Drei Sünden - Liliane Spandl - E-Book

Drei Sünden E-Book

Liliane Spandl

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Beschreibung

Im beschaulichen Gersprenztal und im weitgehend ruhigen Otz-berger Land werden drei Frauen mit Angelschnüren erdrosselt. Auf ihren Oberkörpern ist jeweils ein Buchstabe eingeritzt. Zwei weitere Morde geschehen. Dieses Mal sind Männer die Opfer. - Ist ein brutaler Serientäter am Werk? Die Beamten der Mordkommission im Polizeipräsidium Südhessen in Darmstadt, Heiner Dröger und Benedikt Semmelweiß - diesmal unterstützt durch ihre neue Kollegin, die junge Kommissarin Sina Cohrs -, stehen vor extrem hohen Anforderungen.

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Ähnliche


Die Handlung des Romans ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen und realen Begebenheiten ist rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Epilog

Es ist leichter, um einen Berg herumzugehen

als ihn zu übersteigen.

Der Weg ist zwar länger, aber letztlich ist er kürzer.

(Steward Granger in »Gefährten des Grauens«)

Prolog

Am Samstag, den 20. August wurde um achtzehn Uhr bei den Nieder-Klinger Anglerfreunden das Teichfest eröffnet. Die Mitglieder des kleinen, sehr rührigen Vereins, der 1977 gegründet worden war, veranstalteten an diesem Wochenende ihr alljährliches zweitägiges Fest. Das Wetter spielte mit. Am frühen Nachmittag hatte es zwar ein wenig geregnet, trotzdem lagen die Temperaturen immer noch bei sechsundzwanzig Grad, die Wolken verschwanden, die Sonne setzte sich immer mehr durch. Selbst als die Dunkelheit eingesetzt hatte, war es noch angenehm warm.

Es wurde ein schöner Abend mit vielen Gästen aus nah und fern, bei gegrillten Forellen, leckeren Steaks, Würstchen und Fassbier, der feuchtfröhlich irgendwann zwischen ein und zwei Uhr nachts endete.

Der dicke Maurerpolier Wolfram Berktolt, der zusammen mit seinem Arbeitskollegen Alfred Bremer dort war, hatte gerade zwei der köstlichen, gegrillten Forellen nacheinander verspeist und damit geprahlt, dass er glatt noch zwei essen könne.

»Hör auf, Berktolt, mach nicht solche Sprüche. Das schaffst du nie!«, feixte Bremer und winkte laut lachend ab. Dabei war deutlich zu sehen, dass ihm ein Eckzahn fehlte. Einer der Männer, der mit ihm und Berktolt an dem voll besetzten Tisch im Zelt saß, ließ sich nicht lumpen und orderte zwei weitere Forellen, wobei er auf Berktolt deutete, und eine Runde Bier. Das Bier brachte Katja umgehend, die Forellen bestellte Karin, die für das Essen verantwortlich war, am Grill. Sie sagte schmunzelnd zu Volker Schöller, dem Ersten Vorsitzenden der Nieder-Klinger Anglerfreunde: »Der Dicke hat einen gesunden Appetit, gell?«

»Dafür hat der schmale Kerl, mit dem er gekommen ist, nur ein Würstchen gegessen«, entgegnete Volker und lachte.

»Na ja«, meinte Karin, die jedes Jahr beim Teichfest mit noch einigen Frauen freundlich und immer gutgelaunt die Gäste bediente, »sind ja wirklich nicht zu verachten, die Grillwürstchen oder auch die Steaks vom Guths Karl.«

»Wohl wahr«, stimmte Volker ihr zu.

»Ich muss jetzt weiter bedienen, sonst darf ich das ja vielleicht im nächsten Jahr nicht mehr machen.« Sie schmunzelte verschmitzt: »Wenn ich nur so rumstehe und nichts tue außer vielleicht schwätze.«

»Jaja, Karin, mer brauche Schaffer«, erwiderte Volker scherzhaft. Karin lachte, nahm den Teller mit den beiden Forellen, den Volker ihr hinstreckte, und brachte sie Berktolt, der sich, ohne sich zu bedanken, über die Fische hermachte, was die Leute am Tisch mit Applaus honorierten. War es Ironie? Egal.

»Mann, Mann! So viel habe ich dich ja noch nie essen gesehen«, wunderte sich Bremer. »Noch nicht einmal auf dem Bau.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. Berktolt gab keine Antwort, trank einen großen Schluck Bier, rülpste laut.

Später leerte sich langsam das Grundstück der Angler, viele Leute gingen nach Hause. An ihrem Tisch zurück blieben nur der dicke Berktolt und der glatzköpfige Schmale mit dem feuerroten Bart. Sie waren stark angetrunken. Berktolt sah, wie eine große, hübsche Blondine zu den Toiletten stöckelte, die für ein derartiges Fest im Freien eher ungeeignete High Heels trug. Er stand taumelnd von der Bank auf. Alfred Bremer fragte ihn mit verwaschener Stimme: »Wo wiss ‘n hin?«

»Klo«, gab Berktolt einsilbig zur Antwort. Er tappte mit unsicheren Schritten in Richtung Toiletten, Bremer folgte ihm schwankend. Sie schlurften zunächst in die Herrentoilette, danach in die Damentoilette nebenan. Dort schauten sie sich verdutzt um. »Wo is ‘n die?« fragte Berktolt seinen Kumpel. Der hob nur müde die Achseln. In ihrem Rausch konnten sie nicht verstehen, dass die Blonde nicht da war und suchten nach ihr.

Volker Schöller, der gerade die letzten Forellen auf den Grillrost legte, hatte Berktolt und Bremer, auch die Blondine zur Toilette gehen sehen, sich aber nichts dabei gedacht. Er hatte es rasch vergessen.

***

Einen Tag später trafen sich morgens um kurz nach neun der Erste Vorsitzende und weitere Anglerfreunde am Grill vor dem Anglerheim, um mit den Aufräumungsarbeiten zu beginnen und den Grillplatz für den zweiten Tag in Schuss zu bringen. Klaus fiel auf, dass im vor dem überdachten Grill stehenden Zelt einige Bänke fehlten, viele waren umgeschmissen worden. Er stutzte. Volker kam hinzu, sagte verärgert: »Das waren sicher wieder diese Chaoten, die immer irgendwelchen Blödsinn machen. Komm, Klaus, wir gehen mal zum Teich. Hoffentlich haben die dort nichts angerichtet.« Er schaute hoch zum Storchennest zwischen Angelteich und Heydenmühle. »Zum Glück kann da niemand so leicht hochklettern, sonst wären nicht einmal die Störche vor diesen Idioten sicher.«

***

Da traditionsgemäß um zehn Uhr dreißig ein Gottesdienst am Anglerheim den zweiten Festtag eröffnen sollte, waren mittlerweile viele Menschen anwesend. Der Klinger Pfarrer befand sich im Urlaub und wurde von einem jungen Vikar aus Reinheim vertreten. Der Vikar hatte mit der Gemeinde bereits seit drei Wochen den Gottesdienst in der Kirche zu Nieder-Klingen gefeiert. Auch hatte sich die Jazzband Ei gude, wie? aus einem benachbarten Ort, die gerne bei solchen Anlässen auftrat, formiert und die ersten Töne zum Einstimmen geprobt. Kinder spielten lärmend mit bunten Bällen auf dem Gelände, das durch den Klinger Storch-Wanderweg vom Teich getrennt war. Eine Hüpfburg war dort aufgebaut worden, die von vielen Kindern genutzt wurde. Einige spielten Federball, Buben rauften mit lautem Gejohle. Aus einem CD-Player dröhnte Partymusik, wie sie sonst nur am Ballermann in Mallorca zu hören war. Alles klang wild und ungeordnet durcheinander. Es war ein Tohuwabohu, das seinesgleichen suchte. Alle waren fröhlich, freuten sich auf ein schönes Fest bei diesem herrlich sonnigen Wetter.

