen Kleinkram zu sammeln.

»Sammle dir nur diese hübschen Sachen und trag sie mit nach Hause. Wirst sie dort unter die Kinder verteilen, wirst ihnen Freude machen. Gern hat's der Herr, wenn der Mensch seinen Brüdern eine Freude macht ... Alle Menschen sehnen sich nach Freude, und doch ist so wenig davon in der Welt! So wenig, dass mancher Mensch sein Leben lang niemals der Freude begegnet, niemals!«

Das Suchen auf den städtischen Abladestellen gefiel Ilja besser als das Abklappern der Höfe. Dort, auf den öffentlichen Abladestellen, gab es keine Menschen, außer zwei, drei ebensolchen alten Leuten, wie Jeremjej war, da brauchte man nicht immer ängstlich nach allen Seiten Umschau zu halten, ob nicht der Hausreiniger kam, mit dem Besen in der Hand, und sie unter heftigen Scheltworten oder gar mit Schlägen vom Hof jagte.

Jeden Tag sagte Jeremjej zu dem Knaben, wenn sie so zwei Stunden lang ihre Nachforschungen fortgesetzt hatten:

»Genug für jetzt, Iljuscha! Wollen uns ein Weilchen setzen und ausruhen, wollen 'ne Kleinigkeit essen ...«

Er holte ein Stück Brot aus der Tasche hervor, bekreuzte sich und zerbrach das Brot. Nun aßen sie beide, und als sie gegessen hatten, rasteten sie wohl eine halbe Stunde, am Rand der Schlucht gelagert. Die Schlucht öffnete sich zum Fluss hin, und sie konnten diesen ganz deutlich sehen. Als breiter, silberschimmernder Streifen wälzte er langsam seine Fluten an der Schlucht vorüber, und wenn Ilja dem Spiel seiner Wellen folgte, verspürte er in sich den lebhaften Drang, mit ihnen zugleich dahinzugleiten. Jenseits des Ufers dehnten sich die Wiesen, Heuschober ragten dort gleich grauen Türmen empor, und weit am Horizont hob sich die dunkle, zackige Linie des Waldes vom blauen Himmel ab. Eine ruhige, milde Stimmung lag auf der Wiesenlandschaft – man spürte, dass dort drüben eine reine, durchsichtige, lieblich duftende Luft wehte ... Und hier war es so stickig von dem Geruch des gärenden Mülls; dieser Geruch legte sich beklemmend auf die Brust und kitzelte die Nase, und wie dem Alten rannen auch Ilja davon die Tränen über die Wangen ...

Auf dem Rücken liegend, schaute der Knabe zum blauen Himmel empor und konnte seine Grenzen nicht erschauen. Schwermut und Schläfrigkeit befielen ihn, und unbestimmte Bilder traten vor seine Seele. Es war ihm, als ob am Himmel droben ein gewaltiges, durchsichtig klares, mild wärmendes, zugleich gutes und strenges Wesen dahinschwebte, und dass er, der kleine Knabe, samt dem alten Großvater Jeremjej und der ganzen Erde sich in jene endlosen Weiten mit ihrem blauen Lichtmeer und ihrer leuchtenden Reinheit erhöbe ... Und sein Herz war erfüllt vom Gefühl einer stillen Freude.

Am Abend, wenn sie heimkehrten, betrat Ilja den Hof mit der wichtigen, selbstbewussten Miene eines Menschen, der sein Tagewerk ehrlich vollbracht hat. In dem berechtigten Wunsch nach Ruhe hegte er durchaus keine Lust mehr, sich mit solchen Albernheiten abzugeben, wie sie anderen kleinen Knaben und Mädchen gefallen. Allen Kindern auf dem Hof flößte er durch seine solide Haltung und den Sack auf seinem Buckel, in dem verschiedene interessante Raritäten steckten, eine entschiedene Hochachtung ein.