Als Volker und Klaus um den Teich herumgingen, änderte sich ihre gute Stimmung dramatisch. Klaus sagte heiser: »Was liegt denn dort am Wasser?«

»Wo? Ich seh nix.« Volker schaute seinen Anglerfreund fragend an.

»Ei, da vorne! Setz mal deine Brille auf, Mann.«

»Hab sie vergessen. Die liegt daheim auf dem Schreibtisch.«

»Da gehört sie auch hin!« Klaus deutete aufgeregt in Richtung Heydenmühle. »Da hinten am Ufer! Siehst du immer noch nichts?«

Volker kniff die Augen zusammen. »Doch … doch«, antwortete er zögerlich, »jetzt!« Nervös hasteten sie zum nördlichen Ufer hinter der kleinen Insel im Teich. Dort angekommen, schloss Klaus bestürzt die Augen: »Das gibt‘s doch nicht!«

Volker starrte ungläubig auf das, was er jetzt sah.

Zu ihrem Entsetzen hatten sie einen auf dem Rücken liegenden weiblichen Körper entdeckt. Der Kopf hing im Wasser, die langen blonden Haare schwammen auf der Oberfläche, die blauen Augen starrten geradeaus. Der Körper mit den verschmutzten Kleidern hing übers flache Ufer, die zerschundenen Hände und Füße waren mit weißen Kabelbindern gefesselt.

Die Männer blickten sich entgeistert an. Mit vor Schreck bleichen Gesichtern näherten sie sich der Frau. Sie trug eine hellblaue Jeans, die gelbe Bluse, deren Knöpfe abgerissen waren, war bis zum Bauchnabel geöffnet. Zwischen ihren mädchenhaften Brüsten war der Buchstabe T eingeritzt. Klaus packte Volker zutiefst erschrocken am Arm. »Die … die … die ist tot«, stammelte er. »Er … ersoffen!« Dann erst fiel ihm die Angelschnur auf, die um ihren Hals hing und einen wulstigen Rand hinterlassen hatte. Er flüsterte angstvoll: »Oder … gar erdross …!«

»Hör auf!«, unterbrach ihn Volker angespannt und winkte ab.

»Und … und … der Buchstabe! Was … was soll dieses T bedeuten?«, setzte Klaus seine Gedanken fort.

»Ich weiß es nicht«, antwortet Volker ungeduldig und nervös.

Klaus wollte den Körper der Frau über den Rand des Ufers ziehen. Volker konnte es verhindern, indem er seinen Freund an den Schultern fasste und von ihr wegzog. »Nix anfassen, Mensch! Du kannst ihr nicht mehr helfen.« Er schluckte, sagte laut: »Die … die Polizei muss her. Los, komm!« Schnellen Schrittes eilte er voran, nahm sein Handy aus der Tasche seiner blauen Arbeitsjacke, die er auf einer der Bänke im Zelt abgelegt hatte, wählte die 110.

Die beiden Anglerfreunde informierten aufgeregt ihre Kollegen und Kolleginnen, die bereits den Grill vorbereitet und die Kühlschränke mit Getränken aufgefüllt hatten. Drei Frauen waren dabei, die Kuchentheke zu bestücken und die Kaffeemaschine in Betrieb zu nehmen. Alle waren völlig konsterniert und zutiefst erschrocken. Die Musiker legten bestürzt ihre Instrumente beiseite.

Als sich die Schockstarre gelöst hatte, wollten alle sogleich hinunter zum Teich. Volker konnte sie erfolgreich aufhalten, versuchte die Situation zu beruhigen. »Wir müssen Ruhe bewahren. Erst soll die Polizei kommen.«

Klaus nickte mit kreidebleichem Gesicht: »Ja, hast Recht.«

Die Kinder hatten davon nichts mitbekommen. Auch wurde ihnen nicht bewusst, dass die Jazzband aufgehört hatte, die Instrumente einzustimmen. Sie spielten auf dem Angelgelände einfach weiter.

1

Samstag, 23. Juli

Helfried Stiglmeyr hatte beim Dieburger Schlossgartenfest eine hübsche Frau kennengelernt. Sie saßen zufällig nebeneinander an einer langen Tischreihe im vollbesetzten Festzelt. Es ergaben sich freundliche, erst noch etwas zurückhaltende Gespräche. Aber sie spürten instinktiv, dass sie auf der gleichen Wellenlänge lagen, rockten später zur tollen Musik von The Wild Seven, die bis in die sechziger Jahre zurückreichte. Zu vorgerückter Stunde bummelten sie ins neu gestaltete urige Weindorf, tranken Rotwein. Sie kamen sich näher, ihr Charisma bezauberte ihn. Leise fragte er nach ihrem Namen. »Laura«, gab sie ebenso leise zurück.

Er hob sein Glas: »Helfried.« Sie stießen an.

Helfried fand die großgewachsene, kräftige Frau ausgesprochen nett. Er selbst war ja auch nicht gerade schlank. Sie verbrachten einen herrlichen Abend. Als er sie später nach Hause bringen wollte, lehnte sie höflich ab: »Nein, danke, vielleicht ein andermal. Heute nehme ich ein Taxi.«

»Aber warum?«, fragte er enttäuscht. »Ich kann dich doch bringen.«

Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange: »Ein andermal gern.« Per Handy bestellte sie ein Taxi. Er fragte hoffnungsvoll: »Darf ich dich anrufen?«

»Gib mir deine Hand«, lächelte sie ihn an. Er hielt ihr die Hand hin. Sie nahm einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche, kritzelte eine Telefonnummer auf seinen Handrücken. Mittlerweile war das Taxi da, sie stieg ein. Unterwegs grübelte sie, an wen sie der Mann erinnerte, den sie gerade kennen gelernt hatte. Es fiel ihr momentan nicht ein, sie kannte viele Männer. Zudem war es ihr nicht so wichtig.

Helfried eilte zu seinem Wagen, den er auf dem nahe gelegenen Parkplatz abgestellt hatte und fuhr los, wollte dem Taxi hinterher. Das Taxi war weg. »So ein Pech«, schimpfte er. Jetzt wusste er noch nicht einmal wo sie wohnte. Er wusste ja noch nicht einmal ihren Nachnamen. Aber er hatte ihre Telefonnummer.

Kaum zuhause wählte er etliche Male die Nummer, die auf seinem Handrücken stand. Ständig kam das Besetztzeichen aus dem Hörer. Er war sich fast sicher, dass sie ihm die falsche Nummer gegeben hatte. Resigniert legte er das Telefon auf die Station. »Schade«, sagte er zu sich selbst. Aber er gab nicht auf, er wollte sie wiedersehen. Er hatte immer wieder versucht, sie telefonisch zu erreichen … wochenlang. Ohne Erfolg.

2

Sonntag, 21. August

Der sechsunddreißigjährige Alfred Bremer fuhr mit seinem alten Moped zu seinem Stammlokal Hundertmorgen-Stübchen in Ueberau zum Frühschoppen auf ein Pils. Nun, es wurden, wie meistens, fünf Pils daraus. Aber das lag natürlich nie an ihm, sondern an den anderen Männern, die sich ebenfalls um diese Zeit im Hundertmorgen-Stübchen trafen. Zumindest redete er sich das ein.

Vier Männer saßen am Stammtisch, der in einer Ecke des Lokals stand, und unterhielten sich über die Ereignisse der vergangenen Woche. Bremer saß etwas abseits an einem kleinen Tisch, der von so manchem anzüglich Katzentisch genannt wurde.

Der schmale, meist ungepflegte Mann war nicht auf dem Niveau der anderen Herren. Alle anderen Tische im vorderen Gastraum waren nicht besetzt, einige Gäste saßen im gemütlichen Biergarten.