Der Großvater lächelte den Kindern freundlich zu und scherzte mit ihnen:

»Seht, Kinder, da sind die Lazarusse heimgekommen! Die ganze Stadt haben sie abgesucht. Überall haben sie die Nase 'reingesteckt! ... Geh, Ilja, wasch dir das Gesicht und komm dann in die Schenke, Tee trinken ...«

Ilja ging mit gewichtigem Schritt nach seinem Winkel im Keller, und der Schwarm der Kinder folgte ihm dahin und befühlte unterwegs vorsichtig den Inhalt seines Sackes. Nur Paschka verstellte ihm den Weg und fragte keck:

»Na, Lumpensammler! Zeig' mal, was du mitgebracht hast ...«

»Wirst doch warten können«, versetzte Ilja streng. »Lass mich erst Tee trinken, dann zeig' ich's euch.«

In der Schenke empfing ihn Onkel Terentij mit freundlichem Lächeln:

»Na, Arbeitsmann, bist du da? Hast dich wohl müde gelaufen, kleiner Brausekopf?«

Ilja hörte es gerne, dass man ihn einen Arbeitsmann nannte, und er erhielt diesen Titel nicht bloß vom Onkel. Eines Tages hatte Paschka irgendeinen dummen Streich gemacht, und Vater Ssawel hatte seinen Kopf zwischen die Knie genommen und ihm eine gehörige Tracht Prügel verabreicht.

»Dir will ich's besorgen, Schelm du! Du sollst mir noch mal frech werden. Da hast du – da ... und noch eins! Andere Kinder in deinem Alter verdienen sich selber ihr Brot, und du kannst nichts als fressen und die Kleider zerreißen! ...«

Paschka schrie, dass es im ganzen Haus widerhallte, und zappelte mit den Beinen, während der Strick auf seinen Buckel niedersauste. Ilja hörte nicht ohne Genugtuung die Schmerzensschreie seines Feindes, und zugleich erfüllten ihn die Worte des Schmiedes, die er auf sich bezog, mit dem Bewusstsein seiner Überlegenheit über Paschka. Das weckte andrerseits in ihm das Mitleid mit dem Gezüchtigten.

»Onkel Ssawel, hör' auf!« rief er plötzlich.

Der Schmied versetzte seinem Sohn noch einen Hieb, sah sich dann nach Ilja um und sprach ärgerlich:

»Halt's Maul, du! Wird sich hier als Fürsprecher aufspielen ... Nimm dich in Acht! ...«

Dann schleuderte er seinen Sohn zur Seite und ging in die Schmiede. Paschka erhob sich und schwankte mit strauchelnden Schritten, wie ein Blinder, nach einer dunklen Ecke des Hofes. Ilja folgte ihm mitleidig. In dem Winkel kniete Paschka hin, presste seine Stirn gegen den Zaun und begann, während er mit den Händen seinen Rücken rieb, noch lauter zu schreien. Ilja fühlte das Verlangen, dem gedemütigten Feinde irgendetwas Freundliches zu sagen, doch brachte er nur die Frage heraus:

»Hat's weh getan?«

»Mach', dass du fortkommst!« schrie Paschka.

Der erboste Ton dieser Worte kränkte Ilja, und er sagte schulmeisternd:

»Sonst haust du immer die andern, und diesmal ...«

Er hatte noch nicht geendet, als Paschka sich blitzschnell auf ihn warf und ihn zu Boden riss. Ilja wurde gleichfalls von Wut gepackt, und nun wälzten sich beide in einem Knäuel auf dem Boden. Paschka biss und kratzte, während Ilja den Feind an den Haaren gepackt hatte und so lange mit dem Kopf gegen die Erde schlug, bis Paschka schrie:

»Lass los!«

»Siehst du!« meinte Ilja, stolz auf seinen Sieg, während er vom Boden aufstand. »Hast du gesehen? Ich bin stärker als du. Fang also nicht wieder mit mir an!«

Er entfernte sich, während er mit dem Ärmel sich das Blut von dem zerkratzten Gesicht wischte. Mitten im Hof stand mit finster gerunzelten Brauen der Schmied. Als Ilja ihn sah, fuhr er vor Schreck zusammen und blieb stehen, überzeugt, dass der Schmied nur darauf brenne, Paschka an ihm zu rächen. Der Schmied aber zuckte nur mit den Achseln und sagte:

»Na, was guckst du mich so an mit deinen Glotzaugen? Hast mich noch nie gesehen? Geh deiner Wege!«

Am Abend jedoch, als Ilja durch das Tor schritt und Ssawel ihm wieder begegnete, tippte der Schmied ihm leicht mit dem Finger auf den Scheitel und fragte lächelnd:

»Na, kleiner Müllgräber, wie geht's Geschäft? He?«

Ilja kicherte freudig – er war glücklich. Der finstre Schmied, der stärkste Mann am Hof, vor dem alle Furcht und Respekt hegten, hatte mit ihm gescherzt. Der Schmied fasste mit seinen ehernen Armen nach der Schulter des Knaben und erhöhte seine Freude noch, indem er sagte:

»Oho, du bist ja ein recht kräftiges Kerlchen! ... Bist nicht so leicht unterzukriegen, Junge! ... Wenn du erst größer geworden bist, nehm' ich dich zu mir in die Schmiede!«

Ilja umfasste das kräftige Bein des Schmiedes und schmiegte sich fest mit seiner Brust daran. Der Riese Ssawel musste wohl das Schlagen des kleinen Herzens spüren, das seine Liebkosung in Wallung gebracht hatte: er legte seine schwere Hand auf Iljas Kopf, schwieg eine Weile und sprach dann mit seiner tiefen Stimme:

»Ach, du arme Waise! ... Na, lass schon gut sein! ...«

Strahlend vor Vergnügen, machte sich Ilja an diesem Abend an sein gewohntes Werk – die Verteilung der von ihm im Laufe des Tages gesammelten Raritäten. Die Kinder setzten sich rings um Ilja auf die Erde und schauten mit begehrlichen Augen nach seinem schmutzigen Sacke. Ilja holte aus dem Sacke ein paar Fetzen Kattun, einen von Wind und Wetter ausgebleichten Holzsoldaten, eine Wichsschachtel, eine Pomadebüchse und eine Teetasse ohne Henkel, mit zerbrochenem Rand, hervor.

»Das ist für mich, für mich, für mich!« hörte man die begehrlichen Rufe der Kinder, und die kleinen, schmutzigen Händchen griffen von allen Seiten nach den seltenen Dingen.

»Wartet! Nicht anfassen!« kommandierte Ilja. »Heißt denn das spielen, wenn ihr alles auf einmal wegschleppt? Na – ich mache also einen Laden auf! Ich verkaufe zuerst hier des Stück Kattun ... ganz wunderschöner Kattun! Kostet einen halben Rubel! ... Maschka, kauf doch!«

»Sie hat's gekauft!« rief Jakow statt der Schusterstochter, holte aus seiner Tasche eine bereit gehaltene Scherbe hervor und drückte sie dem Verkäufer in die Hand. Doch Ilja wollte sie nicht nehmen.

»Was ist denn das für'n Spiel! So handle doch was ab, zum Donnerwetter! Niemals handelst du! ... Auf dem Markt wird doch auch gehandelt!«

»Ich hab's vergessen«, suchte Jakow sich zu rechtfertigen. Ein leidenschaftliches Feilschen begann. Verkäufer und Käufer gerieten förmlich in Hitze, und während sie miteinander schacherten, wusste Paschka geschickt aus dem Haufen der Waren das, was ihm gefiel, herauszugreifen, lief damit weg und schrie höhnisch, während er lustig umherhüpfte:

»Haha, ich hab' gemaust! Solche Schlafmützen! Dummköpfe! Teufel!«

Paschkas Raubgelüste hatten alle Kinder empört. Die Kleinen schrien und weinten, während Jakow und Ilja im Hof hinter dem Dieb herliefen, ohne ihn jedoch fassen zu können. Mit der Zeit hatten sie sich an seine Frechheit gewöhnt, erwarteten von ihm nichts Besseres und vergalten ihm dadurch, dass sie mit ihm böse waren und nicht mit ihm spielten. Paschka lebte für sich und war nur stets darauf bedacht, andern einen Schabernack zu spielen.