Die Tische im hinteren Gastraum waren weiß gedeckt, weinrote Servietten und silbern blinkende Bestecke waren aufgelegt. Eine Geburtstagsfeier war angesagt, bei der ungefähr dreißig Gäste erwartet wurden.

Ludger Jacobus, Geschäftsführer der Spedition Kamp GmbH in Reinheim, lobte wieder einmal in den höchsten Tönen seine Frau Lisa, die an der Dr.-Kurt-Schumacher-Schule in Reinheim Geschichte und Biologie unterrichtete: »Ihr glaubt gar nicht, wie diese Frau das bewältigt, wie sie Familie und Beruf in Einklang bringt. Schließlich haben wir zwei Kinder. Aber für sie ist das alles kein Problem. Sie ist auch in der Schule sehr aktiv. Vorgestern ist sie mit ihrer Klasse im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt gewesen.« Er hob hervor: »Aber nicht zum Vergnügen! Das war ernsthafter Unterricht!« Jacobus faltete die Hände vor sich auf dem Tisch, nickte überheblich mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Na und? Was ist daran so Besonderes?«, war die Reaktion seines Tischnachbarn. »Viele Frauen führen ihren Haushalt und gehen arbeiten. Und viele Frauen müssen körperlich schwer arbeiten oder stehen bei irgendeiner Produktionsfirma am Band.«

»Lehn dich mal nicht so weit aus dem Fenster, Ludger. Andere arbeiten auch, nicht nur deine Lisa.« Helfried Stiglmeyr schüttelte den Kopf. So ein Angeber! Er nahm einen kräftigen Schluck seines frischgezapften Pils, wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund.

»Der erste Schluck ist immer der beste, gell Helfried?«, lispelte der kleine, schmallippige Pensionär Philipp Jassen, der von allen nur Fips genannt wurde, mit hohem Stimmchen. Helfried nickte lächelnd.

»Do hoste Rescht, Fips«, meinte der Wirt. »Isch wollt, es wär jedesmol de erste Schluck. Was kännt isch Bier verkaafe.« Er lachte rau, stellte ein Pils vor Fips.

»Hauptsache, du machst dein Geschäft, oder?«, fiel nun Wolfram Berktolt ein. Ein missgünstiges Grinsen überzog das fleischige Gesicht des Maurerpoliers.

»So isses! Isch will jo aach lewe«, erwiderte der Wirt, der das Grinsen wohl gesehen, es aber ignoriert hatte. Er schaute Stiglmeyr an: »Wo is eischentlich doin Bruder, Helfried? Der wor schon einische Sunndaache net do.«

»Ach weißt du, der vertritt zurzeit den Klinger Pfarrer. Er hat ja noch einen weiten Weg vor sich, bis er wirklich Pfarrer ist«, gab Stiglmeyr zur Antwort. »Außerdem besucht er die Kranken in der Umgebung und, nicht zu vergessen, im Pflegeheim AmBerg in Reinheim ist er auch mindestens einmal in der Woche.«

»Er is jo aach werklisch en freundlischer Mensch, der Meinrad. Alles was Rescht is, gell. Obwohl … mansches Mol is er aach e bissje iwwerzwersch. Awwer des is net schlimm, mir hawwe all unser Macke.« Der Wirt zapfte ein weiteres Pils.

Jacobus begann, von der Spedition zu erzählen. Als er ins Detail gehen und erklären wollte, wie hart er arbeiten müsse, unterbrach ihn Berktolt: »Komm, Ludger, hör auf! Das will keiner hören.«

Jacobus senkte beleidigt den Kopf, sagte nichts mehr. Er stand auf, bezahlte und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich habe Besseres zu tun, als hier herumzusitzen.«

»Na dann, Ludger! Mach’s gut.« Jassen schaute ihm hämisch nach.

Männerwitze machten nun die Runde. Die ersten Geburtstagsgäste trafen ein. Gegen dreizehn Uhr dreißig löste sich die Stammtischgesellschaft auf.

Nur Fips Jassen hatte sein Bier noch nicht ausgetrunken. Er stellte sich mit seinem halbvollen Glas zum Wirt an die Theke, meinte: »Du, Konrad, ist dir auch schon aufgefallen, dass der Helfried seinem Bruder ähnlich sieht? Wenn er noch die gleiche Frisur hätte, könnte man sie nicht auseinander halten.«

»Des habb isch aach schon gedenkt. Wie er roikumme is, habb isch gedenkt, es wär de Vikar. Weil, de Helfried is jo net so oft do wie de Meinrad, gell.«

»Na ja, ist ja auch egal.« Jassen trank aus, bezahlte seine Zeche. »Tschüss, Konrad.«

»Tschüss, scheene Sonntag noch.«

»Danke, für dich auch. Hast ja heute wirklich genug zu tun.«

»Des packe mer aach widder. Mach’s gut.«

Ludger Jacobus war unterdessen, nachdem er mit dem Handy telefoniert hatte, mit seinem Mercedes 190 SL, einem knallroten Oldtimer, auf einen Waldparkplatz zwischen Hahn und Groß-Bieberau gefahren.

Dort wartete eine gutaussehene, schlanke blonde Frau. Eigentlich wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Es machte ihr keinen Spaß mehr. Heute nochmal, dann ist Schluss, nahm sie sich vor. Sie stieg aus ihrem Wagen, ging mit wiegenden Schritten langsam auf ihn zu. Ihr kurzer, heller Rock, der ihren Tanga durchblitzen ließ, die endlos langen Beine und das dünne Trägershirt ließen seine Augen glänzen. Er stieg ebenfalls aus, sie umarmten und küssten sich. Sie gingen den Weg hoch, wo sich eine Schutzhütte befand, die sie schon öfter aufgesucht hatten, zogen sich gegenseitig aus.

Wenige Minuten später schaute die Blondine frustriert auf die Uhr: »Was war das denn? Was ist los mit dir?«

Er zuckte die Schultern: »Warum?«

»Warum, warum! Das fragst du noch? Nix gemerkt?«

»Aber … so erklär mir doch …«

»Überleg selber mal«, unterbrach sie ihn spöttisch, «du bist doch sonst so schlau!« Sie zog sich an: »Ich muss nach Hause. Wenn mein Mann nicht mit dem Hund unterwegs wäre, hätte ich erst gar nicht kommen können. Er wird bald zurück sein.«

Verwirrt wollte Jacobus die Situation retten: »Ich … ich rufe dich nachher an.«

»Lass es sein, es läuft nichts mehr.« Sie verzog verächtlich den Mund. Missmutig setzte sie hinzu: »Ich habe genug von dir. Außerdem wird Santino uns beide umbringen, wenn er davon erfährt.«

Tief enttäuscht starrte Jacobus sie an: »Du willst dich nicht mehr mit mir treffen? Das ist doch absurd.« Er wollte sie umarmen, sie wies ihn rüde ab: »Lass das! Ich will das nicht mehr! Vergiss es!« Sie drehte sich um, ging zu ihrem Wagen und fuhr weg. Ludger Jacobus war wie vor den Kopf gestoßen.

Er zog sich an, lief zu seinem Sportwagen, setzte sich hinters Steuer und gab zornig Gas. »Was für eine blöde Zicke!«, sagte er verärgert. Aber er beruhigte sich schnell wieder. »Was soll’s! Sie ist nicht die einzige Frau auf der Welt.« Trotzdem wurmte ihn ganz gewaltig, dass diese Blondine ihn plötzlich so erniedrigt hatte.