Der großköpfige Jakow wiederum war zumeist wie ein Kindermädchen um die kraushaarige Tochter des Schusters herum. Sie nahm seine Sorge um ihr Wohlergehen als etwas Selbstverständliches hin, und wenn sie ihn auch immer liebkosend »Jaschetschka« nannte, kratzte und schlug sie ihn doch nicht selten. Jakows Freundschaft mit Ilja wuchs von Tag zu Tag, und er erzählte dem Freund beständig allerhand sonderbare Träume:

»Da träumte ich heute, dass ich 'ne Masse Geld hätte, lauter Rubel, einen ganzen Sack voll. Und ich trug den Sack auf dem Buckel in den Wald. Mit einem Mal – kommen Räuber auf mich zu! Mit Messern, schrecklich anzusehen. Ich rückte natürlich aus. Und plötzlich ist es mir, als ob der Sack lebendig würde ... Ich werf' ihn hin, und – hast du nicht gesehen? – fliegen dir allerhand Vögel heraus – pfrrrr! ... Zeisige, Meisen, Stieglitze – eine schreckliche Menge! Sie hoben mich auf und trugen mich durch die Luft – so hoch, so hoch trugen sie mich!«

Er unterbrach seine Erzählung und blickte Ilja mit seinen weit hervorquellenden Augen an, während sein Gesicht einen schafähnlichen Ausdruck annahm ...

»Na – und weiter was?« ermunterte ihn Ilja zum Weitererzählen, da er darauf brannte, das Ende zu hören.

»Na – ich flog also weit weg«, schloss Jakow nachdenklich seinen Bericht.

»Wohin denn?«

»Wohin? Na, so ... ganz weg flog ich!«

»Ach, du«, meinte der enttäuschte Ilja in geringschätzigem Ton. »Du behältst auch gar nichts.«

Aus der Schenke kam Großvater Jeremjej und rief, die Hand an seine Augen haltend:

»Iljuschka! Wo bist du denn? Komm schlafen, es ist Zeit!«

Ilja folgte gehorsam dem Alten und suchte sein Lager auf, das aus einem mit Heu gefüllten Sack bestand.

Prächtig schlief er auf diesem Sack, trefflich lebte er bei dem alten Lumpensammler, doch nur zu rasch verging dieses angenehme und leichte Leben.

IV

Großvater Jeremjej kaufte für Ilja ein Paar Stiefel, einen großen, schweren Paletot, eine Mütze – und so ausgerüstet schickte man den Jungen in die Schule. Neugierig und ängstlich zugleich ging er dahin – und finster, gekränkt, mit Tränen in den Augen, kam er aus der Schule heim. Die Knaben hatten in ihm den Begleiter des alten Jeremjej erkannt und im Chor zu spotten begonnen:

»Lumpensammler! Stinker!«

Die einen kniffen ihn, andere zeigten ihm die Zunge, und ein besonders Kecker trat auf ihn zu, zog die Luft in die Nase und schrie laut, während er mit einer Grimasse des Abscheus sich von ihm abwandte:

»Wie eklig der Kerl riecht!«

»Warum lachen sie mich aus?« fragte Ilja den Onkel voll Entrüstung und Zweifel. »Ist's denn eine Schande, Lumpen zu sammeln?«

»Nicht doch«, versetzte Terentij, den Kopf seines Neffen streichelnd, während er sein Gesicht vor den forschenden Augen des Knaben zu verbergen suchte. »Das tun sie nur ... einfach so ... aus Ungezogenheit ... Musst es eben tragen! ... Wirst dich dran gewöhnen ...«

»Auch über meine Stiefel lachen sie, und über den Paletot! ... Fremde Lumpen wären's, sagen sie, aus 'ner Müllgrube hätt' ich sie 'rausgezogen!«

Auch Großvater Jeremjej tröstete ihn, wobei er vergnügt mit den Augen blinzelte:

»Trag's, mein Lieber! Gott wird's ihnen schon vergelten! ... Er! Außer Ihm – gibt es niemand!«