3

Der Anruf des Ersten Vorsitzenden der Anglerfreunde in Nieder-Klingen, Volker Schöller, erreichte die Einsatzzentrale des Polizeipräsidiums Südhessen in Darmstadt um neun Uhr fünfunddreißig, er meldete aufgeregt den grauenhaften Fund. Kommissaranwärterin Lore Michelmann informierte sofort den Rettungsdienst, die Schutzpolizei in Dieburg und den diensthabenden Ersten Kriminalhauptkommissar Heiner Dröger vom K10, dem Kommissariat für Gewaltverbrechen, der mit Hauptkommissar Benedikt Semmelweiß in seinem Büro zusammensaß und sich mit ihm über verschiedene Mordfälle der Vergangenheit unterhielt, sowie das ZK41, den Erkennungsdienst.

Die neue Mitarbeiterin des K10, Sina Cohrs, eine junge, gesetzte Kommissarin mit kurzen schwarzen Haaren, hatte zwar ihren Dienst noch nicht angetreten, war aber trotzdem im Büro, um ihren Schreibtisch einzurichten. Da die Türen offen standen, bekam sie mit, dass irgendwas passiert war. Sie lief schnell ins Büro ihres Vorgesetzten. Es war niemand mehr da.

Die Hauptkommissare hatten alles stehen und liegen gelassen, sich eilig in Drögers Dienstwagen gesetzt und waren mit Blaulicht und eingeschaltetem Martinshorn losgerast. Auch die Kollegen vom Erkennungsdienst waren bereits unterwegs.

Sina rannte zur Einsatzzentrale, wo Lore Michelmann ihr in knappen Worten erklärte, wo was passiert war. Sie eilte zu ihrem Spind, zog Lederkleidung und Stiefel an, setzte den Helm auf. Minuten später saß sie auf ihrer Kawasaki Z 1000, startete die 140 PS starke Maschine und brauste los. Das Motorrad hatte sie unlängst bei Kawasaki Südhessen an der Riedbahn in Weiterstadt günstig gebraucht gekauft.

Der Rettungswagen und eine Polizeistreife der Dienststelle Dieburg waren bereits auf dem Weg. Eine weitere Funkstreife, die mit Motorrädern in Groß-Umstadt unterwegs war, wurde zum Tatort beordert. Auch unterrichtete Michelmann Kriminaldirektorin Ilse Ehresmann in Nieder-Klingen, die dort in der Lindenstraße wohnte, und Staatsanwältin Dr. Ramona Augustin, die es sich mit ihrer argentinischen Lebensgefährtin Estella Rodriguez am Kaffeetisch gemütlich gemacht hatte.

»Da muss ich nicht unbedingt hin«, war die erste Reaktion der Staatsanwältin.

Estella zog sich bis auf den Slip aus, stöhnte: »Diese Hitze!« Sie blinzelte ihre Geliebte verführerisch an, legte die schlanken Beine auf deren Schoß, schob sachte eine Hand unter Ramonas dünne Bluse. Inzwischen war es mit bereits achtundzwanzig Grad im Schatten ungewöhnlich heiß.

»Der Dröger soll das machen«, fügte Ramona Augustin heiser hinzu und legte auf. Zärtlich streichelte sie die braungebrannten Beine ihrer Freundin, küsste sie erregt auf den Mund. Sie hatte etwas Besseres vor, als am Klinger Angelteich herumzustolpern.

Nach ungefähr fünfunddreißig Minuten erreichten die Kommissare das kleine beschauliche Dorf Nieder-Klingen am Fuße der Veste Otzberg. Der Rettungswagen und die Funkstreifen waren bereits vor Ort, die Kriminaldirektorin war ebenfalls anwesend. Handys klingelten, Funkgeräte rauschten und krächzten.

Hier hatte es jahrzehntelang noch nicht einmal einen kleinen Einbruch oder sonst irgendwelche kriminelle Taten gegeben, bevor seit dem Mord an einer Schauspielerin vor einiger Zeit erstaunliche Dinge passiert waren. So auch jetzt … die Tote am Angelteich. Und das bei einem schönen und immer friedlichen Dorffest. Das konnte niemand der braven Klinger Bürger verstehen. Wer brachte die Welt hier durcheinander?

Als Kommissarin Sina Cohrs nach der Kreuzung zwischen Habitzheim und Nieder-Klingen am Storchennest vorbeischoss, sah sie die rotierenden Blaulichter des Rettungswagens und der Einsatzfahrzeuge der Polizei. Kurz darauf war sie vor Ort, stellte die Maschine am Anglerheim ab, hängte den Helm an den Spiegel. Da ihr offizieller Dienst erst am nächsten Tag begann, erkannte sie keiner der Beamten an der Absperrung. Sie musste ihren Dienstausweis vorzeigen, damit sie zum Teich gelangen konnte. Hauptkommissar Semmelweiß sah sie kommen, ging auf sie zu. »Was machen Sie denn hier? Sie fangen doch erst morgen bei uns an.« Er musterte sie erstaunt von oben bis unten. Ihre Lederkleidung überraschte ihn.

»Ja, schon klar, Herr Semmelweiß. Aber ich habe mitgekriegt, dass irgendwas los ist, da habe ich halt …«

»Stopp, Mädchen, machen Sie mal langsam. Sie sind doch eigentlich noch gar nicht da. Richten Sie sich erst mal im Präsidium ein, morgen reden wir weiter, okay?« Er reichte ihr die Dose mit Pfefferminzbonbons, die er aus der Hosentasche nahm: »Sie auch?«

Sie lehnte ab: »Nein, danke.«

»Biste jetzt sauer?« Er schob ein Bonbon in den Mund:

»Ich bin übrigens Benedikt.«

»Sina.« Sie reichte ihm die Hand, verzog sogleich das Gesicht. Benedikts Händedruck war ungewöhnlich kräftig. Sein breiter Mund grinste: »Wirst dich an noch härtere Dinge gewöhnen müssen, Sina.« Er erkundigte sich: »Du fährst Motorrad?«

»Ja, warum?« Sie moserte: »Ist das strafbar?«

»Quatsch! Ich dachte nur. Wegen deiner Kleidung.« Er setzte hinzu: »Dann warst du es, die vorhin die Straße entlanggebraust ist?«

»Ja, genau! Ist das strafbar?«, meinte sie schnippisch.

»Naja, du warst ganz schön schnell.«

»Okay, Benedikt. Genug davon. Jetzt mal was anderes.« Sie schaute ihn von der Seite an: »Wenn ich schon mal da bin, kann ich doch …«

»Gut, du kannst dir alles anschauen. Aber überlass die Aktivitäten uns, einverstanden?«

Sina gab keine Antwort. Sie war nicht einverstanden, sondern wollte gleich mit einsteigen. Entschlossen ging sie zur Direktorin und zu ihrem direkten Vorgesetzten, Hauptkommissar Heiner Dröger, die nebeneinander standen, und begrüßte sie.

Direktorin Ilse Ehresmann schaute die junge Kommissarin fragend an: »Sie sind doch erst ab morgen bei uns, oder täusche ich mich?«

Bevor Sina antworten konnte, klärte Dröger die Direktorin auf: »Es ist richtig. Frau Cohrs ist erst ab morgen früh im Dienst.« An Sina gewandt meinte er: »Und was tun Sie jetzt hier?«

Sina erklärte, dass sie mitbekommen habe, dass etwas passiert sei. »Ich habe mich dann schlau gemacht und bin losgefahren.«

Sie wartete keine Antwort ab, ging sogleich in Richtung Leiche, nahm das Handy aus ihrer Lederjacke, sprach einige Sätze drauf. Dröger folgte ihr verärgert und hielt sie zurück. «Wollen Sie Ihre eigenen Spuren einbringen?«, wetterte er.

Sie schaute ihn entschuldigend an: »Natürlich nicht, Herr Dröger.«

»Dann bleiben Sie weg!«, wies er sie zurecht.