Der Alte sprach von Gott mit einer solchen Freude und solchem Vertrauen auf seine Gerechtigkeit, als ob er ganz genau alle Gedanken Gottes wüsste und in alle seine Absichten eingeweiht wäre. Und Jeremjejs Worte beschwichtigten ein wenig das Gefühl der Kränkung im Herzen des Knaben. Am nächsten Tag jedoch wallte dieses Gefühl von neuem umso heftiger in ihm auf. Ilja hatte sich bereits daran gewöhnt, sich als eine wichtige Person, einen richtigen Arbeiter zu betrachten. Mit ihm sprach sogar der Schmied Ssawel in freundlicher Weise, und diese Schuljungen lachten ihn aus und verspotteten ihn! Er vermochte sich mit dieser Tatsache nicht zu befreunden: die beleidigenden und bitteren Eindrücke der Schule verstärkten sich mit jedem Tag, prägten sich immer tiefer seinem Gemüt ein.

Der Schulbesuch wurde für ihn zu einer lästigen Pflicht. Durch sein leichtes Auffassungsvermögen hatte er sogleich die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich gelenkt; der Lehrer hielt ihn den andern als Muster vor, was wieder dazu beitrug, seine Beziehungen zu den Schülern zu verschlechtern. Er saß auf der ersten Bank und fühlte die Anwesenheit der Feinde in seinem Rücken, sie aber hatten ihn nun allezeit vor Augen, wussten geschickt alles herauszufinden, was irgend an ihm lächerlich scheinen konnte, und lachten über ihn. Jakow besuchte dieselbe Schule und war gleichfalls bei seinen Kameraden schlecht angeschrieben. Sie nannten ihn nur den »Kalbskopf«. Er war zerstreut, lernte schwer und wurde fast täglich vom Lehrer gestraft, doch verhielt er sich gleichgültig gegen alle Strafen. Er schien überhaupt alles, was um ihn her vorging, zu übersehen, und in der Schule wie zu Hause in seiner ganz besonderen Welt zu leben. Fast jeden Tag setzte er Ilja durch seine seltsamen Fragen in Erstaunen.

»Sag' mal, Ilja – wie kommt's denn, dass die Menschen so kleine Augen haben und doch damit alles sehen? ... Die ganze Straße sieht man, die ganze Stadt – wie kommt's nur, dass sie, die doch so groß ist, in unserm kleinen Auge Platz hat?«

Anfänglich sann Ilja über Jakows seltsame Reden ernsthaft nach, dann aber begannen ihn seine Einfälle zu stören, da sie seine Gedanken von jenen Dingen ablenkten, die ihn zunächst angingen. Und solcher Dinge waren doch gar viele, und der Knabe hatte schon gelernt, recht scharf auf sie zu achten.

Eines Tages kam er aus der Schule nach Hause und sagte mit höhnischem Ausdruck um die Lippen zum alten Jeremjej:

»Unser Lehrer?! Haha! Der ist mir auch schön! ... Gestern hat der Sohn des Kaufmanns Malafjejew eine Fensterscheibe zerschlagen, und er hat ihn dafür nur ganz leicht gescholten. Und heute hat er die Scheibe einsetzen lassen und aus seiner Tasche bezahlt ...«

»Siehst du, was für ein guter Mensch das ist?!« versetzte Jeremjej gerührt.

»Ein guter Mensch, jawohl! Und wie neulich Wanjka Klutscharew eine Scheibe zerschlug, da ließ er ihn ohne Mittagessen nachsitzen, und dann ließ er Wanjkas Vater kommen und sagte ihm: ›Du, zahl' mal für die Scheibe vierzig Kopeken‹ ... Und Wanjka bekam dann Prügel von seinem Vater! ...«

»Musst auf so was nicht achten, Iljuscha«, sprach der Alte, während er unruhig mit den Augen blinzelte. »Sieh es so an, als ob es dich gar nichts anginge. Zu entscheiden, was unrecht ist, kommt Gott zu und nicht uns. Wir verstehen das nicht. Er aber kennt Maß und Gewicht aller Dinge. Ich zum Beispiel – ich habe gelebt, gelebt, geschaut und geschaut – und wieviel Unrecht ich gesehen habe, vermag niemand zusammenzuzählen. Die Wahrheit aber hab' ich nie geschaut! ... Das achte Jahrzehnt ist nun schon über mich hingegangen ... Es kann doch nicht sein, dass in dieser langen Zeit die Wahrheit nicht ein einziges Mal in meiner Nähe gewesen ist! ... Ich aber hab' sie nicht gesehen ... Kenne sie nicht ...«