***

Die anwesenden Besucher, unter ihnen ein junger Vikar mit getönter Brille, der den Gottesdienst halten sollte, waren heftig erschrocken, als mit lautem Sirenengeheule und zuckendem Blaulicht zuerst der Rettungswagen, dann die Polizei plötzlich eintrafen und am Angelgelände vorbei zum Teich rasten. Volker Schöller und Klaus Kindinger hatten die Kripobeamten dort erwartet. Aufgeregt berichteten sie ihnen, wo sie die Tote gefunden hatten, und führten sie sogleich an Ort und Stelle.

Viele eilten hinunter zum Teich, wo die beiden Anglerfreunde bei zwei Polizisten standen und wild mit den Armen gestikulierten. Das Gelände rund um den Teich war weiträumig mit einem rot-weißen Flatterband abgesperrt worden.

Zwei über Funk gerufene Streifenpolizisten kamen zusätzlich. Zusammen mit ihren Kollegen schickten sie als erstes die Kinder weg, dann versuchten sie, die Leute zu beruhigen. Die neugierigen Menschen durften auf gar keinen Fall zum Teich vordringen, alle Spuren wären vernichtet worden. Der Vikar hatte inzwischen mitbekommen, dass hier möglicherweise ein Mord geschehen war, er eilte sogleich in Richtung der Toten. Auch er durfte das Gelände am Teich nicht betreten.

Die Hauptkommissare Dröger und Semmelweiß sowie Kommissarin Cohrs und Notarzt Dr. Brenner streiften Einmalhandschuhe über und zogen die Leiche vom Teich weg. Cohrs rümpfte die Nase: »Mann, stinkt die nach Schnaps!«

Der Erste Kriminalhauptkommissar Hennes Lehmann vom ZK41 und seine beiden Kollegen begannen sofort mit der Arbeit.

Dröger schaute die künftige neue Kollegin ernst an: »Das war’s aber jetzt auch schon, junge Frau. Sie können allenfalls zugucken, okay?«

Benedikt schmunzelte. Dieses mollige Energiebündel gefiel ihm. Er schätzte sie auf höchstens einssechzig und etwas über dreißig Jahre.

»Ich will doch nur helfen, Herr Dröger.« Sie zog erneut das Handy aus der Tasche.

»Ab morgen! Und stecken Sie das Ding weg.«

Sina drehte ihm den Rücken zu, streckte die Zunge raus. Semmelweiß hatte es gesehen. Er schmunzelte erneut.

Die Kommissare und der Arzt schauten sich die tote Frau näher an. Sina konnte nicht an sich halten und reckte ihren Kopf ebenfalls vor, was erneut Unmut bei ihrem Vorgesetzten hervorrief, er warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

Das schöne Gesicht der Toten war eingefallen, Einkerbungen rund um den Hals waren bräunlich verfärbt. Blaufärbungen im aufgedunsenen Gesicht waren erkennbar. Auch wurden Kratzverletzungen am Hals festgestellt. An den Fingern beider Hände waren deutlich tiefe Striemen zu sehen. »Die Frau hat sich heftig gewehrt. So wie es aussieht, hat sie versucht, die Schnur wegzuziehen«, meinte Lehmann mit gerunzelter Stirn. Die neue Kommissarin pflichtete ihm eifrig nickend bei.

»Der Buchstabe T wurde wahrscheinlich mit einem Messer eingeritzt«, stellte Semmelweiß schnaubend fest, schob ein Pfefferminzbonbon in den Mund. Seine wulstigen Lippen bebten.

»Ja«, gab Dröger kurz zur Antwort, »womit sonst!«

»Ei ja, es hätte auch ein …«

»Schon gut, Benedikt.« Dröger winkte ab. »Es wird sich herausstellen.«

»Ich tippe auch auf ein scharfes Mess …« Sina brach ab. Drögers Blick hatte ihr signalisiert, jetzt besser still zu sein. Sie biss sich auf die Lippen.

»Sauberer Schnitt«, stellte Dr. Brenner fest. Er murmelte in sein Diktiergerät, nach eindringlicher Leichenschau stellte er den Totenschein aus.

Dröger fragte die beiden Angler: »Kennen Sie die Tote?«

»Nein«, antwortete Schöller, der am Abend zuvor hinter dem großen gemauerten Grill seinen Dienst versehen hatte, »nie gesehen.«

»Ich meine, ich hätte die Frau gestern Abend auf dem Fest gesehen.« Klaus Kindinger kratzte sich an der Nase. »Aber ich bin mir nicht sicher. Es waren ja viele Leute da.«

Der Hauptkommissar fragte die Direktorin: »Waren Sie gestern Abend eigentlich auch auf dem Teichfest?«

»Nein«, entgegnete sie kurz angebunden. Sie schaute Dröger missbilligend an.

Inzwischen hatte Semmelweiß die Rechtsmedizin benachrichtigt. Der Forensiker vom Rechtsmedizinischen Institut in Frankfurt ließ auf sich warten.

Drögers Handy vibrierte, er hatte den Ton ausgeschaltet. Er nahm es aus der Jackentasche, schaute auf dasDisplay: Die Einsatzzentrale! Er nahm das Gespräch an.

»Herr Dröger, ich habe Staatsanwältin Dr. Augustin angerufen.« Lore Michelmann schluckte.

»Und?«

»Sie kommt nicht.«

»Was? Wieso?«

»Sie verlässt sich ganz auf Sie.« Nach kurzem Überlegen meinte die Kommissaranwärterin: »Ihre Stimme hat auch ganz seltsam geklungen. Belegt oder … nein, eher heiser.«

»Heiser? Aha!« Dröger nahm sich zusammen. »Sie verlässt sich also ganz auf mich. Is ja doll!« Er steckte zerknirscht das Handy zurück.

Wenig später teilte ihm Semmelweiß mit, dass der Rechtsmediziner, der Bereitschaftsdienst hatte, auch nicht käme. Er wohne ja in Wetzlar und es würde ihm jetzt überhaupt nicht in den Kram passen, bis in den Odenwald zu fahren. Und das Ganze auch noch bei dieser Hitze. Semmelweiß schob ein weiteres Pfefferminzbonbon in den Mund, nuschelte: »Er war der Meinung, der Notarzt und die SpuSi können das regeln.«

Das war jetzt zu viel für den Ersten Kriminalhauptkommissar. »Die sind doch nicht ganz dicht!«, polterte er los. »Was geht denn hier ab? Sollen wir denn wieder alles alleine machen?« Er meckerte: »Wär’ ja nicht das erste Mal! Verdammt!«

»Wo gibt’s denn sowas?« Sina konnte es sich nicht verkneifen.

Dröger blickte sie böse an: »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie sich raushalten sollen. Nicht kapiert?«

»Entschuldigung, aber …!« Sina hob die Schultern. Direktorin Ehresmann forderte den Hauptkommissar auf, sich um alles zu kümmern. Der Missstand sei auf die Schnelle sowieso nicht zu ändern. Dröger knurrte verbittert: »Hoffentlich ist der Helm zuhause oder wenigstens in der Nähe.« Voller Wut schnappte er sein Handy, drückte die Taste mit der gespeicherten Handynummer Professor Dr. Helms, der wie er in Groß-Umstadt wohnte. Durch die gemeinsame Arbeit zwischen Kripo und Rechtsmedizin kannten sie sich schon lange und waren Freunde geworden. Hin und wieder gingen sie zusammen zum Essen, wobei immer irgendwelche beruflichen Fälle diskutiert wurden.

»Ich komme«, war die prompte Antwort des Rechtsmediziners.

Eine halbe Stunde später traf Professor Dr. Hans Georg Helm ein. Er stellte den schwarzen Porsche auf dem Weg vor dem Teichgelände ab. Semmelweiß hatte unterdessen am Ufer des Teiches hochhackige weiße Schuhe sowie die Handtasche der Toten gefunden, die etwa zehn Meter von ihr entfernt im Gras lagen. Unter anderem fand er darin ihren Personalausweis. Elena Guttmann war vierundzwanzig Jahre alt und wohnte in Habitzheim im Klinger Weg.