»Na,« sprach Ilja zweifelnd, »was ist da viel zu wissen? Wenn der eine vierzig Kopeken zahlen muss, muss es auch der andre: das ist die Wahrheit!«

Der Alte wollte ihm durchaus nicht Recht geben. Er sprach noch gar vielerlei von sich selbst, von der Blindheit der Menschen und davon, dass sie nicht imstande seien, einander gerecht zu beurteilen, sondern dass Gottes Urteil allein gerecht sei. Ilja hörte ihn aufmerksam an, doch wurde sein Gesicht dabei immer düstrer, und seine Augen schauten immer finstrer.

»Wann wird denn Gott kommen, um zu richten?« fragte er plötzlich den Alten.

»Das weiß man nicht! ... Sobald die Stunde schlägt, wird er herabkommen von den Wolken, zu richten die Lebendigen und die Toten; aber wann es sein wird, das weiß man nicht ... Wir wollen doch mal beide in den Abendgottesdienst gehen ...«

»Gut, gehen wir!«

»Abgemacht! ...«

Am Sonnabend stand Ilja mit dem Alten auf den Treppenstufen der Kirche, zusammen mit den Bettlern, zwischen den beiden Türen. Sobald die Außentür geöffnet wurde, verspürte Ilja den kalten Luftzug, der von der Straße hereindrang, die Füße wurden ihm steif, und er trippelte leise auf den Fliesen hin und her. Durch die Glasscheiben der Tür aber sah er, wie die Flammen der Kerzen sich gleichsam zu schönen, aus zitternden Goldpunkten gefügten Mustern vereinigten und das Metall der Messgewänder, die dunklen Köpfe der andächtigen Menge, die Gesichter der Heiligenbilder und das prachtvolle Schnitzwerk des Heiligenschreins beleuchteten.

Die Menschen erschienen in der Kirche besser und friedlicher als auf der Straße. Sie waren auch schöner in dem goldenen Lichtglanz, der ihre dunklen, in ehrfurchtsvollem Schweigen verharrenden Gestalten beleuchtete. Sobald die innere Kirchentür sich öffnete, strömte die weihrauchduftende, warme Woge des Gesanges auf die Vortreppe hinaus: liebkosend umfächelte sie den Knaben, und er atmete entzückt die wohlriechende Luft ein. Es war ihm angenehm, so dazustehen neben dem Großvater Jeremjej, der seine Gebete flüsterte. Er lauschte, wie der feierlich schöne Gesang durch das Gotteshaus flutete, und wartete mit Ungeduld, bis die Tür sich wieder öffnen und der Gesang von neuem auf ihn einströmen, der balsamische warme Luftstrom ihn wieder umfangen würde. Er wusste, dass oben auf dem Kirchenchor Grischka Bubnow sang, einer der schlimmsten Spötter in der Schule, und auch Fedjka Dolganow, ein kräftiger, raufsüchtiger Bursche, der ihn schon mehr als einmal geprügelt hatte. Jetzt aber empfand er ihnen gegenüber keinen Hass und kein Rachegefühl, sondern nur ein wenig Neid. Er selbst hätte dort oben auf dem Chor singen und von da auf die Leute herabschauen mögen. Es musste gar zu schön sein, dort an der goldenen Mitteltür der Altarwand zu stehen und zu singen. Als Ilja die Kirche verließ, hatte er das Gefühl, als sei er besser geworden, und er war bereit, sich mit Bubnow und Dolganow und überhaupt mit allen Schülern zu versöhnen. Am folgenden Montag jedoch kam er, ebenso wie früher, finster und beleidigt aus der Schule heim ...

Überall, wo Menschen in größerer Zahl zusammen sind, befindet sich einer darunter, der sich unter ihnen nicht wohl fühlt, und es ist nicht gerade notwendig, dass er darum besser oder schlechter sei als die andern. Man kann das Übelwollen der andern gegen sich schon durch ein Mindermaß an Verstand oder durch eine lächerliche Nase hervorrufen. Die Menge wählt sich einfach irgendjemanden zum Gegenstand ihrer Belustigung, wobei sie nur von dem Wunsch beseelt ist, sich die freie Zeit mit ihm zu vertreiben. Hier war die Wahl auf Ilja Lunew gefallen. Die Sache hätte ohne Zweifel für ihn ein schlechtes Ende genommen, wenn nicht in seinem Leben Ereignisse eingetreten wären, die sein Interesse an der Schule herabminderten und ihn gegen ihre kleinen Unannehmlichkeiten gleichgültig machten.

Es begann damit, dass eines Tages, als Ilja und Jakow zusammen von einem Ausgang heimkehrten, sie im Torweg des Hauses einen Auflauf bemerkten.

»Sieh doch,« sagte Jakow zu seinem Freunde, »da scheinen sie sich wieder zu prügeln! Komm, lass uns rasch hinlaufen!«

Hals über Kopf eilten sie nach Hause, und als sie auf den Hof kamen, sahen sie, dass dort fremde Menschen sich angesammelt hatten und wirr durcheinander schrien:

»Ruft die Polizei! Bindet ihn doch!« Vor der Schmiede standen dichtgedrängt Menschen mit erschrockenen Gesichtern. Kinder hatten sich vorgedrängt und wichen nun entsetzt zurück. Zu ihren Füßen auf dem Schnee lag mit dem Gesicht zur Erde eine Frau. Ihr Nacken war mit Blut und mit einer teigartigen Masse bedeckt, und der Schnee rings um ihren Kopf war gleichfalls rot von Blut. Neben ihr lag ein zerknülltes weißes Kopftuch und eine große Schmiedezange. In der Tür der Schmiede hockte Ssawel und starrte stumm auf die Arme des Weibes. Sie waren vorgestreckt, die Finger waren tief in den Schnee eingegraben. Die Brauen des Schmiedes waren finster zusammengezogen, das Gesicht war verzerrt; man sah, dass er die Zähne fest zusammenbiss; die Backenknochen traten wie zwei große Zapfen hervor. Mit der rechten Hand stützte er sich gegen den Türpfosten. Seine schwarzen Finger bewegten sich zuckend, wie die Krallen einer Katze, und außer diesen Fingern war alles an ihm unbeweglich. Schweigend starrten die Umstehenden ihn an. Ihre Gesichter waren streng und ernst, und während sonst im Hof Lärm und Verwirrung herrschte, war hier, um die Schmiede herum, alles still.

Da mit einem Mal kroch aus der Menge der alte Jeremjej hervor, ganz zerzaust und mit Schweiß bedeckt; mit zitternder Hand reichte er dem Schmied einen Eimer voll Wasser:

»Da, nimm ... trink! ...«

»Gib ihm doch kein Wasser, dem Mörder! 'Nen Strick um den Hals verdient er!«, sagte jemand halblaut.

Ssawel nahm den Eimer mit der linken Hand und trank lange, lange, und als er alles Wasser ausgetrunken hatte, schaute er in das leere Gefäß und sprach mit dumpfer Stimme:

»Ich hab' sie gewarnt ... Lass es sein, du Aas, sagte ich, sonst schlag' ich dich tot! Ich hab' ihr verziehen! ... Wie oft hab' ich ihr verziehen! ... Aber sie wollt's nicht lassen ... na ... und da ist es so gekommen! ... Mein Paschka ... ist jetzt eine Waise ... schau' nach ihm, Großväterchen ... dich liebt der Herr ...«

»A-a-ach, du-u!« klagte wehmütig der Greis und fasste mit seiner zitternden Hand den Schmied an der Schulter, während jemand aus der Menge rief:

»Hört mal den Bösewicht! ... Er redet noch von Gott!!«

Da runzelte der Schmied die Brauen und brüllte plötzlich wie ein wildes Tier:

»Was wollt ihr? Packt euch alle!«