Natürlich hatten mittlerweile die Leute im Dorf mitbekommen, dass am Angelteich irgendetwas passiert sein musste. So hatte sich schnell eine beträchtliche Menschenmenge angesammelt, die bis zum Teich vordringen wollte, aber bereits vor der Absperrung von Polizisten zurückgewiesen wurde. Journalisten hatten Wind bekommen und sich auf den Weg gemacht. Auch sie kamen nur bis zur Absperrung.

Nach ersten Begutachtungen des Notarztes und des Rechtsmediziners war das Opfer mit der Angelschnur stranguliert worden und wahrscheinlich dadurch zu Tode gekommen. »Aber«, Helm schaute Dröger an, »was soll dieses T bedeuten?«

»Gute Frage, Herr Professor. Ich kann mir keinen Reim darauf machen«, gab der Hauptkommissar kopfschüttelnd zur Antwort.

Semmelweiß zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Bonbonkauend schmatzte er selbstsicher: »Wir finden es schnell heraus.«

Heiner Dröger schaute ihn skeptisch an: »Schnell, Benedikt?« Er wiegte den Kopf. »Na ja!«

Semmelweiß bleckte die Zähne, lutschte weiter auf seinem Bonbon herum. Dröger wollte vom Professor wissen, wann ungefähr der Tod Elena Guttmanns eingetreten sei.

»Sie wissen, dass ich Ihnen das noch nicht sagen kann. Es nützt doch nichts, wenn ich irgendetwas einschätze. Warten Sie einfach den Bericht ab. Dann haben Sie definitive Daten.« Helm schaute ihn vorwurfsvoll, fast beleidigt an. Er hatte dienstfrei und seinem Freund Dröger lediglich einen Gefallen getan.

»Okay.« Der Hauptkommissar wusste, dass er nicht weiter zu fragen brauchte. Helm würde keine Auskunft mehr geben.

Sina stellte sich vor den Professor, stemmte die Arme in die Hüften, schaute zu ihm auf: »Aber Sie müssen das doch ungefähr sagen können. Sie haben doch Temperaturmessungen vorgenommen.«

Helm blickte Dröger fragend an: »Wer ist denn das?«

»Darf ich vorstellen? Das ist unsere neue Mitarbeiterin Sina Cohrs. Frau Cohrs, das ist Professor Dr. Helm, leitender Rechtsmediziner bei der Goethe-Universität in Frankfurt.«

»Leidender Rechtsmediziner. Ich betone: Leidender!« Helm grinste.

Hauptkommissar Dröger nahm Sina am Arm: «Kommen Sie mal mit.« Er erklärte ihr, dass sie sich ab sofort aus allem raushalten solle. »Zuschauen ist erlaubt, mitreden nicht. Noch nicht! Klar?«

Sie sah ihn betrübt an: »Klar, Herr Dröger.«

Auf Anweisung des Professors wurde die Leiche vom bestellten Bestattungsinstitut in die Rechtsmedizinische Abteilung der Goethe-Universität in die Kennedyallee nach Frankfurt gebracht. »Jetzt sollen sich die Kollegen drum kümmern. Ich habe sie informiert.« Er brummelte ärgerlich: »Hoffentlich zerfließt denen die Leiche nicht.« Ironisch setzte er hinzu: »Bei der Hitze! Mann, Mann!«

Die Kommissare und die Streifenpolizisten befragten die Leute, die noch anwesend waren. Viele waren schon gegangen, darunter die Musiker von der Jazzband, auch der Vikar war nicht mehr da. Die meisten waren am Samstagsabend nicht auf dem Fest gewesen.

Vier junge Männer sagten aus, dass eine blonde Frau sich zu ihnen an den Tisch gesetzt und heftig mit ihnen geflirtete habe. Dabei habe sie reichlich Bier und Schnaps getrunken, was auch die Kellnerinnen bestätigten. Charly Kluge sagte: »Sie ist irgendwann später verschwunden und nicht mehr aufgetaucht. Wir dachten, sie sei nach Hause gegangen. Voll genug war sie ja. Wir hatten ja alle genug.« Entsetzt fasste er sich mit beiden Händen an den Kopf: »Und die ist ermordet worden?«

»Vermutlich, ja«, gab der Polizist zur Antwort.

Alle anderen, die dort waren kannten die Blondine nicht, sie konnten auch keine Aussagen machen, weil sie nichts bemerkt hatten, was auf den Mord hätte hinweisen können.

Mit großem Aufwand wurden die Personalien der Befragten festgestellt.

Über ein Megaphon teilte danach die Polizei den Anwesenden mit, dass aus bestehenden Gründen das Fest ausfiele und bat die Leute, den Platz vor dem Teich unverzüglich zu verlassen.

Da sich einige Neugierige widersetzten und hartnäckig an der Absperrung stehen blieben, betonte der Uniformierte noch einmal laut: »Das ist eine polizeiliche Anordnung. Verlassen Sie bitte das Gelände.«

Binnen kurzer Zeit waren außer den Journalisten alle gegangen. Auch die Anglerfreunde und die Kellnerinnen, nachdem sie befragt worden waren. Ihnen war auch nichts Außergewöhnliches aufgefallen.

Sie wollten am nächsten Tag aufräumen. Niemandem von ihnen stand unmittelbar nach dem grauenhaften Ereignis der Sinn nach irgendwelchen Tätigkeiten.

Auch die Streifenpolizisten und der Rettungswagen sowie die SpuSi und Professor Helm verließen wenig später das Gelände.

Die Pressevertreter bedrängten die Leute von der Kripo, wollten genau wissen, was geschehen war. Dröger gab bereitwillig Auskunft über den momentanen Stand.

Sina Cohrs sprach Benedikt an: »Komm mal mit, Semmel … wie?«

»Benedikt!«

»Okay.« Sie ging voraus, Benedikt folgte ihr. Stolz zeigte sie auf ihre Kawasaki. »Na, was meinste?«

»Wow! Geile Maschine! Eine Z 1000! Die hat Power, oder?« Er nickte beeindruckt.

»Du sagst es. Sie ist superschnell. Du glaubst, du würdest fliegen.«

»Ich fliege nicht gerne«, entgegnete er, schaute sie grinsend an. »So, wir müssen los, sonst wird der Chef sauer.« Er ging zurück zum Wagen. Sina entrang sich ein »Pfff!« Wenig später war von ihr und der superschnellen Kawasaki nichts mehr zu sehen.

Jetzt fielen Volker Schöller die zwei Männer ein, die gestern spätabends noch an ihm vorbei zur Toilette gegangen waren. Er erreichte gerade noch Hauptkommissar Dröger, als dieser in seinen Dienstwagen steigen wollte: «Herr Kommissar, Herr Kommissar, warten Sie.«

Dröger drehte sich um, Schöller rief: »Mir ist noch etwas eingefallen.« Er erzählte Dröger von den beiden Männern und beschrieb ihr Aussehen.

»Kennen Sie die Männer mit Namen?«

»Nein.« Er zog die Stirn in Falten. »Aber vielleicht hat Karin Namen gehört, als sie die Leute an dem Tisch bediente, an dem die beiden Männer saßen.«

Dröger schaute ihn fragend an. Volker nahm sein Handy, rief bei Karin Lohns zuhause an.

»Lass mich mal überlegen.« Nach einigen Sekunden sagte Karin: »Der Plattkopp nannte den Dicken, der die vier Forellen verdrückt hat, Berghoff oder Berghorn oder so ähnlich. So richtig gemerkt habe ich mir das ja nicht.« Sie stutzte: »Ach, noch was: Er hatte etwas von Bau gesagt. Aber warum willst du das wissen?«

»Die Polizei will das wissen, nicht ich«, antwortete Schöller, »du weißt doch, der Mord.«

»Klar, die Polizei muss das wissen.« Karin war immer noch sehr aufgeregt. »Warum sind wir nicht eher drauf gekommen? Mann, Volker!«

»Es war halt zu viel auf einmal.«

«Ja, das stimmt, man denkt dann nicht immer gleich an alles. Jetzt kannst du es ja weitergeben.«

»Okay, Karin, danke.« Volker drückte die Austaste, gab die Informationen an den Hauptkommissar weiter. Er zog die Stirn kraus: »Stopp! Da war noch eine blonde Frau, die auch zur Toilette ging. Vor den beiden Männern.«

»Aha! Könnte es die Ermordete gewesen sein?«, fragte Dröger direkt.

»Das kann ich nicht sagen, ich hatte ja am Grill zu tun. Wenn ich jeden beschreiben müsste, der gestern zur Toilette gegangen war, oh je!« Volker Schöller hob die Achseln. »Noch was, Herr Kommissar.« Er erzählte von dem Chaos mit den Bänken und dem Unrat am Teich, den er mit Klaus beseitigt hatte.

»Das waren ganz bestimmt Halbstarke.«

»Kennen Sie die vermeintlichen Halbstarken?«

»Nein! Die können was weiß ich woher kommen.«

»Wann war denn das Fest zu Ende?«, wollte Dröger wissen.

»Gegen ein Uhr war noch Betrieb, ungefähr eine Stunde später war niemand mehr da. Meine Frau und ich waren die letzten. Wir haben das Anglerheim abgeschlossen und sind nach Hause gegangen.«

»Eigentlich müsste die Nachbarschaft ja etwas gehört haben«, meinte Dröger.

»Das glaube ich weniger«, entgegnete Schöller. »Der Teich ist doch ein gutes Stück vom Ort weg.«

»Und diese Halbstarken. Die müssten doch etwas gehört oder gesehen haben. Wo lagen denn die Bänke?«

«Ziemlich genau gegenüber der Ermordeten. Auf der vorderen Seite des Angelteichs. Dazwischen liegt die Insel. Ich glaube nicht, dass denen etwas aufgefallen ist. Die haben ja gefeiert. Außerdem war es recht dunkel.«

Der Hauptkommissar bedankte sich, setzte sich in den Audi A6, wo Semmelweiß auf dem Beifahrersitz auf ihn wartete. »Was gibt’s denn noch, Chef?«, fragte Benedikt.

Sein Vorgesetzter teilte ihm mit, was er soeben erfahren hatte: »Nach diesen Namen oder ähnlich müssen wir suchen. Dann hätten wir zumindest eine weitere Spur. Die vermutlichen Halbstarken dürfen wir auch nicht vergessen, obwohl ich glaube, dass die nichts mit dem Mord zu tun haben. Wenn sie die Frau ermordet hätten, hätten sie sich nicht so auffällig benommen und wenn sie nicht unmittelbar zu dem Mord dazugekommen sind, haben sie nichts bemerkt. Ich vermute, dass sie später kamen.«

Er ergänzte: »Die haben in der Nacht nach dem Fest nochmal die Sau raus gelassen. Das war ein Bubenstreich.«

»Aber es könnten doch auch Mädchen dabei …«

»Ja, Benedikt, ja. Es können auch Mädchen dabei gewesen sein. Klar!« Dröger schüttelte genervt den Kopf. »Die jetzt alle zu finden, wäre mit einem Riesenaufwand verbunden. Wir versuchen es erst mal anders. Wir brauchen die beiden Männer, die auf die Toilette gegangen waren. Vorerst!«

Semmelweiß nickte zustimmend: »Ist klar!« Er faltete seine großen Hände im Schoß.

Direktorin Ilse Ehresmann rief anschließend im Präsidium in Darmstadt alle verfügbaren Kolleginnen und Kollegen zusammen, um über die Handlungsweise zu beraten. Auch die neue Kommissarin Sina Cohrs, die ihren Arbeitsplatz gegenüber Benedikt Semmelweiß inzwischen eingerichtet hatte, nahm teil.

Nikki Herold, Drögers Assistentin, die mit der Aktenführung betraut war, sollte sich um den Namen Berghoff oder Berghorn oder so ähnlich kümmern.

Die Direktorin entschied: »Wir gründen eine Sonderkommission.«

Sie baute nach mehreren Telefonaten mit Polizeistationen des Kreises Darmstadt-Dieburg eine Sonderkommission von vierzehn Beamten auf. Der Erste Kriminalhauptkommissar Heiner Dröger sollte mit Unterstützung von Hauptkommissar Semmelweiß die SoKo Gersprenztal, wie sie genannt wurde, leiten.

Die Kollegen vom Erkennungsdienst hatten inzwischen alle Gegenstände, die um den Teich herum gefunden worden waren, in die Asservatenkammer gebracht. Zusammen mit der KTU begannen sie mit den Untersuchungen. Es gab viele Kleinigkeiten, Schuhspuren, Fingerabdrücke. Vorerst konnte davon nichts verwendet werden.

Wenigstens Nikki war erfolgreich. Drögers Assistentin hatte recht schnell herausgefunden, um wen es sich handeln könnte. »Das Wort Bau war mir eine Hilfe«, berichtete sie ihrem Vorgesetzten. »Es hätte entweder Baustelle oder Gefängnis bedeuten können. Ich habe es als Baustelle interpretiert und liege wahrscheinlich richtig. Der Mann heißt Wolfram Berktolt und wohnt in Reinheim in der Heinrichstraße. Er arbeitet als Polier bei der Baufirma Roth OHG, auch ansässig in Reinheim, in der Königsberger Straße. Möglicherweise ist er der, den wir meinen.»

»Gute Arbeit, Nikki«, lobte Dröger seine Assistentin. «Gleich morgen früh suchen wir ihn auf.«

Nikki Herold ging schnellen Schrittes in Benedikts Büro. Der war momentan alleine, saß gedankenverloren an seinem Schreibtisch und starrte zum Fenster hinaus.

»Sag mal, Benedikt«, weckte sie ihn aus seinen Träumen, »wie ist denn die Neue so?« Semmelweiß schrak auf: »Was?«

»Die Neue! Die war ja kaum hier, da war sie auch schon wieder weg. Ich habe sie gesehen, als sie mit ihrem Motorrad davongedüst ist«.

»Jaja, die Sina. Die fährt eine pfeilschnelle Kawasaki. Mein lieber Spitz! Als sie angedonnert kam, dachte ich, was ist denn das für ein Idiot. Ich wusste ja nicht, dass sie Motorrad fährt. Als sie dann mit ihrer Lederkleidung zum Tatort kam, war mir klar, dass sie es war, die so rasant über die Landstraße gebrettert ist.«

»Sie ist schon im Dienst?«, wunderte sich Nikki. »Ich dachte, sie fängt erst morgen an.«

»Offiziell ja.«

»Aber?«

»Sie hat heute früh angefangen, ihren Arbeitsplatz einzurichten und …«

»Das weiß ich. Bin ja nicht blind. Was noch?«

»Na ja, sie war halt neugierig oder … oder …wissbegierig.«

Ungeduldig meinte er: »Was weiß denn ich. Frag doch den Chef!«

»Danke für das Gespräch, Herr Hauptkommissar. Ich werde mich zurückziehen, denn der Herr Hauptkommissar hat ja offensichtlich kein offenes Ohr für das normale Fußvolk.« Nikki warf ihm einen Handkuss zu, drehte sich um und verließ das Büro.

»Aber Nikki, hör doch mal zu …« Benedikt sprang auf, lief eilig auf den Flur, doch Nikki war schon verschwunden. »Das habe ich jetzt wohl versaut«, knurrte er verärgert. Er wusste, wie wichtig Nikki Herold für das gesamte Team war.

4

Montag, 22. August

Radio HR3 berichtete in den Sechs-Uhr-Nachrichten zum ersten Mal von dem Frauenmord am Nieder-Klinger Angelteich. Auch das Darmstädter Echo hatte die Meldung als Schlagzeile auf der ersten Seite bereits herausgegeben. Der gewiefte Journalist Werner von Rheinfels, auch Spürli genannt, hatte dafür gesorgt. Er war mal wieder schneller als seine Kollegen und Kolleginnen von anderen Zeitungen. Diese mussten das Phänomen Spürli einfach anerkennen. Viele Verleger hatten ihm schon Angebote unterbreitet und sich gegenseitig mit Summen überboten, die irgendwann mal utopisch für die Branche waren. Spürli aber blieb dem Darmstädter Echo treu. Das war sein Leben, hier hatte er seine Laufbahn begonnen, hier fühlte er sich wohl. »Nur Geld allaa interessiert misch nit. Es muss aach sonst stimme. Isch muss aafach dezu basse.« Hin und wieder verfiel er in seinen Otzberger Dialekt. Er lebte jetzt zwar in Darmstadt, war aber in Nieder-Klingen geboren.

Die gesamte Bevölkerung rund um die Veste Otzberg war in Aufruhr. Nach nur wenigen Jahren schon wieder ein Mord in unmittelbarer Nähe. Und schon wieder in Nieder-Klingen, einem ansonsten sehr friedlichen Dorf im nördlichen Teil des Odenwaldes. Das war für die Menschen der Region nur schwer zu begreifen.

5

Dröger hatte Semmelweiß zuhause in Reinheim abgeholt. Gemeinsam fuhren sie mit seinem Dienstwagen in die Königsberger Straße. Ein rotes Schild mit der weißen Aufschrift Roth OHG war schon von weitem zu sehen. Sie fuhren auf den Parkplatz des Bauunternehmens, stellten den Audi ab. Gabelstapler fuhren gehetzt über den Betriebshof in die Lagerräume, transportierten Pflastersteine und Baumaterialien aller Art. Männer in roten Arbeitsanzügen und klobigen Sicherheitsschuhen beluden Lastwagen oder verrichteten andere Arbeiten, während ein junger Bursche einen der Baulaster mit dem Dampfstrahler reinigte.

Die Beamten gingen ins Bürogebäude, wo hinter der Empfangstheke drei Frauen an ihren Schreibtischen saßen und angestrengt auf die Monitore ihrer Computer starrten. Ihre Finger flogen nur so über die Tastaturen. Eine schwarzhaarige, gut aussehende Dame, unter deren hochgeschlossener weißer Bluse sich deutlich ein wohlgeformter Busen abzeichnete, stand auf, ging zur Theke und begrüßte die Männer freundlich lächelnd mit ausgeprägtem osteuropäischem Akzent: »Sie winschen bitte?«

»Wir möchten zu Herrn Roth«, sagte Dröger.

»Habben Sie Termin?« Die Mittvierzigerin lächelte immer noch.

»Wir kommen von der Kriminalpolizei in Darmstadt.«

Er zeigte seinen Dienstausweis, deutete auf seinen Kollegen: »Das ist Hauptkommissar Semmelweiß.«

Das vorher so freundliche Lächeln sah jetzt etwas aufgesetzt aus, dann verschwand es ganz. »Augenblick.« Sie kam hinter der Empfangstheke hervor, ging in ihrem engen Rock mit Tippelschritten über den Flur, an einer Tür klopfte sie an. Ein lautes mürrisches Herein war zu hören. Die Kommissare schauten sich verdutzt an. Die Dame kam zurück, meinte kurz: »Chef erwartet Sie.« Sie tippelte an ihren Arbeitsplatz, offensichtlich froh darüber, dass die Polizisten nicht zu ihr wollten.

Heribert Roth empfing die Kommissare ziemlich unfreundlich. Er deutete auf die Dreiersitzgruppe hinter dem niedrigen Tisch mit weißer Marmorplatte: »Setzen Sie sich.«

»Danke, wir bleiben lieber stehen. Es wird nicht lange dauern«, antwortete Dröger.

»Auch recht«, brummte der bullige Mann, nahm eine Zigarette aus einer Schale auf seinem Schreibtisch und zündete sie mit einem Zippo-Feuerzeug an. Auffällig waren seine kurzen Arme. »Sie auch?« Er hielt den Polizisten die Schale entgegen. Sie lehnten ab.

»Also, was kann ich für Sie tun? Fassen Sie sich kurz, ich habe wenig Zeit, um nicht zu sagen, ich habe gar keine Zeit.«

»Arbeitet bei Ihnen ein Mann namens Wolfram Berktolt?« Dröger schaute dem Unternehmer unbeeindruckt ins Gesicht.

»Ja, er arbeitet bei uns als Polier. Ein guter Mann.« Roth zog an der Zigarette, blies den Rauch ohne Rücksichtnahme direkt in Richtung des Hauptkommissars.

Dröger hüstelte, räusperte sich: »Können wir Herrn Berktolt sprechen?«

»Hat er was ausgefressen?«, fragte Roth mit rauer Stimme.

»Wir möchten nur mal mit ihm reden.«

Roth beugte sich nach vorne, drückte die Taste der Sprechanlage: »Swetlana, guck mal nach, wo Berktolt zurzeit arbeitet.«

Nach etwa einer Minute, die die drei Männer wortlos verbrachten, kam die Antwort der rassigen Dame aus dem Lautsprecher: »Ist er mit Truppe hier in Reinheim.« Das rollende R unterstrich ihre osteuropäische Herkunft.

»Wo in Reinheim? Straße?«

»Schillerstraße«, entgegnete sie knapp. »Neibau.«

»Okay.« Er schaltete die Sprechanlage aus, wandte sich an die Polizisten. »Sie haben’s gehört. Es ist der einzige Neubau dort.« Während er in einem Ordner blätterte, hob er den Kopf, zog an seiner Zigarette: »Sonst noch was?«

»Nein. Vielen Dank, dass Sie uns Ihre wertvolle Zeit geopfert haben.« Die Beamten verabschiedeten sich. Die Dame an der Empfangstheke, die wieder ihr gekünsteltes Lächeln aufgesetzt hatte, atmete erleichtert auf.

»Unhöflicher Kerl«, grollte Benedikt. Dröger zuckte gleichgültig die Achseln: »Der hat auch seine Sorgen. Keiner kann aus seiner Haut.« Er kniff die Augen zusammen: »Aber die Frau! Die Frau kam mir seltsam vor.«

»Mir auch.« Semmelweiß nickte, zerkaute krachend ein Pfefferminzbonbon.

Zehn Minuten später parkten sie am Straßenrand gegenüber dem Neubau in der Schillerstraße. Vom Gerüst herunter hörten sie eine laute Stimme: »Bremer, du Blödmann, mach den Mörtel nicht so dünn. Es schwimmt ja alles davon. Muss ich dir denn immer noch zeigen, wie Mörtel gemischt wird?«

»Schon gut. Die nächsten Mischungen werden besser«, versprach der dürre, rotbärtige Glatzkopf an der Mischmaschine. Er murrte leise: »Der hat immer was zu meckern, der Dödel.« Mit dem Unterarm wischte er sich den Schweiß von der Stirn, setzte seine rote Kappe mit der Aufschrift Roth OHG auf, warf die nächste Schaufel Sand in die Trommel der Maschine.

Die Kommissare gingen auf ihn zu, Semmelweiß fragte: »Wo finden wir Wolfram Berktolt?«

Der Rotbärtige deutete nach oben, wo ein dicker Mann auf dem Gerüst stand und lautstark Befehle erteilte.

»Können Sie ihn rufen? Er möchte mal herunterkommen.«

»Rufen kann ich ihn, aber ob er kommt, kann ich Ihnen nicht versprechen.«

»Er wird kommen.« Dröger zeigte seinen Dienstausweis.